Aus einem Briefwechsel*

Köln, den 23. Januar 2010

Lieber Herr Bauer,

dass zwischen dem Ungeschriebenen und dem Ungesagten – vom Ungedachten einmal zu schweigen – ein enger Zusammenhang besteht, liegt nahe, vor allem, weil beide den Gegenstand eines ähnlichen Bedauerns bilden. Was ungeschrieben und folglich ›im Text‹ ungesagt bleibt, erregt ein Interesse, das dem am Verbotenen nur wenig nachsteht: Warum, so kann ein Leser sich fragen, wurde es denn nun verschwiegen? Darf man Gründe wissen oder sind sie geheim oder aus wieder anderen Gründen nicht mitzuteilen? Wie verschwiegen ist das absichtsvoll Verschwiegene? Muss man es sich zum Gesagten hinzudenken oder liegt hier der sichere Weg zur Paranoia? Reden und Schweigen bilden eine kommunikative Einheit, die oft beschrieben wurde. Das Ungeschriebene, wie ich es aufgefasst habe, zielt auf den Mechanismus der Wahl, der im Hervorbringen tätig ist – sicherlich in jeder Rede, doch nicht in gleicher Intensität: wer so gespannt artikulieren wollte wie jemand, der um einen Vers, um einen Gedanken oder um sein Leben schreibt, der geriete rasch ins Taumeln, er käme mit seiner Rede zu keinem Fortgang und müsste, wäre es ihm mit seinem Unterfangen ernst, an jeder beliebigen Stelle abbrechen. Um diese Intensität war es mir zu tun, um ihr Innenleben, wenn Sie so wollen, und kaum um mehr. Dagegen wäre das Ungesagte etwas, das sich leicht formulieren ließe, hätte der Redende nur die Absicht, es mitzuteilen (und fiele es ihm an der entsprechenden Stelle ein), oder aber es kann auf keine Weise gesagt werden, weil sich an der Stelle die Sprache der Mitteilung verweigert.

Diese Rede ist mehrdeutig, sie schiebt der Sprache die Verantwortung für die Lücken zu, die sich in jeder Rede auftun, als sei sie eine selbsttätig wirkende Instanz, was sie in mancher Hinsicht wohl auch ist. Und sicher ist es ein großer Unterschied, ob sie sich einer bestimmten Person oder Personengruppe in einer konkreten Situation oder Konstellation verweigert oder ob sich etwas ›in Sprache‹ nicht ausdrücken lässt – man fragt sich, in welchem ›Ausdrucksmittel‹ denn dann, aber die Ausdruckskünstler sind da in der Regel nicht wählerisch. Der Unterschied kollabiert aber, wenn man ihn praktisch betrachtet, da die Situation der Rede es nicht erlaubt, die Möglichkeiten der Sprache auszuloten. Wer redet, schweigt nicht, sondern verschweigt. Er balanciert auch nicht auf dem Grat zwischen dem, was sich in Sprache mitteilen lässt, und dem, was immer ungesagt bleibt, sondern bewegt sich inmitten der sprachlichen Möglichkeiten, die ihm und seinen Zuhörern zu Gebote stehen. Wenn er etwas nicht mitteilen kann, dann deshalb, weil er es nicht weiß oder weil er es nicht mitteilen darf.

Das mag im Einzelfall viele Gründe haben. Gemeinsam ist ihnen allen der soziale Faktor: was immer es an Gründen geben mag, die mir gebieten, zu bestimmten Punkten zu schweigen, sie sind eingebettet in die soziale Motivation der Rede, sie sind Teil ihrer sozialen Funktion. In diesem Sinn kann man sagen, dass jede Rede aus dem Verschweigen hervortritt und mit ihm verbunden bleibt. Das gilt auch dann, wenn jemand hin und wieder ›das Schweigen bricht‹ – ein etwas mafiöser Ausdruck, der, abgesehen von persönlichen Schuldbekenntnissen, gewöhnlich dem Tabubruch vorbehalten bleibt. Ein solcher Tabubruch liegt dann vor, wenn einer die Regeln, die innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft von ›Sprechern‹ herrschen, verletzt und etwas ›zur Sprache bringt‹, das gemäß diesen Regeln dort nicht hingehört. Es liegt auf der Hand, dass auch der Tabubruch sozial motiviert ist. Es muss schon einen Sinn ergeben, wenn ich mich darauf einlasse, den Schutz der Gruppe aufzukündigen, indem ich mich außerhalb ihrer Kommunikationsgepflogenheiten bewege. Der Zweck, wie immer, kann nur darin liegen, dass ich mir Gefolgschaft zu verschaffen versuche: Mitstreiter, denen die Information oder auch ihre bloße Artikulation Handlungsspielräume eröffnet, die sie vorher nicht besaßen. Eine Gesellschaft lebt nicht vom Tabubruch, aber sie bedarf seiner von Zeit zu Zeit, um sich zu erneuern.

Man denkt dabei unwillkürlich an Chruschtschows Geheimrede von 1956, die, statt die Stalinsche Perversion des Sozialismus zu beenden, Grundlagen für ein erneuertes autokratisches Regime schuf. Ein anderes Beispiel wären Huntingtons Ausführungen über den Clash of Civilizations von 1996, die innerhalb der Medienkultur die Funktion öffentlicher Rede erfüllten. Der ›differenzierte Widerspruch‹, den sie entfachten, markiert im Nachhinein den westlichen Weg in eine Verfassung, die von der anderen Seite wohl nicht ohne Grund mit dem Begriff des Kreuzzugs verbunden wird. Bedeutsam ist also, wie der Tabubruch aufgenommen wird. Die Gesellschaft unterscheidet hier strikt: so sehr sie den kalkulierten Tabubruch (im nachhinein) schätzt, so entschieden sanktioniert sie im unkalkulierten sein hässliches Gegenstück. Der Wohlgeruch, den der erfolgreiche Tabubruch in der Gesellschaft verströmt, ist ohnegleichen. Nur so kann man verstehen, dass erfolgversessene Gesellschaftsexperten jahrzehntelang Zeit und Geld (inklusive Forschungsaufträge) auf der Suche nach dem nächsten brechbaren Tabu konsumieren. Kuhns Lehre vom Paradigmenwechsel, Foucaults Lehre von den Diskursformationen waren zu ihrer Zeit wirkmächtige Anspitzungen des Problems, das der erfolgreiche Tabubruch für seine Interpreten und Adepten bereit hält, bevor die konzeptionalistische Rede der Projektanträge jede weitere Denktätigkeit an dieser Stelle überflüssig erscheinen ließ. Man nenne mir etwas, das bisher ungesagt blieb, und ich werde die Welt der verstatteten Rede aus den Angeln heben.

Diese ›Kultur‹, lieber Herr Bauer, hat Ihre und meine Jahrgänge vielleicht tiefer geprägt als alles andere, jedenfalls in intellektueller Hinsicht. Unwillkürlich suchen sie nach dem Tabu, sobald ihre Nachforschungen oder die Lebensverhältnisse, wie sie sie sehen, ins Stocken geraten. Sie nennen es nicht mehr Tabu, so wie sie insgesamt nicht mehr die Sprache der frühen Jahre verwenden, sie haben gelernt, sie zu maskieren, manchmal blitzt etwas davon wieder auf und mancher denkt, es könnte einmal wieder an der Zeit sein, darauf zurück zu kommen. Und wirklich haben sie eine Reihe neuer Tabus in das gesellschaftliche Leben eingeführt, von dem das akademische nur ein kleiner Teil ist. Einiges davon nennt man in beschönigender Rede ›Sprachregelung‹, wenn man es nicht vorzieht, der ›political correctness‹ den Schwarzen Peter für alles Inkorrekte zuzuschieben. Undenkbar, so etwas auszusprechen: das ist die Formel für das Tabu, das ununterbrochen beredet, das ununterbrochen besprochen sein will, das sich aus dem von vornherein konzedierten Tabubruch nährt. Vieles lässt sich im Modus der Verneinung aussprechen, was im Medium offener Rede verpönt ist und den Übeltäter den einschlägigen Sanktionen unterwirft. Man kann darüber prächtig kommunizieren. Einiges an dieser Art der Verständigung erinnert an das aus virilen Kneipennächten bekannte Diktum: Wir Männer sind schon Schweine. Sind wirs? Sind wirs nicht? Wer will das wissen? Wer kann das wissen? Die armen Schweine dauern einen, doch das ist bekanntlich ein anderes Feld. Vielleicht sollte man dieses Tabu mit einem anderen Ausdruck bezeichnen. Aber damit würde man ihm etwas nehmen: den Anspielungsraum, den die Vokabel eröffnet, und damit die kulturelle Dimension, in der diese Vorgänge spielen. Eine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Tabus, sie praktiziert sie. Sie praktiziert sie durch Aufklärung und kann das sogar erklären – durch Aufklärung. Die moderne Gesellschaft baut auf das Tabu. Unsäglich ist ihr der vormoderne Rest, den sie mit sich herumschleppt und auf keine Weise los wird. Das Tabu selbst ist ein solcher Rest. Die Einsicht in diesen Sachverhalt ist nicht umsonst zu haben, sie zerstört über kurz oder lang die Moderne, jede Moderne, und zwar unerbittlich. Aber sie erzeugt keine zweite oder dritte oder vierte Moderne, es wäre ›eher sinnlos‹, so zu denken, so wie es sinnlos wäre, die eingetretene Ernüchterung als zweiten Rausch zu deklarieren. Stattdessen ruft sie jene Empfindung auf den Plan, die nie allein daherkommt – es sei denn, man besitzt das Gemüt eines Selbstmörders –: ›Nichts geht mehr‹.

Was scheinbar nach der Moderne kommt – die Bezeichnungen dafür wechseln –, ist keine Nachmoderne, sondern ihre Verkehrsform, die anzuerkennen schwer fällt. Genauer: ihre allmähliche Anerkennung füllt, nach den Schlächtereien, die im Namen der Modernisierung durchgeführt wurden, die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das Besondere an diesem Prozess liegt darin, dass er irreversibel ist und zu keinem Ende kommt. Nur als zerstörte lässt sich Moderne leben: ihr Egalitarismus, ihr Hedonismus, ihr Kollektivismus, ihr Singularismus, ihr Materialismus, ihr Utopismus, ihr Soziologismus. Mit all dem haben die Menschen ›umzugehen‹ gelernt, geschwätzig und wortkarg, glaubensbereit und skeptisch, im Kern unbetroffen und von einer Erregung in die nächste überwechselnd. Die Moderne ist jenes Schloss Kafkas, zu dem es den Fremden zieht, während die Dorfbewohner nur verschwiegene und zweideutige Beziehungen dorthin unterhalten. Dorfbewohner, die wir sind, blicken wir mit einer Mischung aus Trotz und Ängstlichkeit auf die Randgebiete des Reichs, in denen die Rechnungen mit offener Gewalt beglichen werden und wo der Aufruhr, der uns naiv und zukunftslos erscheint, aus der Unerträglichkeit der Verhältnisse aufschießt, die jede Okkupation durch eine fremde Macht mit sich bringt. Doch die Erde ist rund und die Randgebiete liegen nicht an den Rändern des bewohnten Erdkreises, sondern sind Enklaven des periodischen Zusammenbruchs der ›zivilen‹ Ordnung, die um den Globus wandern und heute hier, morgen dort erblühen. Nur das materielle Elend scheint zäher, gleichsam ortsfester, aber auch darauf ist kein Verlass.

Der Modernediskurs ist insofern aufschlussreich, als er die Verlegenheit aufdeckt, die etwa in der Rede von den ›entwickelten‹ Nationen, Gesellschaften, Ökonomien kodifiziert ist. Nichts kennzeichnet den gegenwärtigen Weltzustand mehr als der Begriff des Schwellenlandes: in ihm ist die Zukunft, die wir sind, zum Greifen nahe und immer wieder versagt, aufgeschoben, durch die nächste und übernächste Wirtschaftskrise, durch irgendeine politische Unbotmäßigkeit in die Distanz entrückt. Die Schwellenländer führen den Menschen in den entwickelten Zonen anschaulich die Moderne vor Augen, die sie leben. ›Schwellenmenschen‹: so könnte man sie nennen, wenn sie nicht bereits genügend markiert wären. Das moderne Tabu trägt dem Rechnung, es ermöglicht den Menschen, der nicht zurück will und sich lieber ›sein Los verdeckt‹ als sich einzugestehen, dass die Ökonomien, als deren Teil er sich begreift – angefangen beim ›System Erde‹ und noch lange nicht endend bei der Geschlechterökonomie –, ihn in eine barbarische, eine unentwickelte Existenz zurückstoßen, in der es ihn nach Solidarität dürstet, während er ihre Anmutung weit von sich weist. Dieses Gefühl des Zurückbleibens, der ›zu kurzen Arme‹ ist reell und funktional, weil es den Menschen suggeriert, sie bräuchten irgendwie mehr individuelle Kapazitäten, mehr Zeit vielleicht oder mehr verfügbares Kapital oder schlauere Gedanken, um der Weltverhältnisse Herr zu werden, um sie zu meistern, und es spielt dabei kaum eine Rolle, ob sie sich oder die Verhältnisse dabei ins Trockene zu bringen wünschen.

Man kann, was hier Moderne heißt, ruhig ›Gesellschaft‹ nennen, natürlich nicht die Gesellschaft irgendwelcher Leute, sondern ›die‹ Gesellschaft: jenes sonderbare Gebilde, das sich auf Kosten ganz realer Lebensordungen mästet und nichts abgibt. Man könnte sie auch die Organisation des Tabus nennen, die Zurichtung der Individuen zu allen Arten von Ökonomien, die keinen bestimmten Mittelpunkt haben und in denen prinzipiell jeder in jede Position verschoben werden kann. Dann wäre das Ungesagte das, was in der Gesellschaft nicht zu Wort kommt: es zu sagen wäre ebenso hässlich wie die Aussage gehässig. Vorbehalten bleibt es daher Bevölkerungsschichten und ›Subjekten‹, deren Rede nicht in Betracht kommt. Natürlich wird es gehört – und nicht nur gehört, es erzeugt einen mächtigen Nachhall in seinen Beschweigern. Aber: man kann ›es‹ so nicht sagen, um keinen Preis, es sei denn den der Selbstannihilierung der eigenen Rede und manchmal der eigenen Person. Wie man es sagen könnte, das ist die Preisfrage, an der sich alle versuchen, die durch das Wort zu leben versuchen, was unendlich einfach oder unendlich schwer ist. Man kann die ganze Fragestellung auch nach Art des robusteren Journalismus verschieben: dann steht der Westen – die ›westliche Gesellschaft‹ – gegen den Rest der Welt und fühlt sich bedroht und unterspült durch eine Woge, die mächtiger zu werden verspricht als das feste Land, als das er selbst sich verspricht. Gegen diesen Westen gehalten sind alle anderen Gesellschaftsformen ›fundamentalistisch‹, also gefährlich, also ein potentielles Zielgebiet für seine Eingreiftruppen. Und wirklich erscheinen sie dem Bewohner des Westens nicht besonders attraktiv, es sei denn, er sympathisiert mit den Privilegierten jener Länder oder er gehört zur Gemeinde der Kulturschwärmer. Man kann ihn also für mancherlei Arten von Kreuzzügen mobilisieren, was auch geschieht. Jedermann weiß um diese teils gezüchtete, teils reaktive Aggressivität, latent oder offen gezeigt, deren eine Spitze nach innen, deren andere auf die da draußen weist. Die da draußen sind aber keineswegs draußen, sie sind ein Teil des Ganzen und die Bedrohung, der sie sich ausgeliefert sehen, ist real und reell.

Ist es legitim, Gesellschaft und Tabu in diesen engen Zusammenhang zu rücken? Wird nicht, wer so redet, Opfer einer historischen Projektion? »Erlaubt ist, was sich ziemt«, sagt die Prinzessin in Goethes Tasso, sie könnte es noch heute sagen und würde, das veraltete Vokabular abgezogen, unmittelbar verstanden. Ich rede nicht vom Siegeszug der coolness und der political correctness, die stets hinreichend auffällig bleiben, um Hohn auf sich zu ziehen. Sie sind aber so etwas wie Angstlöcher der Gesellschaft: Schalter, an denen die Tickets ausgegeben werden, mit deren Hilfe sich die Leute ins ›Mitzählen‹ einkaufen. Solcher Angstlöcher gibt es mehr, die meisten davon tragen keine besonderen Namen, das Gros passiert sie kommentarlos und schweigt über den entrichteten Preis. Dabei könnte man ihn ruhig nennen, die Theorie kennt ihn und Therapeuten verdanken ihm ihr täglich Brot: die Fragmentierung der Person. Doch das ist sehr allgemein gesagt. Bezeichnenderweise ist jene Wunschmaschine, die Marx als Fetischcharakter bezeichnete, nicht bei der Ware und ihrer Surrogatfunktion stehengeblieben. Plausibler ließe sich vom Fetischcharakter der Gesellschaft reden, in deren kompakter Konsumform dem Einzelnen alles das erscheint, was er zu sein begehrt. Diese Konsumform ist keine Ware, sondern ›das Medium‹, das zwar auch seinen Preis besitzt, ihn aber in der älteren Form des Tributs einfordert. Angeschlossen zu sein ist die Weise des Dabeiseins derer, die nichts zu sagen haben – sei es, dass sie nicht gehört werden, sei es, dass sie nicht gefragt werden, sei es, dass sie ›keine weiteren Fragen‹ haben, weil ihre ›Karriere‹ ihnen ihr Verhalten diktiert.

Die Karriere – es ist ein weiter Weg von Ciorans Fresse des Arrivierten zur heutigen career, die das Unterste der Gesellschaft mit dem Obersten zusammenschließt und die Menschen nach dem Paulinischen Motto, dass viele berufen, wenige aber auserwählt sind, im olympischen Doping-Geist zum Rennen bringt. Andererseits ist er nicht so weit, wenn man auf die menschlichen Ausfälle blickt. Der Unrat der bürgerlichen Familie hat den Rahmen dieser Institution gesprengt und ist zum Unrat der Gesellschaft geworden. Die Gesellschaft selbst ist eine Art Un-Rat, der bei ihrer täglichen Herstellung anfällt, sehr auffällig in den von ihr offerierten und ökonomisch-psychologisch flankierten Formen der ›Beziehung‹, in denen das Geschlecht die Leute zueinander treibt, aber es gibt andere, ähnlich deprimierende Beispiele. »Reden wir nicht vom Menschen, reden wir von Systemen« – wer aus der methodischen Reduktion nicht das Tabu heraushört, der hat die Funktionalität erfolgreicher Theorien nicht begriffen, der weigert sich anzuerkennen, ›in welcher Gesellschaft‹ er sich befindet. Nun enthält die Rede vom Menschen selbst eine methodische Reduktion, aber eine älteren Datums, einen sentimentalen Merkposten. Die Weigerung, vom Menschen zu reden, ist also in zwei Richtungen obstinat. Überdies ist sie auf merkwürdige Weise durchlässig für andere, weniger heikle, deren Angelpunkt die Sorge ums tägliche Überleben, um die täglich abzurufende Sicherheit ist. Diese Rede wiederum ist so wenig heikel, dass sie beides von Grund auf kennt: die Menschen und die Systeme; das einzige, wonach es sie dürstet, sind Informationen.

Ist es wirklich das einzige? Die Dinge selbst sind durchlässiger als das Denken, das sie klassifiziert. Es fällt schwer, die Freiheitstruppe, die heute hier und morgen woanders den ungehörigen Gesellschaften ›den Weg in die Zukunft öffnet‹, als Okkupationsmacht zu begreifen – man sollte es zulassen, dass dieser Begriff wenigstens hin und wieder ohne Angst und Widerwillen die Bekenntniszonen passiert. Man sollte das Schweigen verstehen, das aus der Besorgnis entsteht, ›die anderen‹ könnten ›unsere‹ Sendung missverstehen. Diese Besorgnis ist das Residuum des westlichen Menschen, den es so nicht gibt, es sei denn im Wunder seiner täglichen medialen Auferstehung. Auf den Streifzügen durch die exotischen Gefilde der Abundanz aus Freiheit ist dieses merkwürdige Wesen gehalten, vieles ›für sich‹ zu behalten, was ihm nicht besonders eigen vorkommt, ganz und gar nicht – es greift hin und wieder in die Luft, als käme es von dort oder wollte sich dorthin verflüchtigen. Es müsste mehr Zeit haben, um sich zu artikulieren, dabei verfügt es über alle Zeit des Planeten und zieht seinen Nutzen daraus. So lebt es unter diesem merkwürdigen Gesetz des Schweigens, aus dem gelegentlich die ›irre‹ Gewalt aufschießt, um gleich wieder erstickt zu werden. Nur der Einzelne, aus dem sie kommt, wird beiseitegezerrt und weggeschlossen, wenn er sich nicht bereits selbst beseitigt hat. Wer schreibt, weiß es nicht besser, er weiß es anders. Dieses Anderswissen ist tentativ, nicht strategisch, es holt das Ungesagte hervor und legt es beiseite, es kommt ihm, ehrlich gesagt, zu vertraut vor und zu wenig ungesagt, es dröhnt ihm gewissermaßen in den Ohren und tut ihm weh. Er kann und will es nicht verleugnen, aber er verschiebt es in die Distanz all dessen, was einer sagen kann, der sich um Kopf und Kragen oder in sie hinein reden will. Dieser Wille ist dem Schreibenden fremd. Nicht zu fremd, um da kein Missverständnis aufkommen zu lassen, er kennt ihn wohl und ist seinen Anmutungen ausgesetzt. Aber er hat sich zu entscheiden oder hätte es, wenn er sich nicht längst entschieden hätte, so dass es ihm vorkommt, als sei über ihn entschieden worden, im Unvordenklichen, wo denn sonst.

Köln, den 21. 3. 2010

Lieber Herr Bauer,

Sie haben recht: das Ungedachte – um die Reihe der Negativsubstantivierungen weiter zu denken – hat vielleicht mehr mit dem Ungeschriebenen zu tun als mit dem Ungesagten, dessen Ausdifferenzierung rasch in die Felder der öffentlichen Wahrnehmung und ihrer Präsenz im Privaten und schließlich im Bewusstsein des Einzelnen führt. Noch mehr scheint es mit dem Ungetanen zusammenzuhängen, mit einer, wie ich Ihre Überlegungen verstehe, noch ausstehenden gesellschaftlichen Praxis. Wenn es Gedanken gibt, die ihr Zustandekommen Papier und Bleistift verdanken (oder, heute, der Aufnahmebereitschaft elektronischer Schreibgeräte), dann gibt es auf der anderen Seite auch solche, die mit Blut oder, allgemeiner gesprochen, dem Leid der Einzelnen oder Vielen geschrieben werden. Und wie das Grauen und das Elend ist auch das Erstrebenswerte so lange allenfalls ›angedacht‹, so lange es nicht im Erfahrungsstoff ausgeformt, das heißt, aus einem Erstrebten in ein Erfahrenes und Erlittenes verwandelt wurde. Das erscheint einleuchtend, vielleicht sogar trivial, setzt aber voraus, dass es so etwas wie ein stetes Herüberfließen aus dem Ungedachten in das Gedachte gibt, ferner, dass dieses Herüberfließen mit dem Strömen der Erfahrung identisch ist – der kollektiven eher als der individuellen oder persönlichen, diesem eher zerbrechlichen Gefäß, das immerfort überfüllt ist und durch tausend Poren mit dem Allgemeinen kommuniziert.

Gäbe es eine hinreichend feste ›Erfahrungsform‹, so gäbe es auch keine neue Erfahrung und keine neuen Gedanken, es sei denn im Modus der wiederholten Aneignung durch Individuen und einzelne Kollektive. Wie so häufig drängt die Wissenschaft zur Aufgabe dieser Position, vor allem, wenn man dabei nicht nur die akademische Forschung, sondern die ›wissenschaftsbasierte‹ Kultur als ganze im Blick hat. In gewisser Weise ist das Ungedachte die Domäne der Wissenschaft. Es steckt in ihrem ostinaten ›Wir wissen heute noch nicht‹, in dem der Satz mitläuft, dass wir ›heute mehr‹ wissen als gestern und morgen mehr wissen werden als heute. Letzterer entspricht insofern nicht ganz den Gegebenheiten, als kein Sprecher im Namen dieses Wir die Gewissheit in Anspruch nehmen darf, zu wissen, was ›wir‹ heute bereits wissen. Das heutige Wissen ist in einem strikten Sinn das hier und heute noch nicht synthetisierte, das noch nicht zusammengeführte und daher nicht gewusste Wissen, obwohl es zweifellos irgendwo gerade gedacht wird. In diesem Sinne ist das Gedachte selbst das Ungedachte, jedenfalls soweit es noch nicht den ihrerseits unabschließbaren Verwertungsprozessen zugeführt wurde.

Sie merken, ich spiele ein wenig auf dem Klavier Ihrer Überlegungen, ohne sie mir ganz zu eigen zu machen. Lasse ich sie damit ungedacht? Ist Denken so etwas wie ein existenzieller Akt, in dem das jeweils bereits Gedachte restlos in ein neues Gedankengefüge transponiert wird? Oder ist es mehr ein gelassenes Auffahren von Denkmöglichkeiten, von denen man bestenfalls nicht wissen kann, ob sie bereits andernorts durchgespielt wurden, von denen man es vielleicht nur nicht weiß oder wissen möchte? Oder ist es bloß ›Diskurs‹, wie die Schwätzer es wünschen? Wie das Schreiben ist das Denken nicht begrenzbar, schon gar nicht ›in Gedanken‹. Der sicherste Weg, es abzustellen, wäre das Totschlagen oder die Spritze, doch dieser Weg, gleichgültig, was Militärs oder Hygieniker darüber denken mögen, ist ebenso ungewiss wie in mancherlei Hinsicht kostspielig.

Nehmen wir an, wir lebten in einer Welt, in der der Erlösungsgedanke neu wäre, kaum angedacht, weitgehend undurchdekliniert, ganz frisch sozusagen, mit einem mächtigen Potential, durch keine Traditionen, durch keine mit Blut und Eisen vollzogenen Festlegungen daran gehindert, frei erwogen und ein erstes Mal gedacht zu werden. Ein solcher Erstgedanke kann nicht anders, er muss Überlegungen provozieren, in denen er verschoben erscheint, also so, als gehe es gar nicht darum, ihn zu denken, sondern eher darum, Möglichkeiten zu entfalten, die in ihm stecken – und ihn ruinieren werden. Angenommen also, jemand interpretierte ihn (denn darum geht es) so, dass Erlösung ein individueller, auf das zu erlösende Bewusstsein beschränkter Vorgang wäre, dass sie also, richtig gedacht, sich in jedem Wesen, das denkt, auch vollziehen könnte, dann wäre gar nicht einzusehen, dass gerade ein solcher Gedanke hier und heute zum ersten Mal gedacht worden sein soll. Viel einleuchtender wäre es, anzunehmen, dass derjenige, der ihn denkt, viele Vorgänger besitzt – Denker des Ungedachten, das sich mit Emphase in dem, der es nun denkt, seine Bahn bricht. Doch, wie gesagt, diese Emphase ist bereits abgelenkt, wenn der Differenzierungsprozess beginnt. Man kann die Neuheit eines Gedankens nicht festhalten, weder in der einen noch in der anderen Richtung, weder als Neuheit noch im Stadium der Neuheit, weder rückwärts noch vorwärts, es sei denn, man macht aus dem Denken eine Folge von allseits bekannten, einfallenden Ereignissen, so wie es die Geschichte der Erfindungen suggeriert, an der auffällt, wie sehr sie in den Bahnen der Ruhmrednerei und der kulturellen Traditionsbildung verläuft. Dennoch gibt es Erfindungen, ebenso wie es Entdeckungen gibt, und der Unterschied zwischen beiden ist, wie oft bemerkt, nicht sehr groß. Sie ergeben sich an den Rändern des bereits Machbaren, des bereits Bekannten, sie ergeben sich, wenn man so will, der Übermacht des bereits Sortierten, und der wahre Name des Erfinders oder Entdeckers heißt Zufall.

Den Erlösungsgedanken habe ich als Beispiel gewählt, weil er, wie vermutlich kein anderer, für den Eintritt des Neuen einsteht – welthistorisch mit dem Auftreten der Erlösungsreligionen, in der Gemeinde und im Individuum als der zentrale Vorgang, als Umformung, als Umwandlung des gegebenen Menschen, unumkehrbar und nicht kritisierbar. Dass Erlösung geglaubt werden muss, steht auf einem anderen Blatt. Aber es gehört zu unserem Thema, denn nur so ist gewährleistet, dass sie unausdenkbar bleibt, mit einer offenen Zukunft, in der die Zeit zum Raum wird, in dem es sich ohne Gefahr, an ein Ende zu kommen, ausschreiten lässt. Dieses Unausdenkbare eines Gedankens, einer Idee, wenn Sie so wollen, die in eines Menschen Kopf gekommen ist, um ihn nicht mehr zu verlassen, steht in einem seltsamen Gegensatz zu der gut begründeten Vorstellung, man müsse einen Gedanken zu Ende denken, bevor man sich an seine Ausführung macht. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass man zwar mit manchen Gedanken rasch durch ist, aber mit keinem zu Ende kommt. Das liegt an der Übergänglichkeit des Denkens selbst, das nie anders auf seine Inhalte zurückkommt als aus einer veränderten Denklage oder ‑konstellation heraus. Die Wahrheit eines Gedanken – die einzige, die wir kennen – liegt also darin, dass – und wie – man auf ihn zurückkommen kann. Das gilt gleichermaßen für den fürchterlichsten wie den harmlosesten, den abwegigsten wie den eingängigsten. Dieses Zurückkommen ist etwas grundsätzlich anderes als die mechanische Repetition, das berühmte Gelernthaben oder die bloße Verbreitung eines Gedankens, der sich Bahn bricht und das noch gestern Verbreitete unbarmherzig alt aussehen lässt.

Nicht ganz freiwillig lese ich zwei, drei Habilitationsschriften in Folge und bin verwundert über die in ihnen anzutreffende mechanische Verbreitung der Gedanken anderer, das blinde oder im Modus der Indifferenz betriebene Fortschreiben dieser Gedanken, das sich ›wissenschaftliche Qualifikation‹ nennt. Vielleicht bin ich ungerecht, ungeduldig, aber der Effekt bleibt, auch wenn ich mich zu mehr Gelassenheit mahne. Es steckt viel mechanisches Fortschreiben in der Wissenschaft selbst, und keineswegs nur zu Lehrzwecken. Als Leser vermisse ich in reichlich mit Fußnoten gespickten, alle einschlägigen Lehrmeinungen zitierenden Abhandlungen allzu oft das Annehmen des bereits einmal Gedachten, die Mühsal des Integrierens ins eigene Denken, ins darin Vorgedachte, ich vermisse den Vorgang des Denkens, ich vermisse seine Abbildung im Text, ich vermisse den Wahrheitsaspekt all dessen, was mir vorgetragen wird, und bitte innerlich darum, dass wieder abgetragen werden möge.

Das ist die Wissenschaft, in der das Denken bekanntlich seine Heimstatt besitzt und in der es demnach geschieht. Dass es auch da nicht allzu oft geschieht, kommt offenkundig der Festigkeit der jeweils gegenwärtigen Weltverhältnisse entgegen. Es reguliert, allerdings nicht besonders zuverlässig, den Zustrom des Neuen. Jedenfalls fällt auf, wieviel Neues in die Welt tritt, weil plötzlich Überzeugungen, die man zu den festen Parametern der Verhältnisse rechnet, in denen man sich bewegt, aus ihrem Gehege ausbrechen und ein aggressives Spiel beginnen. Das Gehege hat sich verändert – keineswegs über Nacht, eher nach und nach. Man kann nicht, der Metapher zuliebe, behaupten, es sei brüchig geworden, schließlich setzt es sich ebenfalls aus Überzeugungen zusammen, aus Überzeugungen und Routinen. Aber da die Praxis überall in das Gedachte eintritt und sie vor neue Aufgaben stellt, gewinnen die Überzeugungen ein anderes Gewicht und die Routinen verzweigen sich, bilden Schleifen, Regelkreise etc. Was also ist dann das Neue? In gewisser Weise einfach das Immerneue, das, was tagtäglich geschieht. An ihm wird jede noch so starke Gedankenroutine über kurz oder lang zuschanden. Dieses Neue bringt das Neuartige – die gelungene, überzeugende, überwältigende Rekombination der Elemente, mit denen das Denken jongliert, um den Verhältnissen wenigstens partiell gewachsen zu bleiben – zustande, in schleichenden, gelegentlich drängenden Prozessen, in denen fast alles mehrdeutig bleibt und die bekanntesten theoretischen Errungenschaften seltsame Parallelwesen in der Schattenwelt mit sich führen. Dort, in der unüberschaubaren theoretischen Praxis, wimmelt es nur so von konkurrierenden Entwürfen und Modellen, deren Stunde vielleicht noch schlägt, vielleicht endgültig vorübergegangen ist, vielleicht auch bereits geschlagen hat, ohne dass es hinreichend prominent vermerkt wurde.

Man kann schon verstehen, wenn angesichts dessen die Überzeugung die Oberhand gewinnt, die Geschichte des Denkens könne nur erzählt werden, sie müsse erzählt werden, weil allein das Erzählen mit ihren Sprüngen und Kurven, ihren Ungerechtigkeiten und Zufällen zurechtkomme. Das mag sogar stimmen, solange sich die Erzählung jener Sprünge und Kurven annimmt. Aber auf das Denken selbst bezogen bleibt es zweifelhaft bis falsch. Man kann Denken nicht erzählen, da man der Weise, in der es vom Geschehen tangiert und modifiziert wird, allenfalls in Ausnahmefällen nahekommt. Einschneidende Ereignisse und berühmte Experimente können einen gedanklichen Übergang plausibel erscheinen lassen. Doch auch dann hat man den Gedanken nicht an sich selbst erschlossen. Niemand kann neben einem Gedanken herlaufen und ihn ›bewerten‹, ohne aus dem Denken herauszufallen. In den meisten Darstellungen bleiben die beredeten Gedanken leer, obwohl sie oder etwas, das ihnen zum Verwechseln ähnlich ist, doch zweifellos einmal gedacht worden sind, sonst könnten sie vermutlich keine Folie für die Darstellung liefern. Die Fetischisierung des Denkens überantwortet seine Resultate einer Kommune von Tennisspielern, die gewohnt ist, den Ball über das Netz der sogenannten Rezeptionsleistung solange hin und her zu treiben, bis die Punkte zusammengezählt werden, weil die Spielzeit um ist und andere Spieler auf den Platz drängen. Man kann solchen Menschen nicht plötzlich anstelle eines Balls eine Schaufel oder eine Rakete in die Hand drücken, ohne sie zu verunsichern. Sie haben ja eine Aufgabe: wenn sie den Gedankenaustausch in definierten ›Korridoren‹ halten, so deshalb, um sicher zu stellen, dass sich niemand an den falschen Stellen infiziert.

Wie Sie sehen, bin ich ein ganzes Stück davon entfernt, dem ›Schreckbild‹ der von Ihnen zitierten beiden Frankfurter zu huldigen. Genauso wenig bin ich geneigt, die Wissenschaft für eine x-beliebige, durch einen Satz von ›Diskursregeln‹ – und mit viel Geld – auf Kurs gehaltene gesellschaftliche Institution zu halten. Ausdrücke wie ›Wissensökonomie‹ oder ›Wissenspolitik‹, so grell sie bestimmte Aspekte des Wissensbetriebs und auch des Wissens beleuchten, führen immer einen schalen Nachgeschmack mit sich. Ob die Absicht dahin geht, offen zu diskreditieren, oder ob die Eitelkeit des erhobenen Zeigefingers überwiegt, bleibt dabei unerheblich, die Diskreditierung liegt in jedem Fall auf der Hand.

Da die Überzeugungen um ihrer selbst willen nun einmal nicht genügen können, sind wir auf Wissenschaft angewiesen, wenn wir uns ernsthaft über etwas verständigen wollen. Nicht angewiesen sind wir auf von leicht durchschaubaren Interessen diktierte Selbstbeschreibungen von Wissenschaft, die in der Regel keineswegs von ›der Wissenschaft‹ geteilt, auch in keiner gemeinsamen Anstrengung erarbeitet, sondern von Cliquen und (bestenfalls) Überzeugungsgemeinschaften auf den Markt gebracht werden. Welche Rolle dem kulturwissenschaftlichen Betrieb in diesem Spiel der Täuschungen zukommt, ist bekannt und braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Andererseits ist die eigentümliche society der Wissenschaftler älter als das, was man gemeinhin Gesellschaft nennt. Sie funktioniert auch nach – teilweise – anderen Regeln. Wenn die Gesellschaft mit mehr oder weniger harter Hand hier eingreift und Reformen verfügt, dann schafft sie damit neben aller zeitgemäßen Erleichterung auch neuralgische Zonen, aus denen das Denken in ein informelles Abseits entweicht, das sich nicht so leicht durch Karriereangebote steuern lässt. Natürlich täuscht das viele Geld, das in anwendungsnahe Disziplinen fließt, über diesen Sachverhalt hinweg. Vom Standpunkt der Apothekerzeitung aus ist er ganz und gar nicht einsehbar, dort will man bares Wissen für bares Geld. Doch schon die Zweideutigkeiten der Klimapolitik und ihres wissenschaftsstrategischen Unterfutters sprechen eine andere Sprache für den, der ein wenig genauer hinhört und ‑liest. Wirtschaftsvertreter freuen sich über jede ›wissenschaftlich erhärtete‹ Lehrmeinung, an der sich verdienen lässt, und registrieren dankbar das relativistische Credo, sobald es ihnen in den Kram passt. Aber der Relativismus ist auch nur eine Theorie und keine besonders brillante.

›Neues Denken‹ – vor mehr als zwei Jahrzehnten stand der Ausdruck in einem Teil der Welt, unter anderem, für eine andere Ökonomie, für eine andere Gesellschaft, und die hat man dort dann auch bekommen. Im Grundsatz, da stimme ich mit Ihnen überein, ist eine Ökonomie, wie sie bis heute noch nicht erdacht wurde, keineswegs undenkbar. Im Grundsatz ist auch die Einführung einer Wirtschaftsform, wie sie bisher nur auf dem Papier steht oder an den Rändern der Weltwirtschaft erprobt wird, keineswegs undenkbar, wenngleich hier eine etwas andere Art von Undenkbarkeit ins Spiel kommt. Die Festigkeit des Denkens unterscheidet sich von der der Institutionen. Die Institutionen fangen das Denken auf, sie stauen es und nötigen es in bestimmte Richtungen, sie kanalisieren es und bestimmen die Geschwindigkeit, mit der es sich verbreitet. Aber da sie selbst nur als Erdachte – und Gedachte – bestehen, müssen sie aus dieser Ecke auch auf jede Art von Überraschungen gefasst sein. Sobald das Spiel aus ist, fallen die Überzeugungen zusammen wie Kartenhäuser, die Leute reiben sich die Augen und können sich kaum mehr an das erinnern, was sie sich noch vor kurzem zusammengedacht haben. »Das waren die Neunziger, sieh mal, wie komisch das alles!« Es waren aber nicht die Neunziger, es waren sie selbst.

›Wer hätte das gedacht‹ könnte über den Lebensläufen stehen, unverrückbar, wie alles andere. Wirklich bleibt jedes einzelne Leben ungedacht. Man darf darüber denken, wie man will, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Das Ungedachte, wie immer man es betrachtet, ist das Offene, die räumlich imaginierte, daher immer verfehlte Zukunft. Es ist die Gegenwart, als Zukunft betrachtet, eine Gegenwart, in der alles möglich ist, weil die Boten die Schwelle noch nicht passiert haben. Diese Schwelle... ich spüre sie oft, wenn ich, metaphorisch gesprochen, den Raum der Nachrichten betrete, ein Zögern, ein leises Bedauern, das sich immer seltener auflöst und sich das offenbar auch leisten kann, seit die Informationen bereitstehen, sobald erst einmal der Rechner läuft. Aber es ist nicht das ›Medium‹, von dem sich die Leute verhext fühlen wie früher der Bauer von der Nachbarin, es ist die zerstörerische Gewalt der Nachricht selbst, die sich an die Stelle des konturlos Erwarteten setzt, die gar nichts anderes sein kann als die Botschaft vom Ende irgendeiner Erwartung, eine Todesbotschaft, bei Licht betrachtet, bunt und anämisch. In gewisser Weise kommt jede Nachricht, die einen ›nicht persönlich‹ betrifft, von einem anderen Kontinent und zerstört ihn, sowie sie eintrifft. Es geht damit wie Dostojewskis Spieler, alle wissen restlos Bescheid und sind süchtig nach der Serie, die alles wendet.

In meinen Berliner Erinnerungen besitzt ein Ausspruch, der aus den frühen Neunzigern herüberklingt, seinen festen Platz: »Die Mauer ist weg, aber die Straße hat einen Buckel, den man nicht sieht. Wir spüren ihn, wenn der Bus drüberfährt, und sehen uns an.« Der Osten ist lange weg, aber die Welt fühlt einen Buckel, über den sie hin und her fährt, die Älteren bekommen ihn nicht weg und die Jüngeren tragen ihn unwissentlich überall hin. ›Gestaute Erwartung‹, so könnte man nennen, was sich damals entlud, eine nicht unerhebliche Modulation des Zeitbewusstseins. Die Machtlektionen, die man seither lernen durfte, haben den Typus der im voraus enttäuschten Erwartung ganz nach vorn geschoben. ›Koalition der Willigen‹: was für ein Wort. Man findet sie überall, diese Willigen, gleichgültig, um was es geht. Ohne sie geht nichts, das ist das Entscheidende. Doch geht es mit dem Organ ihrer Stärke wie mit dem Glauben: im Willen, es recht zu machen, steckt bereits der Unwillen, die Zerstörungsbereitschaft, der uneingestandene Impuls, eine Sache im Entstehen zunichte zu machen. Auch dafür gibt es Bilder.

Wahrscheinlich entferne ich mich längst von dem, was Sie mir sagen wollten. Ich spüre aber in Ihren Worten einen verwandten Unwillen, dem modischen Topos des kulturellen Gedächtnisses und der ›Gedächtnisspeicher‹ zu huldigen, als genüge es, eine Maschinerie der Erhaltung von Büchern und Lagerorten von Büchern in Gang zu halten, um die Gedanken der Vergangenheit, der Klassiker, wie Sie schreiben, aber man sollte auch diejenigen nicht vergessen, die sich diesen Titel nie erwarben, zu ›haben‹. Das Ressourcendenken verkennt, dass weder Zugänglichkeit noch jene fürchterliche ›Anschlussfähigkeit‹, die aus dem Luhmann-Lager herüberschallt, die Gedanken erhält, sondern ihr Fortgedachtsein, das auf sie zurückkommt, um sich von ihnen einnehmen zu lassen – für eine kurze oder lange Weile, wer weiß das schon. Dieses plötzliche oder schleichende Eingenommensein von etwas, das gleichzeitig aus dem ›eigenen‹ Denken herausragt, ein Unterwegssein in eigenen und fremden Kontexten, deren Fremdheit an allen Rändern schmilzt und sich erneuert, während die eigenen zurücktreten, aber natürlich nicht verschwinden, ist eine Menschheitserfahrung, vielleicht die einzige, die nicht in lauter Lügen zerfällt, wenn man genauer hinsieht. Es ist auch Ich-Erfahrung. Dass Gedanken, auch die eingängigsten, auch die avanciertesten, bereits fortgedacht sind, wenn sie sich Zutritt zu mir verschaffen, gleichsam fort und fort, mag in manchen Ohren trivial klingen, aber es hat mich lange beschäftigt und überfällt mich noch immer, sobald ich einen der ›Klassiker‹ zu lesen beginne. Ungedacht bleibt, was einmal gedacht wurde, es ist das eigentlich Ungedachte, das vergessen bleibt oder fungiert, in welchen Zusammenhängen auch immer. Ohne mechanische Anteile, ohne Zettel und Aufkleber, hinter denen der Inhalt unausgepackt bleibt, ist Denken nicht zu haben, es käme auch nicht von der Stelle. Nun ist es in einem strikten Sinn nicht zu haben, es kommt auch, in einem strikteren Sinn, nicht von der Stelle. Es wird nur, durch den Gang der Ereignisse und die Substitution der Individuen, an andere Stellen geschubst und muss sich bewähren. Aber recht ist es ihm nicht, es möchte sich zurückkrümmen auf seine ersten Einsätze und findet immer andere.

Eine Denkfigur wie das ›Unvordenkliche‹, dem kein Gedanke vorausgeht und das deshalb selbst allem Denken vorausliegt, ist einerseits ein völlig abstraktes Produkt, wenig brauchbar, wenn es darum geht, Zusammenhänge zu konstruieren, andererseits besitzt sie, wie Sie schreiben, eine poetische Anmutung. Das Unvordenkliche konstituiert jenen Zwischenbereich des Ungedachten, das nicht identisch ist mit dem noch nicht Gedachten, eine seltsame Vor-Welt, von der sich zwingend angezogen weiß, wer seine Worte setzt, als sollten sie zusammen ein Bauwerk ergeben, ein ›Gebilde‹, und dabei nicht vergisst, dass sein Bauen oder Beinahe-Bauen ein Spiel ist, das er jederzeit verlieren kann und das er vielleicht bereits verloren hat, in seinem Leben oder in einem anderen. Was wäre ein verlorenes Spiel anderes als ein Ernst, der sich anders nicht herstellen mag? Ob es der Ernst ist, bleibt dabei immer dahingestellt, es sei denn, einer erschießt sich am Kleinen Wannsee oder geht in die Seine oder erhängt sich still in einem Hotelzimmer. Es ergibt keine Anwartschaft, es ergibt auch keinen Sinn, es ergibt sich vielleicht gar nicht und das ist vielleicht gut so. Wer freiwillig geht, verdient Respekt, und sei es nur deshalb, weil er tätig den Übermenschen widerlegt, diese üble Versuchung, die in jedem steckt, insofern er nichts mit sich anzufangen weiß und deshalb geneigt ist, sich dranzugeben. Es mag schon sein, dass das Ungedachte darauf wartet, gedacht zu werden. Aber es ist im Warten geübt und denkt nicht daran, es aufzugeben. Hätten alle gleichzeitig den einen neuen Gedanken, auf den alles ankommt, dann schlüge die Welt um – vielleicht, um zu kentern, wer weiß das schon. Allein in der Modifikation des Gedachten durchs Haben liegt das Moment der Vernichtung, das in alle Bereiche ausstrahlt und auf die strikte Partialität der Entwürfe verweist, im Grunde der Hinweis auf die Anonymität der Macht, die alles ergreift und modifiziert, um unentwegt zu vergehen, zu zerfließen, sich in neu-alten Kontingenten zu ordnen undsoweiter. Das, denke ich, kann so gesagt werden.

*Briefwechsel mit Gerhard Bauer, vollständig erschienen in Acta litterarum 2010: Das Ungesagte / Ungedachte. Ein Briefwechsel https://www.iablis.de/acta-litterarum/ex-acta/gerhard-bauer/das-ungesagte-ungedachte-ein-briefwechsel).

Notizen für den schweigenden Leser

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