1.

Ist es gerecht, Menschen, die aus den Armuts- und Elendsregionen dieser Welt stammen, Leistungen des deutschen Sozialsystems zu verweigern – falls möglich, durch Einreiseverweigerung oder Abschiebung? Auf diese Frage scheint sich bei einigen Zeitgenossen die Frage der Masseneinwanderung per Asylbegehren zu verengen. Moralisch aufgeladen wird sie hier und da durch den polemischen Verweis, dass DDR-Flüchtlinge, DDR-Rentner und -übersiedler, die sich in der Bundesrepublik niederließen, und letztlich die Masse der DDR-Bürger nach 1991 nicht anders verhielten – und vom erst westdeutschen, dann gesamtdeutschen Staat nichts anderes erwarteten – als ein heutiger Flüchtling aus dem Irak, aus Gambia oder Eritrea.

Zweifellos musste das hochdrehende Diskussionskarussell irgendwann diese Frage streifen. Unterschiede der Nationalität, der daraus erwachsenden Bindungen, Rechte und Zuständigkeiten scheinen sich mit Fragen der Moral nur schwer vermitteln zu lassen, vor allem dann, wenn diese ausschließlich auf die Differenz zwischen sicheren und unsicheren, reichen und armen Ländern zielen. Wenn im Zufall der Geburt ein moralischer Skandal steckt, dann muss dieser Skandal rigoros ans Licht gezogen und von allen Seiten betrachtet werden können – koste es, was es wolle.

2.

Wie jeder weiß, bringt Staatsbürgerschaft gewisse Rechte und Pflichten mit sich, die zunächst moralisch neutral sein mögen, sich aber in einem ethischen Punkt vereinigen: So lange der Staat – der individuelle, mit Grenzen nach außen und Institutionen nach innen versehene Staat – die machtvollste Organisation ist, die das Individuum von der Empfängnis bis zur Auflösung seines Grabes begleitet, so lange besteht zwischen dem Leben des Einzelnen und dem des Staatswesens ein Ermöglichungsverhältnis: Beide kommen nicht ohne einander aus, beide bedingen einander und beide fordern einander – ein Staat, der seine Bürger nicht schützen kann, kann von ihnen auch nicht erwarten, dass sie ihm geben, was des Kaisers ist, soll heißen, was er einfordern darf und muss, um seinen Aufgaben nachzukommen. In Zeiten, in denen der Staat vor allem als Sozialstaat wahrgenommen wird (was eine willkürliche, aber historisch nachvollziehbare Blickverengung darstellt), bedeutet das: Die Gesamtheit der Leistungen, die der Staat in die Sicherheit und das Wohl seiner Bürger investiert, muss im Großen und Ganzen derjenigen entsprechen, die er ihnen abverlangt.

Es scheint nicht jedermann bewusst zu sein, dass es sich bei diesem Grundverhältnis um ein ethisches handelt. Ethisches Handeln, soweit es sich auf den Staat bezieht, scheint für einen Großteil seiner Bürger darin bestehen, dass er – im Sinne der Individualethik – Ziele verfolgt, mit denen sie sich moralisch identifizieren können. Selbstverständlich steht dabei die Hilfe für den bedürftigen Teil der Menschheit obenan. Aus dieser Sicht ist der Staat der verlängerte Arm seiner Bürger: Wo die Fähigkeit – und der Wille – des Einzelnen endet, das Seine dazu beizutragen, dass aus der Erde a better place to live wird, da soll der Staat einspringen und das Werk des guten Willens vollenden. Parteien, die für solche Hilfen streiten und mit ihren Programmen von der Mehrheit der Bürger getragen werden, verschaffen dem entsprechenden staatlichen Handeln die erforderliche legitimatorische Basis.

3.

Oder nicht? Immerhin ist nicht auszuschließen, dass ein kleinerer, vielleicht sogar der größere Teil der Bürgerschaft eine solche Botschaft der Menschlichkeit ablehnt und auf strikter Leistungsäquivalenz beharrt. Aus dieser Sicht hätte der Staat kein Recht, das Geld oder andere Leistungen seiner Bürger anders als im Rahmen des primären Pakts zwischen beiden Seiten zu verwenden: Leistung gegen Sicherheit (und Wohlfahrt). Über dieses Recht hätte kein Abgeordneter und keine Regierung zu entscheiden. Es wäre ein ethisch begründetes Gebot, wie es sich im Amtseid der Regierenden darstellt: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.«

Wie immer man sich das Entstehen des Rechtsstaates aus Gewaltverhältnissen zurechtbastelt: die Differenz zwischen Recht und Gewalt – nackter Gewalt, denn selbstverständlich muss auch das Recht durchgesetzt werden, will man ihm Achtung verschaffen –, existiert nichts bereits auf Grund des Vorhandenseins von Regeln (die als Ausdruck von Gewalt empfunden werden können), sondern allein auf der Grundlage von ›Gerechtigkeit gegen jedermann‹, wie die Eidesformel es formuliert. Gesetze, wie der Staat sie erlässt, müssen gerecht sein, da es der Staat ist, der sie erlässt, und keine höhere Instanz vorhanden ist, die sie zurechtrückt (es sei denn, die Staaten einigen sich auf ein gemeinsames Rechtsinstrument wie den Europäischen Gerichtshof). Als ungerecht empfundene Gesetze werden immer Anstoß erregen – was nichts anderes heißt als: den Impuls auslösen, sie bei passender Gelegenheit zu ändern. Ein Unrechtstaat kann nicht auf Dauer bestehen – wenngleich auf lange Zeit –, sonst wäre er keiner.

Der einfachste Rechtsgedanke ist der des ›do ut des‹ oder des Äquivalententausches: Ich gebe dir etwas und erhalte von dir etwas, das meiner ›Gabe‹ angemessen ist, sie aufwiegt, ihr in irgendeiner Weise entspricht – andernfalls betrachte ich mich als hintergangen. Der Hintergangene verlangt sein gutes Recht, also zum Beispiel die Zurückgabe seines Einsatzes (oder eine Entschädigung). Auf die Gesamtheit der staatlichen Aktivitäten bezogen bedeutet das: Sie müssen untereinander und gegenüber dem einzelnen Bürger in einem ausgewogenen, der Gerechtigkeit Genüge leistenden Verhältnis stehen. Das muss für den einzelnen Bürger nicht zwingend in jedem Einzelfall einsehbar sein. Umso wichtiger ist das Vertrauen, das der Staat bei seinen Bürgern genießt. Rechtsstaatlichkeit, Verlässlichkeit, Stetigkeit sind die primären Stützen des Vertrauens, aber es gibt auch andere.

4.

Man kann es sich an dieser Stelle einfach machen und sagen: Staatliche Leistungen an Bürger anderer Staaten oder unklarer Herkunft verletzen das Äquivalenzgebot und damit das elementare Rechtsempfinden der Bürger, das auf Gerechtigkeit pocht. So ist es nicht oder nicht ganz: Kein Staat existiert, sowohl rechtlich als auch ethisch, in einem Vakuum. Das Völkerrecht reflektiert die auf rechtliche Fixierungen drängende Idee der Gerechtigkeit im internationalen Raum. Danaben existiert der – nicht selten über Krieg und Frieden entscheidende – Gedanke der Billigkeit im zwischenstaatlichen Handeln: Nothilfe oder, allgemeiner gesprochen, internationale Solidarität im Bedarfsfall gehört zu den Aufgaben, für die der Staat seinen Bürgern Zustimmung abverlangen kann und im angemessenen Rahmen auch abverlangen muss.

Es gibt keinen plausiblen Grund, Nothilfe an der Grenze des ›sacro egoismo‹ des notleidenden Staates oder seiner Herrscher enden zu lassen: Im Ernstfall sind es die Bürger des fremden Staates, deren Leid bei der Hilfestellung den Ausschlag gibt und Initiativen herausfordert, bei denen es mehr um das Wohl des Einzelnen als um den Vorteil des Staatswesens geht.

Wenn Bürger anderer Staaten, verlockt oder nicht, massenhaft ihre Pässe wegwerfen und in ein Land drängen, das sich verpflichtet hat, solche Menschen nicht zurückzuweisen, sondern ihnen eine faire Aufnahme zu gewähren, das heißt, ihr Asylbegehren bzw. ihre Fluchtgründe zu prüfen und sie im Bedarfsfall dauerhaft oder vorübergehend aufzunehmen, dann bewegt sich diese Praxis, abgesehen von der bindenden Kraft unterschriebener Verträge und geltender Gesetze, im Rahmen jener aus dem Gesichtspunkt der Billigkeit erwachsenden Praxis, in der weiterhin jeder Staat sich selbst der nächste ist, nur eben mit Augenmaß und in Kenntnis der Vorteile, die ein solches Verhalten in anderen Lagen und Zusammenhängen einbringt.

5.

Die neuere Praxis europäischer Staaten, darunter insbesondere Deutschlands, sich über Asyl- und Flüchtlingsrecht einen steten, gelegentlich – wie 2015/16 – ausufernden Zustrom von Arbeitskräften zu sichern, ist der nüchternen Einsicht in den Rückgang der ›indigenen‹ Bevölkerungszahlen, insbesondere in den berufsaktiven Altersgruppen, geschuldet. Dies zu konstatieren ist ein Gebot der Redlichkeit. Gleichgültig, ob die Massenflucht aus dem Nahen Osten und einigen nordafrikanischen Ländern durch Werbung initiiert, durch administrative Maßnahmen wie die Kürzung der EU-Beihilfen für Flüchtlingslager provoziert oder durch ein schuldhaft fehlendes Grenzregime angeregt wurde, lässt sich auch hier die grundlegende Regel der Billigkeit erkennen: Ein Staat, der diesen Leuten hilft, hilft sich auch selbst, zumindest dem Arbeitsmarkt und damit auf längere Sicht der Stabilität seiner Leistungen. Exakt so stellte die Bundesregierung die Vorgänge an den deutschen Grenzen im Sommer und Herbst 2015 ihren Bürgern dar – es geht um Deutschlands Zukunft, leicht vernebelt um ›unser aller Zukunft‹, die nicht durch kurzsichtige und moralisch verwerfliche Fremdenfeindschaft aufs Spiel gesetzt werden darf.

Dass sich die Verhältnisse seither änderten, lag und liegt an der überaus heftigen, von den Akteuren so sicher nicht erwarteten Reaktion eines Teils der Bürgerschaft und den parallel dazu eingetretenen Verschiebungen im Parteiengefüge. Die EU, die westeuropäischen Regierungen und die ihnen ergebenen Medien legen großen Wert darauf, Parteien und Intellektuelle, die sich als Kritiker der unter falscher Flagge erfolgenden Masseneinwanderung profilierten, als ›populistisch‹ zu brandmarken, als liege darin, die ›Anliegen und Nöte‹ der Bevölkerung aufzunehmen und programmatisch zu artikulieren, eine besondere Form des Vergehens gegen die demokratischen Spielregeln und damit gegen die ›raison d’être‹ des demokratischen Staates. Generell gelten Bewegungen und Parteien, die den Populismus-Vorwurf aufgriffen und zu einem – positiven – Element der Selbstbeschreibung umformten, als Gefahr für das liberale System.

6.

Zu diesen Regeln gehört, so die Konstruktion, die unbedingte Selbstbindung der ›Eliten‹, also des Führungspersonals in Staat und Gesellschaft, an den geltenden Wertekanon, der die unbedingte Verpflichtung auf die Menschenrechte und ihre im internationalen und nationalen Recht kodifizierten Ausformungen enthält. Von juristischer Seite wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass der Rechtssatz ultra posse nemo obligatur (›Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet‹) auch für Rechtsfragen im Bereich der Menschenrechte gilt. Das Problem im vorliegenden Fall besteht darin, dass sich keine Grenze des Könnens ermitteln lässt: Die befürchteten Auswirkungen auf das Sozialsystem des Aufnahmelandes lassen sich ebenso leicht bestreiten wie relativieren. Zur Komplexität der Systeme und der aus ihr erwachsenden Multifaktorialität tritt der politische Charakter ihrer Ausgestaltung – nichts ist normaler als ihre Anpassung an sich ändernde demographische und ökonomische Lagen.

Am Ende steht die nüchterne Einsicht: Der eine kann, der andere kann nicht. Das gilt nicht nur auf der Ebene staatlicher, sondern auch sich ad hoc formierender sozialer Akteure. Die neue Klasse der von Donald Trump als Wählerreservoir aktivierten ›deplorables‹ (Hillary Clinton), der in ›prekären‹ Arbeitsverhältnissen lebenden oder arbeitslosen Teile der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht, kann nicht und will nicht: Dies ist die einfache Grundlage der veränderten Wählerarithmetik in den von menschenrechtsbasierter Masseneinwanderung betroffenen ›entwickelten‹ westlichen Staaten. Ihnen gegenüber steht die Klasse derer, die wollen und können, der sogenannten ›Eliten‹, die ihre ökonomische Basis im Zeichen der Globalisierung nicht länger im Nationalstaat und seinen sozialen Garantien verorten. Da diese Klasse die Medien und weitgehend auch die staatlichen Leitungsfunktionen besetzt, fällt es ihr nicht schwer, ihre Sicht der Dinge im öffentlichen Raum als moralisch geboten zu präsentieren. Genauso leicht fällt es allerdings den Apologeten der Gegenseite, den Vorteilsaspekt zu benennen, der aus dieser ›ethischen‹ Sicht nicht zu verbannen ist: Es sind die Interessen einer schmalen Geldelite und der von ihr direkt und indirekt Abhängigen, die durch die Politik der offenen Grenzen bedient werden. Die Frage ist, ob die symmetrische Entzifferung ethisch kodifizierter Botschaften das letzte Wort in dieser Sache sein kann.

7.

Der Kern des Konflikts um die Masseneinwanderung unter falscher Flagge (bekanntlich ist der Anteil der wirklichen Anwärter auf den Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus gering) besteht darin, dass die handelnden und ihr Handeln öffentlich interpretierenden ›Eliten‹ den Gedanken der Biligkeit halbieren – und zwar zuungunsten traditionell staatstragender Bevölkerungsteile, die sich nicht ohne Grund als die wahren Finanziers des sich rapide internationalisierenden Wohlfahrtsstaates betrachten. (Neben der ›ethischen‹ Sorge um die Aufzunehmenden wäre auch die Sorge um die Zukunft der bereits Aufgenommenen zu benennen, deren Interesse an Rechtssicherheit und gesichertem Auskommen sich mit dem der aufnehmenden Bevölkerung auf mittlere und längere Sicht vereinigt – vorausgesetzt, sie wandern nicht gleich in parasitäre Lebensmodelle und ›Parallelgesellschaften‹ ab.)

Diese ethische Schieflage bringt, wie jede Ethisierung von Konflikten, eine neue Klasse (oder ›Pseudoklasse‹) von Teilnehmern ins Spiel: Die Klasse derer, die durch ethisch-politische Fragestellungen im Ernst angesprochen werden und den leicht durchschaubaren moralischen Manövern der ›Eliten‹ den Begriff der staatsbürgerlichen Verantwortung entgegensetzen. Das Credo dieser Gruppe lautet: Moralisch handelt, wer für das Gemeinwesen Sorge trägt. Die Sorge um das Gemeinwesen kann, wie sich gezeigt hat, als ›Nationalismus‹, ›Xenophobie‹, ›Rassismus‹ etc. diffamiert, aber nicht ohne Selbstwiderspruch abgewiesen werden, weil sie die unverrückbare Basis aller Auseinandersetzungen um den richtigen politischen Weg und damit aller politischen ›Verantwortung‹ bildet.

Was wir gegenwärtig beobachten, die Entgrenzung der Einwanderungsfrage in Richtung auf ethnokulturelle, religiös-fundamentalistische und demokratietheoretische Fragestellungen, bedeutet in der Sache den legitimen und offenkundig notwendigen Versuch, die bislang von Ökonomen vorgelegten, extrem schwankenden und, für sich genommen, zu Glaubensartikeln verkommenden Kosten-Nutzen-Rechnungen durch Überlegungen zu ergänzen und, wo nötig, zu konterkarieren, welche das gesamte Leistungsspektrum des modernen, kulturell und wirtschaftlich ›entwickelten‹ liberalen Staates und die sie tragenden Voraussetzungen einbeziehen, um zu einer realistischen Einschätzung von Risiken und Chancen der Masseneinwanderung insbesondere aus kulturell wenig affinen Weltregionen zu kommen. Gewiss kann ein solcher Versuch ›kippen‹. Dennoch muss er unternommen werden, um die Frage der Billigkeit – und damit der moralischen Legitimität des Regierungshandelns – einer öffentlichen Entscheidung näher zu bringen. Wer ihn verweigert, sollte wissen, dass er damit eine elementare Voraussetzung für das Funktionieren des modernen Staates in Gefahr bringt – die staatsbürgerliche Kohärenz, soll heißen, den verlässlichen Willen der überwältigenden Mehrheit, in diesem und keinem anderen Staat miteinander auszukommen.

Notizen für den schweigenden Leser

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