10.

 

Zur Person

Anthony Ashley Cooper, dritter Earl of Shaftesbury, 1671–1713, zeitweilig aktives Mitglied beider Häuser des englischen Parlaments, Enkel eines der ersten Oppositionsführer großen Stils im angelsächsischen Parlamentarismus, Herr über die Bahamas und Miteigner von Carolina, illustrer Vorfahr eines Sozialreformers aus dem letzten Jahrhundert, dessen Name heute die Londoner Shaftesbury Avenue ziert, von früh auf kränkelnder Repräsentant der englischen Frühaufklärung, Anti-Empirist, Religionskritiker (unter ihren Verächtern, laut Lessing, »der gefährlichste, weil feinste«),ästhetischer Kopf, Philosoph, Landedelmann, intimer Gegner John Lockes und heimlicher Freund John Tolands, dessen Buch Christianity not mysterious seinerzeit öffentlich vom Henker verbrannt wurde, Briefpartner Pierre Bayles und Pierre Costes, kommentiert von Leibniz und kopiert von Adam Smith. Auf einer ausgedehnten Kavalierstour auf dem Kontinent erwirbt er ein tiefes Misstrauen gegen die von Jesuiten verseuchten habsburgischen Metropolen und eine das Pathologische streifende Abneigung gegen das absolutistische Frankreich, diese »Macht des Bösen«,wie er sich ausdrückt. Durch das Emigrantenschicksal seines Großvaters in einer wohl angeborenen Ängstlichkeit bestärkt, pflegt er seine politischen Kontakte jenseits der Landesgrenzen mit konspirativer Akribie. Es ist die Zeit des spanischen Erbfolgekriegs. Eine schwache Gesundheit und ein bedenkliches Desinteresse an Frauen – vor allem letzteres – mobilisieren Familienängste. Selbst der alte Hauslehrer Locke hätte als Freund der Familie die eine oder andere gute Partie in petto – vergebens. Es sei wohl eines der bestgehüteten Geheimnisse der Götter,notiert der Earl auf einen der Bitt- und Mahnbriefe des Philosophen, wie man sich vor den Nachstellungen vulgärer Menschenretten könne. Ende gut, alles gut: Es kommt zur ersehnten Heirat. Ohne die Geburt des Stammhalters abzuwarten, entweicht der Todkranke, auf Linderung seiner Schmerzen hoffend und unentwegt die Leerseiten winziger Almanache mit einer langsam unleserlich werdenden Schrift bedeckend, ins Traumland Italien. Am 15. November 1711 trifft er in Neapel ein, wo er am 15. Februar 1713 um zehn Uhr morgens schmerzlos verstirbt.

Das nachstehende, dem Schweigen des Familienarchivs entwendete Dokument enthält, wie es einleitend heißt, den »anatomischen Befund, erhoben aus Anlass der Präparation des Leichnams des sehr ehrenwerten Earl of Shaftesbury zum Zweck der Einbalsamierung«;der so konservierte Leichnam gelangte als Schiffsfracht zurück nach Dorset, wo man ihn in der Dorfkirche von Wimborne St. Giles, der Begräbnisstätte der Shaftesburys, standesgemäß beisetzte. Ein schnörkelloser Bericht, geschrieben möglicherweise für den Hausarzt der Familie. Die kursiv gesetzten Partien geben Randnotizen des Originals wieder, Zusammenfassungen für medizinischer Terminologie Unkundige. Die moderne Diagnose dürfte auf Tuberkulose in fortgeschrittenem Stadium mit den üblichen Folgeerscheinungen lauten. Dies also steckt hinter der ahnungslosen Formulierung des oben zitierten Schreibers, eines literarisch ambitionierten Mannes, sein Herr sei keiner bestimmten Krankheit erlegen, vielmehr sei der Tod als Folge eines »vollkommenen körperlichen Verfalls«eingetreten, einer Erschöpfung aller Lebenskräfte im Alter von 44 Jahren. Es ist diese Ahnungslosigkeit, des Schreibers, die uns die Augen öffnet und den Text schätzenswert macht, als Blick ins Innere des Schriftstellers; Einsichten ins Innenleben von Autoren sind immer gefragt. Der Aufklärer, das Innere und der Verfall: ein großes Thema, unausdenkbar und deshalb der Anschauung bedürftig; diese braucht Vorlagen.

 

Der Bericht

1

»Nach Entfernung der oberen Schädelteile sowie der Hirnhaut zeigte sich, dass die Gehirnrinde ungewöhnlich weich war. Die vier Ventrikeln enthielten flüssigen klaren Liquor, von dem auch das Groß- und Kleinhirn vollständig durchtränkt zu sein schienen.

Im gesamten Hirn fanden sich große Mengen einer klaren, dünnen Flüssigkeit.

2

Nach Entfernung des Brustbeins fand es sich, dass die Lungen an mehreren Stellen Eiter angesetzt hatten und beiderseits stark mit der Pleura verwachsen waren. Die kräftigeren Bronchialäste machten einen beinahe verknöcherten Eindruck, auch die feineren zeigten sich von einer durchaus ungewöhnlichen Härte. Das Herz, vom Pericardium gesäubert (das eine große Menge Serum enthielt), besaß seine natürliche Größe. In der rechten Kammer fand man einen sehr großen Polypen. Aus drei flachen, in dem Ventrikelboden verankerten Wurzeln verband er sich zu einem sehr kräftigen, harten Körper von weißlicher Farbe, der sich über eine Länge von vier Inches in die Arteria pulmonalis hinein verfolgen ließ, wo er in ein weicheres Gewebe auslief, das in der Farbe an geronnenes Blut erinnerte. Als die Eingeweide aus dem Thorax entfernt waren, blieb eine reichliche Menge Wasser zurück, das allerdings weit dickflüssiger war als das im Gehirn gefundene.

Die Lungen fand man an mehreren Stellen verdorben, und die dortige Substanz von der gleichen Farbe wie diejenigen, welche Seine Lordschaft öfters aushustete. Im Herzen fand sich ein Gewächs, welches die Ärzte einen Polypen nennen, dieses war die Veranlassung für den häufigen kalten Schweiß und den unregelmäßigen Puls, von welchen Seine Lordschaft heimgesucht wurde. Gleicherweise entdeckte man in der Brust eine Menge Flüssigkeit, dicker und klebriger als die im Hirn vorgefundene.

3

Nach Öffnung der Bauchdecke ließ das Omentum nur noch Spuren von Fett erkennen, die Leber war ungewöhnlich groß, doch natürlich in Farbe und Gewebe. Bei näherer Prüfung fanden sich keine Schwellung, kein Geschwür und keinerlei Verhärtungen. Die Gallenblase war von normaler Größe. Allerdings enthielt sie, ebenso wie die Gallengänge, nur geringe Mengen Flüssigkeit. Einen durchaus gesunden Eindruck machte die Bauchspeicheldrüse, doch war die Milz extrem vergrößert und ihr Gewebe zersetzt. Ungemein groß waren auch die Mesenterialdrüsen. Die rechte Niere enthielt ein Geschwür, welches sich zum Becken hin öffnete und eine stark übelriechende Masse ausschied. Gesund wirkten Magen, linke Niere und Blase sowie die übrigen Teile des Abdomens. Als man es von den Eingeweiden gesäubert hatte, fand sich eine große Menge Wasser, nicht so flüssig wie das im Gehirn und nicht so viskos wie das im Thorax bemerkte.

Voll Wasser war auch das Skrotum, desgleichen die Gliedmaßen, vor allem Ober- und Unterschenkel, sowie die Füße.

Im Bauch fand man nichts Überraschendes, ausgenommen die Größe von Leber und Milz. Die rechte Niere hatte eine offene Stelle, aus welcher sich die Blase mit einer dicken, eklen Masse versorgte. Möglicherweise bewirkte diese den stark verfärbten, dicken Urin, welchen Seine Lordschaft oftmals unter großen Schwierigkeiten ließ. Gleicherweise bemerkte man auch im Bauch Flüssigkeit in großer Menge, doch war diese hier weder so dick wie die in der Brust entdeckte, noch so dünn wie die im Hirn wahrgenommene.«

 

Beschluss

»Dies vor allem«,so lautet die abschließende Notiz, »schien von der Präparation der Leiche zum Zwecke der Einbalsamierung mitteilenswert zu sein.« Es folgt die Angabe des Datums – »Neapel, den 18. Februar 1713« –, anschließend eine Aufstellung der für die Einbalsamierung verwendeten Substanzen, geeignet, unter Fachleuten ein anerkennendes Nicken hervorzurufen; die Leiche besitzt ihren Wert. Mitteilenswert istdas Berichtete wohl, und sei es nur, um dem Parallelismus von geistiger Biographie und Krankengeschichte nachzusinnen. Ein rastloser Sachwalter der Freiheit, immer bestrebt, den Fallgruben der zeitgenössischen Philosophie, Empirismus und Mystizismus, zu entgehen, ein Schreibtischverschwörer und rastloser Intellektueller, gewohnt, zwischen öffentlicher und privater Existenz paradoxe Zwischenlösungen zu praktizieren, die auf ein mehr oder weniger selbstgenügsames Intrigieren in theoreticis hinauslaufen, inmitten allerlei kryptopolitischer Aktivitäten in ästhetische Reflexionen verfallend, um diese sogleich, in einem Brief an den Drucker, vorbeugend als Vehikel der Politik in Zeiten der Unterdrückung zu denunzieren. Wann, bei welcher Gelegenheit, formt sich jenes Ödem, platzt, unbehandelt, dieses Geschwür, erreicht der Polyp im Herzen seine beeindruckende Größe? Man beachte die Inversion der bösartigen Floskel vom zersetzenden Intellektuellen. Dieser hier, ein Mann von unzweifelhaftem Format, zersetzt sich, in der Tat, von innen her. Verlust der Mitte – nun, das ist lange her.

 

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