1.

Das Verschwinden des östlichen ›Blocks‹ von der ideologischen Landkarte hat – in West und Ost – eine Reihe von Phantomschmerzen gezeitigt, deren zufriedenstellende Diagnose noch aussteht. Zwar fehlte es nicht an ehrgeizigen Versuchen, aber es fügte sich, dass sie alle mehr oder minder unreflektiert in die der Politik und dem Wirtschaftsleben abgelernten Formeln von der ›Unsicherheit‹ oder ›Ungewissheit‹ kommender Entwicklungen mündeten, selbst die seinerzeit auf ganz andere Problemstände gemünzte Habermas-Vokabel von der ›Neuen Unübersichtlichkeit‹ kam hier und da schüchtern zu neuen Ehren. Das mochte, um an eine Wendung Kants zu erinnern, in der Praxis hingehen, doch in der Theorie schuf die sich in solchen Floskeln bekundende Auslieferung an einen kommenden Zeitgeist eine Opportunismusvariante, die man, eine Lieblingsvokabel dieser Jahre aufgreifend, getrost ›virtuell‹ nennen könnte. Warum sich den Kopf zerbrechen, wenn alles im Fluss ist und das Passende sich früher oder später schon finden wird? Die intellektuelle Selbststornierung kennt allerlei Quellen und mancherlei Gründe, auch Abgründe – es scheint, als erlebten manche Heroen des öffentlich ergriffenen Wortes schmerzliche Bewusstseinslagen noch einmal, allerdings nicht, wie zu ihrer Zeit, eingespannt zwischen Hoffen und Bangen, sondern im Licht des Verdachts, dass mit dem beschädigten Hoffen auch das Bangen nicht mehr das alte sein dürfe. Wer profitiert, sind die Eiferer und die Spötter: Feindschaft stabilisiert, Loyalität, zumal verdeckte, nicht minder.

Gute Zeiten für Enthüllungsspezialisten, die es nicht lassen können, von jeder öffentlich zur Schau getragenen Gesinnung auf sinistre Beweggründe zu schließen und inmitten ihrer Häme über die durch den Weltlauf desavouierte Konkurrenz vergessen, dass sie der Claque nichts weiter zu bieten haben als ein klebriges Spiel – pour rien. Doch unterstellt, der öffentlich geäußerte Schmerz der ersten und, mehr noch, der zweiten Stunde – soweit er empfunden wurde und nicht nur medial verordneter Mimesis entstammte – sei auch noch anderen als unredlichen oder dümmlichen Gründen geschuldet gewesen, unterstellt ferner, dieser Schmerz halte unter Leuten, die weniger leicht zufriedenzustellen sind als das lernfähige Gros gegenwarts-süchtiger Sprecher, noch immer an, wenngleich dumpf und in die Regionen einer labyrinthischen Sprachlosigkeit verbannt, unterstellt schließlich, es handle sich um einen Schmerz besonderer Art, dem allein durch begleitende Analyse zu begegnen wäre – nicht, um zu heilen, niemandem soll zu nahe getreten werden –, so wäre es an der Zeit, sich einer Klasse von Dokumenten zuzuwenden, die, in den ersten Jahren des Übergangs entstanden, sich dem Diktat dieses Schmerzes zu verdanken scheinen: Selbstenthüllungen, die heute bereits wieder undenkbar wären, unter Zeitdruck geschrieben und hastig auf den Markt geworfen, Texte, die inzwischen den fast unwiderstehlichen Drang wecken, den Mantel der Scham über sie auszubreiten. Darunter kostbare Zeugnisse, ein Entzücken künftigen Historikern. Lang konservierte Illusionen kämpfen in ihnen einen kurzen, heftigen Kampf mit den sich bildenden Realitäten, deren Sieg in jeder Hinsicht vollständig ausfällt. Die Sprachregelungen erscheinen zwar noch intakt, doch sie regeln nichts mehr. Wie sollten sie auch? Der Aufbruch, von dem sie – unwillig – Zeugnis ablegen, gilt ihnen nicht als Aufbruch ins Neue, eher als Rückkehr aus der Zukunft, als ein Zurückfluten unbotmäßiger Bevölkerungen aus einer vorgeschobenen Warteposition, in die niemand so recht nachrücken wollte – aus menschlich verständlichen, doch darum in programmatischer Hinsicht nicht weniger dubiosen Gründen.

 

2.

Hans Mayer, Jahrgang 1907, in den Realitäten der beiden deutschen Nachkriegs-Staaten ebenso wie in ihren Illusionen erfahren, hat über sein bewegtes Leben mehrfach Auskunft gegeben: in seinen Erinnerungen ebenso wie in den 1987 veröffentlichten Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Wer nach Material über das Verhältnis von Geist und Macht in diesem Jahrhundert fahndet, kann hier über jedes Bedürfnis hinaus fündig werden. Mayer weiß zu erzählen und findet Anlässe zuhauf. Gelegenheit geben selbst die eigenen, noch zu Lebzeiten Stalins verfassten Schriften: »Als ich in Leipzig mein Lehramt antrat, im Oktober 1948, drei Jahre nach meiner Heimkehr in die deutsche Fremde, befand man sich, wie wir heute wissen, inmitten der sieben schlimmen und letzten Lebensjahre des allmächtigen Mannes. Ich habe Stalin seit meiner Studentenzeit, die mit seinem Aufstieg zur Macht zu sammenfiel, von Anfang an tief misstraut. Man hat später, wie zu erwarten war, in meinen Arbeiten nach dem Stalinlob gesucht, ohne etwas zu finden.«

Ein kühnes Wort, denn das Suchen und Finden war und ist in diesem Fall ganz unnötig. Es genügt, seine 1957 im Verlag Rütten & Loening, Berlin, unter dem Titel Deutsche Literatur und Weltliteratur herausgegebenen Reden und Aufsätze nachzulesen. »Um die Wende des Jahres 1905/06« – so beginnt der hier abgedruckte, 1951 verfasste Aufsatz Wischnewskis ›Optimistische Tragödie‹, »führte in Georgien eine Gruppe von Anarchisten und Schülern Peter Kropotkins einen heftigen Kampf gegen die russische Sozialdemokratie und die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels. Im Juni und Juli 1906 setzte sich, als Antwort auf die theoretischen Vorwürfe der Anarchisten, der damals siebenundzwanzigjährige J. W. Stalin von neuem mit dem Gegensatz zwischen Anarchismus und Sozialismus auseinander. Er ging dabei aus von der Unvereinbarkeit der beiden in der Theorie wie in der Praxis. ›Wir sind der Auffassung, dass die Anarchisten richtige Feinde des Marxismus sind. Wir erkennen also auch an, dass man gegen richtige Feinde einen richtigen Kampf führen muss.‹ (Stalin, Werke, Band I, S.258). Mit überlegener Wissenschaftlichkeit und verächtlichem Spott widerlegte er alle anarchistischen Entstellungen und Verleumdungen gegen die Lehre von Marx und Engels. Er zeigte, dass der Anarchismus in der Frage der Dialektik, des Materialismus, in der Frage der Strategie und Taktik seinen unendlich überlegenen Widersachern nichts entgegenzustellen vermöchte. Stalins Verhaftung verhinderte den Abschluss der Auseinandersetzung.«

Der Nachgeborene, der den Drang verspürt, dergleichen Erfüllungsprosa für blanke Ironie zu halten, wird der Versuchung in diesem Fall widerstehen – dazu waren die Zeiten zu ernst und das Gewissen des Einzelnen ein zu kostbares Ding. So bleibt die Frage, was den Vortragenden von 1987 veranlassen konnte, scheinbar ohne Not erneut an sie zu rühren: »Nein, am Stalinkult gedachte ich nicht teilzunehmen.« Vielleicht nicht gänzlich ohne Not, denn Sätze wie die zitierten, auch wenn sie mehr den Mitläufer als den Scharfmacher verraten, waren in Anbetracht der Zeiten und Umstände keineswegs harmlos. Dafür ist der Auftrag, dessen sie sich entledigen, zu genau umrissen: immerhin geht es darum, ideologisch verbrämten Mord – »gegen die Anarchisten als richtige Feinde einen richtigen Kampf zu führen ... Der anarchistische Individualist hat keine Ehrfurcht vor der Welt und dem Leben des Nebenmenschen. Seine Freiheit ist wölfisch ... Die sogenannte Freiheit der Anarchisten ist antihuman: sie schreitet über Leichen und durch Verbrechen« – in der Schellenkappe der Literaturkritik die letzten ästhetischen Weihen zu geben. Warum also die Beteuerung von 1987, nicht zu denen zu zählen, die damals teilgenommen hatten? Die Antwort – wenn man sie als Antwort gelten lassen will – findet sich einige Seiten weiter. Dort heißt es: »Nach den illegalen Grenzübergängen meiner Exilzeit und der rechtswidrigen Reise von Frankfurt nach Leipzig inmitten eines Kalten Krieges mit Kalten Kriegern« – gemeint ist die Übernahme der Leipziger Professur 1948 – »hatte ich mich selbst als eine Figur der Grenzüberschreitung entworfen.«

,Figur der Grenzüberschreitung‹, im Druck hervorgehoben, ist, wie der Autor anmerkt, ein Ausdruck aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Er bezeichnet dort »die Kunstfiguren einer faustischen Heimatsuche«. Blochs ›Kunstfigur‹ und der Selbstentwurf von 1948 sind also miteinander identisch. Das mag auf den ersten Blick befremden, auf den zweiten anrührend wirken wie manche andere absurde Geste der Ohnmacht gegenüber der allzu innig mit ihrer Durchsetzung befassten Macht. Offen bleibt, ob der angedeutete Selbstentwurf tatsächlich in die Zeit fällt, in der ihn der zurückblickende Autobiograph ortet. Bei einem Autor, der in seinen Lebensbericht gelegentlich das Bekenntnis einflicht: »Ich selbst hatte mir die Neugier bewahrt, da gab es nichts zu verdrängen«, darf mit dem Hang zur Selbststilisierung gerechnet werden.

Als nach Jahrzehnten der Verfemung und ostensiven Nichtachtung der Germanist Mayer im Gefolge der ›Wende‹ über Nacht zum gefeierten Idol eines Teils seiner Leipziger Kollegen resp. Nachfolger avancierte, dürfte das bizarre Wechselspiel von Selbstentwurf und – nachgereichter – Selbstdeutung die Einstimmung nicht unwesentlich erleichtert haben. Die Denkfigur des Sich-Wiedererkennens im anderen war hier mustergültig vorgedacht, wobei dieser andere für die spätberufenen Schüler der ehemalige, für den späten Ausleger seiner selbst der nachmalige Renegat das Subjekt-Objekt der Erkenntnis bildete. Allerdings lässt sich das hochgradig Zirkuläre der Rede vom ›Selbstentwurf‹, eingelassen in die Deutung des eigenen Lebensprozesses, kaum übersehen. Allem Anschein nach handelt es sich um denselben ›Entwurf‹, den Mayer ohne Abstriche noch 1987 von sich präsentiert – fürwahr ein heroisches Leben. Man ist geneigt, sich einer dem Autor geläufigen Vokabel aus dem Parteijargon zu erinnern: der auf Distanz gebrachten Parteilinie entspricht die Lebenslinie des Abweichlers, die keine Abweichung duldet. Es ist die Linie der Nichtteilnahme, ›Teilnahme‹ verstanden als, wie das vertraute Wort lautet, ›Sich-Einbringen‹ ins gleichgeschaltete Kollektiv: dies durfte – in der Rückschau – nicht geschehen und also nicht geschehen sein.

Woran also war, abgesehen vom Stalinkult, nicht teilzunehmen? Mayer gibt Auskunft: »Meine erste Illegalität, als Außenseitertum zu verstehen, bestand darin, dass ich mein sozialistisches Denken und Fühlen einzubringen hatte in ein System der totalen Gleichschaltung. Die war für mich ausgeschlossen: vor allem weil ich rasch erkannte, dass jeglicher Versuch einer Propagandaschwätzerei auf dem Universitätskatheder, im Sinne des in Moskau theologisierten Marxismus-Leninismus, meine Glaubwürdigkeit als akademischer Lehrer beendet hätte. Gerade dies durfte nicht eintreten.«

Aus dieser ersten Illegalität geht eine zweite hervor: »Bereits vor meiner ersten Vorlesung, sogar im Augenblick der projektierten Themenstellung für das Kolleg und Seminar hatte ich mich als Dissidenten zu entdecken. Ich habe nicht lange gebraucht, um dessen inne zu werden. Jetzt zeigte es sich, dass ich gut daran getan hatte, beim Leben im Exil die Moskauer Debatten über Formalismus und Realismus, Fortschritt und Dekadenz, Volkstümlichkeit und sogenannten Elitismus wenigstens zu studieren und zu reflektieren. Schlecht war andererseits, dass ich all diese Debatten, die Stalin seit dem Jahre 1934 als politisch-polizeiliche Lehrmeinung theologisiert hatte, für ein Refugium von Scheinproblemen hielt.«

Unter der Hand verlängert diese Aussage die Haltung der ›Nichtteilnahme‹, die hartnäckig festgehaltene Lebenslinie, in die Vergangenheit der Dreißiger und Vierziger Jahre zurück, ins unzweifelhafte Exil also und damit in die sieben ›guten‹ oder fetten Jahre des roten Diktators. Auch diese Erinnerung ist ohne doppelte Buchführung nicht zu haben. Der Aufsatz über Wischnewskis Optimistische Tragödie oder der Vortrag Deutsche Literatur und Sowjetliteratur von 1955 bewegen sich im rhetorischen Gerüst jener Debatten mit einer Selbstverständlichkeit, die den Verfasser, der in ihnen nur ein ›Reservoir von Scheinproblemen‹ gesehen zu haben vorgibt, durch solche Nachrede gerade der ›Glaubwürdigkeit als akademischer Lehrer‹ zu berauben droht, mit deren fordernder Gewalt er die Illegalität seiner damaligen Existenz – auch – begründet.

,Illegalität‹ ist ein Schlüsselwort dieser Vorlesungen. Zunächst gemünzt auf die gelebte Realität der illegalen Grenzübertritte, gewinnt es im Blick auf die Leipziger Lehrtätigkeit eine Bedeutung, die an die erprobte Praxis des antibürgerlichen und antifaschistischen Kampfes erinnert: Der parteilose Dozent versteht seine Kathederaktivität im sich formenden sozialistischen Staat als verdeckte Tätigkeit, gekennzeichnet durch den selbsterteilten Auftrag, das eigene, abweichende ›sozialistische Denken und Fühlen‹ in das als fremdbestimmt erlebte stalinistisch durchwirkte Milieu einzuschleusen. Das ist, kein Zweifel, ›Entwurf‹. Es ist, da es sich um einen isolierten – und die Isolierung herausfordernden – Selbstentwurf handelt, eine Rollenübertragung, die an der Kontinuität des gelebten Lebens auch um den Preis der Fiktion festhält: Unter unvergleichlichen Voraussetzungen wird eine in die Frühzeit der jetzigen Staatspartei zurückreichende Praxis wieder aufgelegt, die sich durch Zeit, Ort und Umstände erledigt hat. Dem Intellektuellen genügt es keineswegs, die Rolle des ›Außenseiters‹ anzunehmen – das Wort taucht prompt wieder auf, als es darum geht, die künftige Rolle des in die Bundesrepublik Gewechselten zu beschreiben – Illegalität, als Außenseitertum zu verstehen, das enthält zwar nicht gerade eine contradictio in adiecto, wohl aber eine den Sprachverstand des Hörers stark strapazierende Kontraktion, in welcher der Außenseiter allenfalls die Außenseite der Illegalität zu repräsentieren vermag.

 

3.

Der östliche Aufbruch stellte und stellt weiterhin die Existenz des Intellektuellen in Frage, wie man ihn seit beiläufig hundert Jahren in West- und Mitteleuropa zu kennen glaubt. Keineswegs deshalb, weil der Osten einen besonders günstigen Humus für seine Lebensform bereitgestellt hätte – dies wohl eher nicht –, sondern weil das dort abgelaufene Experiment durch sämtliche Phasen hindurch (von der fraglosen oder kritischen Solidarität über das ›brennende‹ Interesse der Sympathisanten und Renegaten bis hin zum achselzuckenden Zynismus der Spätzeit) ihm nicht gleichgültig werden durfte, unabhängig von allem wirklichen Geschehen: Was unter dem Vorzeichen der sozialistischen Zukunftsgesellschaft seinen Gang ging, hatte neben dem realen auch stets einen imaginären Kern, der in der Phrase vom Menschheitsexperiment nicht ohne Süffisanz zutagetrat. Die Hoffnungen, die sich daran knüpften, die Befürchtungen, die es auf sich zog, sie waren identisch mit den Hoffnungen und Befürchtungen, die sich unmittelbar aus der gewählten Existenzform ergaben und nicht ablösbar vom Ergehen der einen Menschheit berufen werden durften.

Nachkarten genügt also nicht. Solange die Konkurrenz der Systeme die Köpfe beherrschte, war dieser Dreh- und Angelpunkt intellektuellen Selbstverständnisses kaum zu verrücken. Uneingeschränkt galt die Alternative, die Karl Mannheim der ›sozial freischwebenden Intelligenz‹ 1929 ins Stammbuch geschrieben hatte: »einmal der weitgehend aus freier Wahl erfolgende Anschluss an die verschiedensten sich jeweils bekämpfenden Klassen, und ferner das Sich-Besinnen auf die eigenen Wurzeln, das Suchen der eigenen Mission, prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen zu sein.« Dass an die Stelle des Klassenkampfes mittlerweile die Konkurrenz der Systeme getreten war (in denen der Begriff der Klasse einem energischen Schwund an analytischer Ernsthaftigkeit unterlag), lässt die Diagnose noch keineswegs veraltet erscheinen. Im Gegenteil: Wer immer sich als ›prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen‹ verstand, musste erst einmal die Lektion beherzigen, dass der ›geistige‹ Interessenbegriff im Zeitalter des gedoppelten Ganzen nur gerettet werden konnte, falls er beiden Seiten so weit entgegenkam, dass der Fortschritt der Menschheit dem angeregt lauschenden Publikum nicht länger als revolutionäres Vorher-Nachher, sondern als Simultanereignis gemeldet werden konnte. Das als schockierend und beruhigend erfahrene ›Zurückgebliebensein‹ der jeweils anderen Seite auf unterschiedlichen Lebensgebieten gewann dem Denken der professionellen Intellektuellen jene Grenzgänger-Komponente hinzu, die in der selbstverordneten ›Illegalität‹, dem praktizierten Anspruch auf freie Bewegung im symbolträchtig geteilten Land, zum Lebensentwurf gerät.

Zwei Jahre nach dem Mauerbau geht Mayer in den Westen. Die Zeit dazwischen fasst er in die Worte: »Meine Zeit ging zu Ende.« Das ist, in ›Ton wie Terminologie‹, die ›zuständige‹ Sprache: Dem ›Illegalen‹ wird der Boden zu heiß. »,Eine Lehrmeinung zuviel‹: diese Überschrift zu einem Studentenartikel in der parteiamtlich herausgegebenen Leipziger Universitätszeitung drückte den Sachverhalt fast überdeutlich aus.«

Das Zitat will bedacht sein. Denn ›fast überdeutlich‹ drückt es die Wiederkehr einer Konstellation aus, die den intellektuellen Emigranten der Nazizeit, zu denen Mayer gehört und deren Leben in der ,Fremde‹ (eine seiner Leitvokabeln) er ohne Umschweife als ›Exil‹ taxiert, höchst geläufig war. Doch 1963 gilt: »Es war weder Heimkehr noch irgend ein neues Exil«. Dem Lebensentwurf der ›programmierten‹ Illegalität, die sich gelegentlich unter dem prüfenden Blick der Partei zur ›Gegen-Legalität‹ entfaltete, lässt sich das Ende des Leipziger Zwischenspiels nicht anders einfügen denn als das Ende eines Auftrags, von dem es heißt, seine »ursprünglichen Voraussetzungen« seien nunmehr »weggefallen«: »Juristisch gesprochen, es fehlte von nun an die ›Geschäftsgrundlage‹.«

Dergleichen ließ sich auch weniger entschieden berichten. Der Ich-Erzähler der Erinnerungen zieht die Auskunft vor, er habe noch immer keine Antwort auf seine damaligen Fragen gefunden. Letztere, immerhin, verdienen in die Schulbücher aufgenommen zu werden, um nicht dem Vergessen anheimzufallen. Denn sie überliefern eine – keineswegs nur auf die Person des Verfassers gemünzte – Lektion, die ohne das biographische Detail allzu unwirklich bliebe:

Keine Stimme von oben hatte sich vernehmen lassen. War ich gerettet oder gerichtet? Ich wusste es nicht, als ich im September 1963 in einem Tübinger Hotelzimmer saß und wieder zum Nachdenken kam... Wie sollte man bezeichnen, was ich getan, manche würden sagen: was ich begangen hatte? Eine neue Heimkehr? Vom Osten heim in den Westen. Es fand eine zweite Heimkehr in die Fremde statt. Die fünfzehn Leipziger Jahre musste man folglich als Provisorium verstehen, als ein Lebensintermezzo. Als hätte ich bereits im Oktober 1948 die Rückkehr in den Westen einberechnet. Eine Professur folglich unter ›auflösender Bedingung‹: so viel Juristerei beherrschte ich immer noch. Abermals ein Widerruf?
Oder aber: Ich hatte sesshaft werden wollen, als ich im Herbst des Jahres 1948 vom Westen nach dem Osten zog: in die Sowjetische Besatzungszone, die man im Westen abschätzig nur als SBZ gleichsam auszuspucken pflegte. Dann musste ich damals umgekehrt die westliche Welt mitsamt Radio Frankfurt, Frankfurter Akademie der Arbeit, mit Rezensionen und Features bloß als Provisorium empfunden haben: als widerruflich, als Lebensintermezzo. Sah man es in solcher Weise, wozu ich nach wie vor neigte, dann war die Schlussfolgerung härter. Keine Heimkehr in eine westliche Fremde, nach fünfzehn Jahren, sondern Verlassen einer Heimat. Eine dritte Emigration.
Bei welcher es jedoch, ähnlich wie bei der zweiten Emigration von Frankfurt nach Leipzig, nicht mehr um Leib und Leben ging, sondern um das Ausbrechen aus einem qualvoll gewordenen Alltag. Man hätte auch anders entscheiden, damals in Frankfurt, jetzt in Leipzig bleiben können. War zweimal falsch entschieden worden? ... Gerettet war ich nicht...

Die Passage ruft eindrucksvoll die existentiellen Nöte der Naziära sowie die Schwierigkeiten des Nachkriegsalltags im geteilten Land ins Gedächtnis. Darüber hinaus schweift Fausts Gretchenfrage – ›Emigration‹ vs. ›Heimkehr‹, ›Provisorium‹ vs. ›Heimat‹ – ins Allgemeine: ›Emigration‹ und ›Heimkehr‹ sind im intellektuellen Begriffshaushalt eminent geschichtsphilosophische Begriffe, der Ausdruck ›Provisorium‹ deutet auf jene Wartesaal-Szenerie, die, in der Emigration – und nicht nur in ihr – zur Alltagserfahrung geronnen, dem modernekritischen Besteck des Jahrhundertbeginns ihre offenen und versteckten Pointen verdankt. ›Provisorium‹, das meint auch die Moderne selbst, als Zwischenzeit betrachtet, als Pause zwischen den Zeiten, als eine Gegenwart, die nicht vergehen will, obwohl ihre Hinfälligkeit im Denken postuliert und damit bereits Zutat zu dieser Wirklichkeit, Teil dieser Gegenwart geworden ist. Rückkehr in die ›Heimat‹ wäre danach Rückkehr aus der falschen in die richtige Geschichte, aus einer Geschichte irreversibeldissoziierter ›pluraler Realitäten‹ mitsamt der darin angeblich herrschenden Desintegration des Humanums und der aus ihr abzuleitenden ideologisch-ökonomisch-politisch-militärischen Entgleisungen in eine andere Geschichte, eine, die auf Wunsch und Wunscherfüllung abonniert ist und daher trägt, derweil erstere, Poes Maelstrom vergleichbar (eines der Sinnbilder der Moderne!), die Mechanik des Verschlingens offeriert.

Man muss, jedenfalls in Europa, weit zurückgehen, um Verhältnisse anzutreffen, in denen man durch eine einfache, wenn auch schwierig zu bewerkstelligende Ortsveränderung von einer Zeitrechnung in eine andere, aus einem Zeitkontinuum in ein anderes wechseln konnte. Die Theoretiker der Moderne, die mit dem Gegensatz der geschichtlichen Welt Europas und einer geschichtslosen, traumhaft verdämmernden Welt primitiver oder sklerotischer Kulturen rechneten, hatten dergleichen nicht vorgesehen. Hier also hatte die Wirklichkeit die Theorie hinter sich gelassen, ohne dass man absehen konnte, ob und wie sich das Verhältnis künftig erneut umdrehen ließe. Die Literaten des Westens, die in den Zwanziger und Dreißiger Jahren das Vaterland aller Werktätigen bereisten, konnten sich in der Vorstellung wiegen, einen Blick auf die Zukunft ihrer eigenen Gesellschaften zu werfen, falls sie es nicht vorzogen, angesichts dessen, was sie zu sehen bekamen, das kommunistische Experiment als gescheitert anzusehen und zu den Realitäten zurückzukehren. Nicht so der doppelt Heimkehrwillige – und doppelt Enttäuschte – in seinem Tübinger Hotelzimmer: Seine Entdeckung (wenn man die mit manchen anderen geteilte Erfahrung eine Entdeckung nennen darf) besteht darin, dass erst die als ›bürgerlich‹ denunzierte ›Normalität‹ des Westens die Motive des östlichen ›Aufbaus‹ verständlich, erst die ›Realität‹ dieses ›Aufbaus‹ die ›Normalität‹ des Westens weniger als Desideratum – dafür hatte schon der Faschismus gesorgt – denn als ständiges Korrektiv, als empirische Bedingung für die Beweglichkeit des kritischen Intellekts verständlich werden lässt. Nicht Heimat oder Exil, sondern weder Heimat noch Exil lautet die Parole der Stunde – demnach ein fast-normaler Wechsel der Wirkungsstätte, allerdings einer, von dem zu reden sein wird.

Nichts selbstverständlicher, als dass einer, zumindest dieser eine, im Jahr 1963 seinen Arbeitsplatz von Deutschland-Ost nach Deutschland-West verlegt, zwar nicht mit Billigung der Behörden-Ost (insofern handelt es sich um erneute Illegalität), aber keineswegs in der Absicht, diese herauszufordern oder in Erwartung westdeutscher Erwartungen. Der ›Republikflüchtling‹ lehnt es ab, als solcher zu gelten: aus Gründen des Selbstentwurfs. Unverkennbar auch hier das Motiv der Nichtteilnahme: nicht als politischer Flüchtling, sondern im Selbstauftrag löscht der Wissenschaftler seine juristischen Verbindlichkeiten Ost, um sich weiter westlich in neue zu begeben. Es hat sich – sozusagen – nichts geändert. Oder doch? Die ›Linien‹ von Exilverneinung und Nichtteilnahme, in unterschiedlichen Situationen ausgebildet und erprobt, verbinden sich während der nächsten dreißig Jahre westdeutschen ›Außenseitertums‹, bis sie, eins geworden, die Kunstfigur H. M. bilden, die uns in den Frankfurter Vorlesungen entgegentritt.

 

4.

Schwerlich lässt sich ein Zugang zu intellektuellen Denk- und Vorstellungsweisen ausmachen, der keinen auch nur leisen Verdacht auf sich zöge, selbst aus intellektuellen Ressourcen gespeist zu werden. Von der künstlichen Verdunkelung des einfachen Tatbestandes lebt die gaya scienza der Intellektuellenschelte. Wie alle Formen ritueller Verständigung will auch diese, für sich allein genommen, nicht viel bedeuten; sie deshalb zu unterlassen hätte schmerzliche Folgen. Das Ritual dementiert in diesem Fall das Dementi. Intellektuelle kritisieren Intellektuelle und, von Zeit zu Zeit, die Intellektuellen. Würden sie darauf verzichten, sie hörten rasch auf, zu sein, was sie sein wollen. Da ihr Geschäft die Kritik ist, hat die Schelte selbstlegitimierende Funktion. Auch wenn niemand ganz sicher sein kann, dass Intellektuelle immer wissen, wovon sie reden – wer, wenn nicht sie, wüsste es sonst? Zwar regt sich hier und da ein Argwohn, ein finsterer Verdacht, es möchte gerade mit diesem Wissen nicht zum Besten stehen. Aber solange der Kandidat die öffentliche Rede beherrscht, bleibt der Argwohn notwendig kraftlos.

Man weiß gelegentlich nicht, welcher Verdacht die schlimmeren Konsequenzen gestattet: der, demzufolge sie nicht, oder der, demzufolge sie besser als andere wissen, wovon sie reden. Letzterer Ansicht scheint der Tagebuchschreiber Victor Klemperer in einer Notiz aus dem Sommer 1936 zuzuneigen: »Wenn es einmal anders käme und das Schicksal der Besiegten läge in meiner Hand, so ließe ich alles Volk laufen und sogar etliche von den Führern, die es vielleicht doch ehrlich gemeint haben könnten und nicht wussten, was sie taten. Aber die Intellektuellen ließe ich alle aufhängen, und die Professoren einen Meter höher als die andern; sie müssten an den Laternen hängen bleiben, solange es sich irgend mit der Hygiene vertrüge.« Aber wie der Konditionalsatz insgesamt signalisiert die Rede von ›Laternen‹ und ›Hygiene‹ hinreichend, dass der Ausbruch so ernst nicht zu nehmen sei: ein Stück Wartesaal-Rabulistik inmitten des siegreichen Nazielends. Auch ist von ›den‹ Intellektuellen nur in rhetorischer Verkürzung die Rede. Ausgemerzt gehören – will man den Ausspruch stehenlassen – die Renegaten, die karrierebewussten Lügner und Denunzianten der eigenen Zunft. Der Abfall vom Geist darf auf Pardon nicht hoffen.

Das Normalbewusstsein – falls es so etwas gibt – ist da weiter: ihm waren und sind ›die‹ Intellektuellen Lockvögel des Irrealen, denen gegenüber jederzeit Vorsicht am Platz ist. Misstrauen gebührt den von ihnen ausgerufenen Krisen, in Wahrheit kaum mehr als Ausgeburten des eigenen Gehirns, also Phantasmen – Produkten einer überspannten Bewusstseinslage mit äußerst gering zu veranschlagendem Realitätsgehalt. Aus der Perspektive der ›anderen‹ erscheinen Intellektuelle als Hysteriker der modernen Welt, als Kassandra-Typen, deren Misere möglicherweise darauf beruht, dass sie es versäumt haben, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen und in ihm angemessen zu reüssieren. Jeder öffentliche Erfolg fällt unmittelbar auf sie zurück. Mehr als Karrieremöglichkeiten für Pechvögel steht in dieser Welt billigerweise nicht zu erwarten.

Die Sicht hat manches für sich. Auch wenn das Wort ›Krise‹ kurzfristig aus der Mode gekommen ist, so bezeichnet es doch ziemlich exakt die Weise der intellektuellen Weltwahrnehmung. Es ist immer ›weiter, als man glaubt‹, ›fünf vor zwölf‹ (oder wie die Floskeln heißen mögen), wenn Intellektuelle die Stimme erheben. Das Tremolo ist die Botschaft. Wer auf sie hört, weiß, dass es an der Zeit ist, die Dinge neu zu ordnen, bevor das Konglomerat aus falschen Vorstellungen und verderblichen Gewohnheiten, das die einzelnen und die Gesellschaft regiert, am Endealle miteinander in den Abgrund reißt. Ein Intellektueller ist ein Mensch, der den Abgrund vor Augen hat – nicht den persönlichen, sondern den Abgrund aller. In Katastrophensituationen, in denen das Geschick des einzelnen mit dem aller anderen verschmilzt und das Unglück sich kollektiv vollzieht, neigt er zum Verstummen. Dann wird er einer von vielen. Die Distanz zu den Mitbürgern, die ihn in ein unmittelbares Verhältnis zum Allgemeinen setzt, sie wird vernichtet, sobald die Verhältnisse aller allgemein werden.

Eine solche negative Charakteristik enthält bereits die Möglichkeit der ›utopischen‹ Rede. Sie ist der intellektuellen Existenzform inhärent. In einer Welt, in der die Verhältnisse aller allgemein geworden sind, so dass das private Unglück endgültig der Vergangenheit angehört, wird es keine Intellektuellen mehr geben. Das klingt vernünftig. Das Faktum der eigenen Existenz zeigt demnach einen falschen Weltzustand an: mit der Überzeugung kommt das unglückliche Bewusstsein glänzend zurecht. Der Intellektuelle, der sich der Utopie verpflichtet fühlt, begreift – oder sollte begreifen –, dass er an der Abschaffung der Bedingungen arbeitet, die ihn hervorgebracht haben und unter denen er realiter existiert.

Das wäre die naive Lesart. Wer über sie hinauskommen möchte, kann nicht umhin, der Metapher des ›Abgrunds‹ näherzutreten. Der Intellektuelle sieht den Abgrund offen, er bewohnt ihn ›offenen Auges‹ – in unsicherer Distanz zu seinen Mitmenschen, die, beim besten oder schlechtesten Willen, nicht sehen wollen oder können, was ihn so erregt. Der Hohn und die Verunglimpfungen, die über ›die Intellektuellen‹ ausgegossen werden, seit die Rhetorik der französischen Dreyfus-Gegner sie aus der Namenlosigkeit hervorgezaubert hat, beziehen einen Großteil ihrer rhetorischen Mittel aus diesem Metaphernfeld. Von der ›Wurzellosigkeit‹ der ›freischwebenden Intelligenz‹ Mannheims über ihre fehlende ›Bodenhaftung‹ bis hin zur ›Grund-‹ und also ›Verantwortungslosigkeit‹ ihres Tuns: immer sind alle davon überzeugt, festen Grund unter den Füßen zu haben, und entschlossen, keine Handbreit davon aufzugeben. Und umgekehrt: seit Intellektuelle wissen, welches Verfolgungspotential in den Denunziationsformeln steckt, sind einzelne auch immer wieder bereit, sie zur Selbstcharakterisierung zu verwenden und dem realen Verfolgtenstatus einen imaginären hinzuzufügen – in Erwartung der Umstände, unter denen sich, wie sie meinen, die Gesellschaft ein weiteres Mal zur Kenntlichkeit entstellt. Die Selbsterhöhung durch Selbsterniedrigung gelingt früh: »Wir, die über alle Punkte der Welt verstreute Menge, sind der einzige internationale haltlose Kehricht ohne Grund unter den Füßen«, schreibt Mannheim in seinen Heidelberger Briefen. Goebbels hätte es kaum besser formulieren können. Mayer kann sich am Ende aufs Zitieren beschränken: »ich, der Republikflüchtling und Abschaum...«

 

5.

Die Rede vom ›Abgrund‹ teilt das Schicksal aller Wendungen, die dazu bestimmt sind, neben ihrem möglichen Sachgehalt einen gewissen emotionalen Kitzel hervorzurufen: Sie werden leicht als lächerlich empfunden. Sollte sich also so etwas wie ein ›vernünftiger Sinn‹ mit ihr verbinden, so sollte es möglich sein, ihn in nüchternen Worten auszudrücken. Gerade das erweist sich in diesem Fall als nicht ganz einfach. So wenig es sensu stricto ›die Intellektuellen‹ gibt, so wenig lässt sich für die sie verbindende rudimentäre Denkfigur eine alle gleichermaßen befriedigende Auslegung finden. Im ganzen wird man konzedieren müssen, dass der annoncierte ›vernünftige Sinn‹ sich nicht anders als in der Rationalität der jeweiligen Entwürfe selbst erschließt. Die Rede vom Abgrund muss sich in erfahrungsgesättigten und gedanklich verdichteten Vorstellungen konkretisieren, Vorstellungen, die sich dazu eignen, den heiklen Punkt im Selbstverständnis der anderen zu treffen, deren Lebensgefühl aus dem tiefen Einverstandensein mit den jeweils eigenen Interessen erwächst. Die Rechtfertigung des Intellektuellen ist die Pointe, ihre Voraussetzung jene Verflüssigung der Begriffe, die aus der Fähigkeit zur Distanznahme in toto und dem Mut zur Negation stammt.

Als André Gide Mitte der Dreißiger Jahre eine Einladung in die Sowjetunion wahrnimmt, reist er als Sympathisant – ein progressiver Schriftsteller im Dienst an der Sache. Was er zu sehen und hören bekommt, ist geeignet, ihn zu ernüchtern. Doch den aufsteigenden Bedenken fällt es schwer, sich gegen den als ideologisch korrekt empfundenen und von den Gastgebern erwarteten Ausdruck notorischen Entzückens durchzusetzen. In seinem Bericht muss Gide alle Topoi der intellektuellen Selbstverpflichtung gegenüber der Menschheit mobilisieren, um die Distanz im Denken zurückzugewinnen, aus der er den Gang der Dinge im sozialistischen Eden als Entgleisung einer Utopie zu charakterisieren imstande ist. Nachdenklich schreibt er in den nachgeschobenen Retuschen: »Es gibt keine Partei, die mich so ergreifen könnte, ich will sagen: die mich so festhalten könnte, die mich daran hindern könnte, die Wahrheit höher zu achten als sie selbst, die Partei. Sobald Lüge im Spiel ist, fühle ich mich unwohl; ich sehe meine Rolle darin, die Unwahrhaftigkeit zu denunzieren. Ich habe mich der Wahrheit verpflichtet; sobald die Partei die Wahrheit aufkündigt, verlasse ich die Partei.«

Eben dies wirft er der der kommunistischen Partei Frankreichs und der sowjetischen Propaganda vor: Sie verbreiteten Lügen über die wirkliche Lage der Arbeiterklasse in der Sowjetunion. Der Vorwurf wird ihm zurückgegeben, unter anderem von Lion Feuchtwanger, dessen Moskau-Bericht aus dem Jahre 1937 dann die Arglosigkeit angesichts des real praktizierten Terrors auf den Gipfel literarischer Borniertheit treibt. Gide, erläutert er, habe ein verzerrtes Bild der sowjetischen Wirklichkeit gezeichnet, weil es ihm nicht gelungen sei, sich von seinen bürgerlichen Anschauungen zu lösen. Er selbst müht sich redlich. Konsequent ersetzt er bürgerliche Vorurteile durch einen Nickmechanismus, der jede ausgreifende Anschauung gegenstandslos werden lässt. Auch das hat Gründe: der Emigrant aus Deutschland schreibt einen Katechismus für Entrechtete, denen nicht auch noch dieser Glaube genommen werden soll. Brecht, der die Moskauer Schauprozesse aus der Ferne privatim kommentiert, scheint ähnlich zu denken.

Gide jedenfalls erklärt unerschrocken den Nonkonformismus zur Grundlage seiner schriftstellerischen Existenz. Er schreibt: »Ich glaube, dass die Bedeutung eines Schriftstellers von der revolutionären Kraft abhängt, die ihn beseelt, oder genauer – denn ich bin nicht so verblendet, dass ich nur den linken Schriftstellern künstlerische Qualität zuerkennen möchte – : von seiner Oppositionskraft. Dieser Kraft begegnen wir ebensogut bei Bossuet, Chateaubriand oder, heutzutage, bei Claudel, wie bei Molière, Voltaire, Victor Hugo und so vielen anderen. In unserer Gesellschaft ist der große Schriftsteller, der grosse Künstler in seinem Wesen antikonformistisch: Er schwimmt gegen den Strom.«

Der Nonkonformismus, sprich: die Bereitschaft, sich zu distanzieren, befähigt den Intellektuellen, auszusagen, was die konforme Rede verschweigt, obwohl es allen vor Augen liegt. Verhältnisse, wie Gide sie beschreibt, in denen der Druck der verfügten Realitäten so überhandnimmt, dass die nonkonformistische Geisteshaltung erlischt, ohne dass sie sich aufgrund der wirklichen Verhältnisse erübrigen würde, sind das ideale Objekt intellektueller Kritik: Hier erreicht sie ihr Maximum bereits durch das bloße Aussprechen derjenigen Überzeugung, die sie konstituiert. Und wirklich gipfeln Gides Vorwürfe an die Adresse des Stalinismus in der höhnischen Feststellung: »Das Glück Aller wird nur durch Entselbstung eines Jeden erreicht. Das Glück Aller wird nur auf Kosten eines Jeden erreicht. Um glücklich zu sein: seid konform!«

Lässt man sich auf Gides Gedankengang ein, so liegt die Kompetenz der Intellektuellen nicht so sehr in der Witterung für die kommenden Dinge, für Entwicklungen und Gefahren, die ›in der Luft liegen‹, wie man sagt. Niemand sollte sich den Blick dafür verstellen, dass in jeder Gesellschaft eine Menge kluger und vorausschauender Menschen ihren Geschäften nachgehen. Intellektuelle genießen in der Hinsicht kein Privileg. Gerade nicht, möchte man hinzufügen: eindrucksvollen Vorwegnahmen künftiger Entwicklungen lassen sich erschreckende Beispiele von Kurzsichtigkeit, Verbohrtheit und phantastischer Blindheit gegenüber sich ankündigenden Gefahren selbst bei erstklassigen Autoren zur Seite stellen. Wie sollte es auch anders sein?

Das Beispiel Gide lässt etwas anderes hervortreten – die Selbstverpflichtung, das Schweigen zu brechen, mit dem die klugen Leute ihr Wissen und ihre Ahnungen in bezug auf das, was vorgeht, zu umhüllen pflegen. Sie fällt mit dem Vorsatz ineins, den eigenen Vorteil im Konfliktfall hintanzustellen, ihn im Idealfall nicht anders als im Vorteil aller zu suchen. Das läuft nicht selten auf die fatale Alternative von intellektuellem oder privatem Ruin hinaus. Es ist nur menschlich, wenn das konkrete Subjekt sich für ein taktisches Sowohl-als-auch entscheidet. Vermutlich erklärt sich so die Sogkraft intellektueller Moden, vor der selbst starke Charaktere kapitulieren. Nicht ohne Grund begleitet die Frage ›Wie hält man sich einen Intellektuellen?‹ die Karriere dieses eigentümlichen Berufsstandes seit seinen Anfängen. Denn gebraucht, wirklich gebraucht werden seine Vertreter von den gesellschaftlichen Kräften zu dem alleinigen Zweck, den eigenen Interessen den Anstrich des gemeinen Interesses zu geben. Und nicht jedermann ist willens, seine Tage in der Abgeschiedenheit Zarathustras zu verbringen. Die Käuflichkeit des Geistes im wirklichen Leben darf aber nicht vergessen machen, dass hier immer die Ware Unschuld gehandelt wird, sehr im Gegensatz zur sexuellen Prostitution.

 

6.

1991 veröffentlicht Mayer ein Buch mit dem suggestiven Titel Der Turm von Babel. Der Untertitel skizziert das Programm: Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Es ist eine Schrift, in der die versuchte Rechtfertigung der Anfänge der DDR und die Analyse der Ursachen ihres Zerfalls sich die Waage halten. Wenigstens lautet so die erklärte Absicht: »Das schlechte Ende«, schreibt er gleich zu Beginn, »widerlegt nicht einen – möglicherweise – guten Anfang.« Das ist, vor dem Hintergrund geschichtlicher Lektionen, aus denen schon einmal zu lernen war, dass die am Ende betrogenen Hoffnungen von vornherein erschlichene waren, sehr die Frage – überdies eine, die Mayer, hingerissen von der Logik des Arguments, mit einer nicht geringen Fehlleistung beantwortet: »Nichts ist so verächtlich wie der Misserfolg?« liest der jäh erstaunende Leser da. »An diese fragwürdige Maxime sollten sich gerade die Deutschen nicht halten, als Besiegte zweier Weltkriege ... Dem Cato gefällt die besiegte Sache.«

Gerade die Deutschen? In LTI – Notizbuch eines Philologen erwähnt Victor Klemperer eine Bemerkung des Germanisten Wilhelm Scherer, die ihn während der Nazijahre »frappierte und in gewissem Sinn erlöste«. Und er zitiert: »Maßlosigkeit scheint der Fluch unserer geistigen Entwicklung. Wir fliegen hoch und sinken um so tiefer. Wir gleichen jenem Germanen, der im Würfelspiel all sein Besitztum verloren hat und auf den letzten Wurf seine eigene Freiheit setzt und auch die verliert und sich willig als Sklave verkaufen lässt. So groß – fügt Tacitus, der es erzählt, hinzu – ist selbst in schlechter Sache die germanische Hartnäckigkeit; sie selbst nennen es Treue.«

Sie selbst nennen es Treue... Treue wozu? Zu den Kriegszielen zweier Weltkriege? Wovon spricht der Sozialist und Verfolgte des NS-Regimes da? Man muss wohl (oder übel) unterstellen, er appelliere nur eben an den verständlichen Wunsch einer Verlierer-Nation, endlich einmal zur verlorenen Sache stehen zu dürfen. Er mag volkstümlich gedacht sein oder eher antik – angesichts der ideologischen Selbstverhedderung wäre es angemessen, den Einfall, dessen Kern kein Gedanke, sondern ein Ressentiment bildet, auf sich beruhen zu lassen, gründete auf ihm nicht die Architektur zwar nicht des babylonischen Bauwerks, wohl aber des Werks der Erinnerung, das hier, wie unterstellt, geleistet wurde. Daran sind Zweifel erlaubt: eher erscheint es wie ein aus flüchtig präparierten Bruchstücken eines petrifizierten Gedächtnisses zusammengefügtes theatrum memoriae, dazu bestimmt, den Irrweg des sozialistischen Staates als eine besondere Form der Häresie zu beschreiben – als Abweichung von jener autobiographisch gedeuteten Legalität, die sich, wie gesehen, unter den in Leipzig seinerzeit zu gewärtigenden Umständen als Gegen-Legalität zu behaupten hatte. Die DDR scheitert, so das Fazit, an der ununterdrückbaren Kunstfigur, für die der involvierte Schriftsteller den eigenen Namen bereithält; sie scheitert – in aller Bescheidenheit wird es angedeutet – weil sie als Literatur sich als unfähig erwies, die literarische Figur Hans Mayer zu integrieren – ein ästhetischer Flop.

Inmitten der anekdotisch verbürgten Denkwürdigkeiten, die diese Lesart zutage fördert, nimmt das Gebiss des ersten Kulturministers der DDR einen Sonderplatz ein. Johannes R. Becher, erfahren wir, »besaß eine wohl nicht besonders gute Zahnprothese. Die ließ er manchmal mit der Zunge hervorschnellen, zum Entsetzen seiner Partner. Es gab auch Züge eines bösen Menschen in ihm.«

Man muss sich vor Augen halten, um welche ›Partner‹ es sich dabei handelt: um Gesprächspartner zum einen, zum anderen um Partner in der gemeinsamenSache. Dass diese zwischen dem Minister und seinem Professor nicht strittig war, steht außer Frage: »Als Kulturminister ... ist Johannes R. Becher ein Glücksfall gewesen.« Umso beredter wirkt das ›Entsetzen‹ angesichts der vorschnellenden Kauprothese: Reaktion eines Menschen, der sich soeben noch als ›Partner‹ seines Dienstherrn begriffen hat und der sich plötzlich, unvermittelt und darum doppelt verwundbar, dem hässlichen Anblick der Macht ausgesetzt fühlt. »Er konnte leiden machen, um das zu genießen.« – »Wer ihm zu Willen war, hatte es zu büßen: Männer wie Frauen.« Deutlicher – und endgültig ichbezogen: »Er hat versucht, mich zu vernichten, in unseren Anfängen.«

Becher ist der tragische Held dieses Buches. Er verkörpert die Doppelgesichtigkeit des Regimes, seine Menschlichkeit wie seine Bosheit – letztere, so der Verfasser, nicht zu verwechseln mit Schlechtigkeit und damit Verwerflichkeit: selbstverständlich, denn es soll nicht verworfen werden. Bei Becher – sieht man von seinem Gebiss einmal ab – erscheint die Bosheit der Macht in Gestalt intellektueller Brillanz, also ästhetisch gerechtfertigt. Und ästhetisch, in Gestalt intellektueller Zerrissenheit, spricht durch ihn das Experiment DDR. »Dass Becher noch bis in die Dreißiger Jahre hinein die Sowjetunion Lenins als konkret gewordene Utopie empfand, ist nicht zu bezweifeln. Bechers Lenin-Gedicht, das von Friedrich Hebbel die Formel von dem übernahm, der »an den Schlaf der Welt rührte«, ist ehrlich und ein gutes Gedicht.« Den Kontrapunkt liefert die »von Becher im Auftrag rasch hingeschriebene« – soll heißen: ästhetisch minderwertige – Nationalhymneder Deutschen Demokratischen Republik, deren unübersehbar dürftige Machart den geheimen,Unglauben‹ ihres Verfassers an das Projekt verrate. »Diese Verstrickung der maßlosen Zuversicht mit der geheimen Verzweiflung findet sich nicht allein im Leben und Werk des offiziell gefeierten Nationaldichters der DDR. Die Widersprüche bei Johannes R. Becher waren stellvertretend für alle, die sich am Turmbau von Babel seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligt hatten.«

Sollte der Befund zutreffen – und welchen Grund könnte es geben, an der Zuverlässigkeit dieses Gewährsmanns zu zweifeln? –, so wäre damit mehr gefunden als ein Mosaiksteinchen zum Verständnis von Herrschaftsattitüde und Machtmissbrauch innerhalb des geschlossenen Systems DDR; auch das Ende dieses Staates stellte sich um eine Pointe reicher dar. Er würde etwa erklären helfen, warum pünktlich zum Kulissenwechsel, bei schon abgedunkelten Scheinwerfern, von DDR-Nostalgikern der zweiten Garnitur plötzlich die ausgedienten Parolen des ›anderen Deutschland‹ und des ›dritten Weges‹ ins Publikum geschleudert werden konnten – Zeichen beachtlicher Weltfremdheit, nachdem in Moskau und andernorts die Entscheidung über die Zukunft des Systems längst gefallen war und keinerlei ›Staatsvolk‹ mehr für die eine wie die andere phantastische Fahrt bereitstand.

Jedoch schafft das Wort von der ›geheimen Verzweiflung‹ zunächst Auslegungsfragen. Stumme Verzweiflung bei lauthals geäußerter Zuversicht – nichts wäre verständlicher und aus der Nachkriegssituation heraus begründbarer gewesen. ›Verstrickung‹ jedoch von geheimer Verzweiflung und maßloser (warum nicht: öffentlich geäußerter?) Zuversicht? Warum, nebenbei, heißt es ›verstrickt‹ und nicht etwa ›verquickt‹, wie der idiomatisch ›richtige‹ Ausdruck lautete? Dann das dubiose ›stellvertretend für alle‹: meint es eine Verzweiflungs- oder doch nur eine Verstrickungsgemeinschaft, letztere verstrickt in eine maßlose Zuversicht, die offenkundig nicht die der sie nährenden Individuen war, dort, wo sie mit sich allein zu Rate gingen? Gilt, schließlich, das Wort von der ›Verstrickung‹ der Maßlosigkeit der Zuversicht oder dieser selbst? Wer solche Fragen als belanglos zur Seite schiebt, weiß nicht, worum es geht, er hat, wie das einschlägige Wort heißt, nichts begriffen.

Man nehme also die Behauptung zum Nennwert und unterstelle eine mit geheimer Verzweiflung grundierte Hoffnung oder das offenbare Geheimnis einer hoffenden Verzweiflung aller am ›Projekt‹ Beteiligten: Worin, so wäre zu fragen, bestände in diesem Milieu die Rolle des notorisch Nichtteilnehmenden, der Kunstfigur H. M.? Weiß er sich, als Unbeteiligter, von den ›Widersprüchen‹ des Johannes R. Becher frei? Wovon frei? Von Zuversicht? Von Verzweiflung? Oder erschiene er hier, nach erneuter Selbstprüfung, am Ende nicht ganz so unteilnehmend wie in den vor der ›Wende‹ gehaltenen Poetikvorlesungen?

Die Antwort sollte niemandem leichtfallen. Schließlich geht es um die linke Innenansicht dessen, was Julien Benda in Frankreich schon früh den ›Verrat‹ der clercs, der öffentlichen Vordenker, nannte. Oder auch nicht: Es geht um die Deutung, die das Geschehen Jahrzehnte später im Rückblick auf diesen hoffnungslos versandeten und schließlich stillgelegten Zweig der ›Geschichte‹ einem entlockt, der dabeigewesen ist und – wenngleich gelegentlich an privaten Fronten – tapfer mitgefochten hat. Als Otto Grotewohl Mayer als »eine[n] der Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) zu einem Gespräch über Personalfragen des kulturellen Lebens nach Berlin bittet«, da reagiert dieser, wie es dem ›Amtsträger‹ ansteht: »Grotewohl wünschte das Gespräch, um einen offiziellen Widerspruch der Naziopfer gegen seine Berufungspläne zu vermeiden. Bei der wichtigsten Berufung, die dann erfolgte, hat er richtig gehandelt. Seine Argumentation hatte mich überzeugt.« Man hätte das gerne ausführlicher erfahren: Welche Berufungen standen an, welche Argumentation hatte überzeugt? Der Erzähler hüllt sich in Schweigen; erklärlich, denn er weiß, dass Personalia mit Diskretion zu behandeln sind. Ein Amtsinhaber hat sich überzeugen lassen, ein Amtsinhaber hat zugestimmt. Eine Lappalie? Vielleicht. Aber die ›Linie‹ setzt sich fort. Etwa in der Episode, der Mayer ein Miniaturportrait des ehemaligen Buchenwald-Häftlings und nunmehr persönlichen Sekretärs Wilhelm Piecks im Parteivorstand, Walter Bartel, vorausschickt: »Wilhelm Pieck hatte ihn geholt, Walter Bartel liebte seinen Chef. Er kam zu mir nach Leipzig, wohl gegen Ende des Jahres 1948, und fragte an, ob ich bereit sei, im März im Weimarer Nationaltheater auf einer Goethe-Feier der Freien Deutschen Jugend gemeinsam mit Erich Honecker zu sprechen. Ich war Professor der deutschen Literaturgeschichte an der Universität Leipzig, ein solcher Auftrag war meines Amtes, es war auch eine Freude, ich sagte zu. Dann hatte Walter Bartel noch einen zweiten Vorschlag zu machen. Neben der Morgenveranstaltung im Nationaltheater ... sollte am Abend oder am nächsten Abend auch eine große Massenkundgebung veranstaltet werden in der Weimarhalle. Dort sollte Otto Grotewohl sprechen. Ob ich bereit sei, ihn bei der Vorbereitung seiner Rede zu beraten? Auch das war ›meines Amtes‹, und ich sagte zu.«

Aber gewiss, gewiss: wer hätte sich da etwas vorzuwerfen? Und doch ist der gepresste Ton einer Selbstrechtfertigung kaum zu überhören, die bei Nebenumständen verweilt, antifaschistische Reminiszenzen bemüht, um unvermutet mit der Beschwörung von Loyalitäten zu enden. Etwas (der Leser allein mag es sich zurechtlegen) ist dem Autor peinlich bei der Erinnerung an solche Szenen, die ihn als Beteiligten vorführen, so wie es ›seines Amtes‹ war. Das ›Amt‹ salviert den Intellektuellen wie nur irgendeinen der ins ›Projekt‹ Verstrickten. Mehr noch, es gibt ihm die Fasson, die es ihm als Intellektuellen erlaubt, sich im nachhinein aus der Situation zu entfernen, als habe sie für ihn nie bestanden.

Zwischen dem ›mächtigen‹ Kulturminister Becher und dem ›kleinen‹ Leipziger Amtsinhaber besteht in dieser Hinsicht kein großer Unterschied. Das ›Amt‹ verstrickt und salviert in einem. Was ist schon dabei für einen, der sich persönlich nichts vorzuwerfen hat? Bechers Prothese – eine Skurrilität, darüber hinaus aber auch ein Symbol für das, wovor man sich in acht nehmen muss. Über diese gefährliche Macht meditiert Mayer hin und wieder in den Erinnerungen, am liebsten im Anschluss an Anekdotisches.

»Brecht fuhr oft durchs Brandenburger Tor nach Westberlin ... Mit Recht ging er davon aus, dass die Kontrolleure, die selten ausgewechselt wurden, allmählich wissen mussten, wer da morgens nach Westen fuhr, um am Abend zurückzukehren. Allein Brecht hatte nicht mit der Sturheit der Wachhabenden gerechnet, die wohl auch neidisch waren über den Privilegierten, der zudem nicht einmal der Partei angehörte. Darum das geläufige Spiel einer Kontrolle, der Brecht die Weigerung entgegensetzte, in die Tasche zu greifen, um das Papier hervorzuholen. Meist musste dann ein ›Höherer‹ geholt werden, der den berühmten Künstler ausreisen ließ.« Eine hübsche Geschichte. Der berühmte Künstler spielt ein wenig Frau Marthe aus Kleists Der zerbrochne Krug. Hübscher wäre die Episode allerdings, käme nicht noch die Pointe. »Eines Morgens jedoch verlor der Funktionär am Brandenburger Tor die Nerven: ›Mit ihnen hat man doch immer Scherereien.‹ Darauf schien der Dramatiker gewartet zu haben. Nun reichte es zu einer Beschwerde beim Ministerpräsidenten Grotewohl. Es wurde Anweisung gegeben, den Unfug zu unterlassen.«

Als Nationalpreisträger der DDR ist Brecht Inhaber eines ›roten Ausweises‹. Die Episode spielt also unter Amtsträgern, zu denen der Erzähler rasch aufschließt: »Natürlich kann man Brechts Verhalten als ›elitär‹ bezeichnen. Auch eine solche Beurteilung hätte die Spielregeln verkannt. Alle Gesellschaftssysteme nach sowjetischem Vorbild gründen sich auf der Ungleichheit zwischen den Trägern der Macht, verkörpert in der herrschenden kommunistischen Partei, mit dem Politbüro ›an der Spitze‹, wie der russische, allenthalben nachübersetzte Ausdruck zu lauten hatte, und allen übrigen sozialistischen Untertanen. Da Ungleichheit waltete in der Deutschen Demokratischen Republik, und zwar als Zweiteilung zwischen Partei und Volk, allgemein sogar anerkannt als Unterordnung des Staatsapparates unter den Parteiapparat, und des Parteiapparates unter den Apparat der ›Freunde‹, also der Russen, demonstrierte Brecht für sich, und damit nicht für sich allein, eine Gegenhierarchie zur offiziellen. Die Mitglieder eines Politbüros mochten kommen und gehen, sie hatten Macht auf Widerruf, wie sich stets wieder zeigen sollte. Brecht war, als Bürger dieses Staates, eine Macht ohne Widerruf, und das sollte man sich gesagt sein lassen.«

Es wäre gut zu wissen, welche ›Gegenhierarchie‹ hier gemeint sein mag. Etwa die der ›wirklich bedeutenden Menschen‹? Oder nimmt der renommierte Künstler als einfacher ›Bürger dieses Staates‹ vielleicht nur das Recht des obersten Souveräns in Anspruch, über dem – im übrigen gutgeheißenen – ›Grenzregiment‹ seines Staates zu stehen – mit oder ohne rotem Ausweis? Für wen mochte es dann wohl gelten?

So ausgelegt, präludiert das Histörchen den Oktoberereignissen des Jahres 1989, als das vielzitierte Volk seiner Obrigkeit just diese Erkenntnisleistung abverlangte: Wir sind das Volk. Vom Volk ist bei Mayer ohnehin, wenngleich in fein dosierter Anspielung die Rede, sogar vom einen: ›Die Mitglieder eines Politbüros mochten kommen und gehen‹ erinnert an den Stalin-Spuch von den Hitlern, die kommen und gehen, indessen das deutsche Volk bestehenbleibe. Ein sorgsam angepasster, trotzig-feinsinniger Patriotismus grundiert diese Passage wie manche andere. Wohl deshalb liest man sie im nachhinein mit anderen Augen. Denn die objektive – und vermutlich auch subjektive – Ironie, mit der 1989 die Parolen der Partei gegen ihren Machtanspruch gewendet wurden, sucht man in dem Scherz, den sich der berühmte Künstler mit der Obrigkeit erlaubt, vergebens. Ein Stückeschreiber, Souverän von eigenen Gnaden, legt sich im Vertrauen auf seine ›Unberührbarkeit‹ mit einem korrekten Grenzposten an, dem der allzu devot applaudierende Erzähler prompt ein privates Neidmotiv unterstellt. Geschichten gleichen Kalibers zirkulieren über diverse Größen des Nazi-showbusiness. Um das erbärmliche Cliquenwesen zu bemerken, das aus ihnen spricht, braucht man sich nur in Erinnerung zu rufen, wie etwa der späte Sartre mit dem ihm zugefallenen Privileg einer schwer zu durchbrechenden Immunität fertig zu werden versucht – der Narrenfreiheit des prominenten Freigeistes. ›Bürgerlich‹ ist das, was sich zwischen Brecht, Grotewohl und dem Erzähler abspielt, ohnehin: das Genie muss gehätschelt werden, es ist und bleibt ein großes Kind, der Ausnahmemensch, an dem Verordnungen, die ausreichen, andere ins Unglück zu stürzen, zu bloßem ,Unfug‹ verdampfen. Aber es bleibt eine Bürgerlichkeit post mortem. Die Angst, als Banause dazustehen, diktiert dem sozalistischen Parvenü das Handeln.

All diese Geschichtchen sind läppisch und aufschlussreich zugleich, intellektuelle Köpenickiaden, die der Anzeige jenes Unbehagens in der – ›selbstgewirkten‹ – Geschichte dienen, das Mayer im nachhinein als heimlichen Unglauben der Protagonisten an ihr Projekt diagnostiziert. Übrigens stehen sie nicht allein: darf man Goebbels’ Tagebüchern vertrauen, dann blieb der braune Propagandist und Intellektuellenfresser von vergleichbaren Anwandlungen nicht verschont. Immerhin verrät er das Rezept, mit dem sich ihnen beikommen lässt: ›fanatische‹ Überzeugungsarbeit – und sei’s an sich selbst. Es nimmt nicht wunder, dass die Erinnerung dessen, dem diese Realität – die, bei ausreichenden Berührungsflächen, von ihm zwangsläufig als seine angesehen wird – durch den Gang der Ereignisse abhanden gekommen ist, jene andere – damals folgenlose – Seite der Erfahrung und des Lebensgefühls herauskehrt, um an ihr den nicht bornierten, nicht fanatischen, nicht ›in Bausch und Bogen‹ zu verdammenden Grundzug der Epoche aufzuweisen – nach dem schwer zu widerlegenden Grundsatz: Wir haben gelebt. Fragt sich, auf wessen Kosten.

 

7.

Die vielleicht auffälligste stilistische Eigenheit der Vorlesungen ist der durchgehende Gebrauch des unbestimmten Artikels: Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. So, als ›eine‹ Deutsche Demokratische Republik, bleibt die DDR das Buch hindurch präsent: wohl nicht als eine DDR unter anderen, sicher aber als auch eine demokratische Republik auf deutschem Boden. Eine zweite Bedeutung kommt hinzu: Erinnerung an eine andere DDR, die es auch gab und deren Bild im Untergang dieses Gemeinwesens abhanden zu kommen drohe. Das liegt auf der Hand und ist leicht einzusehen. Was aber ist von »eine[r] ›Literatur der DDR‹« zu halten, von der es heißt, dass »ihre künftige Mannschaft« im Oktober 1947 »bereits in voller Truppenstärke« tagen und debattieren konnte? Oder von folgendem Satz: »Eine Deutsche Akademie der Künste hieß nunmehr Akademie der Künste der DDR.« Der Weg von einem solchen Satz zu Formulierungen wie»während eines Zweiten Weltkrieges« oder »vor dem Mikrofon eines Dritten Reiches« erscheint ›irgendwie‹ konsequent. Doch es ist zweifellos eine mechanische Konsequenz, eine Konsequenz des verlorengegangenen Sinns, eine Konsequenz mit Symptomwert.

Zum mechanischen Gebrauch des unbestimmten Artikels vor Bezeichnungen, auf denen im Zusammenhang der Verteidigungsrede ein besonderer Nachdruck liegt, tritt die erzählerische Manier, wichtige Begebenheiten – wichtig im Sinn der Ver teidigung – zweimal zu berichten, eine Manier, die dort schärfere Konturen erhält, wo der Bericht das eine Mal eine Mutmaßung, das andere Mal hingegen eine Tatsachenfeststellung offeriert. So heißt es an einer Stelle, der »schneidend scharfe und kritische Journalist«Rudolf Herrnstadtsei als Chefredakteur des Neuen Deutschland abgesetzt und, »gleichsam zum Hohn, irgendwo in ein Staatsarchiv, war es nicht Merseburg?« geschickt worden. Gut zwanzig Seiten später liest man: »Herrnstadt wurde abgesetzt und nach Merseburg als Staatsarchivar verbannt.« Auch das umgekehrte Verfahren findet statt.

Nimmt man den mechanischen Gebrauch des unbestimmten Artikels und die archaische Form der Beglaubigung eines Vorgangs oder einer Sentenz durch Wiederholung zusammen, dann drängt sich unwillkürlich die Vokabel der ›Abwehr‹ auf. Die Figur der Nichtteilnahme – durch einen lapsus linguae inzwischen als Nichtverstricktsein zur Kenntlichkeit gediehen –, diese Figur geht unter in der zwanghaften Schaustellung eines Realitätsentwurfs, in dem Namen wie DDR, Politbüro, Drittes Reich wie Marken oder Spielkarten eingesetzt werden. Nicht die DDR, wie sie gewesen ist, wird verteidigt, sondern der Entwurf einer Welt, in der – um das Bild der Spielkarten wieder aufzunehmen – ein Pik-As so gut wie ein anderes sticht, solange niemand es wagt, sich gegen die Regeln – sprich: Wertungen – zu vergehen. Die früh vollzogene ›Entscheidung‹ für die kommende Menschheit ist offenbar durch keinen Affront mit der Erfahrung aufzuheben. In der Erinnerung rücken die Akteure und ihre Gehilfen noch einmal zusammen, nachdem das Leben sie längst auseinanderdividiert hat. Ob das neue, aus der Auflösung des erinnerten Staatswesens fließende Wissen um seine raîson d’être oder die eigenen, zur Darstellung nicht zugelassenen Erinnerungen abgewehrt werden – beides wirkt unerheblich angesichts des lebensweltlich verhängten Tabus über die Regeln des intellektuellen Spiels, dem es jederzeit und überall Respekt zu verschaffen gilt – und wie!

»Kurella war ein gebildeter Literat und Kommunist. Er hatte noch mit Lenin diskutiert.« Nur zu. »Kurella wurde früh Kommunist. Er hat noch in Moskau mit Lenin diskutiert. Sein Buch ›Mussolini ohne Maske‹ aus den zwanziger Jahren habe ich in guter Erinnerung.« Wer glaubt, ein älterer Weggenosse werde hier mit achtbarem Lob bedacht, muss sich alsbald eines besseren belehren lassen. Der Kulturfunktionär Alfred Kurella wird im Turm von Babel als Beispiel einer negativen Schriftstellerexistenz vorgeführt. Das scheinbare Lob verweist auf das Tremendum: ›Er hat noch in Moskau mit Lenin diskutiert.‹ Ein Mann, der vom Heiligen berührt wurde, profitiert davon noch im Gedenken – er ist unberührbar. Dass einer die Weihen besaß und fehlen konnte, ›Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, / Und viel zu grauenvoll, als dass man klage«. Der Fall wäre nicht der Rede wert, könnte er nicht eine andere Stelle aufklären helfen, die, für sich allein, unverstanden bliebe. Mayer berichtet, der Schriftstellerverband der DDR habe »mehr und mehr den Verband der sowjetischen Kollegen« imitiert, denen Heinrich Böll»als Internationaler Präsident des PEN-Clubs« vorgeworfen habe, »sie denunzierten ihre Mitglieder, statt sie zu schützen.« Daran schließt sich folgende Erläuterung an: »Allein eben dadurch wurde es möglich, dass sich die offiziellen Autoren und Organisationen einer Deutschen Demokratischen Republik ihre eigenen Widersacher und Nachfolger heranziehen mussten. Mit der Dialektik war nicht zu spaßen.

Wie bitte? Wie immer man diesen Satz lesen möchte, es fällt schwer, ihn anders als zynisch zu interpretieren. Doch der Verfasser hat mit Zynismus nichts im Sinn. Deutlich wird das anlässlich einer Ehrenrettung des Parteidichters und ehemaligen KZ-Häftlings Willi Bredel, die mit den Worten schließt: »Aber das alles kommt im Oberseminar nicht vor. Bewältigte Vergangenheit? Mit der Dialektik lässt sich nicht spaßen.« In der Wiederholung entschleiert sich der ominöse Satz, dass mit der Dialektik nicht zu spaßen sei, als das, was er ist: als ein unter dem Druck existentiell-argumentativer Nöte entschlüpfter und auf keine Weise zurückzuholender Nicht-Satz voll latenter Aggressivität, Abweisung – jenseits allen Arguments – einer Realität, in der es allerdings zu den erlaubten Dingen zählen möchte, sich der Dialektik ›zum Spaß‹ zu bedienen, in der es sich sogar als moralisch geboten herausstellen könnte, sie ›in der Realität‹ folgenlos bleiben zu lassen. Wer will, kann in dem Satz eine bewußte Unterschreitung der Standards rationaler Rede erblicken und einen die eigene Absurdität billigend in Kauf nehmenden Ausfall gegen die unannehmbareNormalität des Westens, von der die Frankfurter Vorlesungen zu berichten wussten.

Die Exilverneinung des – nunmehr auf die ›alte‹ Bundesrepublik sich beziehenden – Außenseiters, sie wird nicht gerechtfertigt, sie kann nicht gerechtfertigt werden, weil ihre Rechtfertigung – im Sinne rationaler Argumentation – die Anerkennung einer als kleinbürgerlich gebrandmarkten und damit von vornherein desavouierten Normalität voraussetzt, die, wie der bittere Hohn über das Oberseminar ex negativo einräumt, eine Normalität rationalen Argumentierens einschließt. Diese Anerkennung ist aber gerade das, was es zu verweigern gilt. Das Skandalon des Satzes über die Dialektik, mit der nicht zu spaßen sei, zeigt, in welcher Richtung die Selbstrechtfertigung des Außenseiters gesucht werden muss: in Richtung auf die ›dialektisch‹ genannte Verfertigung von Widersprüchen, in denen sich angeblich der spezifische ›Ernst‹ der Gesellschaft spiegelt, als Autopoiesis des – um es in einen Lieblingsausdruck des Autors zu fassen – unglücklichen Bewusstseins.

 

8.

Nach dem Ende der Systeme öffnet das Gedächtnis seine Archive. Sagen, wie es war – der Impuls dient der Entkräftung des theoretischen Wahns, nachdem der praktische sich grußlos verabschiedet hat. Von den Arbeiten, die dabei zutagetreten, gilt – vielleicht in höherem Maß als von denen, die kommenden Umstürzen das Wort reden –, dass sie eher »Maschinen zur Veränderung des Menschen« als Büchern gleichen. Unter ihnen stehen Tagebücher an erster Stelle. Schon ihre quasi-mechanische Anlage, das Vorrücken von Tag zu Tag, wirkt als Mittel der Entkräftung von Thesen und Theoremen ebenso wie von Posen und Ponderabilien, gleichgültig darum, wie der Autor es zum Zeitpunkt der Niederschrift meinte. Im Tagebuch, dieser gleichgültigsten Form der Aufzeichnung, regeneriert sich das a-thetische und imponderable Wesen des Alltags, der bestanden – und überstanden – werden muss. Tagebuchschreiber agieren unter Druck; was sie festhalten wollen, entgleitet ihnen unter der Hand. Tagebücher sind Exkremente. In ihnen resigniert der Intellekt noch in seinen feurigsten – und schaurigsten – Kapriolen.

Gedanken wie diese drängen sich auf, legt man die beiden – neben Ernst Jüngers unaufhaltsam wucherndem Monumentalwerk – gewichtigsten Tagebuchpublikationen der letzten Jahre nebeneinander – Klemperers schon erwähnte Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1945 und die von 1924 bis 1945 reichenden Goebbels-Tagebücher. Beide erschienen – aus höchst unterschiedlichen Gründen – mit Verspätung, aber zur rechten Zeit, jedenfalls für Leser, die einen Sinn für Brechungen besaßen: die Art und Weise, wie hier Täter und Kommentator, Verfolger und Verfolgter, Macht und Ohnmacht Blatt für Blatt die jeweils andere Seite des Tages beschriften, kontrastierte höchst merkwürdig mit den aktuellen statements entmachteter östlicher Größen und ihrer verflossenen Widersacher vor alles in allem identischen Kameras. Man kann nur ahnen, was der Erforscher der Lingua Tertii Imperii wohl für die Kenntnis folgender Aufzeichnung des Ministers vom 30. August 1938 gegeben hätte: »Ich lasse mir den Schriftsteller Wiechert aus dem K.Z. vorführen und halte ihm eine Philippika, die sich gewaschen hat ... Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab.« Oder des sachlich ebenso eindeutigen wie syntaktisch bedenklichen Folgesatzes: »Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung. Das wissen wir nun beide.« Dass nach dem geistigen Abstechen das physische kommen sollte, durfte seit längerem als ausgemacht gelten. Dass es hinter dem künftigen ›Vergehen‹ des Verwarnten steht, als Schatten wie als Substanz, erhellt das in den Gestus absoluten Verfügens eingeschlossene Eingeständnis der Unzugänglichkeit des ›Partners‹ – Verfügen und Vernichten fallen ineins. Immerhin scheint Klemperer gewusst zu haben, in welchem Ausmaß das eine wie das andere sich als Stimmungssache maskiert. »Nachmittags kommt der Führer. Es [sic!] ist gut in Stimmung. Scharf gegen die Juden.«

Lässt man – auch wenn es schwerfällt – das radikal Böse einmal außer acht, das sich in solchen Sätzen ganz unverblümt äußert, dann kann leicht der Eindruck aufkommen, es bei diesen Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen Tollhaus tatsächlich mit Illustrationen jener religiösen ›Gestalt‹ des Bewusstseins zu tun zu haben, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes das unglückliche Bewusstsein nennt. Denn anders als Mayer und andere durch Erfahrung gewitzte Parteigänger des Weltgeistes ihren Lesern weismachen wollen, stammt der Schmerz, den letzteres empfindet, keineswegs aus der Einsicht in die ungewollten Nebenfolgen der moralischen Aktion. Auf der Stufe des Unglücks, auf der es sich aufhält, ist es bis zur Moralität noch weit. Wohl aber heißt es von ihm, es sei »zunächst in dem Verhältnisse zweier Extreme; es steht als das tätige Diesseits auf einer Seite und ihm gegenüber die passive Wirklichkeit; beide in Beziehung aufeinander, aber auch beide in das Unwandelbare zurückgegangen und an sich festhaltend.« Und weiter: »Das Extrem der Wirklichkeit wird durch das tätige Extrem aufgehoben ... Die tätige Kraft erscheint als die Macht, worin die Wirklichkeit sich auflöst; darum aber ist für dieses Bewusstsein, welchem das Ansich oder das Wesen ein ihm Anderes ist, diese Macht, als welche es in der Tätigkeit auftritt, das Jenseits seiner selbst.« Die angeführten Sätze über die ›Unterredung‹ mit Wiechert bekunden diese ›Einstellung‹ mit einer Präzision, an der vor allem verblüfft, wie verlässlich sie in beinahe beliebigen Zusammenhängen aufs neue in Erscheinung tritt: »Ich ordne das Problem der entarteten Kunst neu. Die verkaufbaren Bilder werden an das Ausland verkauft, die anderen in Schreckensausstellungen zusammengefasst oder vernichtet. Damit ist das auch ausgestanden.« Ein Problem lösen, indem man es ›ordnet‹: die unziemliche Verknappung, die in diesem Ausdruck liegt, bekundet unübersehbar jene ›Macht, worin die Wirklichkeit sich auflöst‹; der Nachsatz (,Damit ist das auch ausgestanden‹) zeigt sie zur Genüge als unbegriffenes ›Jenseits‹ des zur Aktion entschlossenen Bewusstseins. Selbstredend muss nicht gefragt werden, welche ›Ordnung‹ hier exekutiert wird: ›verkaufen‹, ›zusammenfassen‹, ›vernichten‹, das sind an sich keine besonders subtilen Varianten des Spiels mit der Macht. Die ›Person‹, die sich im Konformismus solcher Machtausübung zeigt, wird von Hegel deutlich genug charakterisiert: »so sehen wir nur eine auf sich und ihr kleines Tun beschränkte und sich bebrütende, ebenso unglückliche als ärmliche Persönlichkeit.« O-Ton Goebbels: »Was soll ich noch tuen? Es ist ja alles so unsinnig geworden. Ich finde keinen Ausweg mehr. Wozu auch? Ich will Ruhe und Frieden finden!« – »Jahreswechsel! Schauderhaft! Man möchte sich am liebsten aufhängen.«

Man soll mit allem wuchern, denke ich,
Warum nicht mit verfallnem Menschenleben?
Es kommen Fälle, wo mans brauchen kann!

Zu Recht wird das belletristische Nachleben philosophischer Schlagworte stets von Misstrauen begleitet. Gleichermaßen passend und unpassend, lenken sie die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung und halten sie möglicherweise von wichtigeren Beobachtungen ab. In diesem Fall stellt sich das Problem jedoch anders. Was, so ist zu fragen, lässt jene wenigen Seiten der Phänomenologie so verlockend erscheinen, dass man immer wieder darauf zurückgreift, sobald es darum geht, bestimmte Aspekte einer spezifisch modernen Geistesverfassung näher zu bestimmen? Denn offenkundig erfährt man wenig oder nichts über die Eigenart des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, wenn man bei einem seiner Repräsentanten Züge des unglücklichen Bewusstseins aufdeckt. Im Gegenteil: es rückt ihn näher – für manche: bedenklich nahe – an den Typus des Funktionärs heran, den uns Mayer zwar nicht im Mittelpunkt der östlichen Macht, aber in ihrem engsten Zirkel anzunehmen nötigt. Zwischen der Gebiss-Pantomime des Johannes R. Becher und der Wiechert-Notiz des Dr. Goebbels besteht nur ein gradueller Unterschied, der sich in manchen Fällen bis zur Unkenntlichkeit verringert haben dürfte. Und schließlich offenbart es eine wiederum nur graduelle Differenz zwischen dem Funktionär und dem aufgeklärten, unteilnehmenden, wiewohl dauerhaft ›verstrickten‹ Intellektuellen, für den der Autor, der sich daran erinnert, wie es wirklich war, selbst einsteht. Das Geheimnis des inneren Zirkels der revolutionären Macht und der ihr ergebenen Geister, von Mayer ausgeplaudert und ›entdeckt‹, der verborgene Unglaube an die eigene Sache, der täglich aufs schärfste bekämpft werden muss, um im Kampf der Systeme – und Karrieren – standzuhalten, dieses Geheimnis führt tiefer in die Gründe und Abgründe der intellektuellen Existenz ein als jede ›Entlarvung‹ – von welcher interessierten Seite auch immer. Denn in diesem Fall gibt es keine Larve, unter der jemand sein wahres Gesicht verbergen könnte, weil das, was als Maske anzusehen wäre, erst das Gesicht bezeichnet. Die angestrengte, genauer: zu ungemeiner Anstrengung aufstachelnde Überzeugung deutet auf die Entlastung, die in der Überzeugung selbst liegt. Da sie aber nicht in sich selbst zu ruhen scheint, sondern in der Anstrengung, legt sich der Schluss nahe, es müsse mit dieser Überzeugung seine eigene Bewandtnis haben.

Hegel lässt das unglückliche Bewusstsein aus dem Skeptizismus hervorgehen. Letzter sei die »reale Negativität« des »freien Selbstbewusstseins«; in ihm werde der Gedanke zu einem »das Sein der vielfach bestimmten Welt vernichtenden Denken«, das Bewusstsein hingegen »die absolute dialektische Unruhe«: »Wird ihm die Gleichheit aufgezeigt, so zeigt es die Ungleichheit auf; und indem ihm diese, die es eben ausgesprochen hat, jetzt vorgehalten wird, so geht es zum Aufzeigen der Gleichheit über; sein Gerede ist in der Tat ein Gezänke eigensinniger Jungen, deren einer A sagt, wenn der andere B, und wieder B, wenn der andere A, und die sich durch den Widerspruch mit sich selbst die Freude erkaufen, miteinander im Widerspruche zu bleiben.« Die Freude schwindet umgehend, sobald das Bewusstsein dieses Spiel durchschaut und ›für sich‹ beide Seiten zu sein beginnt; sie macht dem Unglück Platz, das darin besteht, mit sich im Widerspruch zu liegen, in sich entzweit zu sein, ohne dem Zwiespalt entkommen zu können. Das unglückliche Bewusstsein ist also das über sich aufgeklärte skeptische Bewusstsein, und wenn dieses angelegentlich als »bewusstlose Faselei« apostrophiert wird, so könnte man jenes mit Fug als die zum Bewusstsein ihrer selbst gekommene Faselei bezeichnen.

Die jedoch, daran lässt Hegel keinen Zweifel, ist als Kampf zu verstehen, als ein aussichtsloser dazu, da ihr Sieg »vielmehr ein Unterliegen, das eine erreicht zu haben vielmehr der Verlust desselben in seinem Gegenteile« sei. Die Metaphorik von Kampf, Feind, Sieg und Niederlage lässt ebenso hellhörig werden wie die der Vernichtung, mit der die Freiheit des Selbstbewusstseins ihren Lauf beginnt. Das in sich selbst verfeindete Bewusstsein – Hegel spricht vom ›Feind in seiner eigensten Gestalt‹ – macht eine zweifache Erfahrung: das »Hervortreten der Einzelheit am Unwandelbaren und des Unwandelbaren an der Einzelheit« – kein Wunder, da es nichts weiter zu vollbringen hat als das Werk der Skepsis am sich unwandelbar dünkenden skeptischen Bewusstsein. Kurioserweise inszeniert die skeptische Reflexion auf sich einen doppelten Betrug: scheinbar verzichtet das Bewusstsein in seinem Unglück auf die »Befriedigung seines Selbstgefühls«, während es doch wirkliche »Begierde, Arbeit und Genuss«, also reale Befriedigung ist, und scheinbar wird es zum passiven – hoffenden und sich in Dankbarkeit verlierenden – Empfänger von Gunstbeweisen, die eine abgespaltene, angeblich unendlich fremde Realität ihm gelegentlich schenkt, während es allein durch seine andächtige Einstellung hinreichend zu erkennen gibt, in welcher Weise es jene sich vorstellt.

Dies alles spielt in den Vorbezirken des Wissens, im Zirkel von Glaube, Hoffnung, Skepsis, in dem sich Intellektuelle aus innerstem Antrieb bewegen. Die imaginäre Zurichtung des Gegners, seine Vernichtung im Geiste, aus der er ungerührt wieder ersteht, weil stets eine ›übersehene‹ Einzelheit über kurz oder lang einen neuen Waffengang erzwingt, das überwältigende Erlebnis der Selbstpreisgabe an eine undurchschaute Macht und der Glauben an die Wiedergeburt aus dem Selbstzweifel und der Verzweiflung – darin besteht ohne Zweifel der intellektuelle Zyklus, und Hegels Hohn über das »gestaltlose Sausen des Glockengeläutes« in einem Denken, das nur eben am Denken hingehe, statt zu begreifen, legt den Finger auf eine Wunde, die jederzeit und an den unvermutetsten Stellen aufbrechen kann. Untersucht man die landläufige Bestimmung der Moderne als des Zeitalters der vollendeten Skepsis – der vollendeten wohlgemerkt –, so findet man darin die erste Bestimmung des unglücklichen Bewusstseins, die Bestimmung, in der es zu sich findet, in der es sein Selbst findet. Denn dieser Fund gebiert unmittelbar die Überzeugung, dass es so – mit dem zersetzenden Monetarismus und der Gewissheiten aller Art unaufhörlich zerstreuenden Tätigkeit angeblich ›wertfreier‹, obwohl sichtbar mit den herrschenden ,Mächten‹ liierter Wissenschaft, mit der Neutralisierung überkommener Werte und der technizistischen Auflösung ›vormoderner‹ Lebenswelten und ihrer Ersetzung durch die in einer vagen, aber nahen Zukunft ›vollendete‹ Konsumgesellschaft – nicht unbegrenzt weitergehen kann, zusammen mit dem umfassenden Verdacht, dass es gerade so weitergehen wird; ein begründeter Verdacht, denn die Stabilität der beschriebenen Zustände verdankt sich der Diagnose. Solange diese nicht aufgegeben und durch eine andere ersetzt wird, ist das unglückliche Bewusstsein ganz bei sich selbst, und das heißt, ganz bei der Sache. Die Liberalismuskritik, das Hätschelkind rechter wie linker Intelligenz, stabilisiert dieses ›Bewusstsein‹, soweit es dessen eben bedarf, denn sie genügt bei weitem, um jene ›Entscheidung‹ reifen zu lassen, in der sich ein skeptisches Tun, ein ›auflösender‹, negierender Akt – die Selbstbezweiflung der Skepsis – als positiv, als Entscheidung für etwas darstellen kann. Was gegen den Liberalismus Verdacht erregt, ist sein Geltenlassen, das sich dem skeptischen Blick als ein Nichtgeltenlassen enthüllt, als Beiseitesetzen von Geltung im Spiel der Kräfte (Marcuses ›repressive Toleranz‹), als zur öffentlichen Ordnung aufgerückter Negativismus.

Die Entscheidung für etwas kann aber nach Lage der Dinge nur eine Entscheidung für eine soziale Gruppe, im engsten Fall für eine Clique von Gleichgesinnten sein, die ihren Zusammenhalt aus der gemeinsamen Ablehnung des ›Bestehenden‹ gewinnt und diese Ablehnung mit einer gänzlich unbestimmten Verantwortung für das Ganze oder wahlweise ein Ganzes – Klasse, Volk, Dritte Welt, Ökosystem, ›Kultur‹ etc. – kaschiert, wobei das begrenztere Ganze das umfassendere, aber leider unverfügbare Ganze vertritt. Diese doppelte Verantwortung scheint Mannheim vor Augen gestanden zu haben, wenn er die Intelligenz auf jene erwähnten zwei Wege verweist, die sich zwangsläufig aus ihrer Mittellage ergeben: den »Anschluss an die verschiedensten sich jeweils bekämpfenden Klassen«, und das »Sich-Besinnen auf die eigenen Wurzeln, das Suchen der eigenen Mission, prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen zu sein«. The way up and the way down sind in diesem Fall einmal mehr dasselbe, Segmente ein und derselben Bewegung. Vorausgesetzt, es handelt sich im einen wie im anderen Fall um Intellektuelle und nicht um Apparatschiks. Doch selbst der geballte Wille zur ›Abrechnung‹ mit dem Intellektuellendasein und zum Mitmachen um (fast) jeden Preis stößt gelegentlich ins Leere, wie die Beispiele Carl Einsteins und Gottfried Benns in den Dreißiger Jahren bezeugen: der Anlässe zum Absturz – oder zum signifikant verzögerten ›Sich-Besinnen‹ – waren und sind mancherlei.

Nicht, dass solche Gruppen – Parteien, Bewegungen, terroristische Vereinigungen – Erfolge erzielen, dass sie auf das Denken von beträchtlichen Minderheiten, auf Gesellschaft und Politik jede Art von Einfluss gewinnen und sie in besonderen Situationen überwältigen können, gibt zu denken, sondern die Konsequenz, die der Beitritt, das Sich-Anschließen für den einzelnen bereithält. Die Euphorie, das überströmende Glücksgefühl des Dabeisein-Dürfens, des Dazugehörens, das sich bis zur Beklommenheit und zur andächtigen Verehrung der Gemeinschaft und ihrer Vorkämpfer zu steigern vermag – die Zeugnisse sprechen da eine erstaunliche Sprache –, dies alles kann nicht verhindern, dass der Rückblick auf das atomisierte (›bürgerliche‹) Individuum, diese Gegenfigur des zur Gemeinschaft Entschlossenen, zugleich ein Blick auf sich selbst, ein Stück Selbsterkenntnis bleibt, ein Aspekt, der sich als Dankbarkeit und – da keine Euphorie ewig währt – als Zweifel, im besonderen Fall als Verzweiflung zurückmeldet. Der Nonkonformismus Gides, geht man ihm lange genug nach, ist das Einbekenntnis des Unglaubens auf dem Grunde des Glaubens, der Unentschiedenheit in der Entscheidung, des eingekapselten Ego in aller zur Schau getragenen Entschlossenheit – eines Ego, das nach wie vor frei hat, auch wenn es zeitweilig nichts davon wissen will.

Was bedeutet es also, wenn Mayer den Grundkonflikt des unglücklichen Bewusstseins an eine andere Stelle verschiebt, so dass die »Verallgemeinerung, die ihr Objekt in die Sphäre des Abstrakten stellt«, wie er, Plessner zitierend, schreibt, die ›Misanthropie‹ des revolutionären Bewusstseins, das nichts dabei findet, über Leichen zu gehen, zum Kern des intellektuellen Unglücks stilisiert wird? Zweifellos steckt darin ein Stück aus Leiden destillierter Erfahrung, die durch die Strategie der Nichtteilnahme weniger kompensiert als vielmehr überhöht und damit erträglich gestaltet wird: das Gegenstück des Blicks, der nicht sieht, weil er nicht sehen will, im Bereich des Wissens, das immer auch – und unabblendbar – ein Wissen um das, was vorgeht, einschließt. Diese Erfahrung setzt eine revolutionär gestaltete Wirklichkeit voraus, und keineswegs nur vom Hörensagen: der dem ›Experiment‹ DDR vorausliegende Stalinismus der Vorkriegszeit hat zwar seine eigenen Renegaten hervorgebracht, doch die ›Mannschaft‹, die sich 1948 im östlichen Deutschland ›in voller Stärke‹ präsentiert, um die kulturelle Gestaltung der Zukunft in Angriff zu nehmen, empfindet die Schalheit des Angebots kaum; alles scheint Chance und Verheißung.

Die Verschiebung des Grundkonflikts – sie bedeutet einerseits eine Verflachung, eine Bereitschaft, mit der Gemeinschaft mitzugehen und den Preis dafür zu entrichten, die Respektierung von Tabuzonen (im Blick auf sich selbst wie auf die von ihr geschaffenen und also zu verantwortenden Verhältnisse), andererseits seine Verschärfung im Hinblick auf eine Psychologie der Vollstreckung, die dem »Herzklopfen für das Wohl der Menschheit« – eine von Mayer zustimmend zitierte Wendung Hegels – beigemengt ist: »Unglückliches Bewusstsein bedeutet immer wieder den ungelösten Gegensatz zwischen Humanisierung des Denkens und Fühlens auf der einen, wachsender Entmenschlichung der gesellschaftlichen Praxis auf der anderen Seite.« Die Praxis stalinistischer Massentötungen ist dabei nur der sichtbarste Ausdruck der philanthropischen Menschenverachtung. Man muss genau lesen: nicht etwa ›bedenkt‹ oder ›empfindet‹ das unglückliche Bewusstsein den ungelösten Gegensatz, nein, es ›bedeutet‹ ihn, und zwar ›immer wieder‹ – es reproduziert sich als dieser Gegensatz, das heißt, es verhindert auf dem Wege der Selbsterhaltung, dass er aus der Wirklichkeit verschwindet.

Es liegt auf der Hand, dass ein solches Bewusstsein gegenüber einem zum Menschheits-,Projekt‹ stilisierten Staat, der sich darin zur Kenntlichkeit verstand, dass er die Grenzen der seinen Bürgern gewährten Freizügigkeit durch Tötungsmaschinen markierte, besondere Beziehungen unterhielt und aus Trostgründen noch posthum unterhält – auch und gerade nach dem Wechsel auf die andere Seite. Die Gleichzeitigkeit der Systeme und, mehr noch, ihre gemeinsame Grenze innerhalb einer Kultur, gab Gelegenheit, dem in die Normalität des Westens Zurückgekehrten gerade diese DDR als die zeitgenössische Offenbarung der eigenen Tendenzen erscheinen zu lassen, als Garant der Realität des innerhalb der eigenen Bewusstseinsgrenzen symbolisch durchlittenen Konflikts. Die DDR als die nicht nur dialektisch gedeutete, sondern sich selbst zu einer keinen Spaß verstehenden Dialektik der Veränderung anhaltende Wirklichkeit muss, wiederum innerhalb der in einer weithin fixierten Symbolwelt sich vollziehenden Selbstentfaltung des unglücklichen Bewusstseins, als die notwendige Herausforderung jener Normalität fungieren, in der die Dialektik der Menschheitsentwürfe, nicht zuletzt im Gedenken an die Opfer, mit Absicht stillgestellt wurde. In gewisser Weise gehört die Trennung vom Gemeinwesen DDR, das Exil, das keines sein darf, zur Sache. Denn sie erlaubte es dem noch immer unglücklichen Bewusstsein, die eigene Misere als die einer vergehenden – kleinbürgerlichen – Welt zu erleben, unbeschadet des Alltags derer, die die Härten jener anderen Welt weniger als notwendigen Tribut an die keinen Spaß verzeihende Dialektik, sondern als jeder Notwendigkeit bare Bestandteile einer verschärften Misere erfuhren. Das ›Projekt DDR‹ wird damit zum Modellfall einer nicht nur gedeuteten, sondern von vornherein nur in ihren Deutungen präsenten ›Welt‹, ein Bewusstseinsspuk, der, wie sich zeigte, nach dem Abschied vom sozialistischen Alltag viele seiner ehemaligen Bewohner nachträglich einholte oder einzuholen drohte.

Doch man lese – und höre – genauer: Die Klage über den ›ungelösten Gegensatz zwischen Humanisierung des Denkens und Fühlens auf der einen, wachsender Entmenschlichung der gesellschaftlichen Praxis auf der anderen Seite‹ macht an keiner Systemgrenze halt, natürlich nicht, sie weist zurück auf die mehr oder weniger seit Nietzsche im Schwange befindliche Denkfigur vom ›Unbehagen in der Kultur‹, der Freud in den Dreißiger Jahren seinen analytischen Beistand lieh, und damit auf die rousseauistische Grundfigur aller anthropologisch unterfütterten Kulturkritik, die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit als zwanghafte Entgleisung, die Gegenwart als die Krisis und die nähere Zukunft als die Lösung – so oder so – des Kulturproblems zu präsentieren. Das ›macht‹ zweifellos Sinn, es erzeugt ihn, wie gesehen, allenthalben, aber es verkehrt ihn am Ende in Unsinn. Denn angenommen, man hielte die These von den zwei Zeitrechnungen – der Zeit der Dekadenz und des Wartens auf der einen, der gelebten und weiter zu lebenden Wunschzeit auf der anderen Seite der lange Zeit sichtbaren und heute in die Unzugänglichkeit der Erinnerung, des Ressentiments und einer neuen naiven Gläubigkeit verschobenen Grenzlinie – wider alle Erfahrungen des Jahrhunderts aufrecht, so ginge es gerade nicht an, die differenten Systeme mit demselben analytischen Besteck zu behandeln, dessen Einsatz wenn nicht den Aufbruch in das Abenteuer einer zweiten Welt, so zumindest die Entscheidung für eine der beiden Seiten ursprünglich motivierte. Angenommen aber, man hielte die Zwei-Welten-These für widerlegt – nicht durch ›abstrakte‹ Argumente, sondern durch die Zeitläufe selbst, durch die Kumulation von Erfahrungen und schließlich durch den wirklichen Zerfall des alternativen Systems –, so könnte gerade das unglückliche Bewusstsein, sollte noch ein Funken jener anfänglichen Skepsis in ihm überlebt haben, nicht umhin, die kulturkritischen Axiome aus ihrer privilegierten Position zu erlösen und der negierenden Bewegung auszusetzen, als deren sicht- und achtbarer Ausdruck sie so lange angesehen wurden. Schon allein die Aussicht auf eine in unbestimmte Zukunft fortschreitende (De)Humanisierung der Menschheit dürften sie nicht lange überleben. Ohne Krisenpunkt keine Umkehr; ohne den Gedanken an Umkehr keine Entscheidung gegen diese (welche? Die heutige? die gerade vergangene? die gerade entstehende?) Kultur, ohne Entscheidung nur Geschwätz – banales, langweiliges Geschwätz, dass dies alles nicht mehr lange so weitergehen könne. O doch: es kann gar nicht anders.

So richtet der Hegelianismus am Ende seine ›Gestalten‹.

 

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