Ich bin freund und führer dir und ferge.

Das sagt der Engel im Vorspiel zu Stefan Georges Gedichtband Der Teppich des Lebens. Ein sprechender Engel also, ein fasslicher, wenn man so will, und ein sich ankündigender Gegensatz. Dieser Engel versteht sich als ein Ende der Schrecken:

Entsinne dich der schrecken die dir längst
Verschollen sind seit du mir eigen bleibst

Wie heißt es am Anfang der ersten Elegie? Ein jeder Engel ist schrecklich. Satz und Gegensatz: Sehen wir zu.

Der Teppich des Lebens ist nicht irgendein Gedichtband. George, Mallarmé-Schüler, der erste ›moderne‹ Dichter östlich des Rheins, schreibt pünktlich zur Jahrhundertwende – der Teppich erscheint 1899 – seinen Widerruf, die erste ›postmoderne‹ Absage an die moderne Dichtung. Der Engel des Vorspiels verkündet die Wende.

Auch George kennt das Unfassliche. Seine ›Modernität‹ ist die der Baudelaire, Verlaine, Mallarmé (der Heiligen Drei Könige der modernen Poetik, wie Valéry sie nennt), anverwandelt durch einen literaturstrategisch kalkulierenden Intellekt, der sich in dem schmalen Bändchen Algabal ein frühes Denkmal errichtet. An Hofmannsthal schreibt er: »Was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich.« So kann nur reden, wer sein Werk als abschließendes Experiment betrachtet. Das ›Fassliche‹ gilt im voraus als abgetan. Auf diese frühe Attitüde dessen, der mit den Dingen durch ist – und es wäre verkehrt, nur die Attitüde sehen zu wollen –, antworten die Eingangsverse des Vorspiels.

Ich forschte bleichen eifers nach dem horte
Nach strofen drinnen tiefste kümmernis
Und dinge rollten dumpf und ungewiss –
Da trat ein nackter engel durch die pforte
 
Entgegen trug er dem versenkten sinn
Der reichsten blumen last und nicht geringer
Als mandelblüten waren seine finger
und rosen · rosen waren um sein kinn.

Der Eintritt des Engels bezeichnet den Eintritt des Unfasslichen in die dichterisch bewegte Sprache. Der Eintritt verwandelt es, so dass es sich ›fasslich‹ darstellt. Der Engel des Gedichtes ist das nicht länger Unfassliche – ein sprachliches Unding, wenn man so will –, die in der Sprache (und durch sie) fasslich gewordene Gestalt des Unfasslichen.

Wovon ist hier eigentlich die Rede? Zunächst von einer älteren Rede: Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. Was der Hölderlin-Vers in der Schwebe hält, erfährt bei George eine entschiedene Deutung. Der Engel ist fasslich, andernfalls wäre er im Gedicht nicht anwesend. Die Pforte, die er durchschreitet, bleibt nur in einer Richtung begehbar: Von einem Aufbruch des Dichters ins Unfassliche ist nirgends die Rede. Der Dichter erkundet nichts. Es stellt sich ihm dar. Auf den Aufbruch des Experimentators Algabal ins Unerhörte folgt, im poetischen Entwurf der Überwindung seiner Ambitionen, kein neuer Aufbruch, sondern ein Geschehenlassen: ›Was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich.‹ Jahre später wird der Sinn des Satzes unvermutet ausgeschrieben. Das Stocken der Intention ist nirgends zu überwinden. Also gehört es zum Wesen der Sache. Die Intention, das ist die Modernität, die zu erringen der Algabal-Dichter sich anschickte –

Ohne beispiel die hügel die bronnen
Und grotten in strahlendem rausche geboren.

und deren fluchhaftes Nichtvergehenkönnen von Anfang an im ennui des von seinen Kunst-Werken umgebenen Schöpfers präsent ist:

Der schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet
Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut ·

›manchmal‹, zu Zeiten, in jenen erlesenen Augenblicken, angesichts derer das Leben, als dessen Bote der Engel des Vorspiels sich einführt, zum nichtigen Dasein, zur quantité négligeable gerinnt. Die drei Kennzeichen der Georgeschen Modernität – Selbstisolation des Subjekts, Artifizialität der Geste, Mystizismus der Form – sind ebensoviele Ausdrucksmomente der Entwertung des ›Lebens‹. Sie sind – im dichterischen Medium – Figuren der Negation. Negativität ist das zusammenfassende Charakteristikum dieser Kunst. Ihre Begründung – subtil oder nicht – gibt der programmatische Wille zur beispiellosen Neuheit, die gewollte Abkehr von der mimetischen Seite ästhetischer Produktion. Mimesis kommt aus dem bereits – vor allem methodischen Zugriff – Gesehen-Haben. Sie ist der nichtprogrammatische Aspekt der Kunst. Die Nichtanerkennung ihrer Leistungen beschert dem Dichter der Moderne einen beträchtlichen Zuwachs an Kompetenz. Die Methode, über die zu verfügen er vorgibt – und die ihn seine Kunst idealiter auf dem Reißbrett entwerfen lässt –, unterscheidet ihn vor aller Ähnlichkeit der Produktion von dem dilettierenden Poeten, den eine naive Begeisterung am Wort zur Rede drängt. Die Schwierigkeit, die ihm begegnet, liegt darin, dass sich das Mimesisverbot dort, wo es durchgeführt werden soll, unterderhand in ein – nicht durchzuhaltendes – Ausdrucksverbot verwandelt. Schon Algabal zieht seine besten Effekte aus den Paradoxien einer nichtmimetischen Produktion. Die lyrische Negation löscht das Negierte nicht aus. Sie zeigt es als abwesendes:

Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme ·
Der garten den ich mir selber erbaut
Und seiner vögel leblose schwärme
Haben noch nie einen frühling geschaut.

Georges ›Wende‹ greift diese Paradoxien auf und fügt ihr eine weitere hinzu: Die Programmatik des Geschehenlassens ändert die Wertungen der Moderne durch einen einfachen Vorzeichenwechsel. Sie bringt damit eine Negation ins Spiel, für die (anders als für die bereits im Spiel befindlichen) nicht der Künstler verantwortlich zeichnet. Im Gegenteil: Er sieht sich von ihr in seiner Anstrengung überholt. Wenn der Ausdruck ›bleichen eifers‹ die methodisch geleitete Arbeit des Modernen an seinem ›Gebilde‹ erinnert, das ihm in der definitiven Vollendung als ›hort‹ erscheint, als mythischer Schatz, der alle Lebensenergien des einzelnen auf sich zieht, dann ist der Eintritt des Engels das schlechthin nicht Zurückzuweisende deshalb, weil das Geschehen, ein wenig blumig formuliert, den Raum der Negation sprengt, ohne ihn zu verlassen. Es ist das Älteste und das Einfachste, und es ist das Neue schlechthin, die Negation der Negation oder das sich jetzt und hier Begebende.

Auf seinem haupte keine krone ragte
Und seine stimme fast der meinen glich:
Das schöne leben sendet mich an dich
Als boten: während er dies lächelnd sagte
 
Entfielen ihm die lilien und mimosen –
Und als ich sie zu heben mich gebückt
Da kniet auch er · ich badete beglückt
Mein ganzes antlitz in den frischen rosen.

Das ganze Vorspiel hindurch bilden die Denk- und Sprachfiguren der Wende mit den abgewiesenen der Moderne zusammen eine unauflösbar wirkende Einheit. Das Programm überwiegt, kein Zweifel, aber das Abgewiesene zählt mit. In diesen Strophen deutet der Parallelismus der Gebärden (Und als ich sie zu heben mich gebückt / Da kniet auch ER) vor und zurück auf die Spiegelmetapher und das ihr inhärente Narzissus-Motiv, von dem der frühe George ebenso entschieden Gebrauch macht wie seine französischen Vorbilder. Es zeigt, dass diese Moderne nach der Moderne keineswegs gewillt ist, die Lektion der ersteren einfach zu vergessen. Was aber verbirgt sich dann in der Wendung vom ›schönen Leben‹, dieser eigentümlich leer erscheinenden und oft verspotteten, vermeintlichen Utopie? Die Antwort liegt auf der Hand: alles andere als Utopie. Es ist der Inbegriff all dessen, dem sich der Künstler nur durch Ausgrenzung entziehen kann, nichts weiter als das, was da ist und durch sein Dasein den Künstler nötigt, das eigene Dasein als ein vor jedem Selbstentwurf organisiertes und glücksfähiges zu begreifen. Dass es eines Boten bedarf, um ins Bewusstsein des Dichters zu treten, ist allerdings paradox. Erträglich wird die Paradoxie dadurch, dass Dichter und Bote sich nur um ein Nichts unterscheiden (›Und seine stimme fast der meinen glich‹), um jenes Nichts, in dem die kaum verhüllte Identität beider (›glich‹) um eine gänzlich unbestimmte Differenz (›fast‹) angereichert wird, mittels derer zwischen beiden – und also in der Sprache des Gedichtes – fast alles möglich wird. Auch der Dichter der Wende verzichtet nicht auf ein stabiles Prinzip: Die Zurücknahme der Differenz, in der sich die Differenz erhält, ist die in diesen Gedichten stets wiederkehrende Figur.

 

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