Unter der Oberfläche einer bis zur Jahrhundertmitte keineswegs spektakulär veränderten Bevölkerungszahl tritt damit jener demographische Umschwung zutage, der in der Rentenversicherung sowie bei den medizinischen und sozialen Leistungen bereits Konsequenzen gezeitigt hat und weitere Einschnitte bringen wird. Vertraut man dem kurrenten Datengewirr, so liegt das Beispiel Deutschland mit seiner Entwicklung im Trend der westlichen Industriegesellschaften, Japan eingeschlossen. Mit Italien, Spanien und Japan zusammen fällt es innerhalb dieser Gruppe durch eine besonders geringe Geburtenrate auf, teilweise unterboten durch einige Staaten Osteuropas, in denen der Systemwechsel die Problemlage verschärft. Neben den allgemein bestimmenden Faktoren scheint in dieser Ländergruppe mindestens ein zusätzlicher ins Spiel zu kommen – möglicherweise auch mehrere (und nicht unbedingt überall dieselben). Wer nach Erklärungen sucht, sollte sich also nicht mit der ersten besten zufriedengeben und auch nicht mit ihrer Summe. Wie so oft kommt es darauf an, zu verstehen, auf welche Weise die Einzelbefunde ineinander greifen und welche Wirkungen aus ihrem Zusammenspiel resultieren. Darüber hinaus wäre es wohl naiv anzunehmen, man könne das Problem auf die unmittelbar beteiligten Faktoren eingrenzen, ohne weitergehende Interdependenzen zu bedenken.

Sorgfältig sollte man die notwendige Suche nach Erklärungen von der Suche nach den ›Schuldigen‹ trennen, mit der man in Gesellschaften schnell bei der Hand ist, die sich von nicht oder nur unvollständig verstandenen Entwicklungen mehr oder weniger diffus geängstigt fühlen. Es hat nicht an vergangenen Versuchen gefehlt, dem Zeugungswillen der Bevölkerung aufzuhelfen, ohne dass davon besondere Wirkungen ausgegangen wären. Der naheliegende Schluss, es müsse wohl andere als die gängigen Erklärungen geben, wurde viel zu selten gezogen. Auch die Frage, ob die Entwicklung überhaupt eine Bedrohung (oder mehrere) darstellt, wenn ja, welche und welchen Ausmaßes – und für wen –, fällt bereits in den Gegenstandsbereich notwendiger Analysen, deren Art und Umfang man erst langsam abzuschätzen beginnt. Dies festzustellen hat jedoch wenig mit der Diskussion um ›Chancen‹ und ›Risiken‹ zu tun, die diese wie jede Entwicklung für die Einzelnen bereithalte. Chancen und Risiken entstehen in turbulenten wie in ruhigen Zeiten, sie finden sich in der Katastrophe ebenso wie in Zeiten des kollektiven Glücks. Wer fassungslos auf Karrieren blickt, die unter Hitler und Stalin getätigt wurden, sollte die Möglichkeit künftiger Karrieren und ›Mitnahmegewinne‹ nicht zum Maßstab der Beruhigung oder der Zustimmung machen.

Die Sorge, die Sozialsysteme könnten kollabieren, wenn die Anzahl der zu Versorgenden, insbesondere der älteren Mitmenschen, gegenüber der Zahl der Versorger signifikant zunimmt, grundiert neben dem politischen Themenwandel auch das Verhalten von Menschen, die ihren Ort bisher stets auf der Sonnenseite eines Systems gesehen haben, das für Menschen anderer Weltregionen signifikant andere Lebensläufe bereithält. Manche öffentlichen Bekundungen könnten den Eindruck erwecken, die letzte politische und private Leidenschaft von Jahrgängen, die sich einmal als ›politisch‹ verstanden, bestehe im ungehinderten Altwerden. Dagegen wäre nichts einzuwenden, solange es nicht den Blick auf andere Fragen – und andere Sorgen – verstellt. Wären nur die sozialen Sicherungssysteme von der Entwicklung betroffen, so ließen sich die notwendigen Anpassungsleistungen mehr oder weniger bequem durch Bündel staatlich-administrativer Maßnahmen erreichen und die Bevölkerung könnte sich ohne größere Zukunftsängste weiterhin der Pflege ihrer Lebensstile widmen. Das ist nicht der Fall, wie ein Blick auf die Sorgenkataloge der Länder und Kommunen lehrt. Wenn wesentliche Teile der Infrastruktur unbezahlbar werden oder ihren Zweck nicht mehr erfüllen, verändert sich vieles und vielerlei – eine lehrreiche, wenngleich noch immer beschränkte Optik.

Zukunftsängste sind irrational und können, wenn sie sich mit enttäuschten Erwartungen hinsichtlich Lebensstandard und Lebenssicherheit paaren, zu Verhaltensänderungen führen, die aus einem zunächst leicht lösbar erscheinenden Problem unter der Hand – und in der Regel zu spät bemerkt – ein fast unlösbares entstehen lassen oder eines, das erst durch die Zeit selbst gelöst wird. Die Spannungen, die solchen Eruptionen und Verwerfungen vorausgehen, lassen sich im Lebensgefühl der Leute ebenso lokalisieren wie in ihren Einstellungen und ihrem Sozialverhalten. Weniger leicht fällt es, sie im Katalog der öffentlichen Themen und ihrer Behandlungsarten wiederzufinden, solange sie dort unter falscher Flagge segeln und sich häufiger durch Negationen verraten als durch offene Thematisierung. Auch die Kunst scheint kein sicherer Indikator des Klimawandels in der Gesellschaft zu sein – jedenfalls da nicht, wo das kommerzielle Selbstverständnis ihrer Vertreter für weitere Überblendungen sorgt und eine lächerliche Endzeit-Mythologie immerzu Scheuklappen nachliefert. Die öffentliche Wahrnehmung schleichender, in ihrer Summe dramatischer Veränderungen bevorzugt den ›Bruch‹, das plötzliche Umschwenken, das entschiedene Vorher-Nachher, das die vorhergehenden Denk- und Argumentationsmuster über Nacht entwertet. Darin liegt auch eine Gefahr.

 

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