1.
In Soziale Systeme (1987) rät Niklas Luhmann, »Rationalität« – den Begriff und die Sache – nicht allzu willig preiszugeben, wie es überall dort geschehen sei, wo an ihre Stelle »Selbstreferenz« gesetzt wurde:
Selbstreferenz ist Bedingung für Steigerungen, für Steigerung der Einschränkbarkeit, für Aufbau von Ordnung durch Reduktion von Komplexität. Zeitweise war diese Einsicht in der Form von natürlicher Selbstliebe, in der Form von sich selbst begründender Vernunft oder dann in der Form des Willens zur Macht, also in anthropologischen Verpackungen, an die Stelle des Rationalitätsprinzips getreten. Dies kann heute als eine spezifisch europäische Geste gesehen werden, die den parallellaufenden Zerfall der Rationalitätssemantik zu kompensieren versucht.1
Diese ›Rationalitätssemantik‹ nennt der Systemtheoretiker »alteuropäisch«, sie sei dort zu finden, wo »die Welt für perfekt gehalten und Rationalität als ein Weltkontinuum vorausgesetzt wird«. Seit dem 17. Jahrhundert werde dieses ›Rationalitätskontinuum‹
auf verschiedene Weise geknackt. [...] Man verlagert zum Beispiel das Rationalitätsurteil aus den Prinzipien in die Richtung des historischen Prozesses, der dann als Fortschritt beschrieben wird. Man schematisiert nach rational/irrational. Man verlagert das Wesentliche in eine Sachregion, wo keine Rationalität es erreichen kann: in die Materie, in die Kleider, in die Amoralität des Willens zur Macht. Oder man denkt Rationalität nur noch als Handlungsrationalität, als Insel in einem Meer von anbrandenden Irrationalitäten und ruiniert dann diese Rationalität durch eine genauere Analyse des Entscheidungsvorgangs. Oder man interessiert sich weniger für die Rationalität als für die Schäden, die sie verursacht...
Man kann die in dieser Beschreibung erkennbare Polemik – etwa in Bezug auf den Wechsel, den der Verfasser damit gegenüber von ihm früher vertretenen Positionen vollzieht – durchaus goutieren: die Deutung von Rationalität als Reduktion von Komplexität galt seit Zweckbegriff und Systemrationalität als eine zentrale Leistung der Systemtheorie. Die spätere Auslegung hält demgegenüber die systemtheoretische Wiedergeburt der ›alteuropäischen Geste‹ für vertretbar, als bezeuge nicht bereits der neuerliche Rekonstruktionsversuch die vertraute reduktionistische Verwechslung rationaler – die eigenen Denkmittel zur Disposition stellender – Argumentation und konstruierter, im Dienst willkürlich fixierter Zwecke reklamierter ›Rationalität‹.
Was Luhmann geflissentlich übergeht, ist der Umstand, dass jene ›alteuropäische Geste‹ von der Vermengung – und gelegentlichen Verwechslung – zweier Vernunftkonzepte lebt: dem einer in bzw. hinter den Phänomenen waltenden Weltvernunft und einem selbstgenügsameren – oder, je nach Blickrichtung, ausschweifenderen –, das in der Konzentration auf das Problem der Selbstbegründung des Denkens den einzig gültigen Rationalitätsausweis anzuerkennen bereit ist. Ob jemand letzteres für historisch überholt oder für hybrid hält, tut nichts zur Sache – wer so redet, der hat sich schon für die andere Seite entschieden und zeigt sich gesonnen, eine der gängigen Positionen zwischen Empirismus und Mystizismus ein weiteres Mal zu besetzen. Allerdings verbleibt die Ablehnung argumentativ in bescheidenen Grenzen. Wer die Welt für vernünftig erklärt, spricht damit dem Gebrauch der Vernunft sein umfassendes Vertrauen aus – ein Vertrauen, das früher oder später in die nicht abzuweisende Neugier zu investieren beginnen wird, auf welchen verschlungenen Wegen das Denken wohl zur Vernunft – das heißt, zu seiner Welthaftigkeit – kommen möge.
2.
Mit dieser Entscheidung hat man jedoch bereits eine strategische Vorentscheidung gefällt, die folgendermaßen formuliert werden kann: Etwas als ›rational‹ auszuzeichnen heißt, es als kulturkonform zu begreifen und es damit – gewissermaßen und vorerst ohne allzu große Anstrengung – zu billigen. Wenn ›Rationalität‹ als Faustpfand zum Nutzen der jeweils eigenen Theoriebildung fungiert, dann lässt sich dem schwer widersprechen: Wer sich mit der Vernunft im Bunde weiß, hat keinen Anlass, mit ihr zu hadern. Desgleichen, wer sie für unverzichtbar erklärt: nur die rationale Rede vermag ihn zu überzeugen.
Luhmanns Einlassungen erinnern daran, dass diese Option alles andere als selbstverständlich ist. Sieht man von der unverstellten Propaganda für das ›Irrationale‹ in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ab, so bleibt als Tatsache bestehen, dass gerade die Wortführer des als rational begriffenen Modernismus – von Max Weber bis zur Frankfurter Schule – mit Denkfiguren liebäugelten, die zumindest ambivalent anmuten: Rationalität erscheint in ihren Schriften als ein über die von Menschen ›gemachte‹ Welt der Moderne verhängtes Schicksal, als Verhängnis, dem entrinnen zu wollen – die große Versuchung der Epoche – zwar als verdächtig gilt, doch als geheimes Sehnsuchtsmotiv in den verschiedensten Denkmustern wiederkehrt.
Auch Tabus haben ihre Geschichte. Die Entdeckung des ›Irrationalen‹ in der Epoche zwischen Hamann und Nietzsche gilt als faszinierendes Kapitel innerhalb der Geschichte der rationalen Kultur. Diese Einschätzung erweist sich bei näherem Hinsehen als fragil. Sie musste erst gegen die Nachkriegsbereitschaft zurückgewonnen werden, den angeblichen Irrationalismus gerade der deutschen Kultur mehr oder weniger umstandslos in den nationalsozialistischen ›Zivilisationsbruch‹ münden zu lassen. Seither hat sich die Einstellung zu den Klassikern merklich entspannt. Ob zu ihrem Vorteil, bleibe einmal dahingestellt – der richtungslose Pantextualismus hat seine Bewährungsproben noch vor sich. Dagegen kehrte das nie ganz erloschene, zeitweise psychoanalytisch gehegte Interesse am Irrationalen als fester Bestandteil der gehobenen Popularkultur wieder. Wer das mit einer gewissen aufreizenden Monotonie ›westlich‹ genannte Kulturmodell als ›rational‹ oder, bei vergleichbarer Stoßrichtung, als ›logozentristisch‹ bezeichnet, hegt in der Regel kritische Absichten. Über die Grenzen der Rationalität und ihre dubiosen Motive plaudert es sich weitgehend anstrengungslos. Die ›andere Seite der Vernunft‹ ist ein Tummelplatz der gesinnungsbildenden Intelligenz.
Irrationalismus wäre, alles in allem, die Vorentscheidung gegen die rationale Interpretation von Kultur – verstanden als umfassende Bezeichnung für eine von Menschen und auf Menschen hin geordnete Welt. Die Suggestion von ›Tiefe‹, die darin umgeht – und ihre Erfolge weithin der Rhetorik verdankt –, setzt an die Stelle von Gründen (die ›einsichtig‹ gemacht werden müssten) Motive, die zwar ›erörtert‹, aber nie ganz ›begriffen‹ werden dürfen, die bis zu einem gewissen Grade undurchsichtig bleiben müssen, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen, und an die Stelle von Argumenten ›Kräfte‹, deren Mit- und Gegeneinander darüber entscheidet, welche Gedanken sich als wirklichkeitsmächtig erweisen. Nicht das Vernünftige ist wirklich, sondern das Vernunftlose, weil der Vernunft nicht ganz, nicht wirklich Zugängliche: so etwa ließe sich die Zurückweisung jener ›Geste‹ als Umkehrung einer an sich bereits grundlosen Entscheidung deuten.
Doch hält die Zurückweisung, was sie verspricht? Einerseits wendet sie sich energisch gegen die Annahme einer ordnenden Welt-Vernunft – und variiert damit die von Nietzsche her bekannte ›Gott-ist-tot‹-Thematik –: das sei ihr konzediert. Andererseits aber zielt sie ganz offensichtlich gegen die selbstgenügsame Vernunftvariante, insofern die von ihr ins Spiel gebrachten ›Kräfte‹ der ›Gründe‹ – und damit des Spiels der Begründungen – spotten. Auf eine wie immer versteckte Weise lebt sie von der Behauptung der Identität beider Konzeptionen – darauf hat etwa Nietzsche mit unüberbietbarem Nachdruck bestanden. Weit davon entfernt, die ›gesunde Skepsis‹ (falls es so etwas geben sollte) auf ihrer Seite zu haben, gestattet sie sich damit eine Unterstellung des auftrumpfenden Typus. Ganz gleich, wie sorgfältig das Programm einer Selbstaufklärung der Vernunft sich gegen deren metaphysische Verdoppelung abzusichern versucht, es bietet stets die Fortsetzung des vertrauten Textes mit – geringfügig – anderen Mitteln.
Eine so massive Unterstellung enthält auch eine verkappte Selbstcharakteristik. Der Irrationalismus, als Theorie betrachtet, muss in entscheidenden Stücken zwangsläufig unklar bleiben. Keine nachgeschobene Präzisierung darf vergessen machen, dass Argumente dort wenig zählen, wo die elementaren Bestimmungen greifen. Als Überzeugung bleibt der Irrationalismus zurückgebunden an eine Ausgangslage, die ihn verständlich – demnach, den eigenen Prämissen nach, unglaubwürdig – werden lässt. In seiner Entstehung vermengen sich unterschiedliche Motive der europäischen Aufklärung, die aus nachvollziehbaren Gründen in einer bestimmten Situation konvergieren, um sich alsbald wieder zu trennen, bis eine völlig andere Theoriesituation am Ende des 19. Jahrhunderts sie erneut in einen signifikanten Zusammenhang rückt. Historisch gesehen, beruht der Irrationalismus auf der Kontraktion zweier Stränge aufgeklärter Kritik. Der erste gilt der ›Entdeckung‹ und Aufwertung der vorbewussten Motivregion als einer dem Verstand keineswegs eindeutig unterworfenen, ihm sogar tendenziell überlegenen Instanz, der zweite der immanenten Grenzbestimmung der Vernunft, also einem eher epistemologischen Problem. Beide gehören irgendwie zusammen und treten in ein und derselben geschichtlichen Konstellation zutage.
3.
Beginnen wir mit zwei Zitaten. Das erste sei Goethes Wilhelm Meister entnommen, es steht im 7. Buch der Lehrjahre, dort, wo Wilhelm von Natalie in den ›Saal der Vergangenheit‹ geführt wird.
Wilhelms Augen schweiften auf unzählige Bilder umher. Vom ersten frohen Triebe der Kindheit, jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ruhigen, abgeschiedenen Ernste des Weisen konnte man in schöner, lebendiger Folge sehen, wie der Mensch keine angeborne Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen. Von dem ersten zarten Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt, den Krug aus dem klaren Wasser wieder heraufzuheben, und indessen ihr Bild gefällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen, zeigte sich alles bedeutend und kräftig.
Das zweite findet sich in Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn:
Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren? Verschweigt die Natur ihm nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.
Man hat sich angewöhnt, die große, nicht zu übersehende Differenz, die zwischen beiden Zitaten zum Ausdruck kommt, als einen Fortschritt im Wissen zu notieren – im Wissen um den Menschen, um die etwas abgetakelte Formulierung zu verwenden, die am ehesten die verwaschene Vorstellung wiedergibt, aus der sich diese Grundüberzeugung speist.
Beide Textstellen sprechen zunächst von unterschiedlichen Dingen: die Bilder, die sich Wilhelm besieht, ergeben – so suggeriert es der Erzähler – eine Kette oder, besser, einen Kreis bildnerischer Motive, deren Gestaltung ›bedeutend und kräftig‹ genannt wird: Wer mit Goethes Sprache vertraut ist, wird diese Charakterisierung nicht für unwichtig halten. Hingegen exponiert die Nietzsche-Stelle eine ›modern‹ anmutende Analogie: So wenig dem Bewusstsein die körperlichen Vorgänge, von denen es abhängt, unmittelbar gegenwärtig sind, so wenig durchschaut es die seelischen Regungen, auf denen es aufruht. Worin liegt das tertium comparationis?
Die Bilder im ›Saal der Vergangenheit‹ zeigen, legt man Goethes Terminologie zugrunde, ›hochsinnliche‹ Gegenstände: symbolische Gesten und Handlungen, in welche sich der menschliche ›Bildungstrieb‹ – die Anlage – sinnfällig auseinanderlegt. Von ebendieser Anlage spricht Nietzsche mittels eines Bildes, das in den Goetheschen Bilderbogen nicht zu passen scheint. Gegen das Gefällig-Humane setzt es das Abgründig-Inhumane, gegen die Gewissheit des Menschenbildes die Ungewissheit, den bösen Verdacht, der die moderne Kriminalstatistik, die historische Erfahrung und, nicht zu vergessen, das Wissen um die Bedingungen des Lebens im Universum auf seiner Seite hat. Schließlich hält es – im Medium der Bilderrede – gegen den schönen Traum den Traum vom bösen Erwachen.
Doch mit dem Fortschritt ist das so eine Sache. Sollte es nicht versuchsweise erlaubt sein, die Fragerichtung umzudrehen und die Frage zu stellen, ob nicht auch die Goethestelle ein Wissen enthält, das dem so eindringlichen Nietzschezitat abgeht? Oder wenn schon nicht ein Wissen, so doch die Möglichkeit eines Wissens, das nolens volens in Anspruch genommen wird, sobald man sich über die Entdeckung des Vor- oder Irrationalen und seine Funktionen verständigt? Die Frage verdient eine Antwort.
Wovon handelt demnach das Meister-Zitat? Oder, anders gefragt: Worin liegt die praktisch-ästhetische Funktion der Bildergalerie, in deren staunender Betrachtung sich Wilhelm ergeht? Fasst man den Romanhelden näher ins Auge, so fällt es nicht schwer, von einer Schwellenerfahrung zu sprechen. Der Wilhelm, der den Saal der Vergangenheit verlässt, ist ein anderer als der, der hineinging. Seine Weltorientierung hat sich verändert: Dinge, die vorher wichtig waren, treten zurück, andere nehmen Kontur an. Die Bildmotive – die er doch vorher kennen musste, um sie wiedererkennen zu können – sind ihm ›bedeutend‹ geworden: Symbole, die über sich hinaus auf ein Allgemeines deuten.
Worin liegt dieses Allgemeine, über das er sich belehrt weiß, ohne dass diese Belehrung eigens in Worte gefasst werden müsste? Es liegt in dem, was der Mensch ist, vor allem aber in dem, was er zu sein gedenkt oder zu sein beschließt, also vor aller möglichen rationalen Selbstauslegung. Formal gesprochen, zeigen die der alteuropäischen Tradition angehörenden Bilder ›immer schon‹ etwas, das die Psychologie Nietzsches gegen die Macht der europäischen Denktradition aufzudecken verspricht – formal gesprochen, denn die inhaltliche Differenz scheint unüberbrückbar.
Die inhaltliche Differenz ist nicht so leicht zu bestimmen. Nietzsches Rede erschließt sich, auch im weiteren Kontext, als Gegenrede. Während Goethes Bildergalerie demonstriert, »wie der Mensch keine angeborne Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen« – eine keineswegs zynisch gemeinte Bemerkung –, gibt sich Nietzsche vom Gegenteil überzeugt: die ›Neigungen‹ und ›Fähigkeiten‹, deren sich die zivilisierte Menschheit bedient, ruhen auf Bedürfnissen und Instinkten, die explizit zu machen nicht mehr und nicht weniger heißt, als mit Sprengstoff zu hantieren oder, um im Bild zu bleiben, das reißende Tier ins Bewusstsein einzulassen, das hinter dem Maskenspiel der »Neigungen« und »Fähigkeiten« gemeinhin verborgen bleibt. Dieses reißende Tier träumt nicht; es trägt die Menschheit auf seinem Rücken fort. Insofern ist es die Instanz, die sich immer und überall realisiert, gleichgültig darum, was der Augenschein sagt.
Nietzsche hätte also in einer Hinsicht keine Schwierigkeiten, dem Erzähler der Lehrjahre zuzustimmen: In der Tat ist es nicht möglich, irgendeine der Anlagen, welche die Gattung ausmachen, vollständig zu unterdrücken. Jeder Versuch, sie zu verleugnen, zeitigt nur neue Formen der Verwirklichung – mit gelegentlich unvorhersehbaren Folgen. Jede Auslegung – und die Leugnung wäre nur eine schlichte Auslegungsvariante – folgt den eingespielten Mechanismen und bleibt selbst in sie eingebettet. Sogar der Aspekt der Bekräftigung findet sich bei Nietzsche wieder: als »Amor fati«, als ein Wollen dessen, was ohnehin geschieht.
Die Gegenrechnung, die Nietzsche aufmacht, ist jedem geläufig, der auch nur oberflächlich mit dem kulturellen Prozess des 20. Jahrhunderts in Berührung gekommen ist. Sie initiiert eine Art doppelter Buchführung, der gemäß die Motive, welche die Menschen für ihr Denken und Handeln namhaft machen, in keinem Fall zum Nennwert genommen werden dürfen, vielmehr nach den ihnen voraus- und zugrundeliegenden ›wahren‹, ›eigentlichen‹, jedenfalls glaubwürdigeren Motiven befragt und hinterfragt werden müssen. Das Goethesche Humanum ist demnach ein vielleicht schöner, jedenfalls aber ein täuschender Schein. Nietzsche war raffiniert genug, dieses Spiel der Oberflächen ad infinitum zu treiben und die ›wahren‹ Motive einer gewissen Psychologie zu überlassen – der Poststrukturalismus hat es ihm gedankt.
4.
Die Dinge so darzustellen heißt, sich noch immer der Optik Nietzsches zu bedienen. Um der Auffassung Goethes näherzutreten, lohnt es sich, das Meister-Zitat noch einmal in Augenschein zu nehmen. Der Erzähler gibt – wovon bisher noch nicht die Rede war – Beispiele, aus denen sich möglicherweise etwas von dem erschließen lässt, was bei ihm in der Sprache der Bilder erscheint. Er benennt gleichsam Anfang und Ende des symbolischen Bilderbogens. Das abgewandelte, im Raum der Idylle belassene Narcissus-Motiv eröffnet die zweite Folge: es spricht vom »ersten zarten Selbstgefühl« in der gefälligen Selbstbespiegelung eines jungen Mädchens am Brunnen. Den geziemenden Abschluss bilden die »hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen...«
Dieses Motiv verdient Aufmerksamkeit. Die Krönungsfeierlichkeiten, die der Erzähler im Blick hat, sind einerseits völlig im Geist des Ancien régime gedacht: die berühmte Szene zwischen Napoleon und dem römischen Papst gehört noch der Zukunft an. Doch natürlich antworten die Lehrjahre auf eine Situation, in der die Französische Revolution bereits sichtbar gemacht hat, dass die »Verbindungen der Könige und Völker« nicht als ganz so unauflöslich gedacht werden müssen. Genauer gesagt: angesichts einer anhaltenden europäischen Debatte um das natürliche Recht des Menschen und die aus ihm fließende rationale Form des Gesellschaftsvertrags haftet an Nataliens Bildersaal ein Hauch von Antiquiertheit. Er heißt nicht ohne Grund »Saal der Vergangenheit«. Diese Antiquiertheit, so müssen wir annehmen, ist vom Autor gewollt: Sie ist selbst Gegenentwurf in und zu einer Debatte, an der im offenen Schlagabtausch teilzunehmen ihm, wie bekannt, ein äußerster Widerwille verbietet.
Derselbe Widerwille verbietet ihm nicht, in Bildern zu denken und diese Bilder den nicht immer aufmerksamen Zeitgenossen mitzuteilen. In gewisser Weise zitieren jene »hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen...« einen Klassiker des Naturrechts, Thomas Hobbes, der die Lehre vom Gesellschaftsvertrag innerhalb der älteren europäischen Staatsrechtslehre fixiert hatte: als Souveränitäts-, genauer, als Unterwerfungsvertrag, in dem die Untertanen sich aller Rechte gegeneinander und gegen den Souverän begeben, um sie von ihm, abzüglich des unter das staatliche Monopol gestellten Rechts auf Gewalt, nach seinem Gutdünken zurückerstattet zu bekommen.
Man könnte diese angesichts des damals virulenten Rousseauismus einigermaßen reaktionär anmutende Wendung, die Goethe einer Sache von so offenkundigem öffentlichem Belang gibt, auf sich beruhen lassen. Doch damit würde man vorschnell eine Pointe vergeben, die sich zu erschließen beginnt, wenn man bedenkt, dass der »Saal der Vergangenheit« nicht irgendein Ort ist, sondern just der Raum, in dem nur kurze Zeit nach Wilhelms staunendem Besuch eine höchst feierliche Zeremonie stattfindet. Es sind Mignons Exequien, deren Befremdlichkeit für das christlich gestimmte Gemüt engagierte Leser noch immer zu Geschmacksurteilen treibt, die weder dem Roman noch seinem Autor schmeicheln: eine Totenfeier, bei welcher der Ausdruck von Trauer nachdrücklich verpönt ist und durch eine Apotheose des Lebens und der Gemeinschaft ersetzt wird, in der sich die anwesenden Trauergäste mehr oder weniger deutlich geeint wissen. Hier ist sie: die Bekräftigung einer Gemeinschaft – oder, mit dem historisch präziseren Ausdruck – einer ›societas‹ im Angesicht einer Toten, von der nicht ohne Grund gesagt wurde, der Autor habe sie der Ökonomie seines Werkes geopfert – was besagt, dass Mignon in den Reihen der Sozietät, deren Aktivitäten das Ende des Romans beherrschen, nichts zu suchen habe.
Dass der Verbindung der gesellschaftlichen Kräfte etwas geopfert werden muss (und sei es auch nur der ungestüme Freiheitsdrang der Einzelnen), soll der entstehende Staat oder das ihm entsprechende Gebilde Bestand haben, ist ein Gemeinplatz der Naturrechtslehre. Dieses reale und zugleich symbolisch im Ritual der Bundesschließung vollzogene Opfer scheint der Autor der Lehrjahre in die Nähe des eher archaisch (und keineswegs klassisch) anmutenden Menschenopfers zu rücken. Die Sozietät, in der sich die Mitglieder der Turmgesellschaft mit Leuten wie Wilhelm zusammenfinden, ist keine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, viel eher, nach dem Wort Adam Müllers, eine »Assekuranzcompagnie«: Sie soll das ökonomische Überleben ihrer Mitglieder für den Fall einer bevorstehenden Staatsrevolution sichern – die Französische Revolution wirft ihre Schatten voraus. Andererseits fällt es schwer, in Mignon ein Opfer dieser Sozietät zu erkennen, eher erscheint sie als Opfer ihrer eigenen Dissoziabilität. Das Erstaunen über den zunächst vagen Verdacht bleibt, und es wächst, sobald man beginnt, nach Parallelen zu fahnden, die prima vista oberflächlich wirken könnten – solange nämlich, bis der Leser nicht mehr umhinkann, das Problem wahrzunehmen, das in ihnen bereitliegt.
Blickt man auf Goethes Fragment gebliebene Revolutionsdichtungen Das Mädchen von Oberkirch und, im Rahmen einer geplanten Trilogie, Die natürliche Tochter, so stößt man beide Male auf dasselbe Muster: eine junge Frau gerät auf die eine oder andere Weise ins Zentrum der Revolution und kommt (im Fall der Natürlichen Tochter müssen wir es vermuten) dabei zu Tode. Es handelt sich um ganz unterschiedliche Charaktere und Handlungsverläufe. Umso erklärungsbedürftiger nimmt es sich aus, dass Goethe zweimal dasselbe Schema verwendet. Zweifellos lässt eine ausgeprägt antirevolutionäre und patriarchalische Gesinnung den Dichter zu Stoffen greifen, in denen ein per se rührendes Schicksal die Revolution leicht als abscheuerregendes Geschehen erscheinen lässt. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille.
Während Goethe in Italien an der Versfassung der Iphigenie auf Tauris arbeitet, geht ihm der Plan zu einem weiteren Stück durch den Kopf, von dem keine Zeile überliefert ist – man weiß nicht, ob jemals eine existierte: Iphigenie auf Delphi. Um ein Haar wird Iphigenie in diesem Stück von ihrer Schwester Elektra ermordet, und zwar mit derselben Axt, »die soviel Unheil in Pelops’ Hause angerichtet«, und die pikanterweise bereits als Sühneopfer »dem Gotte« geweiht wurde. Die Axt scheint Goethes Zutat zu sein; die Überlieferung spricht davon, dass Elektra ein brennendes Scheit vom Altar reißt. In einer hochdramatischen Wiedererkennungsszene wird das Schlimmste verhütet. Offensichtlich schließt sich damit der motivische Kreis hin zu jener Iphigenie in Aulis, die seit Euripides und dem von Gottsched übersetzten Racine zum dramatischen Bestand gehört – nicht zu vergessen die 1779, im gleichen Jahr wie die Prosafassung von Goethes Iphigenie, uraufgeführte Oper Christoph Willibald Glucks.
In Iphigenie besäßen wir mithin – Mignon eingerechnet – die vierte der ungleichen Schwestern, die sich hauptsächlich darin berühren, dass sie einer neuen Ordnung zum Opfer gebracht werden: Iphigenie explizit, um dem gekürten Heerführer der Griechen, Agamemnon, den Beistand der Götter zu sichern. Wer das als Zufall abzutun geneigt ist, möge es tun. Aber vervollständigen wir die Liste: Unter den kleineren kunsttheoretischen Schriften Goethes findet sich eine, die, wie der Autor bemerkt, »Beispiele von demjenigen, was die Kunst nur auf ihrer höchsten Stufe erreichen kann«, skizziert, »von der Symbolik, die zugleich sinnliche Darstellung ist...« Man kann sich die Bilder, die da entworfen werden, ohne Mühe unter denen denken, die den Saal der Vergangenheit schmücken. Von Iphigenia in Aulis heißt es:
Im Mittelgrunde tragen zwei Opferdiener die ohnmächtige Jungfrau gegen eine Statue der Artemis. Links vom Zuschauer eilt der bebende, in seinen Mantel sich verhüllende Agamemnon davon. An der Rechten erscheint Kalchas mit entblößtem Stahl, dem Vater mit dem Blick, der Tochter mit der Schärfe drohend. Hier stellt sich noch reiner, in einfacher Handlung, die Absicht hin, nur das Notwendigste dieses ungeheuren Ereignisses vor die Augen zu bringen, und zwar so, dass es durch Mannigfaltigkeit der Charaktere, durch symmetrische, wohlgefällige Stellung und durch Farbengebung ein angenehmes Wandbild erzwecken mag.
Ein »ungeheures«, ein unausdenkbares, in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes »Ereignis«: Wie leicht zu erkennen, handelt es sich um die ›klassische‹ Variante des Isaak-Opfers, mit dem Abraham für sich und seine Nachkommen den Bund mit Jahwe schließt. Damit rundet sich der Kreis. Die durch das im Geiste vollbrachte Menschenopfer bekräftigte Bundesschließung entpuppt sich als das Urbild, das durch jene »hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen«, hindurchschimmert. In Dichtung und Wahrheit widmet ihm Goethe einen längeren Passus:
Wunderbar und ahnungsvoll geht durch jene schöne Welt noch ein anderer schrecklicher Zug, dass alles, was geweiht, was verlobt war, sterben musste: wahrscheinlich auch ein auf den Frieden übertragener Kriegsgebrauch.
Das Ritual der Bundesschließung, bei dem die Opfertiere die in der Schlacht Getöteten symbolisieren, verbindet sich im Isaak-Opfer mit der ›barbarischen‹ Tradition des Menschenopfers; die Götter,
welche manchmal, um uns zu versuchen, jene Eigenschaften hervorzukehren scheinen, die der Mensch ihnen anzudichten geneigt ist,
befehlen Abraham, er solle
seinen Sohn opfern als Pfand des neuen Bundes und, wenn es nach dem Hergebrachten geht, ihn nicht etwa nur schlachten und verbrennen, sondern ihn in zwei Stücke teilen und zwischen seinen rauchenden Eingeweiden sich von den gütigen Göttern eine neue Verheißung erwarten.
5.
Lassen wir die religionsphilosophischen Aspekte dieser Ausführungen auf sich beruhen. Entscheidend, so lesen wir, ist nicht die Tat, sondern der Wille, sie auszuführen. An ihm aber, so belehrt uns der Autor, herrscht in der alten Welt, die er die ›schöne‹ nennt, kein Mangel. Der rettende, Ersatz für das Opfer schaffende Gott ist die Ausnahme, nicht die Regel – und es muss schon ein Gott her, das Morden zu stoppen. Zu den Grundlagen jener alten Welt gehört also das Menschenopfer, und Goethe steht an anderer Stelle nicht an, auch die neue, die christliche Welt durch »Menschenopfer, unerhört« erkauft zu nennen. Nur dass im Christentum durch den sich selbst als Opfer anbietenden Gott die Gläubigen ein für allemal salviert erscheinen und bloß seine eingebildeten oder wirklichen Feinde die Scheiterhaufen besteigen, während in der alten Welt der Mensch (und nicht der Menschensohn) geopfert wird. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, auf welche Seite unter den Bedingungen des Christentums die Schönheit in jenem außermoralischen Sinn fällt, deren Abglanz auf den geweihten Opfern des archaischen Ritus liegt.
Denn dieser außermoralische Sinn des Schönen ist keine Erfindung Nietzsches. Er wird bereits in der Frühphase der europäischen Aufklärung virulent: Seit Shaftesbury ist er gekoppelt an die Denunziation der herrschenden christlichen wie jeder ›angeblich‹ geoffenbarten Moral als einer wirklichen Unmoral. Sie gründet sich auf die Ablehnung des christlichen ›Hokuspokus‹: der Vertauschung des Menschenopfers mit dem Gottesopfer. Damit ist nicht der Wiederkehr des barbarischen Rituals das Wort geredet. Natürlich nicht, ist man versucht zu sagen. Stattdessen wird daran erinnert, dass die barbarischen Rituale im Christentum überdauern. Der Opfertod des Gottessohnes rechtfertigt die christlichen Greuel. Beides ist miteinander verquickt: Wer die Aufnahme der Hostie verweigert, der verdient den Tod – in beiderlei Gestalt.
Doch nicht in der humanen Empörung, jenem J’accuse, das wir bei Voltaire vorgeprägt sehen, findet Goethe sein Anliegen, sondern in etwas, das man ein wenig euphemistisch Einsicht in die Zusammenhänge nennen könnte. Keine rein theoretische Einsicht – diese gerade nicht. Vielmehr ein vorsichtiges Sichherantasten an ein »offenbares Geheimnis«. Überzeugt davon, dass jeder – auch zukünftige – menschliche Zusammenschluss auf dem aufruht, was Schiller in Vorwegnahme der Nietzsche-Metapher »blutge Tigermahle« nennt, wendet Goethe der Innenansicht der Opfer seine Aufmerksamkeit zu:
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
Iphigenie erfährt im Moment des Todesstoßes die Verwandlung zur Priesterin; als solche lernt man sie in der ausgeführten Iphigenie auf Tauris kennen. Eine analoge Verwandlung dürften Marie - das ›Mädchen von Oberkirch‹ – und Eugenie – die ›natürliche Tochter‹, vor dem Gang zum Schafott durchgemacht haben, wenn wir mehr als die Exposition von diesen Stücken besäßen. Und sicher dürfte sein, dass sie nicht als Priesterinnen der revolutionären Göttin Vernunft aus dem Leben geschieden wären: Die Verweigerung dieser Rolle führt (wenigstens in dem einen Fall sich bereits abzeichnend) geradewegs zur tragischen Peripetie.
Doch damit wiederholt sich nur eine Konstellation, wie sie zu Beginn der christlichen Jahrhunderte (und in gewisser Weise am Eingang einer jeden ›neuen Weltordnung‹) gegeben ist. Es ist nicht nötig, dass alle Besiegten sich unterwerfen. Die Unbeugsamen, die lieber in den Tod gehen, als die gewünschte Konversion zu vollziehen, sterben stellvertretend nicht für die geretteten Glieder der alten, sondern für die neue ›Gemeinde‹. Dieses Opfer aber (und darin liegt die Parallele) ist im Namen der Vernunft ebensowenig zu fordern wie, recht betrachtet, im Namen des christlichen Liebesgebotes. Am auf dem Altar der Freiheit und Menschenwürde vollzogenen Menschenopfer decouvriert sich die revolutionäre Ordnung als eine wie andere auch; sie bekräftigt die Fortdauer jenes »schrecklichen Zugs«, den die Praxis des Menschenopfers in das schöne Bild der alten Patriarchenwelt einfügt.
Man mag die Dinge aus unterschiedlicher Perspektive betrachten: Sicher ist, dass Goethe gerade das Wissen (oder doch eine Ahnung dieses Wissens) für sich beansprucht, von dem Nietzsche behauptet, die Natur habe den Schlüssel zu ihm weggeworfen: dass »auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens«, und dass es diese Ahnung ist, die ihn zum entschiedenen Gegner der Revolution werden lässt – nicht erst, wie so manchen anderen, angesichts der realen Opfer, die das jakobinische Schreckensregime kostet, sondern von Beginn an. Für ihn steht keinen Moment die Überzeugung außer Frage, dass mit der Revolution eine grandiose Selbsttäuschung des applaudierenden Teils des Publikums über den Charakter des Staates und seiner Voraussetzungen in der menschlichen Psyche einhergeht. Jenes Verschwinden der ›wahren Motive‹ menschlichen Handelns aus dem Bereich der moralischen Selbstverständigung, die Einteilung der menschlichen Psyche in eine Vorder- und eine Hinterbühne, bei der auf der Vorderbühne des Bewusstseins die edlen Argumente eines vernünftigen Miteinanders gegeben werden, während auf der gegen das Bewusstsein abgeschirmten Hinterbühne die alten Blutsäufer-Motive ihr Recht behaupten, es vollendet sich für Goethe, nach der Vorarbeit, die das Christentum geleistet hat, in der revolutionären, von den widerstreitenden Idealen der Freiheit und Gleichheit der Individuen geleiteten Rekonstruktion des Staates.
6.
Man könnte also, von Goethe aus gesehen, Nietzsche allzu naiv nennen, wenn er Liberalismus und Sozialismus, ersteren als die Grundlage der bestehenden, letzteren als das Projekt einer kommenden Weltordnung als die Spätprodukte eines falschen, durch Sokrates in die Welt gekommenen und mit dem Christentum siegenden Bewusstseins denunziert. Jener ›schreckliche Zug‹, welchen die mörderische Menschennatur in das Leben der Staaten und Gemeinschaften einzeichnet, liegt für den Älteren, der den Geburtswehen dieser neuen Welt beiwohnt, offen zutage. Der entlarvende Gestus des Jüngeren erübrigt sich damit. Goethe, das sollte nicht vergessen werden, kennt noch die Praxis öffentlicher Henkertätigkeit inmitten des zivilen Lebens. Die schauerliche Hinrichtung des Königsattentäters Damiens 1757 in Paris war ein Ereignis, das die Phantasie der Zeitgenossen eindringlich beschäftigte. Die Guillotine, so erfahren wir fröstelnd, humanisierte das Verfahren, aber sie stellte es weiterhin aus: Jedermann durfte – und sollte – Zeuge sein, wenn die Republik wie einst die Monarchie ihr majestätisches Antlitz zeigte. Nietzsche hingegen gehört einer Zeit an, in der die Menschenopfer auf den Altären der europäischen Staatenwelt entweder an der Peripherie oder an Stätten vollzogen werden, die den Blicken der Öffentlichkeit entzogen sind. An diesem Maßstab gemessen lebte Goethe in barbarischen Zeiten. Der psychologische Effekt der ›Humanisierung‹ liegt auf der Hand: die Wissenden, nun, jedenfalls von Fall zu Fall, in der Minderzahl, werden zu Mitwissern, die am besten zu schweigen wissen – wir kennen das zum Irrsinn gesteigerte Prinzip von den Konzentrationslagern und Gulags des letzten Jahrhunderts. Ihnen gegenüber entsteht der Typus dessen, der das Unglaubliche, das Unausdenkbare zum Leidwesen der ›Guten‹, sprich: der Gezähmten, ›publik macht‹ – Nietzsche ist einer der ersten Vertreter dieses Typs.
7.
An der Stelle ist es hilfreich, sich des Problems zu entsinnen, von dem diese Überlegungen ihren Ausgang nahmen. Was eigentlich sollte irrational sein an einem Denken, das einen irrationalen Kernbereich der menschlichen Psyche postuliert, dem (unter dem Gesichtspunkt einer vernünftigen, auf der Anerkennung der Interessen anderer und einer unverrückbaren Mitmenschlichkeit beruhenden Ordnung der menschlichen Dinge) nicht zu trauen ist? Es sind die Konsequenzen, die den Argwohn nähren. Sie haben Nietzsche zum ›Fall‹ werden lassen. An welcher Stelle sollte sich jedoch im Denken Goethes der Webfehler finden (falls es sich um einen solchen handelt), der ihn eigensinnig an einer Weltordnung festhalten lässt, die wir, zweihundert Jahre später, allen Ambivalenzen des bürgerlichen Zeitalters zum Trotz, als just zu dem Zeitpunkt überlebt betrachten müssen, zu dem er sich für sie entscheidet? Schließlich handelt es sich um nichts Geringes: Durch diese Entscheidung wird Goethe zwar nicht zum Apologeten, wohl aber zum stillen Teilhaber jenes Gegenentwurfs zur modernen Welt, dem das Etikett des ›Irrationalismus‹ nicht erst von seinen Gegnern umgehängt werden musste.
Eines steht fest: Der Dichter der Iphigenie auf Tauris ist weit davon entfernt, dem ›barbarischen‹ Bodensatz zivilisierten Denkens, Handelns und Fühlens das Wort zu reden. Nicht anders als Schiller versucht er in seinen Dramen den Punkt zu bestimmen, an dem die ›blutgen Tigermahle‹ einer anderen Praxis zu weichen vermöchten. Seine Verstörung durch das ›ungeheure Ereignis‹ der Französischen Revolution kommt daher, dass in ihr, wie er es sah, an die entsetzlichen Untergründe des gesellschaftlichen Lebens gerührt wurde – wenn schon nicht ohne Not, so doch blind, selbstherrlich, durch Akte eines ahnunglos zu nennenden guten Willens. Die seismische Metapher, zu der er angesichts des Ereignisses greift, gibt exakt diese Einschätzung wieder. Das Bild des von Beben begleiteten Vulkanausbruchs, in dem das Unterste ›nach oben‹ drängt, bezeichnet nicht (oder allenfalls in einer Nebenbedeutung) die zeitweilige Herrschaft des ›Pöbels‹, sondern das Zerreißen der ›sittlichen Bande‹ unter dem Andrang der in ruhigeren Zeiten unter Opfern gebändigten Mordlust.
Die Metapher selbst hat eine historische Dimension. In ihr fügen sich Elemente einer Legende zusammen, die den Sieg der westeuropäischen Aufklärung (wenn man die Revolution dafür nehmen möchte) an das intellektuelle Beben knüpft, das ein reales erdgeschichtliches Ereignis, das Erdbeben von Lissabon 1755, ihren damals prominentesten Vertretern bescherte. Von seiner Wirkung klingt einiges in dem Bericht nach, den Goethe in Dichtung und Wahrheit der Aufnahme des Ereignisses widmet: »Ja vielleicht«, so lesen wir dort, »hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.« Hier wäre er wieder, der ›schreckliche Zug‹, diesmal von allem Anschein entkleidet, als handle es sich um etwas, das durch menschliches Tun und Lassen hätte verhindert oder unterdrückt werden können. Wobei die Ironie nicht unerwähnt bleiben darf, die Goethe den Hinweis einflechten lässt, dass die Angst vor den ökonomischen Folgen bereits bei diesem Ereignis – Lissabon ist eine der bedeutendsten Handelsstädte der Epoche – dem allgemeinen Erschrecken aufhilft und es vervielfacht.
Das Erdbeben von Lissabon markiert im Denken der Aufklärung einen symbolischen Einschnitt. In seinem Gefolge bereitet sich – nicht ohne deklamatorisches Pathos – der lange Abschied von der Überzeugung vor, die den englischen Theismus und das kontinentale Lehrstück von der ›prästabilierten Harmonie‹ zwischen Geistes- und Sinnenwelt miteinander verbindet. Es ist eine Überzeugung, die am nachdrücklichsten der populäre, einer Shaftesbury-Sentenz abgenommene Pope-Vers auf den Punkt bringt: »whatever is, is right«. Sein Nachhall findet sich noch in Goethes spätem Gedicht Der Bräutigam: »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut« – mitsamt der Frage nach der richtigen Plazierung der Kommata und den Konsequenzen, die sich daraus für die Interpretation ergeben. Diese Überzeugung lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Aufgabe der Vernunft darin besteht, die Welt für vernünftig, sprich: für vernunftgemäß zu erklären – also als jenes »Rationalitätskontinuum«, von dem Luhmann in Soziale Systeme spricht. Und zwar nicht etwa die sittliche Welt, was angesichts der in ihr offensichtlich herrschenden Unordnung gerade nicht gelingen kann, sondern die Sinnenwelt, das physikalische Universum: Der Geist, der sich an der Natur als dem Erscheinenden ausrichtet, kann auch im Sittlichen nicht fehlgehen, dort, wo die Glückseligkeit des einzelnen gewogen wird.
Unter dem Eindruck des verheerenden Naturereignisses wird dieses Denkmuster zweifelhaft. Die Natur hat sich als eine potentiell bedrohliche, das Denken herausfordernde Instanz zu erkennen gegeben, an der die vernünftigen Deutungen sich abarbeiten, ohne zu schlüssigen Resultaten gelangen zu können. Das Irrationale, das ist die Natur als unbesiegbare Gegenspielerin des sich ›in der Welt‹, gleichsam von Katastrophe zu Katastrophe, stets aufs neue organisierenden Menschen: so etwa Voltaire. Als physisches Wesen steht der Mensch in der Natur. Im Maß dieser Einsicht wird er sich selbst unheimlich.
Aus dem genuinen Aufklärungsmotiv versucht Nietzsches Psychologie ›am Leitfaden des Leibes‹ dann erneut Funken zu schlagen. Rousseau allerdings, der in der Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen hypothetische Naturkatastrophen – Erdbeben, Überschwemmungen – zum Auslöser für die Entfaltung der schlechten, der geschichtlichen Menschenwelt ins Auge fasste, kultiviert im Versuch über den Ursprung der Sprachen von 1761 den Gedanken einer Vorsehung, die sich in der Gründungsphase der menschlichen Gesellschaften jener ›Naturunfälle‹ bedient habe, die nun, offenbar funktionslos geworden, so selten geworden seien. Der Schock über das isolierte Ereignis ist hier zum Anlass geworden, die Ursprungsgeschichte der Gattung um einen, wenngleich katastrophischen, Sinn zu erweitern. Auch dieser Sinn ist unheimlich: Das Rätselantlitz der Natur wird zum Doppelantlitz, zum Ausdruck von zweierlei Vernunft.
8.
Wie ein entfernter Reflex jener Debatte, gewissermaßen ein Nachbeben, wirkt Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 – ein deklamatorisches Zauberstück, das seine Wirkung auf den Leser bis heute nicht verfehlt. Herder dekliniert den Gedanken der zweifachen Vernunft mit allen Mitteln einer historisch verstehenden Sophistik. Er nimmt Rousseaus Idee einer vorgeschichtlichen Idylle auf und destruiert sie. Die morgenländische Welt, die er an den Anfang der Geschichte stellt, enthält beides: höchste Vernunft und äußerste Unvernunft als Ausfluss ein und derselben Konstellation. Der uneingeschränkt herrschende Patriarch ist sowohl milder Vater als auch grausamer Despot. Goethe wird dieser Beschreibung aus vorsichtiger Distanz folgen. Entscheidend aber ist, dass die Vernunft, als »Weisheit und Tugend« inmitten der schlichtesten Verhältnisse, in der ursprünglichen Beengtheit ihrer Möglichkeiten und der äußersten Simplizität der Inhalte als in ihrer ganzen »Einfalt, Stärke und Hoheit« gegenwärtig gedacht wird. Die Vernunft selbst, heißt das, verliert, sobald sie den Zauberkreis überschreitet, in dem sie über nichts weiter gebietet als über die ersten Begriffe eines göttlich verfügten Rechtseins. Sie verliert sich gewissermaßen an die unvernünftigen Aspekte dessen, was ist, das heißt, sie wird einseitig. Die entbundene, die verständig gewordene Vernunft schließlich erwirbt das zweifelhafte Privileg, Wirklichkeiten zu erfinden, in denen die Einseitigkeiten oder Härten realer Lebensformen zu höheren Zwecken umgedeutet oder kurzerhand beseitigt sind. Aus Vernunft wird Unvernunft, wird, mit dem Ausdruck einer späteren Theorie, der ›Verblendungszusammenhang‹ der Moderne. Die Apologie vergangener Lebensformen, der Entartungsverdacht gegenüber der gegenwärtigen Welt sind damit vorgedacht; sie harren ihrer künftigen Entfaltungen.
Herder ist bei diesem Konzept bekanntlich nicht stehengeblieben. Doch hält man sich ein wenig bei ihm auf, so bemerkt man, dass hier zwei Gedanken ineinander verschränkt erscheinen: einmal der Gedanke der vernunftlosen, durch Vernunft nicht ganz aufschließbaren Natur, die unvernünftig erscheint, weil sie dem individuellen menschlichen Glücksverlangen gegenüber gleichgültig bleibt. Der Despotismus demonstriert, dass die Menschennatur Teil dieser Natur ist. Zum anderen der Gedanke einer Vernunft, die zur Unvernunft wird, weil sie es versäumt, das Wirkliche als das Vernunftlose zu denken. Beide hängen zusammen. Dennoch empfiehlt es sich, sie auseinanderzuhalten. Denn auch eine vernunftlose Wirklichkeit lässt sich denken – die Geschichte der empirischen Wissenschaften beweist es. Annahmen über den rationalen oder irrationalen Charakter der Welt im Ganzen hingegen beeinflussen nicht so sehr das empirische Wissen als vielmehr die menschliche Praxis.
Heißt das Irrationale denken dasselbe wie irrational denken? Gewiss nicht. Doch wo verläuft die Grenzlinie? Offensichtlich dort, wo die vernünftige Anstrengung, die Grenzen der Rationalität zu erschließen und einen Blick auf jenes furchtbare Antlitz der Natur zu werfen, das zu nichtssagend ist, als dass es grausam genannt werden könnte, umschlägt in die Selbstanprangerung der Ratio, die angeblich nichts begreift, weil sie ›die Wirklichkeit‹ nicht anders denn als vernunftgemäß begreifen kann. Herder hat diese Grenzlinie mehr als einmal überschritten. In gewisser Hinsicht ist Goethes Naturforschung ein Versuch, Herders Dilemma durch eine Art taktischen Aufschubs zu entgehen. Einerseits ist die Frage nach dem richtigen Leben (die Kardinalfrage der praktischen Vernunft) suspendiert, solange nach den Bedingungen oder Gesetzmäßigkeiten des Lebens überhaupt gefragt wird. Andererseits ist sie stets mit im Spiel, da die Geheimnisse des Lebens auf diese Weise zu Heimlichkeiten des Lebenden werden, der seinen Bildungen das eine oder andere abmerkt, immer vorausgesetzt, er bewegt sich – wofür es keine Garantie gibt – auf der richtigen Fährte.
Die Revolution aber – und darin liegt für Goethe das Gewaltsame dieses Ereignisses jenseits aller realen Gewaltanwendung – entwertet den Aufschub: Sie erzwingt erneut jenen grüblerischen Blick auf das, was geschieht, dem mit der nicht festzuhaltenden Lebensform auch jene zweite Sicherheit schwindet, die in der distanzierten Beobachtung liegt. Goethes Revolutionsdichtungen sind Dokumente gescheiterter Versuche, die Distanz wieder herzustellen. Das gelingt erst im Meister. Dass der »Mensch keine angeborne Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen« – dieser Satz bezieht sich nicht auf die Rousseausche Idylle, nicht auf eine abgeschiedene Patriarchenwelt und nicht auf ein idealisiertes Ancien régime, also auf eine erdachte Zeit, zu der die Welt ›noch in Ordnung‹ war, sondern auf eine Welt ohne Sicherungen, in der das Schreckliche jederzeit losbrechen kann. Entscheidend ist die Distanz, die zwischen dem Geschehen und dem Beobachter liegt. Nicht der Beobachter, die Zeit schafft diese Distanz. Der Beobachter wird zum Erzähler. Die erzählte Welt aber trotzt – am Ende, versteht sich – allen Therapieversuchen. In ihr gilt der wenig apologetische Satz: Was geschieht, geschieht.