1.

Die Kritik – was ist das? Offenbar dies und das: eine okkasionelle Tätigkeit, ein Spektrum wenig zusammenhängender ›Institutionen‹, ein berufliches ›Credo‹, vor allem aber eine Idee, ein Wert, dem Unwert auf zweideutige Weise verbunden. Ein Idol also, produktiv dadurch, dass es die Einbildung vieler stimuliert. Nichts anerkennen, was nicht am checkpoint irgendeiner Kritik festgehalten und gründlich kontrolliert wurde: So lautet die Maxime, der sich der wissenschaftliche Alltag ebenso unterwirft wie das Gefühlsleben des durchschnittlich ›kontrollierten‹ Individuums. Zwar gilt sie nur unter Vorbehalt, doch dieser – kritische – Vorbehalt gegen die Kritik schwächt sie nicht ab, sondern macht sie praktikabel: er integriert sie in den Gang der Dinge, ins Netz der Verpflichtungen und Rücksichten, in die Einsicht, dass es gelegentlich an der Zeit ist, Sachen zu tun, die einfach nicht zu rechtfertigen sind, weil jede Art der Rechtfertigung von vornherein als Skandalon gälte.

Diese Prärogative der Kritik in der Kultur, die man, mit welchen Hintergedanken auch immer, die westliche nennt, kommt nicht von ungefähr. Einerseits hält ihre Entstehungsgeschichte Muster durchgeführter Kritik (der Religion, der Metaphysik, des Kapitalismus u.ä.) bereit, deren Identifikationswert ihre sachliche Triftigkeit inzwischen bei weitem übersteigt, andererseits sind die Begriffe von Kritik und Kultur auf eine nicht immer leicht zu durchschauende Weise miteinander verquickt. Der alltagswirksame, weil gedankenlos gebrauchte Begriff der Kultur setzt den der Barbarei voraus, von welcher das ›kultivierte‹ Gemüt sich schaudernd abwendet. Barbarei und Kultur sind Wechselbegriffe: letzterer als Inbegriff alle Anstrengungen, sich von ersterer zu distanzieren, und als Anstifter des Argwohns, das Stigma des Barbarischen, des Primitiven etc. falle unmittelbar auf die stigmatisierende Instanz zurück, sei selbst das Produkt einer fortbestehenden Roheit. Kultur beruht auf Distanznahmen, die ohne zu kritisierende Anmaßung nicht zu haben sind. Nur die Kritik verhindert zuverlässig den Mißgriff, sie für sicheren Besitz zu halten, statt sie ›einzuklagen‹, wie man eine Zeitlang schrieb. Eine seltsame Klage: Angeklagte, Kläger und Richter sind, als Agenten ein und derselben Bewegung, nur mit Mühe oder gar nicht zu unterscheiden.

Es bedarf keines sonderlichen Scharfsinns, um festzustellen, dass der ethnologische Begriff der Kultur, der stets eine Pluralität von ›Kulturen‹ umschließt, dieser Auffassung energisch widersteht. In ihm tritt die prima vista unauflösbar wirkende Beziehung von Kultur und Kritik in den Hintergrund. Das ethnologische Modell geht von dem Grundsatz aus, alle Organisations- und Lebensformen seien als prinzipiell gleichwertig anzusehen – ob als gleich effizient, das bleibt die Frage –; es verbietet, seiner ethischen Lesart nach, alle Verständigungsweisen, in denen sich eine Kultur über andere erhebt. Damit produziert es ein wohlbekanntes Phänomen: Angesichts unausweichlicher, weil ihren Verfahren zwangsläufig inhärenter Überschreitungen hält es die Kultur der Kritik im Bann ritueller Zerknirschung. Die Kritik am ›Ethnozentrismus‹ einer Kultur ruft daher eine Antikritik auf den Plan, die darunter leidet, dass sie abstrakt ist und nur abstrakt sein kann. Die Ursache liegt auf der Hand: der Universalismus der Werte krankt daran, dass die Kritik, die ihn postuliert, auch als diejenige Instanz auftritt, die ihn unbarmherzig bekämpft und bekämpfen muss, da sie in jedem Verfahren zur Feststellung solcher Werte roh dominierende Kräfte am Werk findet, sollten auch die Absichten lauter und die unmittelbaren Folgen vertretbar erscheinen. So jedenfalls stellt sich dem beteiligten Betrachter das Dilemma dar, in das die Gralshüter westlicher Werte sich nicht ohne inneren Antrieb begeben haben und in dem sie den Spott wie die Bewunderung ihrer weniger prinzipienfesten oder nur unentschiedenen Zeitgenossen auf sich ziehen.

In dieser zugegebenermaßen verzwickten Situation richtet sich der Blick auf die Personengruppe, in der das kritische Potential der Gesellschaft sich losgelöst von den Notwendigkeiten der Arbeit und der in ihnen sich zwangsläufig vollziehenden Mediatisierung der Kritik inkarniert: die Intellektuellen. Ihr ›Geschäft‹ (soweit der Ausdruck ihrem Mitteilungsbedürfnis gerecht wird) gilt der uneingeschränkten Kritik der Kultur. Ein sonderbares, ein unumgängliches Geschäft, da jede Einschränkung, einmal akzeptiert, den im Namen der Kultur gegen sie angestrengten Prozeß zum Erliegen bringen würde. Das Bedürfnis, dem es zur Hand geht, besteht keineswegs darin, die Individuen zu ›kultivieren‹. Im Gegenteil: den Wunsch des Einzelnen nach Kultur, nach ›Bildung‹, nach Politur als vorgeschoben zu enttarnen und die in ihm wirksamen Energien an die Aufgabe zu wenden, die Kultur zu individualisieren, ihr jene Härten und Zwänge vorzurechnen, vermöge deren sie seine als Individuation getarnte Sozialisation voranbringt, darin liegt der Dreh- und Angelpunkt des intellektuellen Abenteuers. Undenkbar eine Literatur in diesem Jahrhundert, die nicht an ihm teilnähme, an ihm teilgenommen hätte: als Komplizin, als Zuträgerin, nicht zuletzt als Betroffene.

Die Selbstverpflichtung, Gewaltverhältnisse aufzudecken, wo immer sie sich finden mögen, figuriert als perpetuum mobile inmitten des Gewebes aus Überzeugungen, standardisierten Argumenten und Handlungsritualen, das im folgenden ›Intellektualismus‹ genannt wird. Sie ist die treibende Kraft hinter seinen Initiativen und der Grund dafür, dass seine Resultate bereits im voraus bestimmt und daher – bei gehöriger theoretischer Phantasie – konstruierbar sind. Das spricht nicht von vornherein gegen ihn, auch wenn sein Glauben auf einem Kult beruht: dem Kult der Differenz. Differenziere, und du wirst den Faktor Gewalt in jedem ›Verhältnis‹ antreffen, dem du dich zuwendest. Ob du Geschmack an ihm findest oder nicht, in der Aktion oder in der Theorie, das tut nichts zur Sache, das berührt nur die Frage, auf welche Seite du dich zu schlagen gedenkst. Die ethisch-ontologische Auszeichnung der Differenz, die Überzeugung, seine Arbeit getan zu haben, sobald man einmal mehr etwas als ein anderes enttarnt hat (genauer gesagt: es gezwungen hat, sich aus einer Tarnung in eine andere zu flüchten), bürgt für die Einförmigkeit der kritischen Vernunft nach dem Ableben der dogmatischen.

Wohl wahr: Rationalität ist ohne Wiederholungszwang, ohne eine gewisse Mechanisierung des Denkens nicht zu haben. Routinen töten das Denken nicht, sondern erlösen es aus seiner Situationsverfallenheit; sie setzen es, recht verstanden, erst in Gang. Allerdings unter der Bedingung, dass sie von Zeit zu Zeit überprüft werden: Ihre Leistungsfähigkeit ist von begrenzter Dauer. Letztere zu erkennen und angemessene Folgerungen aus der Einsicht in die Endlichkeit einer als essentiell angesehenen Form der Kritik zu ziehen, könnte sich als das Gebot der Stunde erweisen. Zu seinen Glanzzeiten hat es der Intellektualismus verstanden, seine Obsessionen als Endspiele der europäischen Vernunft zu inszenieren; nachdem die dazugehörigen Requisiten in der Rumpelkammer der Geschichte verschwunden sind, begnügt er sich damit, nur noch obenhin, in wissenden Abbreviaturen, Optionen zu berühren, im Gestus eines fortwährenden Es ist vollbracht. Das Denken hat also frei; das im Medium der Gleichgültigkeit konservierte Endzeitbewußtsein paart sich mit dem Verdacht des Anachronismus und der wachsenden Überzeugung, das Neue sei bereits vorhanden und warte auf Anerkennung, die ohne wirkliche Arbeit – die ›Arbeit des Begriffs‹ – nicht zu gewinnen sei.

 

2.

Das Geschäft der Intellektuellen ist das Überschreiben. Es ist ihre Antwort auf die Konkurrenzsituation, in die sie sich schreibend begeben. Immerhin handeln sie mit Produkten für Märkte, die nur spärliche Sensationen bereithalten. Hier und da erschließen sich neue Absatzchancen, doch das sind Glücksfälle, auf die zu warten keine Zeit bleibt. Der eine oder andere ergattert sich ein kleines Monopol. Die Reaktion der Mitbewerber heißt: Eifersucht. Dieser da besetzt den Platz, der von Rechts wegen mir zusteht – ein Usurpator zweifellos. Ich muss auffallen, indem ich ihm ähnlicher werde. Auffällig werden – darin liegt der Sinn der Überschreibungen, die jene modernen Palimpseste hervorbringen, in denen das Überschriebene konsequent die kalligraphischen Neueinträge überstrahlt. Aber die Plackerei bleibt vergebens, die Blicke des Ungleichen gehen über die potentiell Gleichen hinweg; sie interessieren nicht, schon gar nicht als Gleiche. Beiläufig allerdings eröffnet sie den allein erfolgversprechenden Weg, um von dritter Seite die Zuwendung zu ergattern, die das Individuum zur öffentlichen Person werden lässt. Von dritter Seite: also von seiten derer, die nachdrängen oder sich amüsieren wollen, sofern sie nicht bloß hereinschauen, um sich kundig zu machen, welche Überzeugung man heute trägt. Als öffentliche Person findet sich der Intellektuelle in seinem Element. Intellektuellenposen sind Menschheitsposen, unter diesem Anspruch ist nichts zu machen. Der Intellektuelle, bewegt von dem, was alle angeht, sieht die der Notwendigkeit, sich entweder Gehör zu verschaffen oder zu schweigen. Die Praxis verlangt von ihm beides. Das bestimmt seine Tonlage.

Die intellektuelle Mimikry, das Bedürfnis, sich – vor großem Publikum – zu unterscheiden und dadurch ähnlich, erkennbar zu werden, begrenzt die Themen und die Möglichkeiten, sie aufzubereiten. Im gleichen Zug schafft es eine Oberfläche aus Ähnlichkeiten, an der die vorgeblich entscheidenden Fragen komplimentierend weitergereicht werden – entweder zurück an die Gründungstexte oder weiter an die Fülle derer, die noch ausstehen, die aber – als Ausstehende – bereits ins Kalkül der Schreibenden eingehen. Dieser Zug ist nicht neu. Die großen Eroberer auf intellektuellem Terrain waren stets auch unverächtliche Zauderer. Ein Relikt, vielleicht, aus religiösen Zeiten: Auf den heiligen Texten liegt ein Tabu, das den, der die Liste möglicher Auslegungen durch seine definitive Auslegung zu schließen sich anschickt und dadurch den Urtext entwertet, mit Exkommunikation und Schlimmerem bedroht. Aber es ist nicht nur ein Relikt, sondern auch das Ergebnis einer radikal erneuerten Erfahrung. Die Schamanen des Intellekts zeigen sich entschlossen, die Stelle des Religionsstifters – und der dazugehörigen Texte – vakant zu halten. Es gehört zu den Regeln des Spiels, die finale Situation zu vermeiden, in welcher die vordergründige Entschiedenheit der Rede dazu führen könnte, das Abgefertigte als abgetan zu behandeln und auf sich beruhen zu lassen. Wer im Spiel bleiben will, darf nicht die Würfel verbrennen. Entschiedenheit und Indifferenz charakterisieren die intellektuelle Existenz zu gleichen Teilen. Je geringer die Differenz der Ansichten, desto schärfer die Konkurrenz der Namen und umso radikaler die Ersetzung der alten durch die, deren Träger gerade neu die Arena betreten: Darin liegt eines der Geheimnisse, denen die Szene ihre relative, immer aber erstaunliche Stabilität verdankt.

 

3.

Der Ausdruck ›Intellektualismus‹ ist behaftet mit Reminiszenzen der europäischen Zwischenkriegszeit, ihren Schau- und Richtungskämpfen, deren Vernichtungspotentiale nur unwesentlich verzögert in Erscheinung treten sollten. Der geistige und soziale ›Typus‹, den er bezeichnet, wird durch die Benennung in einem das normale begriffliche Maß übersteigenden Sinn als Phänomen isoliert: eine geistige Selektion, der die physische folgen konnte, weil sie in ihr vorgedacht war. Die Zeugnisse lassen keinen Raum für Zweifel – Intellektualismus hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts als Entgleisung zu gelten, wenn man mitreden wollte im großen Spiel, als hypertrophe Mißbildung der Erkenntnisfunktion und Quelle gesellschaftlichen Fehlverhaltens, als Kompensation eines Mangels an jener Spielart des Gemeinsinns, die aus dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe die Gefühle solidarischer Geborgenheit nach innen und unverhohlener Feindseligkeit nach außen gewinnt. Von Maurice Barrès bis Oswald Spengler, von August Bebel bis Max Weber wissen sich die ›führenden Köpfe‹ in der Überzeugung geeint, der ›rein‹ intellektuelle Weltzugang reiche nicht aus, um dort mitzureden, wo es um die Gestaltung des großen Ganzen gehe. Die von Bebel auf dem Dresdner Parteitag von 1903 überflüssigerweise ausgegebene Parole, den Intellektuellen zu mißtrauen, wann immer man sie treffe, sollte vor dem Mißverständnis bewahren, der antiintellektuelle Affekt sei ursprünglich auf der politischen Rechten zu Hause. Offensichtlich bemerkt man ihn überall dort, wo jemand mit sich und der eigenen Sache sich im reinen weiß und es vor allem darum geht, sie durchzusetzen. Sieht man genauer hin, so lauert er bereits in der Proklamation der ›eigenen Sache‹, die sich nur als gerechte denken lässt. Er lauert auf seine Chance und es hat eher Seltenheitswert, wenn er sie nicht bekommt.

Die Kritik am ›abstrakten‹ Intellektualismus eint Intellektuelle und Antiintellektuelle. Beide beschwören ein Defizit, das sich bei näherem Hinsehen in Rauch auflöst: die angebliche Unfähigkeit des reinen Intellektuellen, sich emotional zu binden. Dem Abziehbild kalter Arroganz, mit der, wie es die eine Legende will, die Apologeten der Macht über die Mühsamen und Beladenen dieser Erde hinwegsehen, begegnet die andere Seite mit dem Vorwurf höhnischer Vernachlässigung von Herkunft, Nation und gewordener Sittlichkeit seitens der professionellen Menschheitsbeglücker. Ein fernes Nachgrollen dieses Tamtams durchzittert die Arbeiten der Feinsinnigen. Sobald es anschwillt, hat der Intellekt nicht nur seine eigene Stimme im Konzert der Mächte verwirkt, sondern auch die Gründe aus den Augen verloren, die ihn veranlassen konnten, das öffentliche Schweigen zu brechen. Strenggenommen gibt es keine Antiintellektuellen. Wer sich in diesem Spiel der Zuweisung von Defiziten zu Wort meldet, hat die Regeln bereits akzeptiert und darf kritisiert werden, so, als meinte er es mit seinen Argumenten ernst. Es gibt keine Intellektuellen, die nicht zugleich Antiintellektuelle wären. Wer sich darauf beschränkt, die Argumente des Gegners zu zerpflücken, ohne ihn tendenziell als Feind der guten Sache zu betrachten – als jemanden, der seine Argumente als Waffen in einem Kampf einsetzt, in dem es um Sieg oder Niederlage geht –, ermangelt merklich des Wir-Gefühls; er hat nichts begriffen. Ob es gerade en vogue ist, den Gegner einen Intellektuellen oder einen Intellektuellenhasser zu heißen, den ›Ehrentitel‹ des Intellektuellen zu führen oder die Schmach zu fürchten, als solcher zu gelten, dies zu entscheiden gehört bereits zum Spiel, als eine Art Spiel im Spiel, in dem die Helden mit Charaktermasken hantieren, die dem Publikum kundtun, dass man in seinen Äußerungen zwar nicht reell, aber um der Sache willen entschieden zu wirken gedenkt.

 

4.

Der Antiintellektualismus in all seinen Spielarten hat einen gemeinsamen Gegner: den Liberalismus. Intellektualismus, so liest man bei Simmel, der aus übergeordneten Gründen vorzog, es nicht besser zu wissen, repräsentiert die Charakterlosigkeit des Geldes im Geiste und erweist sich damit als das ideologische Unterfutter des liberalen Wirtschaftssystems. Der Intellekt als solcher »ist der indifferente Spiegel der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind”, sofern jedes seinen Preis hat. ›Der Intellekt als solcher‘: gegen diese Instanz hatte bereits Rousseau erfolgreich polemisiert und damit den Prototyp des Intellektuellen mit schlechtem Gewissen aus der Taufe gehoben, der sich gerade aus diesem Grund als das personifizierte Gewissen seiner Nation, der Gesellschaft und schließlich der Menschheit begreift. Der intellektuelle Antiintellektualismus enthält neben der unübersehbaren Konzession an die Mitwelt den im Intellektualismus selbst wirksamen Code. Denn die Vorstellung eines ausgebildeten ›reinen‹ Intellekts, der frei von Interessen der Wirklichkeit gegenübertritt, um sie analytisch zu durchdringen und auf der Grundlage dieser Analysen das jeweils eigene Interesse seines Trägers zu definieren, stößt sich an den Realitäten, so wie sie sich in der Theorie als unhaltbar entpuppt, sobald man ihr ein wenig nachgeht. Wo sollte sich der Intellekt wohl formen, wenn nicht in dauernder Auseinandersetzung mit den Realitäten, denen er angeblich interesselos gegenübertritt? Die Konstruktion des ›kalten‹, von Natur und vom Leben abstrahierten und abstrahierenden Intellekts fällt – und zwar vollständig – in die Selbstkonstruktion des kritischen Intellektualismus. Letzterer ist keineswegs identisch mit dem in tödlicher Abstraktheit verharrenden ›reinen‹ Intellektualismus, er bewegt sich diesseits des Intellektualismus, auf der Seite des Lebens, er vertritt die Ansprüche, die das Leben an den einzelnen und die Gemeinschaft stellt, gegenüber den falschen, weil übertriebenen Ansprüchen des Intellekts. Weit davon entfernt, die wirklichen Interessen zu vernachlässigen oder gar zu annihilieren, macht er sich zu ihrem Sachwalter, dem einzigen, den sie – recht betrachtet – besitzen, da er sie aus der Verschlossenheit des durchsetzungswilligen Subjekts herausholt und zum Gegenstand eines einzigartigen Interesses macht, das alle teilen können, selbst dann, wenn es sie in der Sache spaltet – des Interesses an Verständigung. Damit lastet die Todeskälte der Abstraktion nicht länger auf dem Intellekt, sondern auf dem von ihm entworfenen Gegenspieler, dem ›reinen‹ Interessenmenschen, der unter jeder ihn scheinbar integrierenden Organisationsform als in der Nacktheit seines unreflektierten Wollens erscheinender ›Einzelner‹, als atomisiertes Individuum erkennbar wird, als traurige Bestie.

 

5.

In diesem Punkt sprechen Apologeten und Kritiker die gleiche Sprache. Was sie trennt, ist, dass die einen scheinbar in eigener Sache, die anderen gegen eine nicht – häufig: nicht länger – als die eigene angesehene Sache polemisieren. Das erinnert daran, dass es ›die Sache‹ der Intellektuellen nicht wirklich gibt. Zur Sache kommen bedeutet, über die Gemeinplätze hinauszukommen, über die man sich in der Regel rasch einigen kann, es bedeutet, Position zu beziehen und den mühsamen Prozeß der Herausarbeitung von Differenzen in Gang zu setzen. In diesem Prozeß fällt der Polemik die Aufgabe zu, den fatalen Schein zu zerstreuen, intellektuelle Differenzen seien ohne Differenzen zwischen Personen und Gruppen zu haben. In jeder Polemik lebt daher, ob gewollt oder nicht, die Abgrenzung gegen den ›reinen‹ Intellektualismus wieder auf. Die Intellektuellen – die falschen nämlich – sind immer die anderen. Es bedarf schon einer informellen Übereinkunft zwischen den Gruppen, die festlegt, welche von ihnen gerade eher geneigt ist, die Benennung für sich zu akzeptieren, um so die falsche Intellektualität der anderen ungeniert brandmarken zu dürfen, und welche jede Intellektualität von vornherein für ›falsch‹ hält. Auf diese Weise kommt eine Härte ins Spiel, deren Vokabular sich mühelos als eines der Verfolgung, der Ausgrenzung um – fast – jeden Preis zu erkennen gibt, dann nämlich, wenn es ›hart auf hart kommt‹, wobei jede Seite mit Macht darauf drängt, für sich den Verfolgtenstatus zu reservieren. Der Topos der verfolgten Vernunft verbürgt den manichäischen Zug, der sich überall dort einstellt, wo Wahrheitsfragen über Gruppenzugehörigkeiten entschieden werden.

Dieses Motiv geistiger und existentieller ›Unnachsichtigkeit‹ verdient es, genauer betrachtet zu werden, da an ihm etwas hervortritt, was man am ehesten als die doppelte Opferfunktion des Intellektuellen umschreiben könnte. Vor aller relativierenden Gegnerschaft ist intellektuelle Härte Hartnäckigkeit gegen sich selbst, Wille zur Selbstautopsie. Die Selbsternennung des Aspiranten zum exemplarischen ›Fall‹ und die mit ihr einhergehende Abgrenzung gegen die anderen ist ein notwendiger Schritt auf diesem Weg und gewissermaßen bereits eine Vorwegnahme des Ergebnisses. Denn worin es auch bestehen wird, ungeachtet jeder weiteren Differenz beschneidet es jenes Geflecht mittlerer Beziehungen, in dem das Individuum sich als gesellschaftliches – und vergesellschaftetes – Wesen erlebt und die Befriedigungen und Verletzungen erfährt, denen keine Theorie den Index von ›Tiefe‘ verleiht, obwohl sie sich im Alltag als ebenso tiefgreifend wie folgenreich erweisen. Hat man sich einmal entschlossen, ›Kultur‹ als das System von Vermittlungen zu begreifen, das die Erlebnissphäre des einzelnen vorhält und ihn mit einer schützenden Hülle normaler, nach den Maßgaben von Vertrautheit normierter Bezüge umgibt, dann lässt sich nicht leugnen, dass der intellektuelle Aufbruch ins Unvertraute, der feste Wille, die herrschenden Formen der Vergesellschaftung als für den einzelnen wie für die Menschheit insgesamt als verderblich zurückzuweisen, der Kultur den Krieg erklärt. Unabhängig davon, ob die Kriegserklärung von – gleichfalls selbsternannten – Vertretern der Kultur angenommen wird, gestaltet sich die Auseinandersetzung zu einer Zerreißprobe für das Subjekt, das vor dem Hintergrund seiner Fiktionen als Stellvertreter anonymer Mächte operiert: ›der Gesellschaft‹, ,des Geistes‹, ›der Massen‹, ›der Revolution‹, ›der Minderheiten‹, ›der Biosphäre‹.

Der Intellektuelle opfert sich – in der Einbildung, die er mit anderen teilt. Er setzt damit eine Reihe von Phantasien in Gang, die zunächst die eigene Vorstellung beschäftigen, weil sie mittelbar aus dem Entschluß zum Selbstopfer hervorgehen, dann jedoch, mit geringerer Zwangsläufigkeit (aber, sofern sie eintreten, nicht ohne Grund fatalen Konsequenzen), seine nähere oder fernere Umgebung erfassen, sobald die Außenseite seines Entschlusses für die anderen kenntlich wird. Niemand entzieht sich ungestraft den Erwartungen seiner Umgebung, indem er die Gemeinsamkeiten aufkündigt, die offenbar bereits durch ihren Plural, also ihre Eigenschaft, immer und überall als Vermittlungsinstanzen aufzutreten, eine verstellte Welt anzeigen, die das in der Tiefe erlöste, mit sich und allem einig gewordene Subjekt zuverlässig verhindern. Wer so handelt, gibt sich preis. Er liefert seine Person den bewußten oder unbewußten Grausamkeiten aus, welche die Gruppe für jeden bereithält, der so unverständig ist, ihre Regeln nicht als die eigenen zu begreifen. Die Anerkennung, die Intellektuelle seitens der Gesellschaft erfahren, setzt eine Art von informellem Toleranzedikt voraus, eine mühsam antrainierte und leicht zu überspringende Aggressionshemmung: Das System der Ehrungen und der Verfolgung ist ein und dasselbe.

Das intellektuelle Selbstopfer ist – wie sollte es anders sein – ein Akt der Sinnproduktion. Der Wunsch, der in ihm nach Erfüllung tastet, geht dahin, die anderen auf ein Programm festzulegen, das die Überwindung der ›Verhältnisse‹ vorschreibt und die zu erwartende Indolenz der Akteure im voraus als Versagen brandmarkt: des einzelnen vor der Gattung, der Mitwelt vor den kommenden Generationen. Wie jedes Opfer bleibt es von Sinnlosigkeit bedroht, da es sich der Hingabe an die Illusion verdankt, die Bühne, auf der die Menschheitsfragen definitiv entschieden werden, sei das eigene Selbst. Diese Illusion ist keineswegs undurchlässig für Stimmen, die es anders wissen; ein beträchtlicher Aufwand an Posen und Ausflüchten wird benötigt, um sie in jenen entscheidenden Augenblicken zum Schweigen zu bringen, in denen es darauf ankommt, sich unzweideutig zu geben. Unzweideutig ist nur die Sache. Also gilt es, die Hingabe an die Sache auf den äußersten Punkt zu fokussieren, an dem die Person hinter der Sache – oder in ihr, wie gewitztere Mystagogen wissen – verschwindet. Dieses Verschwinden aber muss inszeniert sein, es bedarf einer Vorstellung, welche die Zweideutigkeiten des Subjekts und der Sache auf die Spitze treibt, um sie in einem Spiel der Verwechslungen und willkürlichen Vertauschungen zu versenken. Das Aufgehen des Subjekts in der Sache ist eine Projektion, in der aus Macht Ohnmacht und aus Ohnmacht Macht hervorgehen soll. Gewöhnlich bleibt die Person dabei gut sichtbar auf der Strecke – im besseren Fall ernüchtert, im schlimmeren als Objekt klinisch versierter Interpreten.

So kommt es zur Figur der ›äußersten Härte‹, in welcher der einzelne den Gedanken der Sinnlosigkeit der Inszenierung und des leeren Erlösungswahns, der in ihr spukt, mit der gleichen Unnachsichtigkeit gegen sich selbst und seinesgleichen inszeniert wie vordem das Opfer selbst. In gewisser Weise ist es das Opfer noch einmal, in anderer Hinsicht seine Vollendung: Auf das Verfügenwollen – über die Apparate, über die Massen – folgt die Dekapitierung des Selbst, sein von Illusionen umkräuselter Wiedereintritt ins Kollektiv, in dem jeder an seinem Platz darauf hält, die in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die elende Praxis der Selbstbezichtigung, mit der sich in den Dreißiger Jahren eine Intellektuellengeneration von den Schauplätzen ihres Wirkens verabschiedete, wurde zum Vor- und Widerspiel jener routinierten Intellektuellenschelte, mit deren Hilfe alsbald willfährige, zu jeder ›geistigen‹ Dienstleistung bereite Handlanger der jeweiligen Systeme ihren skrupulöseren Mitstreitern die Verantwortung für den verqueren Weltlauf aufbürdeten. Der ›Tod der Systeme‹ – des Systemdualismus – hat dieses Register vielleicht ein letztes Mal erweitert – um den posthumen Verdacht und die politisch-moralische Leichenschau.

Doch weit davon entfernt, die dem Intellektualismus eignende Dynamik stillzustellen, erweist sich die Intellektuellenschelte als weitere Station auf einem Weg, an dessen Ende nicht länger Selbstzweifel und Verfolgung, dafür aber Ritualisierung und Langeweile das Feld beherrschen. So müßig es scheinen mag, mit ausholender Gebärde die geschäftige Leere anzuprangern, in der eine aufgesetzte Nachdenklichkeit selten den Punkt überspringt, an dem es gilt, sich zwischen einem Dutzend Fernsehkanälen zu entscheiden und im Warenhaus der Begriffe und der fixen Ideen den einen oder anderen Einkauf zu tätigen, so unverkennbar wiederholt sich darin der anfängliche Gestus der intellektuellen Inszenierung – mit dem Unterschied, dass sich der Spott und das Verlangen, ein neues Spiel zu beginnen, nicht länger an den Wortführern und Dunkelmännern eines verachteten Systems entzünden, sondern an der umfassenden Betriebsamkeit, der man sich durch die eigenen Machenschaften verbunden weiß. Der ›performative Widerspruch‹, der darin gefunden werden könnte, dass man die historische Rolle der Intellektuellen in beherrschter Manier für beendet erklärt, löst sich nicht dadurch auf, dass man sich hier und jetzt für oder gegen ›den Betrieb‹ entscheidet. Im Gegenteil: die beliebige Wiederholbarkeit derartiger Entscheidungen in der einen oder anderen Richtung zeigt ihre Nichtigkeit an. Das intellektuelle Mißtrauen ist über den Punkt hinausgeraten – durch welche Drift auch immer –, bis zu dem es sich von Gegnern umstellt sah. Das Gefühl der Einkreisung, dort, wo es sich herstellt, geht von ihm selbst aus; es lässt sich nicht mit dem Mißtrauen des einzelnen gegen sich selbst oder gegen seinesgleichen abspeisen, es kehrt sich nicht gegen den Popanz des falschen Intellektualismus oder Logozentrismus, vor dem die Gazetten sich ängstigen. Weit eher nährt es den Verdacht, von der Peripherie der Kämpfe in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten zurückgeschleudert zu sein.

 

6.

Ein solcher Verdacht könnte es als ein Gebot geistiger Redlichkeit erscheinen lassen, die Mitte neu zu bestimmen. Es wäre abzusehen, dass jede Bestimmung, je nachdem, wovon sie ihren Ausgang nimmt, sie an anderer Stelle lokalisieren würde: ein nicht unbeachtlicher Hinweis darauf, dass ein intellektuelles Dogma nicht existiert und nicht existieren darf. Was den Intellektualismus verbindet, was ihn erkennbar macht, lässt sich als eine Kernzone beschreiben, in der die unterschiedlichen Projekte ihre unterscheidbaren und ununterscheidbaren Anfänge nehmen. In ihr verdichten sich gewisse, teilweise homologe Grundüberzeugungen, die sich in Gegnerschaften bekunden, ohne dass man stets den Punkt exakt bestimmen könnte, an dem sich der Gleichklang in Widerspruch verwandelt. Intellektuelle Rede- und Schreibmuster sind Ad-hoc-Bildungen, die den äußeren Anlaß benötigen und in ihrer Entfaltung, in ihren Attitüden, Formeln, Streit- und Bewältigungsmustern durch eine gewisse, nur unzureichend zu fixierende Familienähnlichkeit glänzen.

Doch nicht der Intellektualismus ist das Problem. Es ist der lautlose Exitus, der sich seit geraumer Zeit in ihm ereignet, das Ende einer Form der Kritik, die noch zu nahe und zu vertraut erscheint, als dass die Ursachen – und Folgen – ihres Verschwindens bisher ernsthaft ins Auge gefaßt worden wären. Zwar fehlt es nicht an Versuchen, sie als überflüssig und – wie gehabt – als schädlich zu deklarieren, doch mit Angriffen dieser Art ist sie groß geworden, sie sind das Lebenselixier, dem sie bislang ihre stets wiederkehrende Frische verdankte.

Alle tönenden Pamphlete, in denen ein ethisches ›Versagen‹ der Intellektuellen angesichts dieser oder jener Herausforderung des ablaufenden Jahrhunderts diagnostiziert und mit höhnischen Kommentaren verziert wurde, wecken den Verdacht falscher Generalisierungen – und also der Unredlichkeit. Sie ziehen den Vorwurf auf sich, den sie erheben. Das Problem, das der Intellektualismus inzwischen aufwirft, liegt in den Techniken des Argumentierens, soweit sie von ihm aufgenommen oder ausgebildet und standardisiert wurden, um sie als Waffen für die laufenden Auseinandersetzungen tauglich zu machen. Die Waffen sind stumpf geworden und keine neuen in Sicht. Das legt den Gedanken nahe, den Techniken einerseits bis in die Filiationen ihrer Anfänge, andererseits in den Verwendungsweisen nachzuspüren, die ihre gegenwärtigen Einsätze bestimmen.

Damit ist das Programm dieser Untersuchungen vorgezeichnet: Es geht nicht darum, zum soundsovielten Male aufzuwärmen, was diese oder jene Person in einer verfänglichen Situation geschrieben oder zu schreiben unterlassen hat. Wohl aber geht es darum, zu erfahren, wie das intellektuelle Spiel, das ›Sich-Einschreiben‹ ins große Ganze des jeweiligen Weltgeschehens, in jenen Konstellationen funktioniert, aus denen es, will man den Apologeten glauben, seine Legitimation bezieht. Die Spielmetapher, gewöhnlich auf das genormte Rollenverhalten gemünzt, kehrt angesichts solcher im nachhinein ›historisch‹ genannter Situationen ihre zweite Bedeutung hervor: Es gibt Momente, in denen Intellektuelle – wie ihre Mitmenschen auch – zu Glücksspielern werden, die auf Gewinn oder Verlust setzen, weil ein ruhiges Abwägen dessen, was sich risikolos sagen lässt, die Rolle nicht freigibt, der sie sich verschrieben haben. Zur Geschichte dieses Jahrhunderts gehört es, dass die Gewinne mager, die Verluste unmäßig erscheinen. Die Waffen sind stumpf geworden: Das besagt auch, dass die Taten vollbracht sind und der Begutachtung harren. Der Widersinn, einst Teil des Spiels, kehrt sich gegen diejenigen, die es noch einmal versuchen, weil sie nicht bemerken, was sie davon abhalten könnte. Genau das gilt es zu begreifen.

 

7.

Auch wenn Intellektualismus und Kritik konvergieren, so sind sie doch keineswegs identisch. Die Kritik des ›reinen‹ Intellektualismus, dieses zentrale Lehrstück des ›realen‹ Intellektualismus, setzt voraus, dass es einen Unterschied zwischen beiden gibt, und lässt erkennen, dass man ihn in den Unterscheidungen aufsuchen muss, mit denen letzterer operiert. Nun denn: Kritik als Basisoperation des ›kritischen‹ Intellekts richtet sich zunächst weder gegen Zustände noch gegen Argumente. Sie richtet sich gegen ein Ideal- oder besser Zerrbild, das dieser von sich selbst entwirft. In ihm residiert er als ortloses Gegenüber der Handlungsmächte, als idealer Zuschauer, der in jede Richtung gleichen Abstand hält. Der Entschluß einzugreifen soll der Zuschauerrolle ein Ende bereiten. Doch weit gefehlt: auch der scheinbare – oder wirkliche – Akteur bleibt Zuschauer. Der Entschluß zentriert die Aufmerksamkeit im Hinblick auf das, was vorgeht, sofern er den Zuschauer im Beobachtungsraum plaziert. Die intellektuelle Perspektive verdankt sich einem Nichtgeltenlassen, das, ausgehend vom ›reinen‹, unaffizierten Intellekt, die Umstände, Bedingungen, Zustände erfaßt, die der unbeteiligte Intellekt gelten ließe, weil er von keinem Antrieb wüßte, ihnen ein erdachtes anderes entgegenzusetzen. Diese Kritik ist ungerecht, da sie sich gegen eine als abstrakt denunzierte ›Gerechtigkeit‹ in Szene setzt. Der Perspektivismus – man bemerkt es bei Nietzsche wie bei seinen heutigen Nachfahren – zieht seine Überzeugungskraft zum nicht geringeren Teil aus der dauerhaften Auflehnung gegen eine verbindliche Optik, die ihre Objektivität dem unterschiedslosen Geltenlassen dessen, was ist, verdankt, also einer niemals und nirgends durchzuhaltenden Abstraktion. Der Sinn der Auflehnung liegt darin, das abstrakte Geltenlassen als eine Rechtfertigungstaktik zu begreifen, die aufhört, Stich zu halten, sobald man sie nach ihren Gründen befragt. Was immer der Kritik einfällt, gehört in die Klasse der Gegengründe, ist Ausdruck jenes primären Nichtgeltenlassens, das für keinen einzelnen ihrer Gründe im besonderen einsteht, weil es selbst grundlos bleibt, solange man von den lebensweltlichen Handlungsmotiven absieht, die es ebenso absichtsvoll wie unabsichtlich in seine Regie nimmt.

Es ist keineswegs müßig, dieses Strukturmerkmal intellektueller Kritik herauszustellen und mittels sorgsamer Lektüren an den Texten hervortreten zu lassen, auch wenn die Autoren nichts davon zu wissen scheinen. Denn in der Praxis vermengt sich diese Erscheinungsform der Kritik mit anderen, nicht weniger ausgeprägten. Ihr situativer, die Gelegenheit suchender, nur selten um äußere Anlässe verlegener Charakter verwischt die Grenze zu einer Art der Kritik, die von vornherein partikular ist, nicht, weil sie sich künstlich auf bestimmte Anlässe einstimmt, sondern weil sie außerhalb des Sachverhalts, an dem sie sich entzündet, Gelegenheit zu Weiterungen nur in Ausnahmefällen sucht oder findet. Dieser ›perennierende‹ Typus der Kritik liefert – nicht zu unterschätzende – Rechtfertigungen, sobald sich die kritische Intelligenz einer Sache annimmt. Überdies verleiht er ihr im Einzelfall etwas, woran sie, eingedenk ihres abstrakt-reflexiven Ursprungs, einen kaum je ganz zu beseitigenden Mangel leidet: Sachkompetenz. Daß sie ihn für ihre Zwecke benützt, ohne in ihm aufzugehen, scheint legitim zu sein, ist aber nicht frei von Voraussetzungen, über die zu reden sein wird.

In einem 1978 gehaltenen Vortrag mit dem Titel Was ist Kritik? bezeichnet Michel Foucault das ›moderne Projekt der Kritik‹ als »eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.« Diese Weise und dieser Preis liegen nicht von vornherein fest, sie können wechseln, ohne dass das ›Projekt‹ deswegen ins Wanken geriete, weil es von Fall zu Fall auf ›Entunterwerfung‹ aus ist, gleichgültig darum, um welche unterwerfende Instanz es sich handelt und wie sie beschaffen sein mag. Die Vokabel der ›Entunterwerfung‹ deutet es an: Kritik, wie Foucault sie versteht, soll in etwa dem entsprechen, was Kant vorschwebte, als er Aufklärung als den ›Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit‘ bestimmte. Kritik hier, Aufklärung da – die Differenz, die Kant zwischen beiden setzt, soll darin bestehen, dass er dem Projekt der Aufklärung vorgängig – als ›Prolegomenon‹ – die Bestimmung der Grenzen der Erkenntnis ,aufbürdet‹. Eine schwere Bürde, wie sich, mit Foucault gesprochen, im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausstellt, das zwar eifrig die gegen die Aufklärung verschobene Kritik des Kantischen Typus betreibt, aber demgegenüber die Aufklärung (und damit die aufklärerische Kritik) vernachlässigt.

Man mag von solchen Epochencharakterisierungen halten, was immer man will. Der Nachdruck allerdings, mit dem Foucault die französische Diskussion an die deutsche Fortsetzung einer genuin aufklärerischen Kritik vom Linkshegelianismus bis zur Frankfurter Schule – also an die diversen Schulen der Herrschafts-, Wissenschafts- und Technikkritik – anzuschließen versucht hat, um jene als fatal empfundene Verschiebung rückgängig zu machen, lässt ein wenig in Vergessenheit geraten, dass all diese Schulen selbst (den Sonderfall Nietzsche vielleicht ausgenommen) stets behauptet haben, das Erbe der Vernunftkritik zu repräsentieren und die von ihnen vorgeschlagenen Veränderungen auf dem Feld der zugelassenen Fragen und Antworten durch eine Kritik der Vernunft selbst rechtfertigen zu können. Sollten also tatsächlich Kant und seine wissenschaftsbeflissenen Nachfolger den Begriff der Kritik mit nur sehr begrenztem Recht für ihre Zwecke okkupiert haben – und sollte es an der Zeit sein, diesen Zustand zu beenden –, dann müßte im Gegenzug auch von der Okkupation des ›Projekts‹ der Vernunftkritik durch jene – in Foucaults Lesart: genuinen – Aufklärungsschulen die Rede sein. Beides zugleich jedenfalls ist nicht zu haben: Entweder die Kritik ignoriert die Fragen, die sich aus der Annahme einer selbstgenügsam – im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnis – ihre Grundlagen bedenkenden Vernunft ergeben, und widmet sich in ungebrochener Verfügungsmanier den Filiationen zwischen der in Wissenschaft, Staat und Technik institutionalisierten Vernunft und den all diese Bereichen primär konstituierenden Machtfragen, oder sie entschließt sich, Machtfragen, wann immer sie sich stellen, in den Bereich ›vernünftiger‹ Regelerwägungen zurückzuführen. Im ersten Fall wird sich die Kritik vorhalten lassen müssen, sie konserviere – je länger, desto sichtbarer – einen irrationalen Kern und verstoße damit gegen ihr selbst auferlegtes Programm uneingeschränkter Aufklärung, im zweiten wird sie der Aufgabe nicht ausweichen können, ihr Verhältnis zur Macht anders zu klären als durch den theoretischen und praktischen Anschluß an ›Bewegungen‹ aller Art, sofern diese nur gewillt sind, energisch genug die Machtfrage zu stellen.

 

8.

Intellektuellenfragen sind Generationsfragen. 1914, 1917, 1933 und 1945, nicht zu vergessen 1968 und zuletzt 1989 – jedesmal hat die Politik Schicksal gespielt, wenn es darum ging, die Grundfrage nach dem richtigen Leben unter den Bedingungen der Moderne in diesem Jahrhundert zu beantworten. Stets waren die Antworten vorformuliert und warteten darauf, abgerufen zu werden. Die Tatsache aber, dass sie abgerufen wurden, dass sie Gelegenheit bekamen, aus der zirkelhaften Enge akademischer Debatten herauszutreten und Einfluß auf Herzen und Hirne zu gewinnen, verdankt sich dem ›Generationserlebnis‹, diesem höchst sonderbaren Phänomen, in dem das jeweils eigene Erleben sich mit allem möglichen Angehörten, Angelesenen, Angedachten zum Mythos des Dabeigewesenseins, des Geprägtseins verdichtet. Die Frage sei allerdings erlaubt, ob bei diesem ›Erlebnis‹ alles mit rechten Dingen zugehe, ob das ›Phänomen‹ nicht eher als ›Konstrukt‹ zu begreifen sei, als eine höchst künstliche Einrichtung zur Konditionierung eigenen und fremden Verhaltens, nicht zuletzt Denkverhaltens im Sinne jener Handvoll Ideen, von denen man nicht zu Unrecht annimmt, dass sie allein das Zeug dazu haben, sich im Kampf der konkurrierenden Entwürfe durch massenhafte Verbreitung in Geltung zu setzen und dort zu behaupten, bis das folgende ›Erlebnis‹ den nächsten Deutungsumschwung mit sich bringt. Denn an sich ist keineswegs einzusehen, warum der Ausbruch eines Krieges, einer Revolution, eine dubiose ›Machtübernahme‹ oder eine verzweigte Protestbewegung einen Geltungsschwund gewisser Ideen und eine unwiderstehliche Sogkraft gewisser anderer Ideen bewirken sollen – es sei denn, man übernimmt das hilflose Vokabular von Sozialhygienikern, die Ideen für mehr oder weniger gefährliche ›Erreger‹ halten und ihre Ausbreitung anhand der üblichen Ansteckungskurven bei Grippe oder Aids studieren.

Doch nicht die Ansteckungsbereitschaft oder ›Suggestibilität‹ der ›Massen‹, sondern die nicht unbekannte Anfälligkeit von Intellektuellen (die selbst nur allzu geneigt sind, über ihre Zeitgenossen zu Gericht zu sitzen) für Verführungen jeder Art gibt Anlaß zum Nachdenken, sobald die Frage nach der Wirksamkeit bestimmter Ideenpotentiale gestellt wird. Das liegt einesteils an der Offenheit und Inhomogenität dieser Gruppe: Intellektueller ist, wer dazu gezählt wird oder sich selbst dazu zählt. Erlaubt ist, was gefällt. Es liegt anderenteils daran, dass die klassische Disjunktion zwischen ›den Intellektuellen‹ und ›den Massen‘ – also dem Teil der Bevölkerung, dem das Etikett ›intellektuell‹ verweigert wird –, bereits ein Bestandteil des Problems ist. Die Einteilung der Bevölkerung in Handelnde und Zuschauer, in solche, die sich ausschließlich mit der Durchsetzung von Interessen befassen, und andere, die (zwar nicht ebenso ausschließlich, aber erkennbar) irgendwie das ›Ganze‹ oder das ›System‹ in den Blick nehmen, diese Einteilung ist nicht nur heikel – was noch kein Fehler wäre –, sie ist auch einseitig. Sie impliziert eine Blickrichtung (die intellektuelle Blickrichtung auf die anderen) und sie impliziert einen Ausschluß: die anderen, die nicht oder nur zum kleineren Teil wissen, wie ihnen geschieht, sie können tun, was sie wollen, sie werden nicht aufhören, jene verführ- und verfügbare ›Masse‹ darzustellen, aus deren Erscheinungsbild sich die happy few des Geistes ihre kritischen und gelegentlich auch amüsanten Eindrücke zusammenstellen.

Verführbar sind immer die anderen. Das klingt schlimm genug, aber die Unterstellung reicht tiefer: Die anderen, das sind die schon immer Verführten – wenn nicht durch uns, dann durch die Gegenpartei, jene kalte, störrische, geistlose, geschmeidige, glänzende, schwarze Partei der Macht, die sich im herrenlosen Gebiß eines Ministers ebenso zu verkörpern vermag wie in den Schachtelbeteiligungen der Medienindustrie. Nicht dass man selbst keine Beziehungen zu ihr unterhielte, aber eben Beziehungen, wie es sich im Verkehr zwischen Mächten ziemt. Die Pluralisierung, die Pulverisierung der Macht im Leben des einzelnen ist das Werk der Interpretation: sie macht den Kopf frei, indem sie jene kompakte, dichte Innen- und Gegenwelt in zahllose An- und Aussichten aufsplittert. Der Übergang zum Feind, die Selbstdegradierung zum Büttel und Handlanger der Macht, kann daher, sobald es nicht mehr als opportun gilt, ihn zu bemänteln, nur als Verrat am Geiste begriffen und mit der angemessenen moralischen Fassungslosigkeit kommentiert werden. Entsprechend fallen die Begründungen aus. Sie gruppieren sich um zwei Allerweltsweisheiten: (1) Intellektuelle sind auch nur Menschen – mit ihrem Ehrgeiz, ihren Macht- und Imponierbedürfnissen und ihrer Angst, und (2) Intellektuelle sind Triebtäter; sie brillieren noch dort, wo sich das einfache moralische Gemüt schaudernd abwendet, und es fällt ihnen immer etwas ein – und sei es zu den Stalin und Hitler dieser Erde. Beide Begründungen haben den Augenschein für sich, ohne zu überzeugen. Die erste verfehlt die Ebene des Problems; sie stimmt immer. Die zweite wiederholt offenkundig nur das krude Standardargument des Antiintellektualismus von der beliebigen Verfügbarkeit des ›freien‹ Intellekts.

Die Dinge bekommen ein anderes Gesicht, wenn man Verführbarkeit nicht als Randthema sozialer und politischer Überlegungen oder als persönliche Charakterfrage betrachtet, sondern als etwas, das unmittelbar aus dem intellektuellen Rollenverständnis erwächst. Verführbarkeit setzt Verführung voraus: durch Ideen, Positionen, Ämter und Anführer, durch die Macht also, wie man zu sagen pflegt, häufig ohne zu bedenken, dass letztere erst als in ihren Deutungen anwesende jene Attraktivität entfaltet, angesichts derer kein Halten mehr möglich erscheint. Intellektuelle sind stets auf beiden Seiten im Spiel, als Verführte und Verführer, als Selbstverführer, die von ihrem eigenen Deutungselan mit- und hinweggerissen werden. Dieser spezielle élan vital realisiert sich im Spiel um die Macht, als Spiel um die Macht, und wer meint, die angestrebte Deutungsmacht bleibe von wirklicher Macht weit entfernt und bedeute daher in der Praxis Ohnmacht, der läuft bereits Gefahr, einer naiven Verwechslung von Macht und Konsum zu verfallen. Deutungsmacht entfaltet sich im Getümmel der Interpretationen. Aber – und daran erinnern die Jahreszahlen –, diese Macht ist nicht autonom, sie ist stets geborgt, sie zerrinnt mit den Konstellationen, die sie unermüdlich ausschreibt, und sie zerfällt gelegentlich spontan – wie man 1989 sehen konnte –, wenn das Regime zu bestehen aufhört, das ihrer Dienste bedurfte.

 

9.

Die Ideen und die Erlebnisse – Leitideen auf der einen, Schlüsselerlebnisse auf der anderen Seite –, sie müssen besondere Eigenschaften haben, um nahtlos zueinander zu passen und so eine Zeitlang für stabile Verhältnisse in den Köpfen zu sorgen. Nicht der Kriegsausbruch 1914, sondern das aus einer diffusen, durch Jugendbewegung und Vergleichbares gespeisten Erlebnisbereitschaft hervortretende Erlebnis des Kriegsausbruchs trug die sogenannten Ideen von 1914, die als Ideen längst bereitlagen, ohne dass man so recht gewußt hätte, wozu. Nicht der Vietnamkrieg gab dem ’68er Protest seine intellektuelle Reichweite; zutreffender wäre zu sagen, dass sich der Protest schrittweise an sich selbst und – jedenfalls in Westeuropa – an Ideen und Posen der Zwanziger und Dreißiger Jahre bereicherte, die er erfolgreich für eine ›Generation‘ revitalisierte und popularisierte. Und schließlich: nicht die Ereignisse von 1989 zeitigten das Konglomerat reflexartiger Überzeugungen, das heute die Köpfe regiert, sondern von langer Hand ausgebildete Überzeugungen übersprangen die Grenzen nicht allzu kleiner Zirkel, sobald sich die Gelegenheit dazu bot, und wurden allgemein. Was man erfuhr, ließ sie erlebbar – und also zum Erlebnis – werden.

Die Generationserlebnisse dieses Jahrhunderts fallen unter einen gemeinsamen Nenner. Sie stehen für – erhoffte, ersehnte, gefürchtete – Modernisierungsschübe, für die gleichermaßen freiwillige wie erzwungene Abdankung einer als steril, als gestrig empfundenen Welt: eines Weltzustandes, eines bestimmten Geflechts von Machtbeziehungen, Gesinnungen und habitualisierter ›Moral‹. Nicht, dass das Geflecht schwach oder schütter geworden wäre, wenn die Bereitschaft wächst, sich seiner zu entledigen – eher wird die Stabilität der Verhältnisse selbst zum Ärgernis; Max Webers Wort vom ›stahlharten Gehäuse‹ gibt hier die Parole. Die wissenschaftsgestützte Realität ›moderner‹ Gesellschaften hat sich dabei als haltbarer erwiesen denn die Hoffnungen, die seine Gegner immer aufs neue mit den Umwälzungen verbanden, deren Teilnehmer und Zeugen sie wurden. Alles in allem ist das ›Gehäuse‹ mit den Umstürzen besser gefahren als seine Bewohner, die für Instabilität fast immer einen höheren Preis zu zahlen hatten als für die herb kritisierte Stabilität der ›Verhältnisse‹. An diesem Umstand scheiterten ein ums andere Mal die Hoffnungen auf eine intellektuelle Politik. Georg Lukács’ strategisch gemeinter Einfall, das Proletariat sei das wirklich gewordene ›Ding an sich‹, sein welthistorischer Sieg werde mit den Friktionen des menschlichen Zusammenlebens auch die unerledigten Restposten der Erkenntniskritik zum Verschwinden bringen – zu phantastisch, um ihn einfach dem Vergessen zu überantworten –, präludierte einem langen, wenngleich immer wieder enttäuschten Vertrauen auf mancherlei Gegenmächte und -instanzen, die mit ihren realen Gegnern zugleich das nur theoretisch greifbare Phantasma des Bestehenden herausfordern, sofern man die ihrer Existenz innewohnende transzendierende Kraft nur entschieden genug wahrzunehmen bereit ist. Um erneut Foucault zu bemühen: der Hinweis auf die ›strategische Polyvalenz‹ dieses ›Diskurses‹, auf ›Glorie‘ und ›Infamie‹ dessen, was er, linke wie rechte Politik einschließend, den ›Kampf der Rassen‹ nennt, mochte im Jahr 1976 auf einige seiner Hörer elektrisierend wirken – in der Sache bekräftigt er nur noch einmal den Vorrang der Macht im Denken und die theoretische wie praktische Unhintergehbarkeit der Machtfrage als des probaten Mittels aller ›Entunterwerfung‹.

 

10.

Intellektuelle Rede und Nachrede ist situativ und prinzipiell, singulär und universal, solidarisch und repräsentativ. Und zwar im Hinblick auf die mitbedachte öffentliche Wirksamkeit, die ohne Anlässe nicht auskommt – Anlässe, die bei näherem Hinsehen immer auch als Vorwände dienen, um einmal mehr ›das Wort zu ergreifen‹ –, ebenso wie auf die rituelle Vorentscheidung gegen den ›ortlosen‹ Intellektualismus zugunsten der auszulegenden Gegenwart, jener komplexen Situation, die wesentlich als gerichtet, als identifizierbares Bündel einander widerstreitender Tendenzen begriffen wird. Keineswegs ist diese Vorentscheidung harmlos. Sie dient dazu, die Ideen und Einfälle, ›auf die es ankommt‹, mit denen sich ›etwas anfangen‹ lässt, aus der unübersehbaren Fülle mehr oder weniger unbestechlicher Denkbarkeiten herauszuheben und ihr gegenüber zu privilegieren. Es sind die, von denen man aus guten oder anderen Gründen annimmt, dass sie sich als machttauglich erweisen mögen, weil sie in den vorhandenen Gesinnungsmustern schon als Rohmaterialien bereitliegen. So argumentierte bereits Karl Mannheim, und jeder durchschnittlich aufgeweckte Magazinredakteur spricht es ihm heute nach. Die déformation professionelle der Kritik (und der Literatur, falls die hauchdünne Unterscheidung überhaupt noch zu retten ist) wirkt stets in ein und dieselbe Richtung. Auf der Grundlage niemals eingelöster, bereits im voraus verworfener, durch den Gang der Politik entkräfteter Loyalitäten wirkt dieses Spiel einigermaßen gespenstisch. Auch das Pathos derer, die vorgeben, sich dem zu entziehen, vermag nicht zu überzeugen. Ohnmacht ist nur ein anderes Wort für das Verstricktsein in Machtspiele – und damit eine Machtgebärde mehr. Das Ende der Kritik ist nicht das Ende ihrer Möglichkeiten, sondern das Ergebnis ihrer Selbstauslieferung an eine imaginäre Politik.