Versuch über Gesellschaft und was von ihr bleibt

 

für Michael Schulze

1.

Gibt es eine Ordnung des Geldes? Aber gewiss. Die Ordnung des Geldes besteht in der prinzipiellen Verfügbarkeit aller Güter. Was heute A gehört, kann morgen B gehören. Es kann aber auch A, B und/oder C gehören, in beliebiger Reihenfolge und in beliebigen Anteilen. Das Geld als neutrales, beliebig stückelbares und leicht transportierbares Gut tritt zwischen alle anderen und erlaubt es, ihren Wert gegen alle anderen zu bestimmen, ohne dass es nötig wäre, darüber einen philosophischen Güterdiskurs zu führen, der am Ende, der Praktiker weiß oder ahnt es bereits, doch nur zu verstiegenen, von der Realität schnell korrigierten Vorstellungen führen würde.

Ist dies Ordnung? Darüber kann man, wie über jede andere Ordnung, endlos streiten. Will sagen: es ist eine Ordnung wie andere auch. Menschen, denen der Besitz über alles geht, werden versichern, sie sei die Basis aller weiteren Ordnungen: Ohne Moos nix los. Menschen, deren Bedarf an Gütern gering ist oder die eine grundsätzliche Abneigung gegen Besitz verspüren, werden versichern, sie sei die Basis des falschen Lebens, des Lebens der anderen, der Ungläubigen, der Besitzfetischisten, der Welt der Reichen, des Kapitals –: eine Ordnung der Unordnung, die man, wo möglich, umgehen oder umstürzen muss, um zur wahren Ordnung der menschlichen Dinge zu gelangen. Wie in manch anderem Fall kommt auch hier, mit Hegel gesprochen, das Versichern zu keinem Ende.

Wie kann, was Ordnung ist, Unordnung sein? Wie kann, was Ordnung ist, zugleich – oder, für jene, die auf feinere Unterscheidungen drängen, ›gleichermaßen‹ – Unordnung sein? Seit Karl Marx’ Schriften in der Gesellschaft zirkulieren – nicht ohne Zutun des Geldes –, bietet sich die durch Geldzirkulation erzeugte Ordnung an, wann immer es darum geht, diese Frage an einem prominenten und leicht zugänglichen Beispiel zu erörtern.

In ihrer idealen Form nimmt jedermann an ihr teil – einfach dadurch, dass er über Geld verfügt. Geld besitzt man bekanntlich nicht, man verfügt darüber in der einen oder anderen Weise. Man ist aber potentiell Besitzender, wenn und solange man über Geld verfügt. Nur der Geldlose ist besitzlos und steht damit, idealiter gesprochen (auch wenn dem Wort in diesem Zusammenhang ein makabrer Beigeschmack anhaftet), außerhalb der Ordnung. Eine Gesellschaft, in der jeder mit Geld versorgt ist, ist, wie sollte es anders gehen, per definitionem eine Gesellschaft von Besitzenden. Das macht es, wiederum idealiter, jedermann leicht, aus ihr auszusteigen oder sich ihr zu entziehen. Es sollte, reichlich idealiter gesprochen, genügen, sich des Gebrauchs des Geldes zu enthalten, besser noch, sich seiner ein für allemal zu entschlagen, um den Kopf für andere Dinge freizubekommen.

Geld ist ein Jedermannstitel.

Aber reicht das? Reicht es auch dort, wo es hinten und vorn nicht reicht? Immerhin reicht es, um, in der einen oder anderen Bedeutung des Wortes, Gesellschaften zu provozieren, deren Selbstverständnis nicht ums Geld kreist: archaische Kriegergesellschaften, kultisch geprägte Gemeinschaften oder postmonetär denkende Clubs, Gesellschaften, in denen es unbekannt oder verpönt ist und in denen andere – ›höhere‹ – Werte gelten.

Die friedliche Koexistenz der Systeme war und ist eine Fata Morgana, sobald es ums Geld geht.

2.

Apologeten des Geldsystems werden entgegnen: Selbstverständlich gibt es zur Ordnung des Geldes Alternativen. Sie ist ihnen allen aber aus prinzipiellen und praktischen Gründen überlegen, so dass sie ihr irgendwann weichen. Das beweist der Gang der Geschichte, nicht zuletzt des Sozialismus. Und sollte auch diese Geschichte, wie Skeptiker vermuten, am Ende nichts beweisen außer dem Dilettantismus der Akteure, so handelte es sich schlicht um ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Ökonomien ohne Geld fehlt etwas. Man könnte es den ›grundlegenden Einfall‹ nennen. Deshalb besteht Grund zu der Annahme, dass jede Unordnung, die aus dem Kampf solcher Systeme entsteht, sich irgendwann als vorläufig auflöst: a war to end all wars. Doch die Dinge liegen vertrackt, wie der Wolf anmerkt, dem die Wackersteine im Magen liegen. Der Kampf der Systeme lässt sich genauso gut, um nicht zu sagen besser, da gegenwartsnäher, innerhalb des geltenden Geldsystems beobachten – verständlicherweise, denn wie jede Ordnung ist auch diese nicht vom Himmel gefallen, sondern Schritt für Schritt entstanden und weiterhin, was ihre Kritiker auch dazu anmerken mögen, im Entstehen begriffen.

Fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Abschaffung durch Richard Nixon 1971 sehen viele Ökonomen im Goldstandard noch immer das (fast) ideale Maß aller monetären Dinge und in dem 1944 in Bretton Woods beschlossenen Finanzsystem, das den Dollar in den Rang einer Welt-Ankerwährung erhob, das monetäre Paradies vor dem Sündenfall. Älter als das System von Bretton Woods ist der Goldstandard selbst, also die Verwendung goldgedeckter Währungen. Er verbindet moderne Geldsysteme mit ihrem archaisch anmutenden Vorgänger, der ›reinen‹ Goldwährung. In letzterer sind, selbstverständlich idealiter, Materialwert und nomineller Wert des geprägten Goldes eins. Auch das Geld wäre demnach in diesem besonderen Fall Besitz, soll heißen, ein Gut unter anderen.

Der erste Sündenfall, die Abkehr von einer Währung, in der der Materialwert des verwendeten Edelmetalls dem aufgeprägten Nominalwert entspricht, wird durch den absoluten Gegensatz zwischen den beati possidentes, also den wenigen Vermögenden, und den vielen provoziert, die Bedarf an einem Zahlungsmittel anmelden, ohne sich durch Eigenvermögen auszuweisen – also durch den Riss, an dem seit eh und je der historische Charakter von Gesellschaften kenntlich wird. Als Akteur besonderen Gewichts tritt dabei der Staat auf, dessen Geldbedarf, wie verzerrt auch immer, dem Bedarf aller Bürger an staatlichen Leistungen folgt. Der Gold-›Standard‹ löst das an dieser Stelle zutage tretende Dilemma durch den Gedanken der ›Deckung‹, dem zufolge der Materialwert des in den staatlichen Tresoren lagernden Goldschatzes dem nominellen, sprich aufgedruckten Wert des von den Notenbanken ausgegebenen Geldes ›entspricht‹.

Hier kommt das nächste Dilemma in Sicht. Die Geschäfte des Einzelnen können und sollen – bitter für den Einzelnen – zum Erliegen kommen, sobald das Geld ausgeht: Wer lebt, lebt riskant. Die Aktivitäten des Staates hingegen müssen weitergehen, gleichgültig, auf welcher Grundlage dies geschieht. An ihnen hängen schließlich die Existenz und das Wohlergehen aller. Seine Ausstattung mit Finanzmitteln rangiert daher über den Erfordernissen des reinen Geldverkehrs. Die nominelle Abkehr vom Goldstandard, gleichgültig, wer sie im Lauf der Geschichte vollzieht, folgt der Logik staatlichen Überlebens. Sie ist nur eine Frage der Zeit, sobald sich die nüchterne Einsicht Bahn bricht, dass für die bereits aufgelaufenen und weiterhin auflaufenden Schulden des verantwortlichen Ausgabestaates dauerhaft keine materielle Deckung mehr besteht. Praktisch ist sie dann längst vollzogen.

Das bedeutet: Es existiert eine Ordnung des Staates, die über der Ordnung des Geldes rangiert und daher über das Recht und die Möglichkeit gebietet, in sie einzugreifen und sie zu modifizieren – sei es, um sie durch Regelwerke zu stabilisieren, sei es, um Ungleichheiten zu korrigieren, die den sozialen Frieden in Gefahr bringen, sei es, um – möglicherweise zu seinem Erhalt oder Erfolg notwendige – Privilegien durchzusetzen, die rein ökonomisch nicht zu erringen oder zu erhalten wären. Zwischen der Ordnung des Staates und der für ein Einzelnen zwingenden Ordnung des Geldes herrscht ein Garantieverhältnis. Staatliche Macht ist monetäre Macht in doppelter Hinsicht: Sie beruht auf Reichtum und vermag ihn zu steuern. Zwischen den Kräften des Staates und denen des Geldes besteht daher ein intimer Antagonismus, man kann auch sagen ein verwobener Gegensatz, der sich durch keinen Regierungs- und Systemwechsel aus der Welt bringen lässt.

3.

Eine Bemerkung am Rande: Mit dem Auftauchen des Fiat-Geldes, also eines durch digitale Buchungsvorgänge bei der Kreditvergabe erzeugten, durch keine umlaufenden Geldscheine und Münzen gedeckten Geldtypus, entsteht zwischen der privaten Kundschaft und ihrer Bank ein Verhältnis, das ›strukturell‹ in einem Punkt mit dem zwischen dem Staat und dem ihn tragenden Bankensystem bestehenden übereinkommt. Letztlich überspielt die Bereitschaft der Kunden sich zu verschulden die rein ökonomischen Grenzen der Kreditvergabe, sprich: der Geldschöpfung – jedenfalls bis zum nächsten Bankencrash, den abzuwenden dann wiederum von Banken und Anlegern, aber selbstverständlich auch von den Kreditnehmern, als Aufgabe des Staates, soll heißen, der Gemeinschaft der Steuerzahler eingefordert wird. Auch an dieser Front ist die Ordnung des Geldes die Ordnung der Gesellschaft. Jedem, der es wissen wollte, haben die diversen Kredit- respektive Konsumblasen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass dieser Ordnung eine Tendenz zur Unordnung innewohnt, welche diejenige des Marktes, über die sich die theoretischen Handlanger des Staatssozialismus ausgiebig ausgelassen haben, weit hinter sich lässt.

4.

Die Einblendung ist deshalb nicht müßig, weil in ihr eine Figur auftaucht, die dem klassischen Wertbegriff zu widersprechen scheint, die des wertsetzenden Einzelnen, womit nicht unbedingt ein Mensch gemeint sein muss, es genügt die wirtschaftende Einheit, im konkreten Fall vielleicht ein entsprechend programmierter Computer, der sich mit anderen zur Schwarmintelligenz verbindet. Wenn Werte etwas sind, an das Menschen sich gerade deshalb binden können, weil ihre Geltung überindividuell gedacht ist, dann steht im vom Einzelnen für sich und damit für die Welt gesetzten Wert die Welt kopf. So sah es bereits Nietzsche, als er die welthistorische Rolle des wertschaffenden Einzelnen propagandistisch herausstrich – mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass in seiner Welt zwischen Wunsch und Wunscherfüllung deutlich mehr zu passieren hätte als die Kontaktaufnahme zur nächstgelegenen Bank. Es steht daher jedem frei, auf solche Weise generierte Werte, bezogen auf den Einzelnen, ›phantasmagorisch‹ zu nennen oder, bezogen auf das Ergebnis, ›virtuell‹. Das hebelt die Tatsache nicht aus, dass an dieser Stelle erzeugtes Geld nun einmal in der Welt und der Schuldenstand des ökonomischen ›Subjekts‹ real ist – was heißt, dass er seine Stellung in der Gesellschaft determiniert.

5.

Die Kunst kennt die Figur des wertsetzenden Einzelnen bereits länger. Der ›schaffende Genius‹, zum ›produktiven Genie‹ umgebogen, schafft Werte was sonst? –, im Ernstfall bleibende Werte, materialisiert in den Werken der Kunst, die auf öffentlichen Plätzen und in Museen überdauern, weil ihre Vernachlässigung oder gar Entsorgung einen Kulturfrevel darstellen würde, der, so der dahinterstehende Gedanke, zu Identitätsverlust, sprich: zur Auflösung kultureller Gemeinschaft und damit des tragenden Werteverbundes führt. Das bedeutet andererseits: eine Kultur muss reif sein für den Kult des Genies, damit es als solches hervortreten und sein Werk vor aller Augen verrichten kann. ›Reif sein‹ bedeutet: sie muss bereit sein zur Anerkennung des Einzelnen als wertsetzender Instanz. Solange Anerkennung an die beiden Faktoren Arbeit und Erfolg gekoppelt bleibt und letzterer durch Knappheit geregelt wird – Genie ist bekanntlich vor jeder weiteren Zuschreibung selten –, ähnelt eine solche Bereitschaft entfernt dem Verhalten von Banken, persönliche Referenzen – nach peinlicher Prüfung, versteht sich – als Sicherheiten bei der Kreditvergabe zuzulassen. Die Person bürgt für den Erfolg. Das ist die Kultur des Leistungsträgers, wie man sie aus dem Bilderbuch kennt.

6.

Warum soll, was einzelnen Einzelnen gewährt wird, nicht allen Einzelnen zustehen? Wie andere lange Zeit absurd klingende Fragen verlangt auch diese irgendwann nach einer Antwort. Wenn alle ökonomische Tätigkeit und damit aller ökonomischer Erfolg auf Kredit beruht, dann ist Kreditwürdigkeit nur scheinbar die Eigenschaft eines ausgezeichneten Individuums. Besser wird sie beschreibbar als ein restriktiver Aspekt des gerade geltenden Kreditsystems, der nur durch die Knappheit des im Umlauf befindlichen Geldes gerechtfertigt werden kann. Ist die Ordnung des Geldes die Ordnung aller, dann sollte auch allen die Teilhabe an ihren Segnungen erlaubt sein. Dahinter steckt weniger ein moralischer Imperativ als vielmehr eine Systemtendenz. Sie drängt zur Homogenisierung der Beziehungen zwischen Systemträgern, die sich, wie jeder weiß, blendend auch mit krasser Ungleichheit verträgt. In einer Ökonomie, in der ›Geld kein Problem‹ und ›kreativer Umgang‹ mit ihm alles ist, besteht kein sachlicher Grund, irgendjemanden von ihm auszuschließen. Im Gegenteil: die Tendenz des Systems zu expandieren – mehr Volumen, mehr Gewinn – lässt nach und nach alle Restriktionen verkümmern … bis zum nächsten Crash, versteht sich.

7.

Auch der Kunstwelt, allgemein der Welt des Designs und der Gestaltung, ist der Crash jenseits des Auf und Ab der Moden nicht fremd. Erinnert sei an die plötzliche und radikale Außerdienststellung der Formensprache der Belle Époque, des Wilhelminischen Zeitalters, wie sie in Deutschland genannt wird, die sich während des Ersten Weltkrieges vorbereitet und den politisch-sozialen Umstürzen von 1917/18 ihr ästhetisches Gepräge gibt. Ideologische und technologische Siegeszüge, etwa der des Bauhauses, ziehen eine Spur der Verwüstung, der ›schöpferischen Zerstörung‹ à la Schumpeter, von ästhetischen Werten hinter sich her. In der Regel verläuft Zerstörung nicht kontinuierlich und damit relativ unauffällig, sondern disruptiv und markant.

Sie bringt, wie der Ausdruck lautet, ›neue Leute‹ nach vorn, mit ›frischen Auffassungen‹, versteht sich – ein Gedanke, der sich nur mittelbar mit der Vorstellung ›bleibender Werte‹ verbindet oder, offen gesagt, mit fortschreitender Akzeptanz immer weniger. Was heute Kult ist, ist morgen Kitsch, was eben noch lief, geht neuerdings gar nicht. Pierre Bourdieu hat vor Jahrzehnten dafür eine Feldtheorie entwickelt, die eine Art Idealverteilung gesellschaftlicher Geltung – ökonomischer Erfolg, versteht sich, inbegriffen – bei Künstlern und Literaten postuliert. Das Feld reicht von der Avantgarde über die Arrivierten bis hin zu den konservativen Schlusslichtern des kulturellen Geschehens. Schön wär’s, lässt sich dazu sagen: das waren harmonische Zeiten, in denen man sich auf derlei Kurven verlassen konnte.

Näher an der Sache befand sich da bereits Ernst Bloch, für den allein die Front Geltung produziert und als der große Entwerter all dessen, was bloß oder noch ist, in Erscheinung tritt. Gesellschaftliche Utopie und technisch-künstlerische Avantgarde gehören in dieser Vorstellungswelt zusammen – seltsamerweise unter Ausblendung des kapitalistischen Urvorgangs der Kreditierung, ohne die jede Avantgarde, wie sich im Realsozialismus gezeigt hat, über kurz oder lang verkümmert.

Mit dem Veralten und schließlichen Verschwinden der kulturellen Avantgarde vollzieht sich der Übergang zur Jedermannskunst, deren Problematik erstaunlich genau an die Praktiken einer entgrenzten Kreditvergabe, sprich Geldschöpfung, und die Instabilität der dadurch geschaffenen Märkte anschließt.

8.

Wer die Geheimnisse öffentlicher Sichtbarkeit ergründen möchte, kommt über einen gewissen Punkt nicht hinaus: jedem Erfolg, selbst dem, jedenfalls im Nachhinein, zwingendsten, eignet ein arbiträres Moment. Er hätte auch ausbleiben können. Jeder künstlerisch tätige Mensch ist sich dieser Tatsache bis in die letzten Fasern seines Künstlertums hinein bewusst. Herkunft, Diplom, gesellschaftlicher Status, Stromlinie, Rebellentum, politische Einmischung: dem einen hilft’s, dem anderen nützt es herzlich wenig. In der Ökonomie der Geschwindigkeit, die mehr oder weniger dem Grundsatz folgt: Wer mit einem Produkt, besser: einer Produktidee, zuerst am Markt ist, der streicht die Gewinne ein, dient wachsendes Kreditvolumen erst einmal dem Konsum.

Ein gewisser Anteil von Leuten, deren Chance mitzuhalten bei Null liegt, vernachlässigt irgendwann den Zweck des Kredits, die Schaffung marktgängiger Werte, und richtet sich gleich in den privaten Annehmlichkeiten ein, die er eine Zeitlang zu gewähren imstande ist. Ich erinnere mich gut an das Gespräch mit einem Verleger für progressive Literatur, dem, wie man so sagt, das Wasser bis zum Hals stand und der, bevor er sich hinter das Steuer seines Jaguar schwang, auf meinen Blick hin bemerkte: »Wenn ich mir den nicht mehr leisten kann, ist das alles sinnlos.« Mir, dem Autor, lag der Satz auf den Lippen: »Da sollten Sie aber die teuren Bücher streichen und sich ganz aufs Fahren konzentrieren.« Doch man hütet sich, dergleichen zu äußern. Wie das Schicksal Griechenlands im System der billigen Euro-Kredite zeigt, können ganze Volkswirtschaften in ein solches Verhalten hineintaumeln, ohne dass ein Individuum dafür verantwortlich zeichnete. Warum auch? Es ist die Doppelexistenz jedes Einzelnen, die Notwendigkeit, sich gleichermaßen als homo oeconomicus und als idiotes, als Teilhabender und als selbstzentrierte Person durchs Leben zu schlagen, die unter bestimmten ökonomischen Bedingungen ihn zu seinen teuren, gelegentlich fatalen Entscheidungen drängt.

9.

Ordnung, was ist das? Von geologischen Lagerstätten über die natürliche Nahrungskette und die menschliche DNA bis hin zu den galaktischen und hypergalaktischen Strukturen, denen die Aufmerksamkeit der modernen Astronomie gilt, ist Ordnung etwas, was entdeckt werden will, was entdeckt werden kann, weil gewisse Iterationen des Gleichen und Ähnlichen die Aufstellung von Regeln begünstigen. Ordnung ist Regelhaftigkeit. Stets bleibt ihr etwas Mysteriöses beigemengt, weil zu jeder Regel die berühmten Ausnahmen gehören, die darauf warten, durch raffiniertere Regeln integriert zu werden. So gelten die berühmten Krisen des Kapitalismus nur so lange als Zeugnisse seiner chaotischen Struktur, wie die Regeln, unter die sie sich subsumieren lassen, noch nicht formuliert sind – was nicht bedeutet, dass die dann formulierten Regeln verlässlicher wären. Da man es im Bereich menschlichen Handelns immer auch mit Vorschriften, also Ge- und Verboten zu tun hat, soll heißen verordneten Regeln, die ohne weiteres durchbrochen werden können und daher erwartbar durchbrochen werden, ist in solchen Ordnungen der Regelverstoß eingespeist, teils auf dem Weg der Sanktionierung, teils auf dem Wege des durch-die Finger-Schauens, teils durch Katastrophen- oder Schicksalserzählungen, die per Sinnstiftung des Sinnlosen das erreichen, was keine Moral und kein Gesetzgeber zu bewirken imstande ist – die Komplettierung dessen, was bei Goethe noch ungeschützt ›moralische Weltordnung‹ hieß: die wertebasierte Regelhaftigkeit der menschlichen Dinge.

10.

Jede menschliche Ordnung ist Wertordnung. Sie setzt und schafft Werte, die nachgefragt werden. Das gilt noch für die Anordnung von Kugelschreibern und Bleistiftspitzern auf den Bürotischen der Pedanten. Pedanterie ist eine Form des Wertekonsums, ein Verlangen nach Welt-Ordnung, auch wenn es sich nur auf den eigenen Schreibtisch erstreckt. Die Kunst bietet jedem Einzelnen die einzigartige Möglichkeit, seiner Weltordnung sichtbaren, hörbaren, lesbaren Ausdruck zu verleihen, vorausgesetzt, er besitzt eine Zulassung, die es ihm ermöglicht, sich als Künstler zu fühlen und darzustellen. Der Fall des Ausstellungskünstlers Georges Adéagbo, geboren 1942 in Benin, der von seiner Verwandtschaft in psychiatrische Behandlung gebracht wurde, ehe, Jahre später, ein durchreisender französischer Kurator befand, es handle sich bei seiner hartnäckig beibehaltenen, der Umgebung als Ärgernis dienenden Tätigkeit des Sammelns und Legens um Kunst, die reif für den globalen Kunstbetrieb sei, – ein solcher Fall illustriert diesen Umstand und zeigt seine Grenzen auf. Die Berührung mit dem Zauberstab ›Kunst‹ kehrt die ökonomischen und damit auch die sozialen Relationen um. Wer gerade noch Kostgänger der Familie war, wird über Nacht zum padrone, zum Garanten von Prestige und Wohlstand für andere: Wehe, er versagt in dieser Rolle!

11.

Adéagbo hatte Erfolg. Andere waren und sind darin weniger glücklich. Ein vom Künstlerpech verfolgter, im Bewusstsein seiner ästhetischen Sendung lebender Maler wie Paul Mersmann, mit dem zusammenzuarbeiten ich eine Zeitlang die Ehre und das Vergnügen hatte, findet in einer späten Phase seines Lebens den Sammler, der seine Werke kauft und im Tresor verschwinden lässt, in dem sie, obzwar im Dunkeln, mit anderen Berühmtheiten kommunizieren: hard fate, um den geschätzten Aufklärungsphilosophen Shaftesbury zu zitieren – ein Schicksal, das den Künstler auf einer seinem Werk gewidmeten Veranstaltung, als die Nachmittagssonne die Leinwand-Projektion eines seiner Bilder ausbleichte, das gerade zur Besprechung anstand, zu den nahezu klassischen Worten veranlasste: »Man soll mich nicht sehen.« Mystifikation gehört zum Handwerk. Sie ist tiefer in der Ordnung des Geldes verankert als das puristische Gemüt es wahrhaben möchte. Kunst ist eine Währung sui generis, sie muss umlaufen, soll sie ihren Zweck erfüllen. So bleibt, was in den Museen hängt, allem Ausstellungswert zum Trotz tot. Ein Künstler, der seine Werke verschenkt, mag sich an seiner ökonomischen Situation versündigen, sei es, dass er den Marktwert drückt, sei es, dass er sein Zustandekommen behindert, sei es, dass er es sich ›schlicht und einfach‹ nicht leisten kann, – ein solcher Künstler verhält sich nicht anders als eine Zentralbank oder die Initiatoren von ›Kunstgeld‹: er gibt eine Währung aus. Wer bereit ist, in sie zu investieren, sie zu horten oder sie als Zahlungsmittel zu akzeptieren, gesellt sich damit der kleineren oder größeren Gruppe von Gläubigen zu, die ihr vertrauen. Dieses Vertrauen kondensiert sich im Namen des Künstlers: sie alle, Kenner wie Spekulanten, stehen, gleichgültig, ob man die Sache religiös oder ökonomisch betrachtet, in seiner Schuld. Verschwindet der Name wie das erwähnte Bild von der Projektionsfläche, auf der die Künstler einer Epoche oder einer Bewegung verzeichnet stehen, so kollabiert die Währung und es bleibt, als Kollateralschaden, das zum Ärgernis herabgesunkene Werk übrig, das nun keines mehr sein darf.

12.

Beschäftigt man sich mit dem Begriff der ›Wertordnung‹, dann stellt man rasch fest, dass es davon zwei Typen gibt, die einander nahezu ausschließen, wenngleich zwischen ihnen eine Verbindungstür existiert: die reaktiv verwaltete und die aktiv gestaltete. Eine Ordnung wird als vorhanden vorausgesetzt (und im Notfall verteidigt oder wiederhergestellt) oder sie wird gesetzt, so dass die bis dahin gültige Ordnung im nachhinein als Unordnung erscheint, deren Handlungssubjekte sich der Ächtung und im Ernstfall dem Zugriff durch die Strafverfolgungsbehörde nur dadurch entziehen können, dass sie sich auf das Faktum der älteren Ordnung berufen, der nun keine normative Bedeutung mehr innewohnt. Was gemeinhin ›Gesellschaft‹ genannt wird, konstituiert sich entlang solcher Bruchlinien: Gesellschaft ist weder pure Wert- oder Rechts- oder Wirtschafts-Ordnung noch das bloße Faktum kollektiven Verhaltens, auch wenn empirische Soziologie sie immer wieder darauf reduziert, sondern etwas, das man vielleicht am besten als ›gemeinsames Zurechtkommen mit den Gegebenheiten‹ bezeichnen könnte. Wobei die Gemeinsamkeit ebenso als Projektion des Einzelnen wie als Gruppenzwang in Erscheinung tritt: als Agent des Wandels und als plastische Form kollektiven Beharrens, in dem sich älteste mit neu sich prägenden Verhaltensmustern mischen und gemeinsam zur Sprache finden.

13.

Für die Doppeleigenschaft von Systemen, Selbsterhaltung und Selbstkorrektur, hat Niklas Luhmann den Terminus ›Autopoiesis‹ geprägt. Bezogen auf das Geldsystem, die Bezeichnung deutet es an, wäre das System Gesellschaft ›Umwelt‹ et vice versa, also Auslöser, aber nicht Gestaltgeber überlebensnotwendiger Veränderungen. Der Gedanke funktionaler Ausdifferenzierung und damit einhergehender Autonomisierung von Lebensbereichen begleitet die Wissenschaft von der Gesellschaft schon länger. Man findet ihn bei Max Weber, wo er der Marxschen Option opponiert, der zufolge die Organisationsformen von Gesellschaft und ihr historischer Wandel ›nichts anderes‹ wären als historische Momentaufnahmen perennierender Klassenkämpfe, also ein Spiel wechselnder Erscheinungen über der gleichbleibenden Substanz der Geschichte. Der Gedanke, gesellschaftliche Beziehungen seien ›bloß‹ Ausdruck der ihnen zu Grunde liegenden Geldbeziehungen, gehört innerhalb dieser Genealogie auf die marxistische Seite, auch wenn gemäß deren Terminologie das Geldsystem, absolut genommen, den Auslöser aller gesellschaftlichen Mystifikationen darstellt, da es den wirklichen Prozess der Wertschöpfung durch Arbeit unterschlägt.

Formierungsprozesse in der Gesellschaft vollziehen sich überwiegend anhand von ›patterns‹, vorgefertigten und aus anderen Lebensbereichen übernommenen Mustern. Ein Großteil menschlicher Beziehungen regelt sich durch Mimesis, soll heißen durch gesellschaftliche Osmose, in der bewährte oder eingefahrene Konzepte durch Übertragung den Schein universeller Gültigkeit erlangen. So lässt sich, bei entsprechender theoretischer Konditionierung, mühelos zeigen, dass das christliche Gewissen der Neuzeit eine Lesart des homo oeconomicus darstellt (et vice versa) oder dass in einer scheinbar um ästhetisch autonome Lösungen ringenden Künstlerseele das Prinzip kapitalistischer Gewinnmaximierung am Werk sei.

Richtig daran ist, dass jede gesellschaftliche Tätigkeit ihr mimetisches Double erzeugt, das abkassiert, wo andere arbeiten oder in einer bestimmten Mission unterwegs sind. Wobei das Abkassieren sich nicht allein auf finanziellen Gewinn konzentriert, sondern das gesamte Spektrum sozialer Vorteile einbezieht: Position, sexuelle Attraktivität, Ehre, selbst Ruhm können ebensogut aus Betrug und Selbstbetrug hervorgehen wie aus ›echter‹ Leistung. Fatalerweise steht keine soziale Instanz bereit, die eins vom anderen säuberlich zu trennen imstande wäre, es sei denn, sie bediente sich ausschließlich rechtlich-moralischer Kategorien und verfehlte auf diese Weise den Eigencharakter des ›Feldes‹, auf dem der potentielle Delinquent sich bewegt. Ob ein Kunstwerk eine fade Spekulation auf den Zeitgeschmack darstellt oder eine geniale Innovation, die ›zur Sichtbarkeit bringt‹, was die Zeit im Innersten bewegt – wer weiß das schon, wer wagt es definitiv zu entscheiden? Dennoch muss entschieden werden und wird unentwegt entschieden. So fungiert als machtvollste Entscheidungsinstanz am Ende der Markt, getarnt als ›Hype‹ oder wie auch immer … es sei denn, er wird von Staats wegen entthront und durch ideologische Verortung überschrieben.

14.

Zu den klassischen Texten der christlich geprägten Zivilisation gehört das Evangelien-Gleichnis vom Zinsgroschen, großartig illustriert von Masaccio in der Capella Brancacci:

Als sie nun nach Kapernaum kamen, traten zu Petrus, die den Tempelgroschen einnehmen, und sprachen: Zahlt euer Meister nicht den Tempelgroschen?
Er sprach: Ja. Und als er in das Haus kam, kam ihm Jesus zuvor und sprach: Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden?
Da sprach zu ihm Petrus: Von den Fremden. Jesus sprach zu ihm: So sind die Kinder frei.
Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh hin an das Meer und wirf die Angel aus, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib’s ihnen für mich und dich.
(Matthäus 17,26-27)

Steuerverweigerung, wir wissen es nicht erst seit dem Auftreten der sogenannten ›Reichsbürger‹, ist vermintes Gelände. Gerade darum scheint es im vorliegenden Text zu gehen. Ist es hinnehmbar, dass selbst im sakralen Bezirk Geld als Beziehungsgrundlage fungiert? An dieser Stelle enthüllt Petrus seine konventionelle Seele: selbstverständlich geht er davon aus, dass sein Meister die Tempelsteuer entrichtet, und stößt damit beim Meister auf entschiedenen Widerspruch. Gleichgültig, wie man die komplexe Beziehung zwischen Jesus und dem Tempel, sprich, den herrschenden religiösen Autoritäten auflöst: ihre Modellierung durch Übertragung eines familiären Musters (›Kinder‹ – ›Fremde‹), also durch Metaphernbildung, deutet auf einen Konflikt zwischen der Ordnung des Sakralen und der Ordnung des Geldes hin, der nicht durch einfache Unterwerfung des einen unter das andere zu lösen ist.

Zwar lässt sich die Auflösung durch den eilends herbeigeschafften Fisch verschieden interpretieren – als Apologie der evangelischen Armut (»Ich hab mein’ Sach’ auf Gott gestellt«), als Vordeutung auf die apostolische Menschenfischerei oder, etwas gewagt, als Apologie eines Tributsystems, in dem Nichtgläubige (›Fremde‹) den Preis der eigenen Frömmigkeit zu entrichten haben – ein Modell, das im Gefolge nahöstlicher IS-Praktiken bereits wieder ins Gespräch kam –, aber die logische und praktische Schwierigkeit, zwischen den beiden Ordnungen zu vermitteln, ohne eine von ihnen, in der Regel die sakrale, zu korrumpieren, bleibt in allen Deutungen bestehen. Sie kehrt in den feudalen Kämpfen zwischen staatlicher und weltlicher Macht ebenso wieder wie in der Geschichte der mittelalterlichen Klöster, in deren Verlauf das Ideal der freiwilligen Armut, ideologiegeschichtlich betrachtet, den Sieg davontrug, während in der Praxis die Kirche sich zu einem veritablen Wirtschaftsunternehmen entwickelte, woran sich bis heute, trotz Wittenberger Paukenschlag, nichts geändert hat.

15.

Immerhin verdankt Europa den Klöstern jene Definition der Arbeit (›labores‹) und des Werks (›opus‹), die bis heute in den Köpfen vieler Werkschaffender spukt: danach ist Arbeit, allen Notwendigkeiten zum Trotz, den Lebensunterhalt zu verdienen, Dienst am Werk, das Werk hingegen weder Verkaufs- noch Konsumartikel, sondern die Feier Gottes, des Ideals, der Mitmenschlichkeit, die ›Zeit, in Gedanken gefasst‹ (oder in Formen, Bilder und Töne) – lauter Weisen also, angesichts des Unerforschlichen, aber grenzenlos Auslegbaren als Mensch zu bestehen und seiner Menschenpflicht nachzukommen. Sicher strahlt dieses Denken in das Denken der modernen Gesellschaft herüber. Es bleibt auch dann virulent, wenn der allgegenwärtige homo oeconomicus das Spiel endgültig gewonnen zu haben scheint. Gewöhnlich als ›idealistisch‹ apostrophiert, erinnert es daran, dass der philosophische, sich von Platon herschreibende und zwischen Spinoza, Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Hermann Cohen und Ernst Cassirer zur gedanklichen Reife gediehene Idealismus nicht bloß eine philosophische Weltdeutung unter anderen repräsentiert, sondern, wenigstens in bestimmten Ausprägungen, buchstäblich die Welt verändert hat – unter Strömen von Blut, wenn man auf die Geschichte des Marxismus und seiner totalitären Brut zurückblickt. Auch der Marxsche Materialismus ist ein Idealismus. Das galt lange Zeit als Betriebsgeheimnis des Marxismus und bedeutet heute kaum mehr als eine Trivialität.

Dennoch irrt vermutlich, wer den Idealismus durch diese Geschichte als desavouiert betrachtet. Auch der homo oeconomicus, der ›wirtschaftende Mensch‹ des Kapitals, ist und bleibt eine Idee. Ideen aber, so lehrt es die Philosophie, lassen sich nicht in der Realität ›umsetzen‹ wie ein in Parteizirkeln beschlossenes Konzept. Sie leisten Ordnungsdienste, sie leiten Denken und Handeln an, sie sind im Spiel, sooft und soweit es sich lohnt, den Ausdruck ›Wirklichkeitsgestaltung‹ in den Mund zu nehmen. Doch sie bleiben in genau der Distanz zu allem Erreichten und Erreichbaren, aus der heraus stets Kritik möglich und notwendig wird. Überdies hat keine Idee das Zeug dazu, die anderen definitiv aus dem Rennen zu werfen. Alles einmal Erdachte ist, handfest gesprochen, dazu bestimmt, vom lebendigen Denken überholt zu werden. Was von ihm übrigbleibt, ist jenes Minimum, das es zum Wandel und zur Ausdifferenzierung der Ideen beiträgt – ein Minimum zwar, aber eines, das es den jeweiligen Akteuren erlaubt, die Dinge ein wenig freier zu betrachten als vorhergehende Generationen und damit über mehr Optionen zu verfügen. Das gilt auch dann, wenn sich nicht jede als realisierbar oder praktikabel erweist.

16.

Das bewegliche, sprich verleih- und verzinsbare Kapital entsteht an der Grenze zwischen zwei Religionen, genauer, zwei Auffassungen von Religion: dem Glauben als ›Kreditsystem‹ und dem Glauben ans gerechte Jenseits, in dem alle Schulden eingefordert und beglichen werden. Dennoch wäre an dieser Grenze, so wie es lange Zeit auch der Fall war, nichts passiert, wäre nicht als drittes, treibendes Element irgendwann der insgeheime Unglaube einer pragmatischen Herrschaftsschicht und ihr fester Wille dazwischengetreten, die entstandene Konstellation praktisch zu plündern. Ein polizeilich verordnetes Jenseits ist etwas völlig anderes als ein erträumtes oder ertrotztes. Verordnet aber musste es werden, nachdem der ökonomische Prozess einmal in Gang gekommen war: das und nichts anderes schuf aus dem Christentum die moderne Religion par excellence. Wer den Kredit braucht, um zu existieren, fürchtet nichts mehr als den Tag, an dem alle Rechnungen fällig werden. Also muss man ihn glauben machen, dass dieser Tag kommt, aber mit der ausbalancierten Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, die erst der Protestantismus in der von Max Weber analysierten Ausprägung ins Lot gebracht hat. Der Tag des Gerichts, Doomsday, The Day After: kein Tag ist wie dieser, doch jede Nacht ein Vor-Schein, eine Schein-Festung, deren Existenz dem Tages-Regime seine Festigkeit verleiht.

Seltsamerweise explodiert der Unglaube gegenüber den Schrecken des Jüngsten Gerichts in einer Welt, in der die Segnungen des Kapitalismus unübersehbar geworden sind, während seine hässlichen Begleiterscheinungen an die Ränder der ›entwickelten Volkswirtschaften‹ verbannt wurden. Hastig herbeigeschaffte Ersatzlösungen wie das Damoklesschwert, das die offizielle Klimatheorie über die Gesellschaft hält, drängen den Kredit mehr und mehr in Richtung ökologisch nachhaltigen oder, allgemeiner gesprochen, ›gesunden‹ Wirtschaftens. Entsprechend hat sich auch der Grundcharakter der ›Werke‹ verändert: überall dort, wo sie einer gesellschaftlichen Rechtfertigung bedürfen, um als ›wertvoll‹ zu gelten und die entsprechenden Investitionen zu lohnen, sieht man die Tendenz am Werk, sie als Arbeit am großen Werk der Reinigung des Planeten von der schmutzigen Spur des hässlichen, ressourcenzerstörenden, lebensfeindlichen Kapitals zu begreifen. Was daran reell, was Illusion und bloße Verkaufsstrategie genannt zu werden verdient, bleibt schwer abzuschätzen. Das Kapital stößt sich nicht daran, gescholten zu werden, solange sich damit Geld machen lässt. Da dem so ist, lässt sich auch der Ideologieverdacht nicht aus dieser Welt entfernen.

17.

Die Ordnung des Geldes, so lautet das Resümee dieses Vortrags, ist die Ordnung der Gesellschaft, aber nicht ganz. Alles, was in Gesellschaft geschieht, geschieht zwischen Individuen, die weniger und mehr sind als die Gesellschaft. Sie unterstehen Gesetzen, die sie teils ihren Genen schulden, teils Entscheidungen verdanken, die sichtbar und wirksam in und zwischen den Staaten ausgehandelt und in Recht und Verträgen festgehalten werden. Und, zum Abschluss sei es erwähnt, sie besitzen die Freiheit der Gabe, des Gebens um des Gebens willen, eine der Grundlagen der biologischen Kernzelle des Sozialen, der Familie, ebenso wie der freien Geselligkeit, ohne die kein lebenswertes Gemeinwesen auskommt. So können auch die Kulturetats, mit denen die ›zivilisierten Staaten‹ und ihre Kommunen untereinander um den Preis der attraktivsten Standorte konkurrieren, mühelos als Potlatch, als Verschwendungsorgie im Dienst der Geselligkeit verstanden werden. Wie sagt es die allgegenwärtige Wikipedia? »Je wertvoller und erlesener die gereichten Gaben ausfallen, desto bedeutender gilt die Position und Abstammungslinie dessen, der die Geschenke vergeben hat.« Man beachte das fehlende ›als‹, das nachzutragen kein fleißiger Korrektor sich bisher die Mühe machte: ein Zeichen fehlender Kultur, unauffällig und schlagend wie manches andere an unserer sich hastig in Richtung Zukunft entfernenden Wertegesellschaft.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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