1.

Ein Gotteskrieger – whatever the case may be – in ›einem der ärmsten Länder der Erde‹ fordert die ›einzige verbliebene Weltmacht‹ heraus. Selbstverständlich wird er in dem mutwillig angezettelten Duell unterliegen. Aber alle kennen auch die Stimme aus dem Inneren, die unaufhörlich sagt, dass Hochmut vor dem Fall kommt, dass Weltreiche periklitieren und es sehr wohl möglich sei, dass hier und heute – hier hält sie inne, die Stimme aus dem Inneren, ein wenig erschrocken, denn sie weiß sehr wohl, dass alles, was sie zu sagen wüsste, im Aussprechen schal werden müsste: einerseits dem Gelächter preisgegeben aufgrund der allzu großen Disproportion zu dem, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, andererseits kaum mehr wert als ein Achselzucken, weil es den Grund der Welt berührt, der, wie man weiß, in allen Dingen derselbe ist und deshalb keine präzise Auskunft über das, was nächstens geschieht, ermöglicht.

Der ›Grund der Welt‹ ist nun keineswegs das Gegebene, sondern – ein etwas merkwürdiger Ausdruck – das Genommene, und mit dieser Wendung begibt man sich auf jenes seltsame Areal menschlicher Rede, welches das mythische genannt wird. Der Ausdruck unterstellt, dass ›im Mythos‹ anders gedacht wird als ... an der Stelle stockt die Rede ein weiteres Mal, denn an der Bestimmung dieses anderen, welches wohl das wirkliche wäre, jedenfalls die Art zu denken und zu reden, in der wir uns bewegen, wenn wir uns als wirkliche Wesen in einer wirklichen Welt ›begreifen‹, an dieser Bestimmung hat sich das Denken im Lauf der Zeit etwas müde gedacht, so dass am Ende der Ausdruck ›Etwas für etwas anderes nehmen‹ als die angemessene Formel angesehen werden kann, wenn es darum geht, den Mythos zu bestimmen. Der Mythos ›nimmt etwas für etwas anderes‹, die Geburt eines Knäbleins etwa für die Geburt des Erlösers, was, nach dem Verständnis eines späteren Zeitalters, zu jenem Zeitpunkt niemand wissen kann – abgesehen davon, dass die Welterlösung an sich als ein Vorgang gilt, über den gesicherte Auskunft schwer zu erlangen ist. Doch die Rede von einem bestimmten Zeitpunkt ist dem Mythos ebenso fremd wie die von einer gesicherten Auskunft, wenn man von dem Umstand absieht, dass in ihm von nichts häufiger die Rede ist als von gewissen Ereignissen, die immer wieder erzählt werden müssen, und von Beglaubigungszeichen, die zweifellos die Aufgabe haben, Gewissheit zu schaffen. Allerdings ficht die Gewissheit dessen, der in einer Ordnung von Zeichen lebt, denjenigen, der in einer anderen lebt, nicht im geringsten an, es sei denn, die Berührung mit der ›anderen Kultur‹ wird so stark, dass davon eine bleibende, möglicherweise durch die Isoliertheit des Eindrucks sich verstärkende Beunruhigung ausgeht.

Die Entkräftung des Mythos durch das Wissen, das heißt durch Mythentheorie, ist eine offenkundige Tatsache, ebenso offenkundig wie die immer wieder vorkommende Überwältigung der Wissenskultur durch den Mythos, der überhaupt erst als ihr Produkt ins Bewusstsein der Akteure tritt. Bei Wagner ist dieser Vorgang ebenso zu beobachten wie bei Bachofen, bei einem obskuren Denker des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, dem Klages-​Intimus Manfred Schuler, genauso wie angesichts der nicht minder fragwürdigen Theorien eines Klaus Theweleit, und man kann sich fragen, ob die Kurven bei Nietzsche wie bei den raunenden Metaphysikern der Macht, die ›von ihm herkommen‹ – eine mythische Formel, die im Wissenschaftsalltag gang und gäbe ist und sogar einen ›guten Sinn‹ ergibt – nicht in eine ähnliche Richtung deuten. In diesen Bereichen hat die rationale Kultur alle Ängste abgelegt und paktiert ungerührt mit den Mächten der Finsternis, über die sie sich einst erhob wie der strahlend neue Tag.

Die Seele des Mythos ist das Raunen. Das gilt für den Wagnerschen Mythos wie für irgendeinen, und es ergeht Wagner dabei nicht viel anders als Hölderlin: jedesmal öffnet das Raunen einer sich formierenden Wissenschaft die Zugänge. Bei Wagner melden sich die Anfänge der Mediävistik, in philosophischer Hinsicht beanspruchen die theoretisch abgespeckten, weltanschaulich hoch gerüsteten Fassungen Geltung, die Schopenhauer und Feuerbach dem deutschen Idealismus geben. Wenn im Raunen die Überführung – oder Überschreitung – rationaler Rede im Hinblick auf das geschieht, was Voltaire als Ammenmärchen aus den Kinderzimmern verbannt wissen wollte, dann tritt bei dieser Gelegenheit ein Charakteristikum rationaler Rede hervor: sie bedarf, obwohl oder weil sie nur innerhalb einer Kultur des methodisch geleiteten Zweifels existiert, des ›unbezweifelbaren Faktums‹, das zu erörtern sie als ihre wesentliche Aufgabe erachtet. Die Wissenschaftsgeschichte lehrt, dass es dieses ›unbezweifelbare Faktum‹ in den seltensten Fällen gibt, dass es sich also fast immer um eine wissenschaftliche Chimäre handelt. Es gehört zu den elementaren Besonderheiten von Wissenschaft, dass sie ihre unbezweifelbaren Fakten ungerührt kassiert, sobald der Zweifel ihrer Herr geworden ist, sprich, sobald neue – vorerst – unbezweifelbare Fakten an ihre Stelle getreten sind. Anders das Raunen, in dem solche ›Fakten‹ ein erstaunlich zähes Fortleben haben können, und das mit einem gewissen Recht: die Tatsache, dass ›die Wissenschaft‹ immer schon weiter ist, schafft in einem wissenschaftsgeprägten Alltag die Notwendigkeit stabilerer Denklagen, weil die primäre Weltorientierung danach verlangt – das ›Volk‹ will es nicht nur ›sinnlich‹, wie Wagner mit Blick auf den Mythos und seine Funktion im Gesamtkunstwerk postuliert, es will es auch ›abstrakt‹, soll heißen, es will ein ›Grundwissen‹, an das es sich halten kann, insbesondere natürlich ›in Zeiten wachsender Ungewissheit‹ – auch das, am Rande sei es bemerkt, eine mythische Formel.

Das Raunen über den Mythos vom Hort mitsamt seiner halsbrecherischen Ineinssetzung der germanisch-fränkischen Herrscherhäuser (bis hin zum unglücklichen Konradin, in dem die Genealogie der Nibelungen erlöschen darf, um dem schachernden dynastischen Typus der Capetinger und ihrer Nachahmer in Europa Platz zu machen) – dieses Raunen steht am Anfang einer biographischen Bewegung, an deren Ende nicht nur der realisierte Ring, sondern auch ›Bayreuth‹ steht, die Stein und Programm gewordene Idee einer nationalen Weihestätte hinter den sieben Bergen, weit entfernt vom Zivilisations- und Industriequalm. Wagner stimmt sich ein, und es ist ein auffälliger Zug in der Verwirklichung dieses Lebensprojekts, dass es von Anfang an die Doppelstruktur exzessiven Gebens und Nehmens besitzt: die völlige Selbstverausgabung des Künstlers ist an Bedingungen geknüpft, deren Realisierung schon die rara avis eines exzentrischen Wittelsbachers voraussetzte: im Grunde ein beeindruckender Potlatsch, an dem der Musikbetrieb heute noch seine Freude hat und den zu wiederholen er unaufhörlich strebt.

Wie man sieht, besitzt das Raunen die wunderbare Eigenschaft, Wirklichkeit zu schaffen, und wenn in der Formel, das Volk verlange nach sinnlicher Anschauung, die Wagner in seiner Begründung für die Revision des ersten Siegfried verwendet, so etwas wie ein leises Bedauern über den nicht zu brechenden ›Realismus‹ der mit Kunst- und Wissenschaftsdingen nur am Rande befassten ›Leute‹ mitschwingt, so lässt sich doch nicht überhören, dass eine der Eigenschaften des Raunens in diesem unaufhaltsamen Fortsprechen liegt, das immerfort neue Anknüpfungspunkte in der sogenannten Realität der sogenannten Leute sucht und auch findet. Das Fortsprechen auf der Grundlage ›unbezweifelbarer Realitäten‹ ist das Erfolgskonzept des Raunens schlechthin und einer der stärksten Gründe für die Macht des mythischen Denkens über halbwegs aufgeklärte Gemüter. ›Unbezweifelbare Realität‹ ist der Gegenmythos der verderbten Kapitale des modernen Lebens, die bei Wagner wie fast immer in seinem Jahrhundert Paris heißt und die er mit Worten geißelt, an denen neuerdings jeder religiös motivierte Fundamentalist seine Freude hätte – eine wirkliche Goldader und einer der Ermöglichungsgründe für den Erfolg der eigenen Sache. Aber ›unbezweifelbare Realität‹ ist natürlich auch der nationale Mythos, das Faktum brutum des Nibelungenmythos, über dessen Details zu streiten das Beste ist, was dem auslegenden Künstler passieren kann, weil es zeigt, dass und wie sein Weizen blüht.

Es gibt, wenn man von der Wissenschaftskultur einmal absieht, zweierlei Raunen: das eine gilt dem, ›was die Spatzen von den Dächern pfeifen‹, wie der unübertreffliche Ausdruck lautet, also dem, was jedermann weiß, das andere dem, was jedermann wissen könnte, wenn ... nun, wenn ihm nicht die Verderbtheit der Sinne oder des modernen Lebens oder der falschen rationalen Kultur das innere Gehör verstopfte. Wenn das eine, als reine Einstimmung in eine unbestimmte Allgemeinheit, das Herz leicht macht und den Witz beflügelt, so erzeugt das andere ein Gefühl der Beklommenheit, das sich bis zu finsterer Aggression steigern kann. Das erste erzeugt aus der Retorte des allgemeinen Bewusstseins den Helden, das zweite den Fanatiker. Siegfried versteht die Sprache der Vögel, sobald er den Drachen erschlagen hat, und sie sagen ihm, er sei ein Held. Alberich wiederum, den die Frustration über die Spiele der Rheintöchter hellhörig gemacht hat, vernimmt aus ihrem Munde die Sprache des Goldes, die er sogleich besser versteht als jeder andere. Jedenfalls versteht er sie besser als Siegfried, der den Ring erst verschenkt und später die Todeswarnung der Rheintöchter in den Wind schlägt.

Die zweite Szene im dritten Aufzug der Götterdämmerung zeigt Siegfried auf der Höhe seiner Verblendung: die Rheintöchter haben ihm, wie er lachend seinen Verfolgern erzählt, den Tod geweissagt, und er berichtet es unbekümmert weiter:

Auf Waldjagd zog ich aus,
doch Wasserwild zeigt sich nur.
War ich dazu recht beraten,
drei wilde Wasservögel
hätt ich euch wohl gefangen,
die dort auf dem Rhein mir sangen,
erschlagen würd ich noch heut’.

Warum behält er die Weissagung nicht für sich? Seine Rede wirkt überheblich, so als wolle er sich brüsten oder einen lästigen Anflug von Beklommenheit abschütteln. Hingegen spart er, als ihm dank Hagens Nachhilfe die Erinnerung wieder kommt und er den erstaunten Jagdbrüdern von seiner erfolgreichen Werbung um Brünnhilde erzählt, die Episode mit dem Wanderer aus: Warum?

Auf dieses doppelte Warum möchte ich die Aufmerksamkeit lenken. Es gilt dem Raunen aus der Tiefe wie, nun, nicht gerade dem Raunen aus der Höhe, wenn es das denn gäbe, sondern dem umgebenden Raunen, dem Gerede, das sich im unverbindlichen Hier und Da der Vögel anschaulich darstellt. Das Gerede, wir wissen es, reizt den jugendlichen Helden zu Taten, es macht ihn erst eigentlich zu dem, was er war, ist und sein wird, soweit es ihm selbst fasslich werden kann. Die Rede der Rheintöchter bleibt ihm dagegen verschlossen. Der Sinn dieser Rede ist aber unverhohlen und unzweideutig: Nicht nur, dass sie ihm den Ring abfordern – da ließe er mit sich reden –, sie wollen auch noch, dass es aus der rechten Gesinnung heraus geschieht. Siegfrieds Weigerung, den Fluch des Nibelungen überhaupt zur Kennntnis zu nehmen, geschweige denn, ihn zu sühnen, ist der Kern dieser Szene, gerade ihn verschweigt der Bericht, den er von ihr gibt. Seine Redseligkeit ist demnach hier wie dort keineswegs grenzenlos. Was er – in beiden Fällen – verschweigt, bleibt sein Geheimnis, das er sinnigerweise mit ins Grab nimmt.

 

2.

Wir stoßen hier, dies beiseite, auf eine interessante Spur, denn das schroffe Gegeneinander des ›Geredes‹, das im ›Man‹ seinen Ursprung habe, und der existenziellen ›Entscheidung‹ gehört zum Grundinventar einer von Heideggers Sein und Zeit herkommenden Denkschule, und die den Ring durchziehende Suggestion, beides sei auf vielfältige Weise miteinander verquickt, könnte helfen, Heidegger als einen schlechten oder unaufmerksamen Wagner-Adepten zu entlarven – oder auch, anders herum, als einen höchst aufmerksamen Zuhörer. Doch das sind schon Weiterungen. Warum empfindet Siegfried das Raunen aus der Tiefe als zweideutig, ganz im Gegensatz zum Gesang der Vögel, der diesen Verdacht weit eher provozieren könnte? »... ich geb ihn euch«, antwortet er ihnen, »gönnt ihr mir Lust. / Doch bedroht ihr mir Leben und Leib: (...) / den Reif entringt ihr mir nicht!« Die als Entscheidung maskierte Unfähigkeit, sich vom Ring zu trennen, ist also unmittelbar mit dem sexuellen Begehren verknüpft, das auf der Gegenseite nur zwei modi operandi zu registrieren bereit ist: ›Lust‹ und ›List‹.

Zur Lust aber, das lehrt der Weg der wiederkehrenden Erinnerung, führt der Gesang der Vögel, der ihm im Zustand des Vergessens nur wie ein »Gelall« erschien. Auf diesem Weg ist die Erscheinung des Wanderers eine Erscheinung ›aus einer anderen Welt‹, die beiseitegeräumt werden muss und zu ihrem eigenen nicht geringen Erstaunen beiseitegeräumt wird: die wahre, die verborgene Tat des Helden, das Zerbrechen des Speers, der die göttliche Weltordnung ›garantiert‹, bleibt dem Helden notwendigerweise selbst verborgen. Notwendigerweise deshalb, weil die absolute Dominanz des Begehrens, die »Brunst«, wie der Text das nennt, nichts anderes zulässt. Der ›arglose‹ Held, der die moralische Weltordnung umstürzt, weil er sie nicht kennt, die unschuldige ›Bestie‹, deren Handeln a-moralisch ist bis in die Verästelungen ihrer Wahrnehmung hinein, das ›spielende Kind‹, dem die Welt ausschließlich zum eigenen Ergötzen dient, das ganze Repertoire der Vorstellungen, die sich mit dieser Figur verbinden, ist ein Geschöpf des Geredes, und dies gilt augenscheinlich nicht nur für den Wagnerschen Text, sondern für die Auslegung, die den Unterschied von Text und Sache absichtsvoll verwischt. Wir haben nicht die Welt, wir haben nur Interpretationen, deren jede die Machtfrage stellt: Wer so redet und schreibt, der bleibt in der Welt des Mythos oder des Geredes befangen, er repetiert sozusagen die Situation Siegfrieds. Nur der zerbricht den Speer, der von der Sache nichts weiß.

Aber lässt sich das Nichtwissen so weit treiben, dass es die Erzählung nicht nur um eine Dimension, sondern um eine wirkliche Episode verkürzt? Kann die Arglosigkeit es so weit treiben, dass sie zur groben Verfälschung, zur Lüge tendiert? Gibt es eine verhüllende Rede ohne Verhüller? Zweifel daran sollten erlaubt sein. Andererseits fällt es schwer, Siegfried, so wie Wagner diese Figur konzipiert, als Trickster einzustufen. Es sollte also ein Mechanismus zu finden sein (vorausgesetzt, die Auslassungen sind in der Sache hinreichend motiviert), der beides zusammen ermöglicht: die Arglosigkeit des Sprechens und das Aussparen des Wesentlichen. Ein solcher Mechanismus existiert zweifellos, es ist die Scham: eine anthropologische Größe von nicht zu unterschätzender Komplexität.

Scham spielt in fast allen mythischen Erzählungen eine bedeutende Rolle, sie findet sich am Ursprung der rhetorischen Figuren, in denen wie in Metapher und Metonymie eines für ein anderes einsteht. Siegfrieds unbedingtes sexuelles Streben könnte gut zu dem Umstand passen, dass normalerweise Scham sexuell konnotiert ist. Das Verschweigen des Vorgefallenen, das obsessive Von-etwas-anderem-Reden erhält ein eigenes Leitmotiv durch den Gesang der Vögel, der Gesicht und Gehör des Helden in einen partiellen Gegensatz bringt: Solange er hörend vorwärts dringt, hat alles, was sich ihm ›in den Weg stellt‹, die Qualität des Hindernisses, das um jeden Preis beiseitegeräumt werden muss; der erste zu entrichtende Preis ist aber die Blindheit gegen das Eigenrecht, das dem Hindernis innewohnt.Das wäre jedoch eine seltsame Scham, welche die Obsession ›schamlos‹ preisgibt und die eigentliche ›Mutprobe‹, um die es sich in beiden Fällen handelt, verschweigt.

Siegfried der Erzähler, soviel wird deutlich, steht im Bann des Geredes, das ihn in das Heldenschicksal hineinlockt und ihm den Weg weist. Dass Hagen ihn reizt, diese Rolle zu geben, versteht sich mit Blick auf den Ausgang der Szene von selbst: er weiß, was die Spatzen pfeifen, und er kennt das Ende vom Lied. Und ihm ist das sehr bewusst, was man die ›Verblendung‹ des Helden nennt; schließlich brüstet er sich, sie selbst herbeigeführt zu haben. Die Frage ist aber, ob er sie richtig taxiert: Was er dafür hält, ist nur der reale Gedächtnisverlust, also ein handlungstreibendes Element. Die Handlung ist aber die Ausfaltung dessen, was als Heldenlos in dem Medium der Allgemeinheit, das einerseits ›Gerede‹, andererseits ›Gesang‹ genannt wird, Aspekte der Zeitlosigkeit und der Ubiquität gewinnt. Siegfrieds ›Verblendung‹ besteht in jener ›schamlosen Scham‹, die mit dem Herkommen und damit der eigenen Herkunft nur den Widerstand ›alter Männer‹ und mit der Zukunft nur ›Erfüllung‹ zu verbinden weiß und alles abwehrt, was auf einen größeren Zusammenhang deutet, also auf eine Form der Bettung des Geschehens, die das, was ›der Vogel singt‹, noch interpretiert: die ›Arglosigkeit‹, falls dies überhaupt der richtige Ausdruck sein sollte, gegen Hagen und gegen die Rheintöchter ist von der gleichen Art.

Jedermann kennt sie, die Anmutung aus der Tiefe, das beklommene Innewerden dessen, dass es so nicht weitergehen kann, dass es ›böse ausgehen‹ wird, etc., und es ist bezeichnend, dass an Siegfried keine scharf umrissene Aufforderung zur ›Umkehr‹ ergeht, die den Vorgang in einen stoisch-christlichen Kontext rücken würde, sondern ›Entscheidung‹ in einem weit simpleren Sinn von ihm verlangt wird, als ein Sich-Scheiden-von, als ein Weggeben, das natürlich ein partielles Sich-Weggeben impliziert, um ›die eigene Haut‹ zu retten. Darin oder dahinter steckt ein weniger simples Motiv, die Aufgabe der eigenen Identität, des jeweiligen Way of Life, um eine neuerdings wieder mit Emphase zitierte Vokabel zu benutzen. Es ist aber nicht so einfach, diesen Zusammenhang auszusprechen, und viele Leute empfinden es einfach als ›obszön‹. Wir hätten hier also, wenn schon keine Erklärung, so doch ein Motiv für Siegfrieds Scham, die sich im Verschweigen artikuliert. ›Besser, man redet darüber nicht‹: sinnigerweise taucht in dieser Phrase das Man wieder auf, diese redselige Instanz. Offenbar hat die Redseligkeit Grenzen, und offenbar liegen sie dort, wo eine andere Rede beginnt, die man nicht vorschnell die ›heilige‹ nennen sollte. Natürlich geht die Differenz in diese Richtung. Die Scheu vor dem Heiligen ist ein starkes Movens, doch gibt es da Unterschiede. Brünnhilde zum Beispiel, über die Notlage der Götter informiert, reagiert auf ihrem Felsen zwar ebenfalls ›verblendet‹, aber ihre Rede fasst die Situation anders als Siegfried, wenn sie sagt:

Welch’ banger Träume Mären
meldest du Traurige mir!
Der Götter heiligem
Himmels-Nebel
bin ich Thörin enttauscht:
nicht fass’ ich, was ich erfahre.
Wirr und wüst
scheint mir dein Sinn...

Nur ist Brünnhilde als Wotanstochter anders im Bilde, und sie sieht sich nicht aufgefordert, sich, sondern den Göttern zu helfen – was sie ablehnt, solange sie den Ring als Unterpfand ihrer Liebe ansieht. Siegfried wiederum trägt keine Scheu, sich gegenüber den Rheintöchtern klar zu artikulieren; seine Scheu, wenn man sie so nennen darf, gilt am ehesten dem Bewusstsein des eigenen Todes, das er aus jenem Gespräch davonträgt, und zwar nicht, weil es ihm vorher fehlte, sondern weil das Gespräch ihn gezwungen hat, sich ihm zu stellen: »Denn Leben und Leib – / seht! – so / werf ich sie weit von mir! (Er hat eine Erdscholle vom Boden aufgehoben, und mit den letzten Worten sie über sein Haupt hinter sich geworfen.)« Aber, so muss man hinzufügen, diese Scheu hindert ihn nicht daran, die Todesprophezeiung in seinem Bericht zu erwähnen: sie schlägt in Trotz um, sobald sie sich artikuliert.

Die Scham, die Siegfried zum Verschweigen der Episode mit dem Wanderer und seiner Weigerung, sich vom Ring zu trennen, bringt, müsste, wenn sie ein und dieselbe ist, auch ein und dieselbe Ursache haben. Das ist zwar kein logisch korrekter Schluss, wohl aber ein Schluss, wie er im Mythos – und im Wagnerschen allemal – gang und gäbe ist. Beide Male – das ist leicht zu sehen – geht es um das Weltregiment, um die Weltordnung, und beide Male – das ist nicht die Sicht des Helden, aber die des Zuschauers – stört das Handeln des Helden die Weltordnung und leistet damit ihrer schließlichen (wie immer man das Ende der Götterdämmerung einschätzen mag) Aufhebung Vorschub. Was der Wanderer redet, was die Rheintöchter prophezeien, es kann ihn nicht aufhalten, es kann ihn nicht einmal ›zum Nachdenken anregen‹, wie man das so sinnig nennt, es erfüllt ihn mit einer Aversion, der sich die Erleichterung beimischt, dass diese Stimmen von außen kommen und also als äußere Widersacher bekämpft werden können. Dieser Vorteil würde durch den Bericht zunichte; die Reaktion der falschen Gefährten würde ihn unmittelbar darüber aufklären, dass diese Stimmen dem eigenen Inneren, dem eigenen Abgrund entsteigen – darum unterbleibt der Bericht. An diesem Punkt kommt die Arglosigkeit des Helden an ihr Ende und Wagner muss das gewusst haben: er braucht die beiden vorgängigen Szenen und er braucht den Bericht; was er nicht braucht, ist die Ausbreitung dessen, worum es in allen drei Szenen, die Todesszene eingeschlossen, in Wahrheit geht oder gehen soll: das Spiel um die Weltherrschaft.

Natürlich ist dies die Wahrheit des Mythos, so wie er von Wagner konstruiert wurde. Übrigens tritt das Motiv der Weltherrschaft am eindringlichsten, um nicht zu sagen am krassesten in der Abhandlung über die Wibelungen vom Sommer 1848 hervor, die im Untertitel eine Weltgeschichte aus der Sage verspricht. Wie immer man das Verhältnis der dort ausgebreiteten Vorstellungen zum fertigen Ring ansetzt, eines bleibt unübersehbar: Das nationale Weihespiel wird in der Verbindung der ›echten‹ fränkischen Herrscherhäuser zur Nibelungensage vorgedacht, und hier wie dort ist der Griff nach der Weltherrschaft das eigentliche Movens des Geschehens. Siegfrieds ›Scham‹ enthält die Weigerung, diesen Griff zu thematisieren. Übrigens verhält er sich darin kaum anders als sein Gegenspieler Hagen, dessen Treue zum Vater allerdings bis zum Schluss nicht getestet wird. Anders als im Falle Hagens kommt für Siegfried ein Aufschub nicht in Betracht: seine Weigerung ist definitiv, das heißt, sie enthält in sich den eigenen Tod wie diejenige Hagens den Tod des anderen.

Damit wird die Lebensspanne des Helden zwischen dem Zerbrechen des Eschenspeers und seinem Ende zum Welt-Interregnum: Wotan, gelähmt im Kreise der Seinen inmitten des aufgeschichteten Scheiterhaufens sitzend, der sie alle ins Nirwana befördern wird, ist ein groteskes, ein irrwitziges Bild für diesen Sachverhalt – übrigens auch ein Gegenbild zum Mythos von Barbarossa, der im Untersberg den Zeiten entgegendämmert, in denen er wieder gebraucht wird. Die Verweigerung der Entscheidung gibt dem Bösen Raum, sie stabilisiert aber auch einen Weltzustand, in dem es allen Unkenrufen zum Trotz ›immer weiter‹ geht. Die Macht des Ringes besitzen und sie nicht gebrauchen: diese Verschmelzung von höchster Torheit und Weisheit hat die Phantasy-Schreiber nicht ohne Grund zu immer neuen Erfindungen gereizt. In gewisser Weise entsteht das Phantasy-Genre aus einer kleinen Korrektur Wagners, insofern in ihm dem furchtlos-naiven Helden der wissend-gütige Magierfreund an die Seite gestellt wird. Entsprechend relativiert und banalisiert sich in diesen Geschichten die Macht der Liebe – ob man darin einen gesteigerten Realitätssinn erkennen darf, bleibe dahingestellt. Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Wenn Scham das menschliche Element darstellt, das universale Freiheit von universaler Tyrannei unterscheidet, dann bildet sie ein allzu schwaches Band, um letztere zuverlässig zu verhindern, hingegen ein zu starkes Band, als dass letztere sich dauerhaft einrichten könnte: gerade recht also, um zuzulassen, dass sich die wirklichen Herren des Planeten so auf ihm bewegen dürfen, wie es ihnen beliebt, sofern sie den Tod, getarnt als Unfall oder als Attentat, nicht fürchten oder erfolgreich verdrängen.

 

3.

Sofern sie den Tod nicht fürchten: dieses Siegfried-Motiv muss insofern in den Gang der Überlegung eingehen, als die Scham, dieses Sehen-Nichtsehen mitsamt seinen zugehörigen Äußerungsformen, hier zu einer Korrektur zwingt. Auch die Furchtlosigkeit ist Teil des Geheimnisses, das der Held mit ins Grab nimmt. Jede angebotene Begründung greift angesichts der Texte zu kurz: die Furchtlosigkeit des Helden ist sein eigentliches Erbteil und Teil jener ›Arglosigkeit‹, welche die Verblendung enthält wie eine Matrjoschka-Figur die nächste. Sie ist der provokanteste Teil seines Wesens, derjenige, der seiner Umgebung die Scheu auferlegt, aus der die Tat eines Hagen ebenso hervorgeht wie die etwas schwachsinnige Anhänglichkeit eines Gunther. Siegfried will den Tod nicht fürchten – das ist ein seltsamer Wille und ein seltsamer Entschluss, der die Welt in zwei Hälften teilt: die Welt derer, die sie furchtlos durchstreifen und die Herren sind, ohne zu herrschen, und die Welt derer, denen die Furcht die Mittel in die Hand gibt, sich dieser Herren von Zeit zu Zeit zu entledigen. Furchtlosigkeit und Scham gehören zusammen, wer sie zu trennen versuchte, hätte schon auf die eine oder andere Seite Verzicht geleistet. Je nachdem, ob man an der Scham mehr die Reflexionshemmung oder das zwanghafte Von-anderem-Reden herausstellt, ergibt sich ein anderes Bild: die nachgelieferte Reflexion ergänzt das Symbol des mythischen Helden zur ›Person‹, die Korrektur seiner verschweigenden Rede löscht das Bild des Helden aus wie Hagens Speer seine Existenz. »Errätst du auch / dieser Raben Geraun’«, fragt letzterer mit griffbereitem Speer, »Rache rieten sie mir!« (3/2)

Ein kleines, höchst bezeichnendes Ritual eröffnet in dem Prosa-Entwurf Der Nibelungen-Mythus die Todesszene. »Er vernimmt die näher kommenden Jagdgenossen«, heißt es da, »und stößt in sein Horn: die Jäger, – Gunther und Hagen an ihrer Spitze, – versammeln sich um Siegfried.« Man kennt dieses Ritual zur Genüge aus den Schriften von René Girard: es enthält, nach seiner Lesart, die Urszene der Kultur, den kollektiven Gründungsmord. Die Mörder schließen den Kreis um ihr Opfer. Ich habe mich mit dieser Theorie an anderer Stelle eingehend auseinander gesetzt und möchte nur darauf verweisen, dass die Ring-Szene insofern vom Girardschen Schema abweicht, als Gunther vor Hagens Tat Siegfrieds Unschuld erkennt und dem Mörder in den Arm zu fallen versucht. Im entscheidenden Augenblick wandelt sich die Kollektivtat in die Tat eines einzelnen, der anschließend keine Scheu trägt, sich vor Gutrune als Mörder ihres Gatten zu bekennen.

Auch diese Variante ist bei Girard vorgesehen: sie gehört zu den nachträglichen Zurichtungen des Gründungsgeschehens, das ja nur in der Überlieferung durch den Mythos präsent ist, das heißt in Texten, in denen die Apotheose des geopferten Helden im Mittelpunkt steht. Das geschieht im Ring ganz unverkennbar, dennoch liegt die Pointe des Rings nicht im Gründungsgeschehen – wie es dem »Weihespiel« eigentlich zukäme –, sondern darin, dass eine Ordnung zugrundegeht. Das lässt daran denken, dass die Neugier, die hinter kulturellen Ursprungsgeschichten greifbar wird, sich gewöhnlich weit weniger intensiv auf die Ursprünge der eigenen, gewussten Kultur richtet als auf die Ursprünge erloschener Kulturen, deren Gründungsimpuls allenfalls in mythologischen resp. liturgischen Texten greifbar wird, sofern man ihm nicht in sprachlosen ›Kulturzeugnissen‹ nachspüren muss. Das ›Rätsel der Azteken‹ ist in gewisser Weise das Rätsel aller Kulturen, an deren Stelle die jeweils als ›eigen‹, jedenfalls als offen und von innen zugänglich empfundene Kultur getreten ist. Seltsamerweise gilt gerade dieses Rätsel als geeignet, die als banal empfundenen Bestimmungsstücke der eigenen Kultur um jenen Faktor x zu ergänzen bzw. zu erweitern, der sie von ihrer Banalität erlöst und geeignet erscheint, jene gewisse Leere zu eskamotieren, die sensible Leute angesichts des Umstandes empfinden, dass alle Wege gebahnt und alle Verständigungs- wie Verständnisleistungen kodifiziert sind, solange man sich innerhalb einer als vollständig funktionalisiert empfundenen Gemeinschaft bewegt. Ästhetisch gesehen, gilt das Beharren auf den Ursprüngen der eigenen Kultur als geschmacklos, als latent terroristisch. Das ästhetische Programm lautet: nur auf dem Umweg über die Ursprünge anderer, in der Regel älterer, durch die Berührung mit der eigenen Kultur vernichteter oder gefährdeter Kulturen kann es gelingen, derjenigen Elemente des eigenen Lebens habhaft zu werden, die es aus seiner unglücklichen Position relativ zur Allgemeinheit zu erlösen imstande sind.

Es scheint fast, als ob sich die Ring-Konzeption von den deutschtümelnden Anfängen weg auf ein solches mit Vorsicht ›modern‹ zu nennendes Konzept zubewegt. Die Fremdheit der Nibelungen-Welt wird seltsamerweise durch die sinnlich-sinnfällige Ausformung gesteigert, die aus der Siegfried-Tragödie ein monumentales Welterlösungsspektakel entstehen lässt. Mit jedem weiteren Explikationsschritt geht eine partielle Sinnverdunkelung einher, weil die Kunst-Mythe den logisch-rhetorischen Ort verdeckt, an dem in einer auf die Ratio verpflichteten Gesellschaft Sinn entworfen wird. Die intendierte restlose dramatisch-erzählerische ›Umsetzung‹ des Entwurfs entspräche einer vollständigen Verdunkelung des ›Gemeinten‹, insofern die Sinnfrage immer nur neue Erzählungen provoziert. Die Nibelungen-Welt entfremdet sich dem Zuschauer-Zuhörer in dem Maße, in dem sie auf Nur-Erzähltes verweist. Das ist kein singulärer Zug und schon gar kein marginaler. Gegen das uferlose Erzählen hilft nur Vergessen. Wenn also Siegfried erzählend ›vergisst‹, was ihm widerfuhr, und zwar just in der Erzählung, die ihm die wieder einsetzende Erinnerung in den Mund legt, dann vergisst er auf ›bedeutungsvolle‹ Weise die Elemente, auf denen – vor dem Hintergrund dessen, was man cum grano salis mit Blick auf Walhall die »göttliche Weltordnung« nennen kann – seine Existenz und seine ›Sendung‹ aufruhen. Das Vergessen schafft Raum für Interpretationen. Das gilt im persönlichen wie im gesamtkulturellen Zusammenhang, und es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses Vergessens, dass es jederzeit, wenn die Situation es erfordert, revidiert werden kann, genauer, immer schon revidiert ist. Die fremd gewordene, die dem kulturellen Bewusstsein artifiziell entfremdete Ringparabel bietet sich in ihrer Gänze als Interpretation des Bewusstseins in seiner Kultur an, und dieses Angebot wird nicht nur angenommen, es dient seinerseits als Grundlage interpretatorischer Aktivitäten.

Darin liegt übrigens ein wesentlicher Unterschied zu Lessings Ringparabel, die von der Konkurrenz der Kulturen handelt, die alle ihrem Vater-Gott folgen, obwohl oder weil sie um die verwandtschaftlichen Beziehungen wissen. Lessings Ringparabel kennt kein Vergessen, sie protestiert energisch gegen den Gedanken der Fremdheit und sie beharrt darauf, dass der ursprüngliche Vorgang sich dem rekonstruierenden Zugriff entzieht. Es ist geradezu seine Pflicht, sich zu entziehen, damit es möglich wird, zu handlichen und handhabbaren Regelungen zwischen den Kulturen wie in ihrem internen Verkehr zu gelangen. Davon ist Wagners Ring weit entfernt, er setzt die Geltung der säkularen Verkehrsformen voraus, um deren Herstellung es dem Aufklärer ging. Das im Ring allgegenwärtige Wissen um die unaufhebbare Fremdheit, sprich: Redundanz des Individuums wie ganzer Kulturen inmitten der machtgeschützten Äußerlichkeit dieser gesetzten Verkehrsformen ist in Siegfrieds Vergessen (das ja nur sein Vergessen ist und also eines, das den Hörer ununterbrochen erinnert) ebenso präsent wie in seiner Scham. Die konstitutive Unfähigkeit des Subjekts, sich als Ganzes und im Ganzen präsent zu sein, die das Vergessen virtuos interpretiert, findet ihren adäquaten Ausdruck in der Scham. In der Scham wird die phänomenale Unmöglichkeit, sich unmittelbar zum Ganzen zu verhalten, ihrerseits unmittelbares Verhalten: sie ist daher ebensosehr spontane Verhaltung wie zeichenhafte Handlung.

 

4.

›Das Rätsel der Azteken‹ – dieser den Kinderzimmern entlehnte Ausdruck sollte daran erinnern, dass es auch eine Leyenda negra der Alten Welt gibt. Es wäre eine vergröbernde Vorstellung zu glauben, in dieser Weltregion seien die Conquistadoren und ihre Opfer identisch gewesen. Dagegen spricht schon eine notorisch ›rätselhafte‹ Erscheinung wie die Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit. Immerhin sind auch letztere geeignet, daran zu erinnern, dass die Lösung des Rätsels nicht im Zusammensetzen des Puzzles besteht, das einen darüber belehrt, wie die Handelsströme verliefen und mit Hilfe welcher frühen Ingenieurskünste die übriggebliebenen Monumente einer Kultur zusammengefügt wurden. Das Rätsel, das diese vormodernen Kulturen aufgeben, lautet: Wie definieren sie ihre Opfer? Unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Bedingungen wird in ihnen getötet? Der Mord, auf den sich die Herren der Nibelungen-Welt einigen, verdankt sich dem Ressentiment – man weiß, wie Nietzsche auf dieses Motiv reagierte und welche weitreichende Auslegung er ihm angedeihen ließ. Was Nietzsche nicht sah und nicht sehen wollte, ist der Umstand, dass die Gegenwelt der Starken und die Welt des Ressentiments ein und dieselbe sind, dass also die einschlägigen Weltenwenden sich weitgehend unter Theaterdonner vollziehen. Wagner geht weiter als Nietzsche: in der Götterdämmerung erlischt eine Welt, um einer anderen Platz zu machen, die ihr in den wesentlichen Bestimmungsstücken gleichen wird. Das Erlöschen trifft die Akteure, nicht die zu vergebenden Rollen. Die Komödie der Auferstehung, die er seinem Siegfried verständnisvollerweise verweigert, findet im Morgengrauen statt oder im phylogenetischen Prozess: der Held schlägt im Helden die Augen auf. Die Seele des Mythos ist der Tod.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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