1.

Vor die Wahl gestellt, den bösen Sarrazin zu geben oder den guten, entschied Thilo Sarrazin sich für ein Dasein als Sarrazin. Seither steht er jenseits von Gut und Böse. Das sagt alles über ihn und seine Verfolger, die partout Anti-Sarrazin sein wollen und dabei all das vorbringen, was er gerade widerlegt hat. Das ist nicht verwunderlich, weil Sarrazin nichts behauptet, was nicht alle Welt weiß. Er unterlegt es nur mit Statistiken. Dafür erntet er die Empörung, die seinem Treiben zusteht, vor allem die seiner Partei, deren Menschenbild er so geradlinig vertritt, dass sie ihn unbedingt loswerden will, ohne dass es ihr gelingt. Sollte sie ihn eines Tages abschütteln, dann hätte sie sich selbst abgeschüttelt und endlich frei. Leider hat Sarrazin auch diesen Fall bereits durchgerechnet und präsentiert die Kosten vorab.

2.

Es macht keinen Spaß, mit Sarrazin zu streiten, denn er streitet alles ab, was er nicht gesagt hat. Das ist der Sinn des Satzes: Wo Sarrazin draufsteht, steht auch Sarrazin drin. Gibt er einer aufstrebenden Journalistin den Rat, Statistik zu lernen, dann meint er ihn ernst. Das ist komisch, aber nicht ohne Witz. Es gibt Leute, die glauben, ohne diese Art Witz wäre er den Leuten sympathischer. Das wiederum klingt seltsam, denn was wäre ein sympathischer Sarrazin? Zweifellos so etwas wie ein Säulenheiliger ohne Säule. Bei der Präsentation seines neuen Buches1 hat ihm Heinz Buschkowsky, der volkstümliche Ex-Bürgermeister von Neukölln, in einem speziellen Punkt eine ›steile These‹ bescheinigt, was beweist, dass selbst einer, der ihn versteht, nichts von ihm versteht. Wenn Sarrazin andeutet, bei Bedarf müsse die Rückführung abgewiesener Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer letztlich auch mit militärischen Mitteln geschehen, dann hat er die Vollständigkeit seines Arguments im Auge und keine Kanonenbootdiplomatie.

3.

Sarrazin ist so volkstümlich wie ein gestrandetes Schiff in der Brandung: Tagsüber wird darüber geschimpft und nachts räumt man es aus. Deshalb können Kritiker seines Klassikers Deutschland schafft sich ab inzwischen geläufig über die Notwendigkeit parlieren, das deutsche Sozialsystem für Zuwanderer weniger attraktiv zu gestalten, obwohl der Fachkräftemangel nach wie vor drückt. Sarrazin kennt diesen Effekt. Als Politiker ist er daran gewöhnt, über Bande zu spielen, um sein Ziel zu erreichen. Daher hält er den Ausschlusswunsch, der ihm aus seiner Partei engegenschallt, für ein Zeichen nahenden Erfolgs. Wenn alle Welt weiß, dass Sarrazin, der ein Problem mit dem Islam hat, ein Problem für die SPD ist, die keins mit dem Islam hat, dann weiß alle Welt, dass die SPD ein Problem mit sich selbst hat. Sie weiß es ohnehin, aber getreu der Sarrazin-Regel, nichts zu behaupten, was nicht alle Welt weiß, sagt er ihr damit, wo das Problem liegt, und kein Genosse kann später behaupten, er habe es nicht gewusst oder gesehen, wie es in den feineren Kreisen heißt.

4.

Wie gesagt, Sarrazins Menschenbild entspricht exakt dem der SPD, wie man sie kennt. Es basiert auf einer einzigen Frage: »Wieviel Prozent können wir uns leisten?« Sie hätte aber gern eine leidenschaftliche Seele und deshalb missfällt ihr leidenschaftlich, was er herausbekommt. Es ist ihr nie genug. Sarrazin hätte sich gern auf die Ökonomie beschränkt, aber seit die Ökonomisierung des Menschen alle Wissensgebiete erfasst, befasst Sarrazin sich mit allem, was man darüber so weiß. Er nimmt, wie jetzt im Islam-Buch, die Haltung des interessierten Laien ein und studiert Tabellen. Politiker seiner Partei, die nur ihre Gehaltstabellen kennen und darin bloß, was für sie herausspringt, zeigen sich darüber ›entsetzt‹ – das ist Parteichinesisch und bedeutet: »Spinnt der jetzt total?« Zum Beispiel: Wenn Sarrazin sich mit Tabellen zur Genetik beschäftigt, schwören seine Intimfeinde Stein und Bein, davon stünde nichts in ihren Parteistatuten und die Sache mit den Genen lehnten sie ab. Sehr kompetent klingt das nicht. In diesem Sinne darf man gespannt sein, wie die Partei seine privaten Studien zur Welt des Islam aufnehmen wird, sobald sich die erste Empörung gelegt hat. Wie gesagt, mit den von ihm herangezogenen Statistiken ist nicht zu spaßen. Daher scheint es sich zu empfehlen, die Existenz all dessen zu bestreiten, worauf sie sich beziehen, also zum Beispiel die kulturelle Differenz oder die Einwanderung oder die Existenz des Korans oder gleich der Religion, die bekanntlich Methamphetamin fürs Volk ist, also Identitätsspender:Wir sind clean.

5.

Nein, wir werden nicht versuchen, Sarrazin mit Statistiken zu widerlegen. Wir werden überhaupt nicht versuchen, ihn zu widerlegen. Da Sarrazin alles ernst meint, was er behauptet, und er in der Regel wenig behauptet, was er nicht statistisch belegen kann – selbst seine von ersten Rezensenten eilfertig bestrittenen Bemerkungen zum Koran sind, näher betrachtet, nicht mehr als der Versuch, über Zitatsammlungen zu ›belastbaren‹ Aussagen über gewisse Glaubensmerkmale zu gelangen, die dem Westen (und keineswegs nur Sarrazin) schwer im Magen liegen –, wäre es einmal an der Zeit, auch diesen Umstand ernst zu nehmen und zu fragen, ob ein Land, dessen politische Elite auf Masseneinwanderung setzt, weil es ihr spät genug dämmert, dass seine Bevölkerung in jeder Generation um ein Drittel schrumpft, wirklich ein Einwanderungsproblem hat oder nicht vielmehr ein Geburtenproblem. In der Tat wäre es absurd, sollte einem klugen Menschen wie Sarrazin dieser Umstand entgangen sein. Dass er ihn nicht offen thematisiert, sondern unter Entwicklungskurven und Prognosen versteckt, die beweisen sollen, dass zur Wohlstandswahrung keine wandernden Massen benötigt werden, liegt, ernsthaft gesprochen, exakt an dem Menschenbild, das er mit den Genossen und darüber hinaus mit der Mehrheitsgesellschaft teilt, von deren eloquenten Vertretern er sich prügeln lässt, obwohl oder weil sich beide Seiten im Grunde einig sind.

6.

Sarrazins traurige Wahrheit lautet: Solange ein System hinreichend viele Nutznießer generiert, um es stabil zu halten, liegen die Aussichten, es auf halbwegs zivile Weise zu ändern, bei Null. Überall dort, wo es Prämien auf Denkfaulheit gibt – und keine Kultur ist gegen diese Versuchung gefeit –, lassen die Effekte im gesellschaftlichen Leben nicht auf sich warten. Werden sie durch handfeste Sanktionen gegen jeden ergänzt, der aus den prämierten Rastern auszubrechen versucht, dann ist die Misere, auch im Ökonomischen, programmiert. Sarrazin formuliert es rundheraus: Die islamische Welt verhält sich darin prinzipiell nicht anders als der EU-Staat Griechenland, der trotz ökonomischer Peitsche nicht von seinem eingefahrenen Schlendrian lassen kann. Auch in diesem Fall mangelt es nicht an Kritik. Sie findet ihre Grenze jedoch in Griechenlands Zugehörigkeit zu Europa. Europa ist ein griechischer Mythos und Griechenland ein europäischer. Der Orient hingegen ist eine europäische Projektion: Abwehr, Angst, Gefahr für das Eigene liegen ebenso darin wie Lockung, Sympathie für die andere Lebensart, Lust auf die fremde Kultur, ihre Genüsse und ihren ›Menschenschlag‹. Die Differenz des Affiziertseins zeigt sich geradewegs in jener ›Andersheit‹, hochtrabend ›Alterität‹ genannt, die seit Jahrzehnten durch die akademischen Ausstellungszonen der westlich affizierten Welt geistert. Der Kultus interkultureller ›Öffnung‹ kann im eigentlichen Sinne ziellos genannt werden, weil das Andere sich in ihm stetig erneuert – nicht unähnlich der Gegenwart Christi in jeder einmal geweihten und alsbald verspeisten Hostie. Im symmetrischen Leben entspricht dem jenes opferkultische ›Beleidigtsein‹ der anderen Seite, das viele Kritiker in der islamischen Welt, stärker noch in der islamischen Diaspora diagnostizieren –: eine schier nicht heilbare Obsession, die wohl schlagartig entfiele, ginge ihr über Nacht der westliche Widerpart und das dort anfallende Prämiensystem verloren.

7.

Das Gekränktsein dessen, der von der Überlegenheit seiner Denkweise überzeugt ist, auch wenn sie, gemessen am Erfolgskatalog des Westens – Bildung, Technologie, ökonomischer Erfolg, Rechtsstaatlichkeit, Geschlechtergleichheit, demokratische Teilhabe – unzureichende Ergebnisse liefert, wurzelt, wie auch immer, im kulturellen Stereotyp, das den Einzelnen der Freiheit und damit der Verantwortung für seine Gedanken enthebt. Der Beleidigte schlägt sich, bildlich gesprochen, selbst die Welt vor der Nase zu. Das Achselzucken der Welt zeigt sich in Entwicklungen, die am Ende jene Statistiken hervorbringen, mit denen Sarrazin ›provoziert‹, obwohl er sie nur aus allgemein zugänglichen Quellen abschreibt. In diesem Sinne lässt sich die Religion als Vorwand, besser, als Vorhang begreifen, hinter dem die Dynamik kultureller Prozesse ihren unaufhaltsamen Gang geht. Nun ist es mit der Unaufhaltsamkeit in den Gefilden der Kultur so eine Sache: Furcht und Hoffnung gehören als effektive Leitmotive ebenso dazu wie langfristig wirkende Überzeugungen. Im Übrigen sind Überzeugungen überschreibungsfähig, sobald die Faktoren Bildung und Propaganda ins Spiel kommen.

8.

Zweifellos stellt die antiwestliche Ideologie der Moslembrüder und ihrer terroristischen Ableger, abseits der leidigen Differenz von Islam und Islamismus, ebenso eine kulturelle Überschreibung des tradierten Islam dar wie der in den Windeln liegende Euro-Islam. Wichtiger als der Endlosdisput darüber, ob der Islamismus einen Aspekt des Islams, den Islam in Reinkultur oder seine Perversion darstellt, wäre daher die Beschäftigung mit der Frage nach den Mechanismen kultureller Überschreibung, ihren Grau- und Trickzonen, ihren Entwicklungs- und Umschlagvarianten, ihren inhärenten Verschleierungs- und Täuschungstendenzen sowie den ihnen eigenen Prägequalitäten und – nicht zu vergessen – ihren Grenzen. Auf dieser Basis ließe sich, Bereitschaft und Muße vorausgesetzt, ein rationaler Diskurs über die Vereinbarkeit islamisch und christlich geprägter Kulturen im Hinblick auf die Erhaltung einer aus der Emanzipationsgeschichte der Christenheit erwachsenen Staatlichkeit bei wachsenden islamischen Bevölkerungsanteilen führen. Den Disput ohne einen lebendigen teilnehmenden Islam zu führen enthielte allerdings bereits die Vorwegnahme des Ergebnisses.

9.

Die Denkfaulheit des Westens beginnt dort, wo er seine kulturellen Stereotype hinter Wortpolitik versteckt, genauer gesagt: hinter verbalen Tabuisierungen, die noch immer mit dem wohlfeilen Titel der politischen Korrektheit versehen werden, obwohl sie längst ein wucherndes Eigenleben entfalten. Zu diesem Eigenleben gehören Handreichungen für Unbedarfte, die darüber aufklären, durch welche Wörter sich welche Gesinnung verrät und wie dagegen vorzugehen sei – all das, was grimmige Zeitgenossen seit geraumer Zeit als Ausfluss einer neuen Blockwart-Mentalität kritisieren, womit sie sich bereits selbst in die Fänge der Aufpasser begeben. Das alles ist natürlich Gift für das freie Denken und seinen unbekümmerten Ausdruck. Wer von der ›Überalterung‹ Europas spricht, benützt einen Tatbestand, um einen anderen zu verschleiern: sein Versagen angesichts der jeder Generation in jeder Gesellschaft gestellten Aufgabe, Geburtenzahlen und das gesellschaftliche, ökonomische und politische Gemeininteresse aufeinander abzustimmen. Die demographische Implosion Europas, nicht die ›Flüchtlingsfrage‹ ist, entgegen dem bekannten Wort des Ministers Seehofer, die Mutter aller Probleme, die den Kontinent gegenwärtig umtreiben. Sie entspringt keinem Migrationsdruck und keiner globalen Elendsanalyse, sie entspringt keiner islamischen Machtprojektion und keinen feindlichen Übernahmefiktionen, sondern der kulturellen Eigendynamik Europas. Der Gipfel der Selbstverleugnung besteht allerdings darin zu glauben, das eigene Wegsehen bewirke das Wegsehen der Anderen dort, wo sich ihre Partizipationsansprüche angesichts der demographischen Entwicklung Europas über wenige Jahrzehnte hinweg praktisch automatisch in Macht- und Übernahmesezenarien verwandeln. Gewiss gibt es einen Punkt, an dem Blindheit in Schuld gegenüber kommenden Generationen umschlägt.

10.

Sarrazins Interesse am Islam ist westlich (was in diesem Fall ›weltlich‹ bedeutet) – soll heißen, am Glutkern der Religion, der Frömmigkeit, geht er unbeteiligt vorbei, solange sie sich nicht als Fanatismus äußert und straffällig wird. Gleichgültig, wie er für sich persönlich das Glaubensproblem wahrnimmt oder ›löst‹ – es scheint ihm für seine Fragestellung nicht relevant zu sein. Darin liegt eine Kränkung, die neben den im Wortsinn Gläubigen all diejenigen trifft, die von seinem Vorhandensein profitieren, die Theologen und theologisch Dressierten, die Prediger und die ›Sprecher‹, die Religionsvertreter, die Religionswissenschaftler und Religionsversteher, die Menschenversteher, die Kulturästheten, die leichte Kavallerie der leeren Solidarität und ihre locker hinterdrein trabenden politischen Speseneintreiber, darüber hinaus allerlei ›bestens integrierte‹ Öffentlichkeitsarbeiter beiderlei Geschlechts mit Bekennermiene, die sich innerlich aus ihrer Religion längst davongemacht haben, aber wütend das dringend gebrauchte Mäntelchen zurechtzupfen – einerseits, um es nach dem Wind hängen, andererseits, um angesichts von rasch ungemütlich werdenden Glaubensbrüdern und -schwestern ihre Blöße zu bedecken. Das wäre vermutlich zu verkraften, stünde nicht am anderen Ende der Skala die Billigkeit der Erben Europas, in deren kulturellem Gedächtnis die Konfessionskriege und ihr menschenschonendes Ergebnis, religiöse Toleranz, mehr oder weniger fest verankert sind, auch wenn sie sich für Agnostiker halten oder wirklich nichts ›von diesen Dingen‹ wissen.

11.

Es hat etwas menschlich Empörendes, die innersten Überzeugungen der Menschen auf ihren ökonomischen Wert hin abzuklopfen und auf dieser Grundlage zu bewerten. Andererseits weiß jedes Kind, dass Ökonomie neben Gütern auch Macht und Miseren generiert. Insofern ist selbst in der modernen Welt grenzenloser Kapitalflüsse Religion ein Macht- und Elendsfaktor erster Güte. Eine Weltregion, die aus ihren Miseren (Gewalt, Armut, Rechtlosigkeit, Bildungsdefizite, Kinderreichtum, Entwicklungsmängel) Macht zu schlagen sich anschickt, indem sie sie exportiert, wird stets Analysen à la Sarrazin provozieren. Wie bereits früher betritt Sarrazin die Szene als wohlsortierter Kompilator höchst realer Forschungsergebnisse. Vielen scheint allein das unverzeihlich. Da liegt die Vermutung nicht fern, dass im Hintergrund des öffentlichen Getöses handfestere Interessen als das Bedürfnis nach Wahrheit den Ton angeben. Die scheinbar aus lauter Liberalität und Menschenfreundlichkeit gewirkte Binde, die sie der heimischen Öffentlichkeit über die Augen legen, enthält allerdings einen Webfehler. Zwar verbirgt sie das eine oder andere Machtkalkül, aber dafür lenkt sie den wacheren Blick auf die Brüchigkeit der ideologischen Konstruktionen, aus denen sich das Wertetheater des Westens speist. So wird Europas Flüchtlingspolitik unversehens zum Prüfstein seiner zivilisatorischen Prämissen.

12.

Sarrazin bezweifelt die Reformbarkeit des Islam – weltweit ebenso wie auf dem Boden der westlichen Kultur. Das ist sein gutes Recht, so wie es das gute Recht des Reformers Abdel-Hakim Ourghi2 ist, ihm darin zu widersprechen. Religionen besitzen, wie andere Kulturerzeugnisse auch, einen ›Markenkern‹. Wird er beschädigt oder verletzt, diffundieren sie oder werden kämpferisch. Religionen, die ihre Bezeichnung verdienen, sind auskristallisierte Überzeugungssysteme von langer Dauer. Weltreligionen sind darüber hinaus in dem Sinne eigenstabil, dass keine regionale Kultur und kein etabliertes Machtsystem sie in toto verändern kann. Ein Blick auf die Weltlage zeigt: Sarrazins durchaus nicht entwicklungsblinde Wette auf die islamische Wertordnung und ihre demographische Potenz hat beste Aussichten aufzugehen – zumindest in den Zeiten und Räumen, ›um die es hier und heute geht‹. Spannender klänge bereits die Frage, ob jemand ernsthaft die umgekehrte Wette auf die westlichen Werte und das ihnen geschuldete Geburtendefizit abzuschließen gewillt sei. Die dynamische Natur des Westens und die Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte verbieten es, seine ›verdeckte Religion‹ in ähnlicher Weise essentialistisch zu deuten, wie nichtchristliche Religionen dies in der Regel tun. Wie aber dann?

13.

Absurd naiv ist die Annahme ungebrochener kultureller Kontinuität und Hegemonie in den westlichen ›Aufnahmeländern‹ unabhängig von künftigen Flüchtlings- und Migrationsquoten. Darin sind sich praktisch alle Fachleute einig. Der Zug ist abgefahren, soweit die ›alten‹ EU-Länder, Skandinavien eingerechnet, betroffen sind, und Phantasien über die kommenden Stationen der Reise schießen ins Kraut. Inzwischen ist der Kampf um die Führerkabine entbrannt. Noch gilt der hier und da ausgesprochene islamische Machtanspruch als grotesk, soll heißen verfrüht. Stattdessen tobt zwischen den europäischen Lichtpolen Humanität und Freiheit eine Entscheidungsschlacht, aus der beide beschädigt hervorgehen werden. Allein die Humanität zähle, ließ Leoluca Orlando, der im Kampf um die Mafia erprobte Bürgermeister von Palermo angesichts der Flüchtlingssituation in ›seiner‹ Stadt verlauten und fügte hinzu: »Palermo ist keine europäische Stadt.«3 Dabei vertraut er weiter auf die italienische Polizei und Justiz.

14.

Diese Zerrissenheit ist heute das Schicksal Europas und seiner angestammten Bewohner. Die einen können den Blick kaum vom Anblick des Schauspiels lösen, die anderen schlagen auf die Köpfe oder gehen shoppen. Gewiss trägt, wer in dieser Situation, wie Sarrazin, die ökonomischen Daten in den Vordergrund stellt und alle anderen als Bedingungsfaktoren behandelt, auch zur Versachlichung der Debatte bei. In dieser Hinsicht gehört sein Islambuch auf den Schreibtisch eines jeden Entscheidungsträgers. Allerdings drängt sich angesichts des Hexensabbats, den er damit regelmäßig heraufbeschwört, die Frage nach der Herkunft der Energien auf, die seine Tätigkeit freisetzt. Der Tragik, die darin liegt, dass die obersten Werte Europas gegeneinander im Krieg liegen, wird seine Form der Sachlichkeit offenbar nicht gerecht. Auch Sarrazin, der einstige Amtsinhaber, besteht auf dem Fünkchen Hoffnung, dass ›es‹ (das Experiment) gut ausgehen möge – vorausgesetzt, die Politik wäre so frei, die ihm notwendig erscheinenden Maßnahmen zu treffen. Damit gibt er den idealen Sündenbock für Städtebewohner, die, gleichgültig darum, was aus Europa wird, ›kein Problem damit‹ haben. Schon diese Einstellung hat, gemessen an tradierten Maßstäben, etwas verblüffend Uneuropäisches.

15.

Die Religion des Liberalismus, dekretierte einst Benedetto Croce, ist die Freiheit. Die Religionsfreiheit ist, wie man weiß, ihr heikelster Teil. Praktisch alle Freiheitselemente der modernen Gesellschaft wurden gegen den entschiedenen Einspruch der Religion erkämpft. Inbegriffen ist die Religionsfreiheit selbst, die als Recht des freien Einzelnen auf ungehinderte Religionsausübung im Rahmen der geltenden Gesetze überlebte. Keine christliche Konfession hätte sich aus eigenem Antrieb diese Auffassung religiöser Autonomie zu eigen gemacht. Die bürgerliche Freiheit der Religionsausübung begrenzt die Macht der Kirchen, der Religionsverbände und der Fanatiker unter den Gläubigen. Sie garantiert sie weder noch erlaubt sie ihre Entgrenzung. Ein sich progressiv, ›im Zweifel links‹ gebender Liberalismus, der diesen Sachverhalt unter den Teppich kehrt und Religionskritik, die diesen Punkt im Visier hat, als ›Islamophobie‹ abtut oder, noch heuchlerischer, unter Rassismus-Verdacht stellt, ist das exakte Gegenteil dessen, was er von sich behauptet. Dort, wo er die politische Agenda lenkt, bestimmt nicht das Evangelium der Freiheit mitsamt den aus ihm abgeleiteten Freiheitsrechten, sondern jene bereits erwähnte verdeckte Religion die Agenda. Wäre sie mit dem rechtsstaatlich domestizierten Christentum identisch, wie manche Apologeten und Kritiker aus unterschiedlichen Gründen glauben machen wollen, so wäre es, unter Europäern, leicht, mit ihr zu streiten. Nur weil sie explizit nichtchristlich ist, kann sie dem forschenden Blick entgehen, obwohl, nein, weil sie jedem ins Auge springt, der sich mit den Fakten beschäftigt.

16.

Sarrazin ist, als scharfer Kritiker der verdrehten Welt, zugleich ihr schärfster Apologet. Wenn das Hauptziel der erstrebten ›Integration‹ darin liegt, die Geburtenrate der Zuwanderer auf das im Westen kulturell produzierte Niveau zu drücken, dann bedeutet dies offenkundig, den vorhandenen ›Zuwanderungsbedarf‹ auf Dauer zu stellen. Das aber heißt, die andere Kultur mit ihrem als rückständig gebrandmarkten kulturellen System als Dauerlieferanten und ihr ›Menschenmaterial‹ als nachwachsende Ressource in die eigene Bedarfsrechnung einzustellen. Sarrazin bezweifelt, gestützt auf solides Zahlenmaterial, den langfristigen Nutzen der islamischen Welt als Menschenanbauregion für Europa. Den Zweifel teilt er mit vielen, die in dieser Angelegenheit lieber schweigen, nicht zuletzt in seiner Partei. Das ändert nichts daran, dass er und seine Kritiker sich in der Sache stillschweigend einig sind: Unsere ›wertebasierte Gesellschaft‹ (unsere Lebensweise) ist auf ›qualifiziert‹ genannte Zuwanderung angewiesen und anders gestrickte Gesellschaften sollen liefern. Haben diese sich, aus religiösen oder anderen Gründen, die uns nichts angehen, in der menschlichen Überschussproduktion eingerichtet und ›fliehen‹ aus ihnen die Falschen, also die wirklichen oder potentiellen Leistungsträger, weil sie die Vorzüge des Westens oder Nordens zu schätzen wissen, dann haben jene Gesellschaften eben Pech und wir helfen gern aus, wenn es darum geht, das Schlimmste abzuwenden. ›Fliehen‹ aber aus der Sicht jener Gesellschaften die Richtigen, sprich: die Jungen ohne Aussicht auf Bildung und Arbeit, die Unproduktiven, die Unmotivierten, die Gescheiterten, die Ganoven, Gewalttäter, notorisch Untermotivierten, ›potentiellen Gefährder‹ etc., von der Schattenwirtschaft, den Drogenkartellen und den radikalen Gesinnungsgemeinschaften bereits sehnsüchtig erwartet –: dann kommen aus der Sicht ›unserer‹ Gesellschaften eben die Falschen an, die Regierungen verkünden aus Angst vor dem Volkszorn Siebungs- und Rückführungsprogramme, die, in absoluten Zahlen gerechnet, den Aufwand nicht wert sind, der dafür getrieben wird, und ein nüchterner Etatist wie Sarrazin plädiert für eine Politik der eisernen Faust, von der er weiß, dass, wie die Dinge liegen, das christliche Gewissen vor ihr zurückbebt.

17.

Zu glauben, man könne sich, angesichts der sozialen und kulturellen, wiederum in ökonomischen Zahlen auszudrückenden Folgekosten der islamischen Einwanderung, stattdessen bei ökonomisch ›affinen‹, ansonsten mit Gleichgültigkeit bedachten Kulturen bedienen, läuft auf die Aufforderung hinaus, die in puncto Ökonomie und Geburtenkontrolle erfolgreichen Länder sollten sich im Kampf um die klugen Köpfe künftig gegenseitig kannibalisieren. Wer mit dieser Sicht kein Problem hat, möge die Richtung, in die der aktuelle ›brain drain‹ zwischen den entwickelten Volkswirtschaften verläuft, ebenso ernst nehmen wie die langfristige Geburtenstatistik. Auch wäre es gut, sich rechtzeitig kundig machen, inwieweit ökonomischer Erfolg allein ein Gemeinwesen zu stabilisieren und seine Überlebensfähigkeit in den Wechselfällen der Staatengeschichte zu sichern imstande ist. Es könnte ja sein, dass eine demographische Stabilität verheißende Geburtenbilanz die beste Voraussetzung für jenes friktionsarme Kommen und Gehen der besten (und ebenso der weniger brillanten) Köpfe bietet, an dem, neben den Wirtschaftsplanern, auch einer zusammenwachsenden Weltgesellschaft gelegen sein muss, weil es die unter den westlichen Werten so hoch gehandelte Freiheit des Einzelnen, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, vielleicht am sinnfälligsten abbildet. Das gilt für die aufnehmende Gesellschaft nicht weniger als für die entsendende.

18.

Wenn, wie Sarrazin und andere plausibel argumentieren, der Islam das Mittel ist (und gleichzeitig die Begründung dafür liefert), die Geburtenüberschüsse in den von ihm kontrollierten kulturellen Räumen hoch zu halten, dann lautet der Umkehrschluss: Wenn die westliche Welt einer verdeckten Religion huldigt, die ihre Geburtenstände dauerhaft so stark nach unten drückt, dass sie glaubt, damit von der Einwanderung aus nicht-westlichen Kulturen abhängig zu sein, die dieses Problem, möglicherweise aus religiösen Gründen, nicht kennen, dann besteht ihr Problem in der verdeckten Religion des Westens und nicht in der traditionellen seiner ›Invasoren‹ oder ›Eroberer‹. Was für die eine Seite gilt, muss zwangsläufig auch für die andere Seite gelten. Geht man einen Schritt weiter, dann liegt der Gedanke nicht fern, dass die dem Islam unterstellte, als Regulierungswut auftretende ›Besessenheit‹ von der Sexualität gerade deshalb den Unwillen der westlich akkulturierten Planer erregt, weil sie die eigene Besessenheit konterkariert. Dann wäre die ›verdeckte Religion‹ des Westens die des Sexus – verdeckt unter anderem deshalb, weil die bürokratisch geförderte Ausbreitung der Genderideologie und ihrer normierenden Implikationen sie buchstäblich, ähnlich der als überwunden deklarierten katholischen, wahlweise ›puritanischen‹ Moral, längst wieder in den Bereich der Pudenda verbannt. Dort allerdings führt sie ein Eigenleben, über das Psychologen und Sexualwissenschaftler vieles, aber nicht alles wissen.

19.

Der Schnitt, der die, aus westlicher Sicht, entwickelten von den weniger entwickelten Volkswirtschaften des Globus trennt, ist die strikte Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, verstanden als kultureller Imperativ: Tu, was deiner Lust dient, aber sorge dafür, dass es folgenlos bleibt. Das ist die exakte Umkehrung des biblischen Gebots »Seid fruchtbar und mehret euch«, in dessen christianisiertem Zeichen sich die nachrömische Siedlungsgeschichte Europas und seiner Kolonien vollzog. In Begriffen einer totgesagten, aber in den depressiven und ›trauma-sensiblen‹ Zonen der westlichen Psyche quicklebendigen Moral liegt darin eine Obsession durch das Böse, die nach Kompensation verlangt. Worin diese Kompensation besteht, ist leicht zu klären, da es sich um einen Jedermannsmechanismus handelt. Die Verbindung von Lust und Arbeit ist, kulturgeschichtlich gesehen, jungen Datums. Als gesellschaftliches Postulat geht sie auf Charles Fourier (1772-1837) zurück, der in ihr den Motor einer kommenden, als ›Harmonie‹ bezeichneten Weltepoche entdeckt zu haben glaubte. Fourier sah den Sinn der Frauenemanzipation in der Entfesselung der durch Religion und bürgerliche Familie niedergehaltenen sexuellen Lust – allerdings nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Steigerung der Arbeitseffizienz. Unter den frühsozialistischen Theoretikern wurde Fourier als Phantast geführt. Das änderte sich, nachdem die modernen Methoden der chemischen Empfängnisverhütung auf der einen, der postfordistischen Arbeitsorganisation auf der anderen Seite seinem Sexualsystem eine technische Grundlage schufen, von der ihm selbst jede Vorstellung fehlte.

20.

Im ›entwickelten‹ Westen hat die Lust arbeiten gelernt – nicht zu entwürdigenden Konditionen im allnächtlichen Sexbetrieb (dort auch), sondern in Millionen klimatisierter Büros, in Hochschulen und Forschungseinrichtungen ebenso wie an den Computerarbeitsplätzen von Big Business und Big Entertainment. Darin besteht sein offenes Betriebsgeheimnis und die kulturelle Schranke, die religiös fundierte Gesellschaften wie die des Islam nur um den Preis der Selbstzerstörung überschreiten können. Kein Wunder, dass ihre Vertreter gerade an dieser Grenze nach einer kämpferischen Symbolik greifen und im Kopftuch das probate Mittel gefunden haben, den Westen zu verwirren und seine Reaktionen zu spalten. Völlig zu Recht bemerkt Sarrazin, dass über die Motive der Kopftuchträgerinnen letztlich kein sicheres Urteil zu gewinnen ist. Religiöse Indoktrination und Gruppendruck lassen genügend Spielraum – weniger für bewusste Entscheidungen für oder gegen ein Kleidungsstück als für oder gegen die durch ein differentes, dem der Mehrheitsgesellschaft offen Paroli bietendes Heiratssystem ermöglichte Lebensweise. So bitter es der westlichen Denkweise aufstößt: Durch ihre Präsenz im Straßenbild, in den Geschäften und im beruflichen Alltag verkörpern diese Musliminnen, denen die religiöse Umgebung vermutlich keine ›wirkliche‹ Wahl lässt, eine Alternative, die den gesamten Westen durchzieht und damit, objektiv gesprochen, die Wahl, die jeder Politiker trifft, der sich zu Migrations- und Integrationsfragen öffentlich äußert und in die laufenden Entscheidungsprozesse eingebunden ist.

21.

Nüchtern betrachtet haben die identitären, für das Kopftuch streitenden Musliminnen und ihre schweigend sich fügenden Geschlechtsgenossinnen sehr wohl die Wahl. Das geltende Recht und der Entscheidungsdruck der Gesellschaft stehen auf ihrer Seite. Diese Freiheit muss, entgegen der feministischen Rhetorik, nicht erkämpft werden. Sie existiert, weil sie durch frühere Generationen erkämpft wurde. Wohl aber muss sie täglich in Anspruch genommen werden, soll sie nicht über kurz oder lang verfallen. Es hieße die Macht der Frauen im Islam wie in der Mehrheitsgesellschaft gewaltig unterschätzen, wollte man sie mit der üblichen Kampfrhetorik auf die Logik des häuslichen Zwists beschränken. Wer von der welthistorischen Überlegenheit des westlichen Lebensstils überzeugt ist, der sollte bei Gelegenheit den berühmt gewordenen Ausspruch Winston Churchills bedenken: »The fortress of europe has no roof.« Die auf Gedeih und Verderben an ihr Betriebsgeheimnis gefesselte, die Reflexion auf ihre Grundlagen zunehmend als ›böse‹ brandmarkende Kultur des Westens hat, demographisch gesprochen, keine Zukunft. Sie ist aber, hier greift die billige Wahlkampfparole der letzten Jahre, in sich divers. Niemand möge sich darin täuschen: Die Attraktivität des Islam ist auch ein Maß für die innere Unwahrhaftigkeit eines Systems, in dem eine nicht geringe Zahl von Müttern es versäumt, die innere und äußere Freiheit, das Grundmaß einer liberalen Gesellschaft, an ihre Töchter weiterzugeben und sie stattdessen für eine Lebensweise konditioniert, die zwanghaft immer weniger Mütter hervorbringt und den Psychomarkt boomen lässt. Kurzsichtig wäre es, dafür allein die Mütter zu tadeln.

22.

Ist der Staat, wie Nietzsche im Zarathustra schreibt, das »kälteste aller kalten Ungeheuer«, weil er dem Einzelnen und seiner ›Kultur‹ gleichgültig gegenübertritt, dann ist der Staat, der, um einer selbsterodierenden Lebensweise eine trügerische Dauer zu verschaffen, auf permanente Bevölkerungsumwälzung setzt, der kaltschnäuzigste aller Menschenfreunde. Die ›verdeckte Religion‹ des Westens ist nicht so geheim, dass nicht jeder, der ihr Wirken erfährt, sie beim Namen zu nennen wüsste, und sie ist nicht halb so aufgeklärt, wie sie daherkommt. Ihr Geheimnis besteht darin, bei jedem Versuch, sie zu thematisieren, mit dem Fallbeil zu kontern: ›Das ist es auch nicht.‹ Was ist es dann? Schwer zu sagen. Warum? Was lähmt die Zunge? Warum ist es so viel einfacher, einen Sarrazin durch die Arena zu peitschen? Die von Sarrazin albtraumhaft beschworene Geschlossenheit der Parallelgesellschaften existiert diesseits und jenseits der von Recht und Gruppengesetz gezogenen Grenze. Jenseits der Sechzig scheint die Zufriedenheit mit der Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, exponentiell zu wachsen. Diese Altersgruppe, die das Thema ›Kinder als Lebensproblem‹ für sich abgehakt hat, neigt zur antagonistischen Ausgrenzung, ohne die darin wirksame Symmetrie zu bemerken. Noch immer feiert sie ›ihren‹ historischen Sieg und fürchtet die darin angelegte Niederlage, als käme sie nur von außen. Sarrazins Haltung gleicht der eines modernen Cato: Im übrigen wünsche ich, dass die Macht des Islam auf europäischem Boden gebrochen werde. Der öffentliche Skandal beginnt dort, wo auch ein Sarrazin schweigt.

 

Anmerkungen

 

Notizen für den schweigenden Leser

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