1.
Die Kunst ist eine Gefangene.
2.
Was wechselt, sind Konzepte, Begründungen, Orte, nicht die Tatsache der Gefangenschaft selbst.
3.
Der Anlass für diesen Zustand ist eine verjährte Rebellion: die Kunst erwacht inmitten der Schrecken der Moderne und protestiert.
4.
Man muss bedenken, dass die Rebellion nicht nur verjährt, sondern verlogen ist. Die Kunst erwacht aus Träumen einer Modernität, die nie auf der Agenda stand. In ihr wäre sie eine große Nummer gewesen, eine imperiale Figur.
5.
Phase eins: der Prozess. Das Urteil steht von vornherein fest, aber die Rekonstruktion des Tathergangs, die Konstruktion des Täters, die Erwägungen über Strafmaß und -art ziehen sich hin. Auch bleibt das Ergebnis unklar, da alle Parameter zu pluralen Urteilen führen. So sieht man die Kunst zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedliche Richtungen abgeführt, aber die Ergebnisse ähneln einander. Die Kunst ist das in den gesellschaftlichen Aufbrüchen stets Verfehlte: das Konstrukt der Moderne.
6.
Phase zwei: die Kunst steht unter Beobachtung. Protokolliert werden ihre Depressionen und Ausbruchsversuche, von denen man Aufschluss erhofft über die Lage der Philosophie, der Revolution, der Gesellschaft etc. Die Idee dahinter – wenn man so vermessen ist, so etwas anzunehmen – lautet, dass eine vollständig von ihren imaginativen Quellen abgeschnittene, vollständig kontrollierte Kunst gleichsam über Nacht zum Kompass wird, der zuverlässig den Weg ins Freie weist – in ein Jenseits der Moderne.
7.
Phase drei: die Spannung sinkt und mit ihr das Interesse. Die zerstörte, die demolierte, die routiniert ihre eingeschränkte Bewegungsfähigkeit zur Schau stellende Kunst erweckt nur eine flüchtige Aufmerksamkeit – die des Aufpassers, der im Grunde seines Herzens weiß, dass von dieser Gefangenen keine Gefahr mehr ausgeht, und der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht. Zerstört sind viele. Das ›Denken dessen, was an der Zeit ist‹, macht sich, von seinen guten wie von seinen bösen Geistern verlassen, davon. Plötzlich beharrt die Philosophie auf Trennungen, die sie lange negiert hat.
8.
Grandios die Idee, der Kunst in dieser Verfassung eine ›begrenzte Autonomie‹ einzuräumen. Sie soll sich unter Aufsicht erkräftigen, soweit ist es mit ihr gekommen. Was am Ende der Rehabilitation stehen soll, weiß keiner, es ist auch nicht nötig, denn der Patient wird es nicht erreichen. Aber es macht Spaß, ihm zur Seite zu gehen und sich von seinen trottelhaften Anwandlungen rühren zu lassen. Die Sorge um die Kunst ist nicht Sorge um die Zukunft, sondern Nachsorge.
9.
Es ist lehrreich zu sehen, wie aus der Kunst der Abstraktion die Abstraktion der Kunst und aus dieser die Abstraktion von der Kunst herauswächst. An diesem Baum der Erkenntnis hängen die Pinseleien der Neuen wie Faltschiffchen, sie bleiben unter dem glättenden Blick, jedes für sich, a blank sheet of paper. Die Steigerung von neu ist nicht Neuerer, dieser Posten wird nicht vergeben, er ist nicht vakant. Was man in der Kunst einen Neuerer nannte, gehört in ein Gefüge von Kunstwahrnehmungen, das verlassen wurde.
10.
Auf ein Kinderheft in krakeliger Kinderschrift geschrieben: »Kunst ist Scheiße«, zum Entzücken jeglicher Museumspädagogik. Das Kind hat etwas begriffen. Aber das Kind hat nichts begriffen, es hat etwas gesehen. Es hat etwas gesehen, was durch das Sehenlehren verschleiert, umrankt, beiseiteschafft wird. Kunst lehrt nicht Begreifen, sie ist, so betrachtet, sein erstes Opfer. Kunst lehrt Sehen und das Sehen des Kindes im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ist nicht das schlechteste. Doch es bleibt das Sehen eines Kindes, es ignoriert die sozialen Gewebe, in die der Kaiser gehüllt ist.
11.
Man kann einen Großteil der Künstler als Komplizen betrachten, fragt sich nur wessen. Auf diese Frage gibt es keine gerade Antwort, aber viele krumme. Man hat ihnen die Moderne gemacht und sie haben sie ausgetragen. Die besseren unter ihnen haben sie in sich ausgetragen, das Gros so, wie man Zeitungen austrägt, die keiner bestellt hat. Seither kommen sie nicht mehr von ihr los, auch wenn die Drohungen und die Absetzbewegungen hier und da Eindruck schinden. Das Grundverhältnis zwischen Künstlern und Kunst ist eines der Gewalt, wobei die rohe nicht so roh ist, wie es Außenstehenden scheint, und die feine nicht so fein, wie sie sich gibt. Die Künstler sind die Gefangenenwärter der Kunst.
12.
Wer Kunst ›in Bezug auf Politik‹ denkt, vergeht sich an ihr. Wer sie als vernachlässigbare Größe behandelt, der täuscht sich, aber zu seinen Gunsten. Das geht in Ordnung, niemand sollte ihn aufhalten. Niemand, der vor den klaffenden Wunden der Leinwände verharrt, sollte als Mensch unter Menschen verstanden werden. Das fällt schwer, denn niemand steht gern daneben. Gerade das macht ihn zu einem Niemand: als Nebenmensch ist er schlecht, aber er weiß sich nichts Besseres. Er geht ins Museum wie andere in den Zoo. Hinter den Gittern blickt ihn die weggeschlossene Zukunft an. Ein anderer Weg, sie zu bewahren, fiel der Menschheit bisher nicht ein.