1.

Ein junger Mensch, am Ende des Studiums angekommen, wird von seinem Professor eingeladen. Der Abend neigt sich; der Rotwein löst die Zungen, schließlich gesteht der Ältere, seinerzeit bei der Lektüre einer der damals im Schwang befindlichen Schriften, möglicherweise Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft, geweint zu haben. Der junge Mensch ist frappiert. Seine Reaktion, gemischt aus Neugier und Abwehr, hat weniger mit dem Titel zu tun, den er kaum kennt, als mit der späten Selbstentblößung, deren Zeuge er geworden ist. Sie gibt ihm zu denken. Bald begreift er, dass damals nicht bloß eine empfindsame Leserseele vom Schmerz über das trostlos-glorreiche Schicksal der Welt überwältigt worden war. Etwas Subtileres hatte sich hier zugetragen, eine Erschütterung, die mehr mit dem Los verband, das sich der Intellekt in jenem wie in anderen Büchern der Epoche bereitet, eine Katharsis im Begriff, ausgelöst durch Begriffe und – im besten Fall – hinführend zu Begriffen. Seine Verblüffung (und der Abwehrreflex dazu) ist Anzeige einer Initiation. In diesem Augenblick gewinnt er seinem Verstehen eine Erfahrung hinzu, die ihm bis dahin allenfalls in Gestalt der sich selbst verschlossenen Faszination durch bestimmte Lektüren gegenwärtig gewesen war.Zwar spürt er keine Neigung, sich dieser Wirkung hinzugeben – es handelt sich um eine eher missglückte Initiation, die bereits erwähnte Abwehr bleibt, im ganzen gesehen, erfolgreich –, doch die einmal gemachte Erfahrung, Abwehr eingeschlossen, lässt ihn nicht wieder los. Erwachsen geworden mit Kulturtheorien, deren Vertreter sich an den letzten Zuckungen eines hilflos gewordenen Subjektivismus weiden, trägt er hinfort auf beiden Schultern.

Eine Anekdote, gewiss. Eine Parabel? Vielleicht. Das Irgendwo, in dem sie spielt, entspricht dem Irgendwie, das sie umschreibt – jenem geistigen Raum zwischen studentischem Erleben, Generationserfahrung und dem, was man gemeinhin den Stand der Theoriebildung in bestimmten, den Begriff der Kulturwissenschaft strapazierenden Fächern nennt. Dieses Irgendwie ist eine der Stellen, an denen die noch unentwickelten Vorlieben und Abneigungen entstehen, aus denen alsbald die Vertauschungen und Amalgambildungen, die Allianzen und Frontstellungen hervorgehen, die den Betrieb in Gang halten, gleichgültig, ob in Wissenschaft, Kunst, Theater, Literatur, Feuilleton oder in den elektronischen Medien, sofern diese überhaupt intellektuelle Regungen zeitigen. Hier herrscht Gleichzeitigkeit – die des Ungleichzeitigen, in der das, was an der Zeit ist, fortwährend das Gestrige erschlägt und von ihm erschlagen wird. Dieses Gestrige – die Zeichen stehen an allen Wänden – ist gegenwärtig die Kritik, das Geschäft der Kritik, das ein findiger Zeitungsschreiber in den Siebzigern einmal trennscharf umriss, als er einen seiner Vertreter mit den Worten einführte: If he wins we lose, if we win it doesn’t matter. Nicht dass sich eine der beiden Seiten inzwischen in Luft aufgelöst hätte – nach Lage der Dinge wohl am ehesten die der Kritik: es geht ihr nicht gut, aber sie existiert in den Polemiken, die sie nach wie vor auf sich zieht, ebenso wie im betretenen Schweigen von Leuten, die gestern noch allzu beredt auftraten. Sie erscheint wie in der Bewegung erstarrt – für den Augenblick? Wie lange?

Die Misere der Kritik allerdings reicht sehr viel weiter zurück. Sie liegt an den Leistungen des eher ›rechts‹ georteten Kulturkritizismus der Jahrhundertwende und der Fünfziger Jahre ebenso zutage wie an den Hochglanzprodukten der ›linken‹ Gesinnungsjahrzehnte, sie unterhöhlt den Konformismus wie auch den Nonkonformismus ihrer Vertreter und ihrer Verächter. Sie zeichnet den Großteil der Literatur dieses Jahrhunderts, die seit langem die eigene Existenzberechtigung darin findet, dass sie das Geschäft der Kritik der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft als das ihre befördert. Überglänzt durch Posen eines ironischen Einverstandenseins mit allen Formen der Virtualisierung der Wahrnehmung und des Wissens, als gewänne in ihnen die Selbstabschaffung der Gegenwart endlich stabile Konturen, hat sie mit dem kathartisch genannten Effekt mehr zu tun, als es ihrer Klientel (um im Jargon zu bleiben) jemals recht sein durfte. Geht man ihm nach, so findet man sich rasch im achtzehnten Jahrhundert wieder. Die Götterdämmerung der Kritik hat Gründe, die in ihre Anfänge zurückreichen, genauer: bis zu den beiden Diskursen Rousseaus, von denen sie ihren modernen Ausgang nimmt. Sie betreffen das Genre als ganzes, jedenfalls, soweit es sich dem skeptischen Blick als Spekulation auf jenen Effekt enthüllt – als eine überdies, die sich von einer bestimmten Wendung des Gedankens an als blind erweist, weniger als realitätsblind (denn irgendeine Realität enthüllt sich – beinahe – jedem Blick), vielmehr als begriffsblind und damit als überständig.

 

2.

Der Gedanke ist nicht neu und dennoch in seinen Konsequenzen selten durchdacht worden: Der entscheidende Griff der Kritik der Kultur war und ist der Appell an das Gattungssubjekt. Mit ihm steht und fällt ihre Wirkung. Der Leser, der den zweiten Discours aufblättert, ist nicht länger das gänzlich in seine Haut verschlagene Ich, sondern er durchlebt – ansatz- und lektüreweise, versteht sich – das Leben der Gattung, indem er ihr sein Bewusstsein leiht und dadurch ein Bewusstsein eigener Art gewinnt: eines, das prüfend die Stadien einer imaginierten Menschheitsentwicklung durchfährt, um zu entscheiden, ob es an ihnen Geschmack finden kann, soll heißen, ob es sie anzunehmen bereit ist, anzunehmen äußerlich im Sinn einer Folge von Hypothesen, innerlich jedoch als Phasen der Herausbildung des erweiterten Selbst, also als Momente der eigenen Identität.

»Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten (›écarter tous les faits‹), denn sie berühren nicht die Frage«, schreibt Rousseau zu Beginn der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, um fortzufahren: »Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema (gemeint ist der Naturzustand) eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen, die eher zur Erhellung der Natur der Sache als zum Aufweis des tatsächlichen Anfangs geeignet sind.«

Der Satz bezeichnet eine frühe Glanznummer ›genetischer‹ Rekonstruktion, in der das späterhin bekannte ›Umso schlimmer für die Tatsachen‹ seinen bescheidenen Einstand gibt. Doch was, bei Licht betrachtet, steht da geschrieben? Der hypothetische Urzustand der Menschheit ist das eine, die hypothetische Schrittfolge hin zur »wirklichen« Menschheit das andere. Der Urzustand, an sich genommen, ist nichts, die Schrittfolge alles: dies und nichts anderes besagt der Gestus des Nehmen wir einmal an. Denn angenommen, die Schrittfolge endete nicht bei den gewünschten Resultaten, sprich: Realitäten, so erledigte sich der hypothetische Urzustand von selbst zugunsten irgendeines angenommenen anderen. Am Anfang jedes hypothetischen Urzustands steht eine Hypothese über den Endzustand der Entwicklung, die über ihn hinausführt. Anders ausgedrückt: die sich im kritischen Individuum als Subjekt konstituierende Menschheit ist eine, die sich selbst über diesem Schritt notwendig hypothetisch wird. Mit dem einmal angenommenen Naturzustand beginnt das Spiel der Vernunft, die ihre Unvernunft setzt: In jedem Schritt weg von jenen bloß hypothetischen Anfängen (einem Schritt, den ich genausowenig billigen kann wie den, der ihm vorangeht, und den, der auf ihn folgen wird, da ich weiß, welches Unheil aus ihrer Kette entstehen wird) erkenne ich mich wieder. – Ich hätte ihn tun können, also habe ich ihn getan: darin besteht die Logik der Subjektvertauschung, nach der die verstehende Rekonstruktion des Gattungswesens als die Rekonstruktion der Verirrung eines Subjekts verfährt. Ich hätte ihn nicht tun dürfen: damit festigt sich das Subjekt im Subjekt. Es wird auf der Stelle zu einer kaum mehr zurückzubildenden Instanz. Die einmal erkannte Schuld verbietet es ihm, sich davonzustehlen.

Die Konstitution des Gattungssubjekts im zerstreuten Leser-Ich vollzieht sich ebenso unauffällig wie dingfest im Augenblick der Lektüre, einem Augenblick, den es, strenggenommen, nicht geben kann, da der gleitende Vorgang des Lesens keinen anderen zulässt als den, der ihn – sei es als Ablenkung oder jähe Einsicht – unterbricht. Das literarische Verfahren der Kritik à la Rousseau macht diese Unterbrechung permanent. Es spielt, im Blick auf den Leser, auf zwei Ebenen: der argumentativen, ewig unbefriedigenden, da zu offensichtlich beschäftigt mit der hypothetischen Zurichtung der Fakten, und der intuitiven, auf der es dem Leser aufgetragen – und vorbehalten – bleibt, zu begreifen, worum es, aufs Ganze gesehen, geht. Im Augenblick dieses Begreifens konzentriert sich gleichsam die bisherige Menschheitsgeschichte (›Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen‹, verrät das Kommunistische Manifest, und damit ist es jetzt und für alle Zeiten heraus) – dieser Augenblick wird durch die Verlaufsform der Lektüre gedehnt und muss gedehnt werden, weil erst in solch seltsamer Abart der Dauer das hybride Menschheits-Selbst gedeiht.

»Wie, wenn ich zu zeigen unternähme, dass die menschliche Gattung in ihrer Wurzel angegriffen ist?« So lautet die entscheidende Frage Rousseaus, der die bange Frage des Lesers entspricht: Wie, wenn er es wirklich zeigte? Was dann? Wie dann mir? Der Kritiker hat es leicht, er verschwindet hinter dem Gemälde, das er entwirft. Anders der Leser, dessen Ohnmachtsphantasien es stimuliert. Was er als Einsicht erfährt, weckt und befördert einen eigentümlichen Lebenswillen des Gattungswesens in ihm, dessen Ego eher unverhofft bei dieser Gelegenheit das Licht der Welt erblickt. Wo der persönliche Ausweg abgeschnitten wird, regt sich das Ganze im Einzelnen.

»O Mensch, aus welcher Gegend du auch immer stammst, was für Meinungen du auch habest, höre! Dies ist deine Geschichte, wie ich sie zu lesen glaubte, und zwar nicht in den Büchern von deinesgleichen, die Lügner sind, aber in der Natur, die niemals lügt« – und die, sollte man hinzufügen, von dir nichts weiß und nichts wissen kann, die ferner, selbst wenn sie es könnte, von dir gar nichts wissen wollte, weil sie, just im Moment der Lektüre, in dir die Augen aufschlägt und sich von deinem Bewusstsein nährt. Zwar der Kritiker als Geburtshelfer hat nur die Aufgabe zu verschwinden: »Alles, was ... von ihr sein wird, wird wahr sein. Nur in dem, was ich von mir aus, ohne es zu wollen, hineingemischt habe, wird es Falsches geben.« Doch das gilt für das individuelle – oder individualisierte – Leser-Ich ganz genauso: in der reinen, von falschen Beimischungen freien Lektüre löst es sich auf in das Bei-sich-Sein der in ihm und durch es gefährdeten Natur.

Objektiv gewendet: In der Kulturkritik kommt die Menschheit im Nu zu sich selbst. Aus dem naturgeschichtlichen Dämmerzustand auftauchend, erblickt sie sich im Spiegel und empfängt ihr Bild zusammen mit der Diagnose, deren Refrain lautet, dass gerade das, was ihr bisher den Aufstieg sicherte, sich jetzt, im Augenblick der Erkenntnis, gegen ihr Fortkommen wendet – die Idiotie des über alle Natur erfolgreich gewordenen Naturwesens. Das Elend der Menschheit liegt im Erfolg ihrer Selbstwerdung, dem sie sich nicht gewachsen zeigt. Die Lage ist unvergleichlich. Während jede bisherige Katastrophe half, das Potential zu entwickeln, das die Gattung auszeichnet, ist jetzt, gerade jetzt, der Augenblick gekommen, in dem die Gattung, bei schwindenden Orientierungen, aufgefordert wird, sich in ihren Anfängen zu erkennen, das heißt für den einzelnen, sich in etwas zu erkennen, was er nicht ist, nicht war und nicht sein wird, das aber nur durch sein perplexes Bewusstsein ist, war und sein wird: das große Subjekt.

 

3.

Es empfiehlt sich, einen Blick auf die Struktur dieses großen Subjekts zu werfen, das offenbare Produkt einer Erschütterung, die dem Entsetzen Pascals über das ewige Schweigen der unendlichen Räume eine Verzagtheit angesichts der exzentrischen Bahn in der Zeit hinzufügt, welche die Menschheit ins Jenseits ihrer selbst verschlägt. Diese Verzagtheit, das – um in der Sprache des achtzehnten Jahrhunderts zu reden – Erbeben des aufgeklärten Gemüts angesichts eines Verdachts, dessen bloßes Vorhandensein hinreicht, die ältere, auf einen Zuwachs an Distinktion gegenüber der Natur angelegte Gattungssicht der Aufklärer zu entwerten, ist, darin dem Entsetzen Pascals ähnlich, nur ein Vor- oder Verwirrspiel, dessen Ausweglosigkeit die große Emotion gebiert, in deren Zentrum nicht etwa der Mensch steht, diese missglückte Projektion, sondern die ›ganze‹ Natur, die ihn hervorbringt, und damit das ganz und gar Emotionslose. Dem selbstgenügsamen, die zarten Bande der Geselligkeit ignorierenden Naturmenschen Rousseaus ist die sich im Gelächter lösende Beklemmung der mit Voltaire optierenden Zeitgenossen als Brandzeichen mitgegeben. Die unempfindliche Natur, die sich in der ins Extrem gesteigerten Empfindungsfähigkeit des einzelnen zum Subjekt erhebt, ist das Entsetzliche, angesichts dessen der Terror des an den Grenzen der Selbstdifferenzierung operierenden und deshalb, wie Hegel meint, unglücklichen Bewusstseins gegen sich selbst erstarrt. Denn jene rekonstruierenden Schritte auf dem Weg in die Ausweglosigkeit der modernen Welt – eine Ausweglosigkeit, die nur durch das Epitheton ›umstürzend‹ der sie diagnostizierenden Theorie beiseite geräumt oder fingiert wird – sind Schritte des Einzelsubjekts auf sich zu, sie betreffen seine interne Verfasstheit, sein Sich-in-sich-selbst-Fühlen, das die Theorie um einer Plausibilität willen plündert, gegen die sich der einzelne nicht wehren kann, weil sie unmittelbar aus der Mitte seines Selbstgefühls stammt.

Die große Emotion, in die das Einzelsubjekt sich aus einer Ausweglosigkeit rettet, die letztlich sich als das Substrat seiner Vergesellschaftung entpuppt, diese Emotion, in der das große Subjekt seelische Realität gewinnt, entspringt einem Akt der Unterwerfung. Für sich genommen besagt das nicht viel. Bedeutsam wirkt allerdings, dass es sich um eine nicht angenommene Unterwerfung handelt. Die Natur, die im Individuum zu reden beginnt, ist nach wie vor seine Natur, mit allen Unwägbarkeiten des Urteils, die seinem in Wahrheit dekadenten Charakter entspringen. Das Subjekt im Subjekt, das da vorgeblich seine Stimme erhebt, ist zugleich unbehebbar stumm. Das heißt, in der Rede, die es initiiert, entgleitet es unaufhaltsam. In ihr präsentiert es sich als entgleitendes. Die Unterwerfungsgeste des Individuums opfert dem Verschwinden dessen, dem es sich unterwirft. Der Wille zur Nachfolge oder zum natürlichen Leben entpuppt sich damit als Wille zu nichts, als Wille zum Verschwinden oder zum mea culpa, der, da es denn sein muss, neu zu bestimmenden eigenen Lebensform. Die große Emotion ist von einer solchen Wahl noch weit entfernt, obgleich sie sie vorbereitet. Sie ist die Gewissheit des Subjekts, selbst das Entschwindende zu sein – nicht etwa derart, dass sich die Natur in ihm davonmacht, vielmehr als Überfluss, als das sich unaufhörlich Davonhebende und somit schließlich als das Gesetz des Verschwindens selbst, des Verschwindens all der Formationen, in denen sich die Natur auf die eine oder andere Weise verbraucht, einschließlich des eigenen kleinen gefallsüchtigen Ichs.

Selbstverständlich reizt es zum Widerspruch, diesen Vorgang, den Eintritt in die große Emotion mitsamt seiner tränenlösenden Komponente, Katharsis zu nennen, vor allem deshalb, weil der in ihr dominierende Gegensatz zwischen dem erklärten Ziel der Theorie, das richtige Leben, das Leben aus der Natur, zum Sprechen zu bringen, und der strukturell wirksamen Zurückweisung der redefähigen Individualität – ein Gegensatz, dem das Adorno-Wort, es gebe kein richtiges Leben im falschen, den vielleicht prägnantesten Ausdruck verliehen hat –, in der klassischen Katharsis kein Äquivalent findet. Doch der Einwand zählt nicht: die Lessingsche Empathie – um eine Katharsis-Auslegung zu bemühen, die noch unschlüssig auf der Schwelle zur Moderne verharrt –, einmal überboten durch die Emphase der Verwandlung, wie sie das programmatische Faust-Diktum: »mein eigen Selbst zu ihrem Selbst« – dem Menschheits-Selbst – »erweitern« zum Vorsatz einer künftigen Literatur erhebt, geht als ästhetische Sensation in der neuen, theoriegezeugten Affektlage ein für allemal unter. Die Theorie – nicht irgendeine, sondern diese – läuft der Dichtung den Rang ab, und die Dichtung, der stärkeren Emotion erliegend, folgt ihr ohne weiteres nach. Das Bewusstsein, Herr zu sein über die ›Furie des Verschwindens‹, die Bataillone der Kritik (um das martialische Motiv aufzunehmen, das dem, laut Benjamin, Kritiker als ›Strategen im Literaturkampf‹ am nächsten liegt) auf diesen oder jenen Aspekt des Ganzen lenken zu können und sicher zu sein, dass für sein Vergehen bereits gesorgt ist – ein solches Bewusstsein ist schlechterdings unwiderstehlich, vorausgesetzt, es gelingt ihm, sich im Schriftsteller-Ego einmal einzunisten, und es bleibt nur die Frage, in welche Figuren der Selbstdarstellung es sich aufzuspreizen vermag, ohne dabei den ihm eigentümlichen Elan zu verlieren.

 

4.

Ungeachtet der – vordergründigen – Einfachheit des Einfalls scheint in der Literatur kaum ein Gegenstück zu der kurzen Erzählung zu existieren, die Italo Svevo im Jahre 1897 in der Zeitschrift Critica sociale unter dem Titel La Tribù, (dt. Der Stamm), veröffentlichte, einer Erzählung, die von den Herausgebern der Gesammelten Werke unter die wenig glückliche Überschrift Eine politische Lehrfabel rubriziert wurde, obgleich es sich zweifellos um eine Parabel handelt, die mit ebenso vorauseilender wie abschließender Bosheit das Schicksal der europäischen, der Sache der Kulturkritik rückhaltlos hingegebenen Intelligenz aufs Korn nimmt. Ein Nomadenstamm, so die Geschichte, ist gerade sesshaft geworden, als er, angesichts des ersten ausbrechenden Streits ums bäuerliche Eigentum, entdecken muss, dass er über keine Gesetze verfügt, die es ihm erlaubten, über Ansprüche, die aus der neuen Lebensweise erwachsen, gerecht zu befinden. Ein junger Mann, Achmed mit Namen, wird ausgewählt, um »die Ordnung jener Völker zu studieren, die schon seit Jahrhunderten in der Form leben, die wir erst seit Jahren kennen.«

Er reist nach Europa. Als er nach Abschluss seiner langjährigen Studien – schließlich gibt es viel zu lernen – zu seinem Stamm zurückkehrt, entdeckt er, »dass sich die Verhältnisse des Stammes stark verändert hatten. Das überraschte ihn nicht. Es war nur allzu natürlich. Das ökonomische Gesetz büßte selbst mitten in der Wüste nichts von seiner Kraft ein. Die kleinen hübschen Häuschen, die zuerst die Zelte ersetzten, waren verschwunden und hatten prunkvollen Palästen und armseligen Hütten Platz gemacht. Halbnackte Männer gingen vorbei und andere, die in kostbare Stoffe gehüllt waren.«

Das ist, legt man den Discours von 1754 über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen zugrunde, reiner Rousseauismus, allerdings marxistisch unterlegt, wie sich im folgenden zeigt. Denn Achmed, der seinen Stamm keine Regeln lehren kann, die diesem mittlerweile nicht bereits selbst aufgegangen sind – dem ökonomischen Entwicklungszwang folgend, dessen Gesetze Achmed im fernen Europa studiert hat –, dieser Achmed verlangt Entschädigung für sein entgangenes Gut, und zwar – eine Neuerung, die er damit in die Ökonomie seines Stammes einführt – mit Zins und Zinseszins, um – eine weitere Neuerung – von den so erworbenen Mitteln eine Fabrik bauen zu können. Der Stamm wäre bereit, ihm das Entgelt zu gewähren, unter der Bedingung, er möge ihm ein Volk zeigen, das sein Nomadendasein aufgegeben habe und dennoch glücklich sei, sprich, sich nicht in einen »Haufen feiger Sklaven und anmaßender Herren« verwandelt habe. Achmed, auf seine Fabrik erpicht, lehrt die Stammesbrüder, ihre Parabel-Natur zu begreifen, indem er erklärt, »die Geschichte des Stammes sei nichts anderes als die Geschichte der Menschheit überhaupt«, also Fortschrittsgeschichte, die Geschichte der notwendigen Entzweiung zwischen den Menschen, in deren Verlauf sich, da möge man ganz beruhigt sein, der Achtenswerte auch durchsetzen, der Minderwertige hingegen seinem schrecklichen Los nicht entgehen werde: »Und das ist gut so.«

Man ahnt bereits, wie es weitergeht: der über die Dialektik seiner Menschwerdung aufgeklärte Wüstenstamm, repräsentiert durch seinen alt gewordenen Häuptling, mag »das Unglück so vieler« nicht fassen, worauf Achmed, die eigene Fabrik noch immer fest im Blick, das Prinzip Hoffnung in die Geschichte einführt: die Aussicht auf den finalen Aufstand der besitzlosen Klasse, in der sich der einzelne dem großen Menschheitssubjekt verbunden wisse. »Die Entrechteten, durch die Fabriken – ihr Elend – zusammengeführt, werden sich miteinander verbünden, voller Hoffnung werden sie die neue Zeit heraufkommen sehen und sich auf sie vorbereiten. Dann, wenn die neue Zeit endlich da ist, wird es Brot, Glück und Arbeit für alle geben.«

Den Schluss der Episode prägt mediterrane Nonchalance. Der Häuptling versichert Achmed mit großer Geste, er habe sich Zins und Zinseszins verdient, und begründet dies mit den klassischen Worten: »Wisse, dass der Stamm mit dem Ende anfangen will.«

Was geht da vor? Die vermittelte Einsicht in den notwendigen Gang der menschlichen Dinge lädt zur Identifikation mit dem ein, was da geht oder – eine minimale semantische Verschiebung – fortschreitet, mit der einen Menschheit: – doch diese Einladung wird vom Stammesvertreter geschickt (oder bauernschlau) ausgeschlagen. Der Stamm – Vorrecht der Fiktion – verordnet sich die von der Hoffnung gespeiste Utopie als die ihm einzig angemessene Realität. Mit Erfolg, wie der Ausgang der Erzählung suggeriert: das Volk ist glücklich, um den Preis allerdings seiner definitiven Abspaltung vom großen Menschheits-Wir, dem es das Objekt jener nicht gemeinen Hoffnung verdankt. Die fortschreitende Menschheit hat aus der Anschauung des Volkes, das ihre Glücksvorstellung gleichsam widerrechtlich, da widerhistorisch okkupiert, nichts zu lernen, es sei denn die eigene Unbelehrbarkeit. So jedenfalls muss es der Europäer erfahren, der eines Tages, des heimischen Elends überdrüssig, um Aufnahme in den Stamm bittet, und der abgewiesen wird, weil seinesgleichen weder imstande sei, die Gesetze des glücklichen Gemeinwesens zu begreifen, noch, nach ihnen zu leben. Unschwer erkennt man in ihm den Intellektuellen, dessen Lernbegier in die imaginierte Menschheitszukunft jenseits der antagonistischen Geschichtswelt voreilt und der nichts weiter erfährt, als dass die Art von Bewusstsein, die er verkörpert, dort nichts zu suchen hat. Dass der Stamm, den Abgrund der Naturgeschichte des Menschen vor Augen, konsequent den eigenen Vorteil im Auge behält, indem er sich das nimmt, was nach der Theorie nicht zu haben ist – das jetzt und hier realisierte Glück –, und ungerührt das beiseitelässt, was die Theorie bietet – die richtige Perspektive –, lässt für die Vertreter der Theorie nichts Gutes erwarten.

Die letzte, mit subtiler Bosheit gesetzte Pointe der Erzählung jedoch gehört Achmed, dem Träumer, der in der maliziösen Auskunft des Häuptlings zu ›einem Araber‹ wird, den man habe davonjagen müssen, weil er ›das Unglück gehabt hatte, bei euch erzogen worden zu sein‹. Auch Achmed, der sich als der erste Fabrikherr in die Geschichte seines Stammes eintragen möchte, ist ja ein Intellektueller, wie sein Beharren auf dem Prinzip Hoffnung verrät, wenn nicht der Intellektuelle überhaupt. Schließlich ist er es, der, selbst durch eine Art Zeitreise verführt, seinen Stammesbrüdern und -schwestern die theoretische Leistung abverlangt, als Menschheit gutzuheißen, was sie als Menschen beklemmt, und der es zu diesem Zweck für notwendig hält, ihre Beklemmung durch die Aussicht auf das sich verschärfende Unheil soweit zu steigern, dass nur die zur seelischen Realität gediehene Fiktion der einen Menschheit für Linderung sorgen kann. Sein Fabrikantentraum lässt daran denken, dass Mitte der Dreißiger Jahre Carl Einstein, Autor des Bebuquin, seiner nachgelassenen Abrechnung mit dem Typus des europäischen Intellektuellen den Titel gab: Die Fabrikation der Fiktionen – ein Titel, dessen Stoßrichtung der im Manuskript durchgestrichene Zusatz Eine Verteidigung des Wirklichen erst so richtig vorgibt. Denn worum es in diesem von Aperçu zu Aperçu hetzenden, kaum einmal einen Gedanken ausschreibenden Pamphlet geht, ist die Anprangerung eines Intellektualismus, der mit seinen Produkten, den Fiktionen, die Wirklichkeit beschmutzt, verstümmelt und auf jede erdenkliche Weise unkenntlich macht. Die Wirklichkeit, das ist die reine, durch keinerlei Auslegung beeinträchtigte Aktion, ihr absoluter Widerpart das hermetische Kunstwerk der Moderne, mit dessen quasiindustrieller Fertigung eine schmale Clique, eben die Intellektuellen, die Sinnproduktion der spätbourgeoisen Gesellschaft monopolisiert.

Lässt man die wohlfeilen Marxismen jener Jahre einmal beiseite, die greifbar durch solche Vorstellungen geistern, so entdeckt man, dass Einstein die Traumtänzerei jenes fiktiven Achmed auf die Spitze treibt. Denn was diesem in der entscheidenden Unterredung mit seinem Stamm fast gegen seine Absicht widerfährt – dass er, um die Option auf seine Fabrik zu wahren, sein erstes, gnadenlos fortschrittliches Wirklichkeitsmodell (in dem die fitness des überlegenen einzelnen wie der überlegenen Rasse jede Klage über das Elend der vielen überspiele) durch ein zweites, konkurrierendes überbieten muss, welches das erste als ein zwar auf Generationen hinaus wirksames, gleichwohl, aufs Ende gesehen, falsches Modell denunziert, mithin als Eskamotierung des Wirklichen, als Fiktion – dies praktiziert der Autor der Fabrikation, ohne die Ironie zu bemerken, die darin liegt, dass seine purgierte Wirklichkeit so wirklich nicht ist, dass sie nicht selbst als neuester Artikel auf dem Markt der Deutungsprodukte figurierte, als eine letzte Fiktion, der alsbald die nächstletzte folgen wird.

Banal ist ein solcher Einwand keineswegs. Schließlich redet der Intellektuelle, der nichts weiter sein will als ein namenloses Mitglied des Kollektivs, nicht einfach in eigener Sache, sondern als einer, der – nicht zu verwechseln mit den anderen, die im Kollektiv nichts weiter sind als einzelne – weiß, was er im Blick hat, nämlich den Grund seines Entschlusses, das Allgemeine, abgesehen davon, dass ihn der Entschluss allein bereits unwiderruflich von denen trennt, die nicht gefragt wurden. Der Intellektuelle, man mag es wenden, wie man es möchte, ist eine Kunstfigur, die im Einzelsubjekt zu einem schmerzhaften Bewusstsein erwacht, wie übrigens Einsteins Romanentwurf Beb II anschaulich bezeugt. »In der politischen niederlage«, heißt es dort, »erkennt BEB den sinn der revolutionären durchbrüche. die wiederkehr der regel in diesem ganz isolierten menschen, der bindung; er zerstoert nun in sich alles subjektiv hypertrofe. also eine art reue über sein leben. er ordnet sich ein und wird anonym. also ende der eiteln subjektivitaet.«

So weit, so gut. Dann aber heißt es: »er sieht, er muss seine person zunaechst abtun, aber sein geistiges leben war bisher ein unaufhoerlicher egoismus, alles war darin nur auf steigerung seiner person gerichtet ... er kann nicht und sucht immer wieder von den kommunisten wegzukommen ... seine grenzenlose kritik, seine opposition brechen immer wieder durch ... einmal meutert dieser ewige opponent. er behaelt recht; aber immer wird man ihm nun mistrauen.«

Ohne Zweifel enthält die letzte Passage den Schlüssel zum Versagen des Protagonisten. »Grenzenlos« ist die Kritik des Intellektuellen vor allem, weil in seinen Worten die durch die Kulturgeschichte beleidigte Natur, sprich: die Utopie des Wirklichen, nach dem ihr angemessenen Ausdruck tastet. Der Vorwurf des Subjektivismus an den kritischen Intellektuellen geht also ins Leere, da er, paradox genug, eine Aufforderung zum Verrat an der freiwillig geleisteten Subordination unter das Ganze enthält. Die Bindung, die Bebuquin in seiner Aktionsgruppe erfährt, ist weniger der Zusammenhalt der kommunistischen Urhorde als vielmehr die trockene Selbstbeziehung des Rousseauschen Naturmenschen, an welcher der Kulturkritizismus die Wahnhaftigkeit kollektiv produzierter Ideen abliest. Das heißt, im Gemeinschaftserlebnis des Intellektuellen lauert die Rousseausche Hypothese, die – mit Einstein gedacht – nichts weiter ist als eine Fiktion. Zwischen der sich selbst genügenden Gruppe und dem Intellektuellen, dessen differenziertes Innenleben das Bild dieser Gruppe entwirft, wie sie seinem zur Kritik an der eigenen Innenwelt gesteigerten Bedürfnis genügen würde, gibt es keine gemeinsame Sprache außer der des wechselseitigen Missverstehens und, in der Folge, des Misstrauens: die Gruppe oder die Partei wird sich seinesgleichen zu entledigen wissen, wenn die Zeit dafür reif ist, und er wird es vorausgeahnt haben, ohne dass er fähig gewesen sein würde, den Bruch – der ein Bruch mit sich selbst hätte sein müssen – zu vollziehen. Die Schmährede des Autors wider seinen Helden ist ein Akt leerer Distanznahme, in der des untröstlichen Versicherns, es gebe kein richtiges Denken im falschen, kein Ende wird.

Was Einstein in der Fabrikation leistet – im falschen Bewusstsein, den Mechanismus zerbrochen zu haben –, ist die Analyse der Okkupation des individuellen Bewusstseins durch das große Subjekt. Dass die Ideen Fiktionen sind, diese Einsicht – wenn es denn eine ist – hängt unmittelbar damit zusammen, dass sich mit ihrer Hilfe der einzelne über seine Stellung zum Allgemeinen täuscht. Einstein, Gefangener seiner Ideologie, denkt sich die bürgerlichen Intellektuellen (es gibt keine anderen) als Ideologen, doch nicht, weil sie die Maximen der bürgerlichen Ökonomie zur Realität verklären (gleichsam Achmed I folgend), sondern weil sie, ganz im Gegenteil, die Realität in der ›Überdifferenzierung‹ des Subjekts suchen, in der ›Überzüchtung‹ der kontemplativen Zustände: »Die moderne Ekstase war durch kein Ritual noch Dogma fixiert ... In ihr verstärkte man die subjektive Willkür, zumal man sich anästhesierte und abtrennte.«

Das Stigma dieser Haltung heißt ›Regression‹. Verständlicherweise, wenn man ›Anästhesie‹, sprich: Ausschaltung des Realitätssinns, und ›Abtrennung‹, also soziale Separation, als Preis der Kollaboration versteht. Regression, das heißt Rückzug aus einer durch den Aktionsraum des einzelnen definierten Realität (ein Aktionsraum, dem, dies nebenbei, Aspekte von Universalität keineswegs abgehen), ist die Fluchtbewegung des kollaborierenden Bewusstseins, das weiß, dass jedes Sich-Einlassen auf diese Realität unter dem wachsamen Auge der Okkupationsmacht, des wahrhaft Großen Bruders, sich rasch als Verrat entpuppen könnte, als Verrat an der Sache, um deren willen er das Ungemach dessen auf sich nimmt, was Einstein ›Überdifferenzierung‹ nennt und was, aus der Nähe betrachtet, auf die Ersetzung der Differenzen zwischen Personen durch die eine Differenz des kleinen und des großen Subjekts in ein und derselben Person hinausläuft. Doch darf sich das kollaborierende Bewusstsein nicht ganz aus der Wirklichkeit zurückziehen, wenn es für das große Subjekt von Interesse bleiben, wenn die Differenz und damit das große Subjekt selbst erhalten bleiben soll. Der Teilrückzug des kritischen Subjekts aus der Realität reicht gerade hin, um ihr den hypothetisch fixierten Charakter zu verleihen, um dessen willen der Rückzug erfolgt, und um das kleine Subjekt auf Dauer schuldhaft zu verstricken. Als in die defiziente Realität verstricktes tritt es vor das große Subjekt mit der Bitte um Absolution, auf die nur Schweigen antwortet.

Das rückt die zweite Bedeutung ins Licht, die der Begriff ›Regression‹ mit sich führt. ›Regression‹, wie immer definiert, impliziert ›Nichtanerkennung‹, ein Festhalten daran, dass etwas nicht sein darf, dessen Vorhandensein alle Sinne durchdringt, die ›Wirklichkeit‹ also, die einerseits durch den Teilrückzug des Bewusstseins so deformiert erscheint, dass sie zur Grundlage der Fiktionen taugt, die andererseits durch alle Deformationen hindurchscheint und so das deformierende, also bereits deformierte Bewusstsein vor sich selbst entwertet. Dieser Aspekt der Nichtanerkennung oder der Ausgrenzung (jeder Ausgrenzung) holt – Einstein würde sagen: ›in Wahrheit‹, doch bleiben wir vorsichtig – das Ausgegrenzte in den Umkreis der Wahrnehmung zurück. Da ist etwas, gegen das man sich durch permanente Loyalitätsbezeugungen gegenüber dem Großen Bruder immer wieder absichern muss, weil es sonst überhandnähme: und sei es nur die durch keinerlei Katharsis aufzuhebende Halsstarrigkeit und Unverträglichkeit der kleinen Subjekte (das eigene eingeschlossen), die daran erinnert, dass das große Subjekt – wiederum in der Sprache Einsteins – ein Produkt der ›Kontemplation‹ und damit ein Hirngespinst des ›überdifferenzierten‹ Subjekts (des Subjekts, das sich über die Differenzen erhebt) ist. Gegen sie hilft schließlich nur die Anrufung des Menschheits-Wir, des imaginären planetarischen Konvents aller, in denen das große Subjekt inkarniert – vielleicht ja auch, als eine List der Natur, der nicht realisierbaren (weil durch den Mechanismus der Selbstpreisgabe ausgeschlossenen) Partnerschaft von kleinem und großem Subjekt, in der das kleine seine Interessen ohne Verratsgefühle mit denen des großen zu kombinieren vermöchte.

Keine Regression ohne vorangegangene Progression: der – unausgeführte – Clou des Einsteinschen Vorwurfs liegt darin, dass die von ihm analysierte intellektuelle Einstellung den Gattungsprogress prinzipiell als vollendet voraussetzt – unabhängig davon, zu welchen Meinungen über künftigen Fortschritt sich ihre Vertreter im einzelnen bekennen mögen. Zurück kann nur wollen – und zweifellos handelt es sich hier um ein Wollen, wer sich als Opfer eines Fortschritts betrachtet, der bereits hinter ihm liegt. Keine Modernekritik ohne Moderne. Keine Modernekritik aber auch ohne die Zurichtung dieser Moderne zur ideellen Zwangsgemeinschaft einer Gegenwart, die nicht vergehen will, und einer in sie eingelassenen destruktiven Tendenz, die das vernichtet (oder zu vernichten droht), was nicht vergehen soll, – zu einem Albtraum also, der, an der Grenze zum Unerträglichen operierend, das Erwachen des Schläfers zwingend nahelegt und ineins verweigert. An die Stelle des Erwachens treten die verschiedenen kultureigenen Spielarten der Erweckung, die durch das politische Links-Rechts-Schema nicht im mindesten ausgeschöpft werden. Im Gegenteil: der Gedanke der Metapolitik, einer Politik der Wissenden oder in das Schicksal der Welt Eingeweihten jenseits der realen Politik der Verblendung, wie wir ihn von den diversen Fundamentalismen her kennen, hat hier seinen logischen Ort. Die rapide wachsende Angst vor der Zunahme dessen, was nicht ist, obwohl es das Menschliche gewesen wäre (eine vielleicht paradox klingende, aber den Kern der Emotion berührende Formulierung) löst sich vorzugsweise in Bildern einfachen Handelns – etwa solchen eines symbolischen Widerstandes, die zwar, wie man seit Adorno hinzufügt, der Dialektik der Entfremdung nicht entgehen können, doch als archaische Residuen einer unstillbaren Trauer um das verlorene Ganze, wie es scheint, unverzichtbar bleiben. Besser noch löst sie sich in simplen, immer möglichen Gesten oder rituellen, zumeist blutigen oder Blut assoziierenden Handlungen – vielleicht, weil ihre Sprachlosigkeit die der Natur am eindringlichsten ins Bewusstsein rückt. In ihnen ist die Differenz des großen und des kleinen Subjekts formell geworden, wohl deshalb, weil das kleine, korrupte Subjekt sich nicht einfach in Luft auflösen kann. Andererseits – hier schließt sich der Kreis – gewinnt das kleine Subjekt in solchen Gesten eine Freiheit des beliebigen Tuns, das sein exklusives Verhältnis zum großen Subjekt in den leeren Formalismus einmünden lässt, der es tendenziell immer schon ist.

 

5.

In mancher Hinsicht verdankt die institutionalisierte Kritik der Kultur ihr Dasein einem Schwächeanfall des Intellekts, einer kaschierten Nachgiebigkeit angesichts der Suggestivität zweier Preisfragen, mit denen die Akademie von Dijon in den Jahren 1750 und 1753 eine interessierte Öffentlichkeit mehr über die Natur ihres Interesses ins Bild setzte, als dies den Akademiemitgliedern bewusst oder genehm sein konnte. Man spürt die Lockung, die von diesen Fragen ausgeht, und die Entgrenzung, die durch den Rousseauschen Tabubruch realisiert wird. Schon die erste der beiden, die da lautete, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, erwartet, wenn schon nicht ein klares (und ebenso banales) Ja, so doch eine Antwort, die auf einen Mangel innerhalb des zivilisatorischen Fortschritts (des ›rétablissement des sciences et des arts‹) verweist, auf eines der seit Bacon beliebten Desiderate der Kultur, nicht aber auf den Prozess als den Ursprung des Mangels, als seine Ursache und sichtbare Entfaltung. Analog argumentiert Rousseau im zweiten Discours, wenn er nicht etwa, wie es sich anböte, die Ungleichheit des Besitzes an den Ursprung der Ungleichheit der Menschen setzt, sondern den Besitz selbst: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ›Das ist mein‹ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« Die Aneignung der Natur und die Entfremdung des Menschen vom Menschen erscheinen so als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Selbstredend gilt ein Gleiches auch in bezug auf ›les mœurs‹, deren ›Läuterung‹ im Sinne der Preisfrage eine verfeinerte Sinnlichkeit und damit, folgt man Rousseau, ein Stück Selbstabgrenzung, eine ›Ungleichheit‹ in die menschlichen Verhältnisse einführt, welche die ursprüngliche Unterschiedenheit der moralischen Charaktere überlagert und unkenntlich macht, eine Unterschiedenheit, die, das sei nicht vergessen, rein hypothetisch und daher, da die Berufung auf sie keine wirklichen Unterschiede namhaft machen kann, eine Ununterschiedenheit ist, in der bereits die Hypothese vom ›guten‹ Naturmenschen steckt. Die natürliche Differenz der Charaktere ist von der Indifferenz der Natur – des großen Subjekts – nicht unterschieden. Differente Charaktere, heißt das, sind nur vorstellbar als Zivilisationsprodukte, als (um unseren alltäglichen Rousseauismus zu zitieren) ›Täter‹ und ›Opfer‹, wobei selbstredend die Opfer den Prozess der Zivilisation anklagend durchleuchten, obgleich sie auch diejenigen sind, die ihn vorantreiben, insofern sie mindestens so effizient an der Differenz arbeiten wie die Gegenseite, also die Täter. Dieses durch die Anschauung der zivilisatorischen Gegenwart ewig ungestillte moralische Bewusstsein differenziert sich an der Misere, weil die Misere, wie es sie versteht, sein Produkt ist: das Produkt einer Sensibilisierung, die dem Prozess der Zivilisation immer aufs neue die Pointe abgewinnt, dass die Entfremdung, die daraus entspringt, dass man Bedürfnisse besitzt – jeder, wie man weiß, seine, und keineswegs nur natürliche – die Welt weniger fremd macht, sie also dem einzelnen tatsächlich entfremdet, und dass dieser Aspekt von Entfremdung sie, die ehedem bedrohliche, mit jedem Zivilisationsschritt in gerade dem Maß, in dem sich die Bedürfnisse differenzieren, bedrohter erscheinen lässt. Bedroht durch jene fremden Subjekte, die, abgespalten vom Ganzen auch sie (schließlich sind sie die anderen), sie skrupellos (oder unter Skrupeln, die in der Praxis folgenlos bleiben) ihren egoistischen Zwecken unterwerfen, meine Welt, die eine Welt, die fast ebenso unersetzlich ist wie ich selbst.

Beiläufig, vielleicht ungewollt macht den Mechanismus – denn um einen solchen handelt es sich – E. M. Cioran beredt, wenn er das intellektuell Verwerfliche des Menschheitsaffekts herauszustellen unternimmt. »Ich bewunderte ihn wegen seiner aggressiven Klarsicht«, schreibt er über sein Verhältnis zu Henri Micheaux, »seiner Verweigerungen und Phobien, wegen der vielfältigen Formen seines Widerwillens. In der kleinen Gasse, in der wir uns seit Stunden unterhielten, sagte er mir aber an jenem Abend mit einem völlig unerwarteten Unterton von Rührung, dass der Gedanke an das Aussterben der Menschen ihn nicht ganz gleichgültig lasse ... darauf habe ich ihn stehengelassen und war überzeugt, dass ich ihm dieses Erbarmen und diese Schwäche nie verzeihen würde.« Schwäche, maskiert als Erbarmen: das ist die Formel des sich in den Formen des standortlosen Zynismus bewegenden Skeptikers für den Menschheitsaffekt, von dem seine Schroffheit ein ebenso untrügliches Zeugnis ablegt wie der Tonfall von Rührung in der Stimme des anderen.

 

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