Seit meinem Weggang aus Berlin hatte ich mit keinem Mann mehr geschlafen. Ich war klar, durchsichtig und unbewegt wie ein Kristall. Ein- zweimal hatte ich noch einen Versuch unternommen, aber es dann gelassen. Der Gewissheit, es nicht nötig zu haben, hielt keine Situation lange stand. Diesmal hatte ich es nötig, bitter nötig, jede Faser verwandelte sich in eine Komplizin. Er schüttelte ein wenig den Kopf, als müsse er eine Erinnerung loswerden, fasste meine Oberarme und bugsierte mich sacht, bevor ein Unwille in mir aufflammen konnte, in den leeren Raum. Mein Atem ging flach. Er murmelte etwas. Ich sah nur die Anstrengung, mit der er die Lippen bewegte. Eine winzige Regung lief an der Oberfläche irgendeiner Tiefe dahin. Mit Daumen und Zeigefinger griff er sich an die Nasenwurzel und fuhr langsam zu beiden Seiten des Nasenbeins abwärts. Ich wandte mich ab und ging durch die Tür. Zwei oder drei Pärchen schlierten in enger Umarmung. Thea bekam runde Augen, bevor sie auswich. Ich tat zwei, drei Schritte in den schwankenden Raum hinein. Dann ließ ich mich fallen. Seine Brust fing mich auf. Hände griffen nach meinen Ellbogen, die sich entspannten, wanderten weiter, umschlossen die Handgelenke. Wir schoben uns vorwärts. Ohne mich aus seinem Griff zu lösen, drückte ich die Klinke zu meinem Zimmer nieder; ich hörte, wie er die Tür hinter uns schloss.

Auf dem Schreibtisch brannte noch die Lampe. Einen Augenblick wünschte ich, es wäre völlig dunkel. Dann wieder war ich ihr dankbar; unter der gespannten Oberfläche keimte ein kraftloses Bedürfnis nach Nüchternheit. An dem harmlosen Lichtkreis erkannte es einen Verbündeten. Behutsam drehte ich mich um meine Achse. Statt mich loszulassen, hatte er nur die Hände erhoben, so dass wir uns mit verschränkten Armen gegenüberstanden. Sein Blick musterte das Tier, das da aus seiner Umarmung hervorkam. Meiner stubste ihn an, als wollte er sagen: ›Hoppla, ich bin auch da‹, bevor er ihn abtastete und verschlang.

Übergangslos brachen wir in ein Gelächter aus, aus dem ich gelöst und irgendwie erfrischt hervorging, zu den Tatsachen, wie es mir wirr durch den Kopf schoss. Das Stampfen nebenan setzte aus. Ich schlängelte mich an den Schreibtisch und löschte das Licht. Das Fenster stand offen, die kalte Luft reizte meine Haut. Ungefiltert fluteten die Geräusche der Nacht mein kleines Apartment. Ein Lastzug dröhnte; sein Scheppern, von Hauswänden vielfach zurückgeworfen, skizzierte ein wüstes, gleichsam richtungsloses Trapez, das vom Zischen und Mahlen des übrigen Verkehrs umspült wurde; vom Fluss schlug das ölige Blubbern eines Lastkahns herüber, und über allem setzte sich das Schwirren draußen, in der Ebene, dahingleitender Fernzüge ins Ohr.

 

Der Brief, ungefaltet, der Brief.
Die Hand daneben, die Hand.
Die Hand, aufflatternd, meine Hand.

Das wars. Den Brief werde ich ins Kuvert stecken, ihn zur Post tragen, durch den Schlitz schieben und das Geräusch hören, mit dem sein Fall endet. Ich werde mir vorstellen, wie ihn der Postsack aufnimmt, gedrängt, Fall an Fall, wie sich Hülle um Hülle um ihn schließt, um ihn schließlich freizugeben an die Hand, die den Umschlag aufreißt, um ihn ans Licht zu ziehen – nein, das werde ich mir nicht vorstellen. Obwohl... vielleicht.

Später vielleicht.

Ich schaue aus dem Fenster, aber ich schaue nicht hin.

Draußen bewegt sich was; ich bin zu müde, um ihm zu folgen.

Ich schlage die Augen auf, einmal, zweimal, aber es hält nicht. Was zufällt, das innere Lid, es lässt sich nicht offen halten.

Die Schwere wächst in den Schläfen.

Da ist etwas, da ist nichts. Ein Vorhang aus grauen, wirbelnden Flocken deckt es zu.

Es? Ach. Ich begreife. Jaja. Ja doch, den Zeugen kenn ich. Ich... bin ihm ein-, zweimal begegnet. Wo? Schwer zu sagen. Es war Tag, es brannte kein Licht. Kichert wer? Hallo! Ist da jemand? Ich rede und wer sind Sie? Wir hatten bereits das Vergnügen? Aber... Ich vermisse Ihr Gesicht. Wie? Sie haben keins?

Ja, das erinnert mich. Bleiben Sie sitzen, es macht keine Umstände, bleiben Sie sitzen. Was wollen Sie wissen? Alles? Nichts? Nichts Bestimmtes? Das ist gut. Es ist gut.

Wir können uns ruhig duzen, es macht keinen Unterschied. Doch doch, ich erinnere mich, Sie gesehen zu haben, es muss eine Weile her sein. Du entschuldigst, wenn ich die Schuhe abstreife und mich aufs Bett lege? Nur einen Augenblick, einen kurzen... Warum denn? Geniert es dich? Aber es ist doch Tag... Ein Tag, so durchwachsen wie der, an dem wir beide, du und ich, nach Berlin fuhren. Weißt du noch?

Ein guter Beifahrer warst du, mag sein, ich vergaß damals, es dir zu sagen. Ich hatte den Kopf so voll; ich glaube fast, ich habe dich vernachlässigt. Du wirst es mir nicht nachtragen, oder? Du erinnerst dich nur noch vage? Komm her, setz dich. Rück ein wenig näher. Leg deine Hand auf meinen Bauch, hier: Spürst du etwas? Ein ganz klein wenig? Doch, du spürst es. Es macht dich verlegen, ich seh dirs an. Ich kenne dein Gesicht, ich habe es nicht vergessen, zwischen den anderen war es immer vorhanden. Heute ist dein Tag, freust du dich? Lächle, so fällt es leichter.

Du willst es also wissen?

Stimmt, so warst du schon damals. Obwohl du eisern schwiegst. Du hättest mich fragen können, vielleicht wäre manches anders gelaufen. Aber es stimmt ja: Ich wollte nicht, dass jemand fragt. Noch heute ist es mir lieber, wenn ich die Fragen stelle. Etwa diese: Was habe ich dir damals gesteckt? Die Fahrt zog sich, wir hatten viel Zeit, was weißt du bereits? Du zuckst mit den Schultern?

›Sei unbewegt –‹ Lach nicht, lächle. Diese Ode an Behrisch hat uns beide beeindruckt. Und schließlich... war es unsere Klausur damals. Du erinnerst...? Als sie vorbei war, gingen wir zusammen ins Café. Nächste Woche, erzählte ich, würde ich nach Berlin fahren. Du warst entzückt, wolltest sofort mitkommen, hattest Gründe, die ich vergessen habe, Vorwände vielleicht; jedenfalls fasste ich so einen Verdacht und zögerte. Nicht deinetwegen; bilde dir da nichts ein. Aber ich musste allein sein, musste allein ankommen; du störtest. Andererseits störtest du nicht zu sehr. Ich konnte dich bei deinen Freunden absetzen und sagen, da ist keiner, und wenn alles schiefging, war doch einer da, der mich mitnahm wie vorher ich ihn. So dachte ich... vielleicht, vielleicht nicht, egal.

Ging es schief? Ging alles schief? Es ging anders. Du wurdest überflüssig in diesem Spiel. Aber du störtest auch dann nicht. Eigentlich störtest du nie. Und heute... Heute brauche ich dich vielleicht. Halt still, ich will dir etwas zeigen, am Ohrläppchen, da: Siehst du es? Eine Narbe.

Wer? Nicht, was du denkst. Ich habe sie mir eingeritzt, bevor wir losfuhren. Ich fasse gern dorthin, ganz unwillkürlich. Ich wollte ein Mal besitzen, ein Erinnerungszeichen. Denn, was du damals nichts wissen konntest, ich fuhr zu spät. Um einen Abend und einen Tag zu spät.

Viel habe ich dir nicht verraten. Nur – so beiläufig, wie es mir eben gelang – , dass ich einen Freund besuchen wollte. Das war nicht falsch, aber nicht die ganze Wahrheit. (Doch doch, du wusstest es. Ich mag nicht, dass du den Ahnungslosen spielst, lass das.) Also gut, ich besuchte nicht irgendeinen Freund. Ich fuhr zu dem Mann, mit dem ich zwei Jahre zusammen gelebt hatte, bevor ich im Westen blieb, als sich, wie man damals sagte, mir unverhofft die Gelegenheit bot. Ein verschollenes Leben: keine Briefe, keine Telefonate. Ich wollte ihn nicht gefährden, redete ich mir ein; alles Lüge. Man heiratete schnell da drüben, früher oder später lief alles auseinander. Hier im Westen wollte ich eine andere sein. Die, die ich auch war, die ich gewesen war, wünschte ich – wohin eigentlich? Ins Nirgendwo. Was, dachte ich, ging mich an, was gewesen war? Nichts, gar nichts. So sollte es sein.

Ich bin müde, zu müde. Das Schneegestöber, es lässt nicht nach. Ich fühle nur, etwas ist da. Lass mich reden, lass mich. Lass mich ausreden; ich spreche mich ein. Frag nicht, in was. Ich weiß es nicht.

In der Nacht, als die Mauer fiel, wie man heute sagt, feierte eine Bekannte – Gudrun, glaube ich, hieß sie – ein kleines Fest, ein Festel, wie wir das nannten. Kein Wunder also, dass wir nichts mitbekamen. Aus einer unbegreiflichen Laune heraus schaltete ich am nächsten Morgen den Fernseher ein. Da stand dieser Mann im Bundestag; er sprach den Satz, den wir uns später immer wieder auf allen Kanälen anhören mussten: »In dieser Nacht sind wir Deutschen das glücklichste Volk auf der Welt.« Ich dachte nichts, sagte nur halblaut vor mich hin (und empfand dabei seltsam wenig): Jetzt ist er übergeschnappt.

Als die Bilder aus Berlin kamen, lief es mir kalt über den Rücken. Mein Vater hatte ziemlich hoch in der SED mitgespielt, und wenn ich mir auch sicher war, dass er meinen Weggang ›im Grunde‹ nicht missbilligte, so ließ sich doch kaum übersehen, dass er meinen Bruder und mich der Partei gegenüber zur Hörigkeit erzogen hatte. Er machte gern Scherze und für die meisten seiner Mitkämpfer empfand er eine unausgesprochene Verachtung; aber dabei blieb es auch. Du hättest ihn kennen sollen: ein schlanker, duldsamer Mann, der selbst im Zorn höflich und immer ein bisschen zärtlich blieb. Ich hing an ihm und hasste, was ich seine Kompromisse nannte. Doch auf der Ebene der Reflexe war alles entschieden, das merkte ich rasch, als ich hierher kam, und die Bestürzung, die mich angesichts der Menschen überfiel, die auf der Mauer standen und andere nachzogen, angesichts all der Gesichter, die leuchtend einen Punkt im Imaginären fixierten, den ich nur zu gut kannte, war so stark, dass mein Herz stockte.

Du rückst ab? Wie sensibel. Natürlich empfand ich das Glück der Leute, wie nicht? Beide Empfindungen sprangen in mir auf wie ein Paar gekreuzter Klingen. Ich stand, stand, und dann – dann sah ich ihn. Ein blasses Gesicht, ein Schatten inmitten der schiebenden Menge, vor dem zweiten Blick schon wieder verschwunden. Ich begann zu zittern, so stark, dass ich mich setzen musste und die Tasse, die ich geistesabwesend auf dem Tisch von mir fortschob, aus der Untertasse sprang. Und dieses Zittern – ich wünschte, du verstehst, was ich meine –, es ist bis heute da. Es läuft in mir fort, unter der Oberfläche, es bricht hinterrücks aus, ohne Vorwarnung, unvermutet, draußen, unter Leuten, oder am Schreibtisch, allein. Selbst jetzt sind wir nicht sicher davor, es kann jeden Augenblick losgehen. Du verstehst? Nein? Aber ich will es; ich will.

Ich bin nicht sentimental. Ich weiß mich meiner Haut zu wehren, wenn es darauf ankommt. Sofort machte ich mir klar, dass hier nicht eine ausgestandene Liebesaffäre unversehens wieder aufbrach. Es war schlimmer: mein früheres Leben griff nach mir und überflutete mich. Der Osten, das war ich selbst, die ich nicht mehr sein wollte; unzugänglich verwahrt in einer altertümlichen Vitrine, zu der es keinen Schlüssel mehr gab, weil er vor Menschengedenken versehentlich in den Abfall geraten war. Die Vitrine war aufgesprungen, groß, dunkel, geborsten ragten ihre Flügel in den Raum. In ihrer Mitte, zierlich, auf einem verblichenen Platzdeckchen stand mein anderes Ich und musterte mich. Es musterte mich durch ein Paar Augen, die ich allzu gut kannte, und ich, ich... drehte mich weg. Aber das Zittern kam und verging, ohne zu fragen, wie ich mich gerade fühlte und ob ich genügend Zeit hatte. Wenn es zwischendurch abklang, wusste ich, dass es in Wahrheit blieb und wartete. Das Warten besaß ein Gesicht: graue Augen, breite Stirn, einen dicken Mund und ein energisches, schlecht rasiertes Kinn.

Komm, sei nicht müde. Du bist niemand, aber du bist hier. Langsam legt sich das Gestöber. Im Kessel bollert das Wasser. Soll ich dir einen Tee aufgießen? Nein? Komm näher, zeig dein Gesicht. Siehst du, da und da – und hier: alles Stellen, an denen er immer die Stoppeln stehenließ. Es schabte ein wenig, wenn wir uns küssten, wahrscheinlich, weil ich so ein langes Kinn habe. Weißt du, wo wir uns kennenlernten? In einem Poetenseminar im Harz. Er schrieb Gedichte, wie ich auch. Das heißt, eigentlich keine Gedichte, sondern lose Wortfolgen, die niemand verstand, mimosenhaft, ziemlich autistisch. Manche Zeilen sind mir im Gedächtnis geblieben:

Schnee spreizt Wunden
Schaben schaben
im Käferduett

Vermutlich waren auch lustige Sachen darunter. Uns fiel das nicht auf. Er weigerte sich strikt, etwas vorzutragen. Er teilte die Manuskripte aus und verlangte, dass wir schweigend über seiner krakeligen Handschrift brüteten. Kaum zu glauben, er hatte auch einen Beruf: Er war Drucker in Frankfurt an der Oder. Mein Vater hat uns dann rasch eine Wohnung in Berlin-Mitte besorgt, Altbau. Wir fühlten uns reichlich privilegiert, dabei lehnten wir so etwas aufs entschiedenste ab.

Du merkst schon, in welches Fahrwasser ich gerate. Es war wieder da: die zerbeulten Mülltonnen im Hof, die halb zerschlagene Kloschüssel im Treppenhaus, die welken Gemüsevorräte auf dem Balkon der Nachbarin, einer älteren Frau mit schiefgezogenem Mund, die so durchdringend grüßte, dass wir nie mit ihr sprechen wollten – in meinen Träumen hatte alles seinen festen Ort, und ich huschte wie ein schreckhaftes Gespenst dazwischen herum.

Ich weigerte mich fernzusehen. Herumliegende Zeitungen übersah ich geflissentlich. Wenn ich einen Trabi die Straße entlangrollen sah, wechselte ich auf die andere Seite. Später, viel später, in einer Magazinsendung, sah ich zum zweiten Mal die Bilder jener Nacht. Ich starrte und starrte. Das Gesicht erschien nicht. Vielleicht war die Sequenz herausgeschnitten worden. Ich weiß es nicht, will es nicht wissen. Ah, ich vergaß, welche Kraft es Tag für Tag kostete, an den Briefkasten zu gehen. Ich wollte ihn abreißen lassen, mir ein Postfach zulegen, doch die Hausverwaltung blieb zäh, sie bestand auf dem Kasten. Nach einem Jahr war ich mürbe. Meine Prüfungen hatte ich hinter mir, einige jedenfalls; ich musste mich neu orientieren. Also schrieb ich ihm an unsere alte Adresse, ich würde ihn besuchen, dann und dann, falls er es wünschte. Zehn Wochen später kam eine Karte. Sie enthielt seine neue Anschrift und vier Wörter: Ich freue mich. Peter.

Es hätte mich stutzig machen müssen. Ich – freue – mich: Was war das? Ein doppeltes Ich? Ein Nichts? Aber ich verfiel in heillose Aufregung. So kam ich zu unserer Klausur. Du hast nichts davon bemerkt? Ich meine doch: ich zog dich mächtig an. Deine Blicke hingen an mir, dass ich hätte umfallen können, wenn ich nicht bereits in einem anderen Griff gezappelt hätte. Du warst reizend, du warst ahnungslos, du warst so unbeteiligt an allem, dass ich dich hätte umarmen mögen, weil du nicht in Betracht kamst. Du warst draußen, du warst das Café, du warst das Tablett, das die Bedienung vorbeitrug, die Gabel, die ich in meiner Hand hielt und ein ums andere Mal fortlegte, weil ich keinen Bissen herunterbrachte. Du warst nicht da, du existiertest nicht; du hättest dich in Luft auflösen können, ich hätte es nicht bemerkt. Kränkt es dich, jetzt, wo du es weißt? Ein kleines bisschen vielleicht? Nein? Macho.

Zwei Abende vor unserer Abfahrt lud meine Zimmernachbarin zu sich ein. Sie hatte, wie sie glaubte, ein Traumlos gezogen: Eine Kölner Buchhandlung nahm sie als Lehrling an – nicht irgendeine Buchhandlung, eine ganz besondere sollte es sein, ich habe vergessen, warum. Sie freute sich so, dass eine Atmosphäre von Rührung, leisem Neid und gönnerhaftem Spott über dem ganzen Abend lag, wie ich es seither nicht wieder erlebt habe. Ich kannte die wenigsten ihrer Freundinnen und langweilte mich ein bisschen, wahrscheinlich, weil sich meine Gedanken ohnehin nicht zügeln ließen. Unschlüssig überlegte ich eine Weile, ob ich mich zurückziehen sollte. Es lohnte nicht recht; bei dem Lärm, der alle Wände durchdrang, war weder an Lesen noch an Schlafen zu denken. Ich ging zur Tür, langsam, versunken, ich glaube sogar, ich hatte Tränen in den Augen, als mich ein Stoß in den Rücken traf. Das war nichts Besonderes angesichts der herrschenden Enge und der Abgeschlossenheit der Grüppchen, die einander die Rücken zukehrten, gestikulierten und sich vor Lachen bogen. Ich schreckte auf, ohne mich nach dem Grobian umzublicken, als die Stimme mein Ohr traf: dunkel, ein wenig samtig, mit einem sich ständig verändernden sonoren Kern; gerade so, als sei da jemand, der die Wörter nach seinem Bedarf artikulierte und sie dann erst zum allgemeinen Gebrauch freigab.

Natürlich hatte er mich nicht beachtet. Er stand und redete auf eine schmächtige, schwarzhaarige Studentin ein. Ihre Augen sprühten. Nach jedem Wort, das sie sprach, fuhr sie sich mit spitzer Zunge blitzschnell über die Lippen. Als verrichte in ihrem Mund, unbeschadet des vorgerückten Abends, ein kleiner stählerner Mechanismus seinen Dienst.

Eigentlich sah ich sie nur einen Augenblick. Er wandte mir sein Profil zu: die Nase mit einem etwas groß geratenen Knorpel, aufgeworfene, dabei energisch gespannte Lippen, ein rundes, wie eine Boxerfaust vorspringendes Kinn und über allem die Stirn – groß, flauschig, ein Kuckucksheim für jede Art von Getier, eine Stirn zum Darüberstreichen und Wolkenschieben, eine Stirn zum Vergessenwollen und schon Vergessenhaben.

Ich tippte ihm an die Schulter – er trug eine graue Wolljacke, die dort, wo sie auf die Jeans traf, sich etwas abspreizte – und sagte mit einer rauhen Stimme, die ich bei der Gelegenheit kennenlernte: »Beim nächsten Mal mit mehr Effet, wenn ich bitten darf!«

Er sah mich an, irritiert, mit einem halb abwesenden Blick, von dem ein schmaler Strahl durch mich hindurchging, zurückkehrte, verschwand. Ich hatte den Kopf zurückgeworfen und senkte die Augen. Der Blick kam wieder, erst prüfend, dann in einer Art von Erstaunen sich auffächernd, so dass ich unwillkürlich die Schultern anhob und zurückwich.

Es muss gegen vier gewesen sein, als ich aufwachte. Michael (es war uns gerade noch gelungen, unsere Vornamen auszutauschen) hatte sich zur Seite gewälzt und mich dabei aufgedeckt. Ich fror. Geräuschlos, soweit es gelang, zog ich mich an und schlenderte in die Küche, um mir eine Zigarette anzuzünden.

Ich war nicht die einzige dort. Zwischen dem klapprigen Gemeinschaftskühlschrank und überquellenden Abfalleimern kauerte meine Nachbarin-im-Glück auf einem dreibeinigen Rohrstuhl; ein Häufchen Elend. Das Make-up zerlaufen, das Haar zerwühlt, Tränen flossen ihr übers Gesicht. Sie erkannte mich, stand auf und fiel mir mit einem Schluchzen um den Hals. Geistesabwesend streichelte ich sie. Forschend sah sie mich an, nahm sich zusammen und verschwand wortlos durch die offene Tür.

Meine Gedanken liefen wie unter Glas, nicht greifbar. Ameisenhaft wimmelten sie an der Oberfläche eines Gefühls, das, durch meine vibrierenden Nerven in Erregung gehalten, eher noch zunahm, wenn dies überhaupt möglich war. Es ist entschieden: so oder ähnlich lautete seine Botschaft, jedenfalls für den Augenblick. Mein Körper projizierte einen zweiten Körper in den umgebenden Raum. Ich spürte Michaels muskulösen und irgendwie massigen Widerstand. Mir war klar, wo er im Lauf der Jahre Fett ansetzen und in die Breite gehen würde. Ich war schon entschlossen, es nicht bei dieser Nacht zu belassen. Irgendwann würden wir unsere Waffen gegen uns kehren, das schien mir sicher. Ich fühlte mich bereit, es mit ihm aufzunehmen.

Die Fahrt konnte ich absagen. Gleich am Morgen würde ich alles Nötige veranlassen. So bestand immerhin die Möglichkeit, dass an meiner Stelle ein Telegramm in Berlin eintreffen würde, das die Sache ein für allemal bereinigte. Gegen meinen Willen begann ich mir vorzustellen, wie Peter die Nachricht aufnehmen würde. Es berührte mich peinlich, als ich bemerkte, dass es mir nicht gelang, sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Beunruhigt nahm ich zu der Vorstellung Zuflucht, er habe mich längst aus seinem Leben gelöscht und endlich dürfe ich nun darangehen, ein gleiches zu unternehmen.

Die Erleichterung hielt nicht lange an. Wie, wenn er, durch mein Telegramm aufgeschreckt, auf die Idee kam, mich heimzusuchen? Das war gefährlich, das war nicht auszudenken. Ich hätte schreien mögen bei dem Gedanken und schob ihn weit von mir, aber nicht weit genug. Bei jedem Klingeln, überfiel es mich, würde ich künftig zusammenzucken; ich würde kaum noch die Kraft aufbringen, über Nacht allein zu bleiben, aus Angst, er könne mit einem Mal im Zimmer stehen und mit halblauter Stimme auf mich einreden. Das waren Hirngespinste, lächerlich, ich wusste es wohl und wischte sie beiseite. Aber der nächste Augenblick zeichnete ihre bedrohlichen Schatten erneut an die enge Wandung meines schlaftrunkenen Gehirns. Ich drückte die Zigarette aus und floh zurück ins Zimmer. Undeutlich hob sich die Silhouette des Schläfers in meinem Bett. Ich zog mich aus, schlüpfte unter die Decke und kraulte ihn sacht. Er war hellwach.

Den Vormittag verbrachten wir im Bett. Es war mein letztes Semester; nie mehr sollte ich erfahren, ob Foucault die Vorzüge der weiblichen Enthaltsamkeit im dritten Band von Sexualität und Wahrheit (oder ist es der vierte?) nur aus historischer Genauigkeit auflistet oder ob er uns damit etwas gesagt haben möchte. Gegen elf Uhr stellte ich uns ein kräftiges Frühstück zusammen. Wir aßen in der Küche, allein. Gelegentlich schaute die eine oder andere Mitbewohnerin herein, verdrückte sich rasch. Die Unrast im Hause prallte an uns ab. Bald zogen wir uns wieder in mein Zimmer zurück. Nachmittags wurde Michael unruhig. Vage deutete er an, er müsse noch einige unaufschiebbare Dinge erledigen, schlug vor, den Abend in seiner Wohnung zu verbringen. Ich brachte ihn an die Tür und lief durch den schneidenden Wind in Richtung Post, um das Telegramm aufzugeben. Auf der Straße standen Pfützen, einzelne Schneeflocken wehten vorbei; manchmal traf mich eine ins Gesicht.

In der Hauptstraße wurde ich langsamer. Ein Kinoplakat, undeutlich, blieb haften, zog mich zurück. Ein billiges Nichts, eine bonbonfarbene Karikatur. Ein Mannsbild mit hartem Gesicht und markigen Fäusten beugte sich über eine Frau mit entblößten Brüsten. Eine Winzigkeit in der Pose des Mannes hatte meine Aufmerksamkeit geweckt – eine gewisse, mir unverkennbar scheinende Art, wie seine Schulter sich senkte und sein Hals sich hob. Die Frau wandte ihm das Gesicht zu – Augen, die bettelten, einen grotesk überzeichneten Mund, groß, feucht, saugend.

Ich spürte den Schlag. Langsam, achtlos wandte ich mich ab, zitterte. Erst leicht, als müsse sich mein Körper an etwas lange Zurückliegendes erinnern, dann hier und da heftiger zuckend, schließlich so, dass ich die Hände in die Manteltaschen krallte, weil ich fürchtete, sie würden davonwirbeln, sobald ich sie ließe. Schweiß trat auf meine Stirn, indessen eine vibrierende Kälte von den Füßen her in mich eindrang. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen; es ging, unter Mühen. Grölend zog eine Horde Schüler vorbei. Das Postamt hatte ich aus den Augen verloren. Im Wohnheim zurück, begann ich mehr oder weniger mechanisch den Koffer zu packen. Draußen dunkelte es bereits wieder.

Das Haus lag nicht weit von dem Schuhgeschäft, in das ich jedesmal ging, wenn ich, was selten genug vorkam, etwas Elegantes suchte. Ein hohes, eisernes Gitter versperrte den Durchgang. Nach einigem Warten bemerkte ich, dass es nur angelehnt war, und ging hinein. Er wohnte, fünf Stockwerke hoch, unter dem Dach. Die Tür zur Wohnung stand offen. Ich ging einen engen Flur entlang, von dem linkerhand verschiedene Räume abzweigten, während sich rechts an der Wand ein langes Bücherregal entlangzog. Er hatte mir schon gesagt, dass er in einer Wohngemeinschaft lebte.

Die Tür am Ende des Flurs war nur angelehnt. Ich drückte sie auf. Da stand er, die letzte, noch unentzündete Kerze in der Hand, und hielt ihren Docht in die bläulich aufschlagende Flamme eines Feuerzeugs. Die anderen flackerten in der Zugluft und ließen die Damastdecke schimmern, auf der die Gläser und das teuer blinkende Porzellan vibrierten, als hätten sie ungeduldig auf meine Ankunft gewartet. Er stand und lächelte. Seine stumpfgrünen Augen hatten einen samtenen Schleier. Das ließ sie zur gleichen Zeit unterwürfig und gesetzt erscheinen, etwa als wollten sie sagen: Sieh her, das alles ist deins, aber sieh zu, dass nichts zu Bruch geht; ich müsste dich sonst unweigerlich zur Verantwortung ziehen. Er trug einen dunklen Blazer. Das weiße, fein gestreifte Hemd stand oben offen, aber so, dass etwas fehlte. Für einen Augenblick kam es mir vor, als ob die ganze Gestalt sich um diese nicht vorhandene Krawatte herum organisierte. Ich flog auf ihn zu, nahm ihm die Kerze aus der Hand, umarmte ihn und küsste ihn ab, bis wir schwindlig auf einen der Stühle sanken.

Langweilen dich meine Geständnisse? Du hast recht, ich verliere mich ins Detail. Aber doch eigentlich nur, weil ich wieder stocke, nicht recht weiß, wie fortzufahren. Es fällt mir nicht schwer, das leichte Knarren der Tür, den Tisch mit den brennenden Kerzen, den Flügel im hinteren, abgedunkelten Teil des asymmetrischen Raumes, den schweren Vorhang, der den rückwärtigen Durchgang verhüllt, das zweideutig lächelnde Gesicht aus dem Gedächtnis aufzurufen. Wieder spüre ich den unbestimmten Drang, das alles durcheinanderzuwerfen, die Koordinaten umzubiegen. Doch über dem, was dann kommt, liegt dieser feine Nebel, und jetzt, da ich versuche, ihn wegzubringen, setzt auch der Druck in den Schläfen wieder ein.

Warum? Eine gute Frage: Ich weiß es nicht. Eigentlich geschah nicht viel in der Nacht. Mein Koffer lag gut verstaut im Auto, das ich unten auf der Straße geparkt hatte. Dieses Faktum verlieh mir, seltsam zu sagen, eine Art halb versteckten, halb trotzigen Ichgefühls. Das hinderte nicht, dass ich mehrfach mit den Tränen kämpfte. Es war ein edler, vielleicht etwas schwerer französischer Wein, den Michael besorgt hatte – ein besonderer Jahrgang, der mir entfallen ist. (Von seinem wohlgehüteten Weinkeller ahnte ich noch nichts.) Nachdem ich ein paar Mal genippt hatte, wusste ich mich in Sicherheit und sprach ihm großzügiger zu. Der Wein löste Michael die Zunge. Wieder durchschauerte mich der Klang seiner Stimme. Ich hing an seinen Lippen, nickte und lächelte ihm zu, sagte hier und da »Oh« und »Ja?«, während wir Austern verzehrten und Baguettescheiben mit Knoblauchbutter bestrichen. Endlich hielt es ihn nicht mehr auf seinem Stuhl. Er faltete die Serviette zusammen. Ich musste an unsere Küchentücher im Wohnheim denken und langte nach dem Glas. Vorsichtig blies er die Kerzen aus, umrundete den Tisch, zog meinen Stuhl zurück – während ich leise protestierte –, hob mich auf und trug mich quer durch den Raum. Mit der Schulter schob er den Vorhang zurück. Zwischen zwei hohen Fenstern stand ein wuchtiger Schreibtisch mit gedrechseltem Aufsatz, vollgestopft mit Handbüchern und Lexika. Daneben, zur Rechten, lagerte eine Ottomane auf Löwenfüßen, überzogen mit schwarzem, glänzendem, hier und da rissigem Leder. Auf sie ließ er mich umsichtig nieder. Ich schloss die Arme um seinen Hals und spürte das Gewicht, das sich auf mich herabsenkte. Ich rieb mein Gesicht an seiner glattrasierten, nach Olivenöl und Eau de Cologne riechenden Wange. Registrierte den erst vorsichtigen, dann stärkeren Druck, mit dem sein Bein meine Schenkel zu öffnen versuchte, und fühlte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten.

Er konnte nicht wissen, dass zwei oder drei Schluck Alkohol genügen, um mein ›Begehren‹ auf absehbare Zeit auszulöschen. Ich genoss die Wärme seines Körpers und kuschelte mich an ihn. Gegenüber seinen Versuchen, mich in Fahrt zu bringen, blieb ich schlechterdings passiv. Das verwirrte ihn, wie ich merkte, und weckte seine Ungeduld. Der Wein hatte ihn staksig gemacht, er begann, mir wehzutun, so dass ich ihm schließlich ein wenig entgegenkam. Doch was dazu angetan sein mochte, seinen Drang weiter zu steigern, beruhigte mich und schaukelte mich endgültig in jene bleierne Müdigkeit hinüber, aus der ich von Zeit zu Zeit auftauchte, um gleich wieder rettungslos zu versinken.

Im Traum – welchem? – lief ich über eine Brücke, die sich zu beiden Seiten in einem hellen Nebel verlor; aus der Tiefe drangen Geräusche, dumpf, krächzend, bänglich. Ich rannte, wollte den Rand der Brücke erreichen und mich hinunter beugen, doch sie dehnte sich ins Unerreichbare. Knirschend öffnete sich der Eingang zu einem Treppenhaus, ich sprang hinein und taumelte die enge Treppe hinab. Durch eine Eisentür trat ich hinaus. Aber ich musste mich wohl im Stockwerk geirrt haben, denn ich stürzte... Ach was, es war doch nur ein Traum.


 

Notizen für den schweigenden Leser

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