Der Exkurs über Niederlage, Erinnerung und Nation war notwendig, um den Sündenbock (und den dazu gehörenden Mechanismus) namhaft zu machen, auf dessen Vorhandensein ein bedeutsamer Teil des Reputationssystems der erst westdeutschen, seit 1991 gesamtdeutschen Gesellschaft beruht. Anders als das offizielle Gedenken, das sich einfacher ritueller Formen bedient, bevorzugt die Erinnerungskultur die rituell fundierte, aber in der Ausgestaltung freie, den unvorhersehbaren Konflikt kultivierende Form des medial inszenierten Dramas. Sein Handlungskern ist die ›irreversible‹ Diskreditierung der Nation durch das erinnerte Geschehen und die rituelle Verwünschung derer, die nicht bereit sind, sie zu akzeptieren. Wie die Polisbewohner der attischen Tragödie wohnen die Zuschauer (oder Leser) dem Untergang der Nation bei, die sie als Publikum repräsentieren. Der theatralische Untergang wird als ›notwendig‹ im Wortsinn empfunden: als geeignetes Mittel, die Not zu wenden, die aufgrund der umfassenden und als dauerhaft empfundenen Niederlage in der Befreiung dem Gemeinwesen inhärent ist. Die Schmach der Befreiung, das heißt die Reflektion des Umstandes, einer Nation anzugehören, die ›bis zum bitteren Ende‹ gegen die Befreiung von einem unmenschlichen Regime gekämpft hat, wird durch das Entsetzen und die Identifikation mit denen, die das erlitten haben, für eine Weile aus dem Bewusstsein getilgt und erlaubt es, den anderen Zuschauern des nationalen Dramas, den Angehörigen der Nationen, die historisch auf der richtigen Seite standen, mit Offenheit zu begegnen.
Die so gewonnene Reputation unterscheidet sich von dem sozialen Kredit, den die Gesellschaft ihren einzelnen Gliedern einräumt, in einigen wesentlichen Punkten. Zum einen ist sie nicht oder nur in geringem Maße konvertierbar. Es darf bezweifelt werden, dass die politische Handlungsfreiheit des Landes durch die Erinnerungskultur gewinnt. Auch die im Ausland kurrenten Urteile über die Nation werden durch sie kaum berührt. Der Kredit wirkt praktisch ausschließlich nach innen: als Selbstkreditierung der teilnehmenden und damit nolens volens in das ›Wir‹ der Nation einstimmenden Einzelnen. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Nation schwächt und stärkt das teilnehmende Individuum in einem Zug: er bedient den Mechanismus der Kollektivscham und hilft ihn zu kontrollieren. Er fällt damit in jene ›unsichtbare Ökonomie‹ der Seele, die in Hegels früher Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als der »Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt« (Rechtsphilosophie § 182), im Moment der Vorgängigkeit von Familie und Staat vorausgesetzt ist und im soziologischen Fundamentalismus als ein Produkt von Gesellschaft, als diskursiv oder kommunikativ erzeugte Illusion personaler Selbständigkeit erscheint. Wenn in der Gesellschaft, wieder mit Hegels Worten, »jeder sich Zweck, alles andere ... nichts« ist, dann stößt man im Bereich des Erinnerns, wie so oft, auf das System der zwei Realitäten: die Bereitschaft, die jeweilige Stimme gelten zu lassen und auf sie hören, verlangt eine weitgehende Unempfindlichkeit dessen, der da spricht, gegenüber den Möglichkeiten, Vorteil aus dem, was persönlich erlitten und durchkämpft wurde, zu ziehen und zu beanspruchen, während der herrschende Verdacht das Gegenteil unterstellt. Was beim Konsum sogenannter Kulturgüter evident ist, die Diskrepanz zwischen dem sozialen Motiv und der Rhetorik des Vorzeigens, wirkt dort, wo die Integrität der Nation ›gehandelt‹ wird, blamabel.
Dieses ›unbezweifelbare Vorhandensein‹ von etwas, das, wie die gestrandete Nation, nur als Durchgestrichenes gedacht (und akzeptiert) werden darf, lässt an die eigenartige Interpretation von Moderne denken, die während des Zeitraums, den die Erinnerungskultur bestreicht, in einer anderen begrifflichen Region prominent wurde: der hartnäckig erhobenen Forderung, ›die Gesellschaft‹ müsse sich zur in allen Lebensbereichen dominanten, aber als ›unvollendet‹ zu denkenden Moderne bekennen – so als gelte es, einen Eid auf die Verfassung der gegenwärtigen, sich erst in naher Zukunft ganz entbergenden Welt abzulegen –, entspricht im immer regen Streit der Fakultäten der Anspruch der Soziologie, als Leitwissenschaft die Begriffe der ›Nachbardisziplinen‹ zu dominieren und zu disziplinieren. Der politische Begriff der Nation, rituell entzaubert durch Ideologiekritik und soziale Analyse, und seine durch den Gang der geschichtlichen Ereignisse desavouierten frenetischen Interpretationen zwischen Sarajewo und Srebrenica artikulieren einen Willen zur Moderne, der dort, wo er nach 1989 noch auftritt, einigermaßen mühelos als Wille, den Anschluss zu verlieren, gedeutet werden kann. Die broken nations – mitsamt dem geheimen Grauen, das sie ihren Nachbarn eingeben – teilen in einer breiteren Perspektive das Schicksal der broken civilizations, der durch den von europäischen Kolonisatoren erzwungenen Eintritt in die moderne Welt entgleisten Kulturen, durch keine jahrzehntelange Entwicklung zum Verschwinden gebracht zu werden: statt sich restlos in ›Gesellschaft‹ zu verwandeln, erinnern sie unverwandt an die katastrophische Geschichte und die fortdauernden Kosten der Modernisierung. Polemisch gesprochen ist Kulturwissenschaft die Wissenschaft der Defizite von Gesellschaft und dem notwendigen Verfehlen ihrer Ziele.