1.

Zu den bizarrsten und zugleich eindrucksvollsten Passagen im nachgelassenen Teil von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften gehören die fragmentarischen Entwürfe, in denen Clarisse die Befreiung des Frauenmörders Moosbrugger aus der Irrenanstalt betreibt. Clarisse zählt zum engen Kreis der Hauptfiguren des Romans. Die Lebensgefährtin Walters ist eine hitzige Nietzsche-Adeptin: im Verein mit Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, ergibt das eine Dreier-Konstellation, deren Spannung sich, bei fortschreitendem Romangeschehen, mehr und mehr in szenischen Gewittern entlädt. Nicht von ungefähr weisen die Fragmente, die um die Befreiung Moosbruggers kreisen, sowohl einen intellektuellen als auch einen pathologischen Bezug auf.

Ausführen soll die Tat Ulrich. Es existiert eine Fassung aus den Jahren 1923/25, in der das Unternehmen misslingt und der Patient fortan in strengeren Gewahrsam genommen wird. In später geschriebenen Passagen befindet Moosbrugger sich aber auf freiem Fuß. Er begeht sogar einen weiteren Mord, so dass an der Absicht des Autors, an die Stelle des misslingenden Ausbruchs den gelingenden zu setzen, nicht gut zu zweifeln sein dürfte, wenn – wenn nicht im Dickicht der späten Entwürfe der Zweifel und die Zurücknahme selbst bereits zu den entscheidenden Werkzeugen geworden wären, mit deren Hilfe der Erzähler seine Route bestimmt.

Doch warum betreibt Clarisse die Befreiung Moosbruggers mit solcher Inbrunst? Die Frage muss zunächst an den Romantext zurückgereicht werden: Wie begründet Clarisse ihren Wunsch? Welche Momente ergeben sich aus ihrem Charakter und ihrer Verstrickung in die Romanhandlung? Welche – eventuell unbewussten – Absichten verbindet sie mit der Befreiung? In der Musil-Literatur sind dies gängige Themen. Neben ihnen aber erhält sich die weitergehende Frage nach dem Motiv der Befreiung, seiner Herkunft und dem Grund seiner Wirksamkeit. Ihr seien die folgenden Überlegungen gewidmet.

Sieht man etwas näher hin, so bemerkt man, dass der Terminus ›Befreiung‹ das Motiv nur ungenau trifft. Der mutmaßlich geistesgestörte Mörder ist zum Zeitpunkt der geplanten Tat Insasse einer psychiatrischen Anstalt. Die Vorstellung, die sich Clarisse von ihm gemacht hat, entstammt keiner persönlichen Loyalität und hat wenig mit der von ihr gelegentlich geäußerten Überzeugung zu tun, es könne sich bei ihm um das bedauerliche Opfer eines Justizirrtums handeln. Der Moosbrugger, um den es ihr geht, ist niemand anderes als der verrückte Mörder, und die idée fixe, der gemäß sie agiert, gilt weniger der Befreiung einer im Grunde schuldlosen Kreatur als vielmehr der Entfesselung des Tatmenschen, des Tiers, wie sie sagt, das in jedem von uns lauert, auch wenn es nur im erbärmlichen Treiben eines Sexualverbrechers zutagetritt. Es lässt sich zeigen, dass das Motiv der Entfesselung (das naturgemäß mit dem des Gefesselten in engem Bezug steht), längst bevor es in Musils Romanwerk eingeht, in einem weiten europäischen Kontext zu Fülle und Prägnanz gelangt. Dieser Kontext ist epochal: Er wird bestimmt durch eine literarische Kultur, in der sich alles weitere aus dem napoleonischen Grundsatz ableitet, dass die Politik das Schicksal sei – oder die Ökonomie, wie der Industrielle und, nach dem Wort Musils, ›Großschriftsteller‹ Walter Rathenau ergänzend formuliert. Im Lauf dieser Epoche lädt sich das Entfesselungsmotiv mit Bedeutungen auf, die den Gedanken nahelegen, es als Reflexionsfigur einer mit den – eingebildeten oder wirklichen – Folgeproblemen der Französischen Revolution rechnenden Moderne zu begreifen. Dem gilt dieser Versuch.

 

2.

Warum Clarisse? Clarisse ist, wenn es erlaubt sein darf, eine summarische Charakteristik dieser fein facettierten Romangestalt zu geben, eine Hysterikerin im Geiste – eine Hysterika, um den Ausdruck Otto Weiningers zu gebrauchen, dessen Bestseller Geschlecht und Charakter sie gelegentlich entsprungen zu sein scheint. Weininger schließt sich ausdrücklich an Freud an, wenn er den Ursprung der weiblichen Hysterie (und er lässt prinzipiell keine andere gelten) in ein sexuelles »traumatisches« Erlebnis verlegt und dekretiert:

eine Frau, die irgend eine sexuelle Wahrnehmung oder Vorstellung gehabt, sie durch ursprüngliche oder Rückbeziehung auf sich selbst verstanden hat, und nun, vermöge der ihr aufgedrungenen und von ihr gänzlich übernommenen, in sie übergegangenen und ihr waches Bewusstsein allein beherrschenden männlichen Wertung

– welche in der ethisch-negativen Bewertung der Sexualität besteht –

als ganze zurückweist, über sie empört, unglücklich ist – und sie gleichzeitig vermöge ihrer Beschaffenheit als Weib positiv wertet, bejaht, wünscht in ihrem tiefsten Unbewussten; in der dann dieser Konflikt weiter schwärt, gärt und zu Zeiten in einem Anfall aufbraust: eine solche Frau gewährt das mehr oder minder typisch gewordene Krankheitsbild der Hysterie.

»Die hygienische Züchtigung für die Verleugnung der eigentlichen Natur des Weibes« – so Weiningers prägnante These – »ist die Hysterie.« Die Hysterika habe sich zu tief mit dem männlichen Wertekomplex eingelassen, in dem der Geist obenanstehe, um ihrer sinnlich-weiblichen Natur »möglichst freien Lauf lassen zu wollen« und – offenbar – zu können.

Das hysterische Weib wird hysterisch als eine Folge seiner Knechtsamkeit, es ist identisch mit dem geistigen Typus der Magd; ihr Gegenteil, die absolut unhysterische Frau (welche, als eine Idee, es in der Erfahrung nicht gibt), wäre die absolute Megäre.

Das sind, nach heutigem psychologischem Maßstab, abenteuerliche Worte, an denen sich Generationen von Feministinnen abgearbeitet haben. Denkt man allerdings daran, wie Musils Erzähler Clarisse einführt, so erkennt man das Schema wieder. »Sie war die Tochter eines Malers«, lesen wir, und weiter:

Sie verabscheute darum aus ihrer ganzen Seele alle Wollust der Kunst und fühlte sich zu allem Mager-Strengen hingezogen, ob es nun die Metageometrie der atonalen neuen Tondichtung war oder der enthäutete, wie ein Muskelpräparat klar gewordene Wille klassischer Formen. In ihre jungfräuliche Gefangenschaft hatte Walter die erste Botschaft davon gebracht. »Lichtprinz« hatte sie ihn genannt, und schon als sie ein Kind war, hatten Walter und sie einander zugeschworen, nicht zu heiraten, ehe er ein König geworden sei.

Der weitere Weg des Paars ist damit vorgezeichnet: Clarisse, das Wesen mit dem verqueren und, wie Walter empfindet, substanzlosen Willen, will ihn dazu zwingen, ein Genie zu sein und damit dem, laut Weininger, reinen männlichen Typus zu entsprechen, in dem sich die Menschheit darstellt:

Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahr für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu heiraten. Sie erlaubte ihm nicht, keines zu sein... sie wollte die Gefährtin eines großen Menschen sein und rang mit dem Schicksal.

Das Zuchtmittel, mit dem sie ihn traktiert, ist die sexuelle Enthaltung. In einer Begleitnotiz liest man: »W[alter] – Cl[arisse] setzt am kritischen Punkt ein. Sie entzieht sich ihm – das irritiert auch sie –«. Als sie an das Kind denkt, das Walter von ihr will, sieht sie sich einen Moment lang als Gottesmutter, dann »schnellte ihr Körper über dem klaffenden Bild wieder zusammen, wie Holz einen Keil aus sich herausschleudert; sie war schlank, bei sich, ekelte sich, fühlte eine grausame Heiterkeit.«Das entspricht Weiningers an Freud angelehntem Befund, die Hysterika erlebe ihre Sexualität als einen ›Fremdkörper im Bewusstsein‹. Bezeichnenderweise geht sie sich waschen, nachdem sie einen Versuch Walters, sich ihrer, wie es heißt, zu bemächtigen, abgewehrt hat. Wie heißt es bei Weininger? »Alle Fécondité ist nur ekelhaft.«

 

3.

Der intellektuelle Zusammenhang, in den uns die ebenso skurrile wie folgenreiche Typologie Weiningers entführt, lichtet sich angesichts der Parallele, die er zwischen dem weiblichen und einem anderen Typus zieht – dem jüdischen. Weininger möchte das Judentum ausdrücklich für eine ›Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution‹ gehalten wissen, jenseits aller Volks- oder Religionszugehörigkeit. Ihm zufolge zieht es diesen ›jüdischen‹ Typus zum Kommunismus, in dessen Regionen das schwache Ich dadurch zur Erlösung findet, dass es im Kollektiv aufgeht (wie das Weib in der Gemeinschaft mit dem Mann). Die zentrale Aussage lautet: »... der absolute Jude aber ist seelenlos.« Wie das? Die »Geschichte des Materialismus«, so Weininger, ist gleichzusetzen mit dem »Wesen des Judentums«; aus dem »orthodoxen Jehovah-Knecht« (erinnert sei an die Charakterisierung der Hysterika als Magd) wird »rasch und leicht ein Materialist, ein ›Freigeist‹« – ein Aufklärer, dessen Bestreben dahin geht, das Unerforschliche, das ewig Dunkle zu leugnen und an seine Stelle die ›Plattheiten‹ eines logisch und naturwissenschaftlich versierten Denkens zu setzen. Ist die Hysterikerin die »Probiermamsell der Erfolgs- und der Sozialethik«, so ist der Intellektuelle – denn kaum etwas anderes meint der ›jüdische Typus‹ – der Propagandist dieser Ethiken, die sich bei genauerer Prüfung leicht als die im Widerstreit miteinander liegenden, aber in diesem Widerstreit den Geist der revolutionären Moderne repräsentierenden Wertsysteme des Liberalismus und des Sozialismus zu erkennen geben. »Wir, die über alle Punkte der Welt verstreute Menge, sind der einzige internationale haltlose Kehricht ohne Grund unter den Füßen«, schreibt Karl Mannheim in seinen Heidelberger Briefen. Die Selbstcharakterisierung des Intellektuellen und das Ahasver-Motiv erscheinen hier fest miteinander verbunden.

Kein Zweifel: Musil ist weit davon entfernt, der Gleichsetzung des Jüdischen mit dem Intellektuellen zuzustimmen. Allerdings bemächtigt sich seine Bestandsaufnahme der intellektuellen Welt auf eine spielerisch-ironische Weise der beschreibenden Topoi, die darin zur Anwendung gelangen. So heißt es im Kapitel über das Ur-Böse, welches nichts anderes sei als der Geist der Wissenschaft, zu Zeiten Galileis müsse

das Erwachen aus der Metaphysik zur harten Betrachtung der Dinge [...] geradezu ein Rausch und Feuer der Nüchternheit gewesen sein,

und jene uralte Lust, die es darauf abgesehen habe, dem ›menschlich Hohen‹ ›ein Bein zu stellen‹ und es ›auf die Nase fallen‹ zu sehen, sei,

[z]um Heroismus der Bitterkeit gesteigert, dass man sich im Leben auf nichts verlassen könne, als was niet- und nagelfest sei, [...] ein in die Nüchternheit der Wissenschaft eingeschlossenes Grundgefühl...

Das Bemühen der von Diotima und dem Rathenau-Double Arnheim angeführten Schöngeister um die Restituierung der Seele in einer durch die Wissenschaft und die aus ihr hervorgegangenen Weltbilder entgötterten Welt entlockt den versammelten Gelehrten nur eines: ein Lächeln.

Doch das Abenteuer des Romans wäre bereits am Ende, ehe es recht begann, stünden der Verfasser und seine Erzähler-Instanz rückhaltlos auf dem Boden dieser Auffassung. Der plastischen Ironie, mit der die schöngeistigen Propagandisten der Seele gezeichnet werden, steht die abgründige Ironie gegenüber, mit welcher der Erzähler Clarissens Erlösungswahn sich entfalten lässt. In diesem Wahn figurieren Nietzsche und Moosbrugger als weithin austauschbare Größen – weil, wie sie dem ›Hauptausschuss‹ der Parallelaktion bündig mitteilt, »Nietzsche geisteskrank gewesen sei und Moosbrugger es auch sei.« Die ›Erlösung‹ Moosbruggers (wie das Befreiungsprojekt an den Stellen genannt wird, an denen die konstruktive Phantasie des Autors unverstellt zu besichtigen ist) kommt also – in gewisser Hinsicht – der Erlösung Nietzsches gleich. Die Substitution wirkt weniger anstößig, wenn man bedenkt, dass als erstes Objekt ihres Erlösungswillens kein anderer als Walter, das von ihr geglaubte Genie, figuriert – andere werden folgen. Im Begriff des Genies koinzidieren die verschiedenen Phantasien. Damit stellt sich die Frage nach der Identität Moosbruggers.

 

4.

Sehen wir uns um. Eines der ersten Gedichte der Fleurs du Mal trägt den Titel L’Albatros. Dort heißt es, dass Seeleute oft »zum Zeitvertreib« (»pour s’amuser«) Albatrosse einfangen, um sie auf Deck herumspazieren zu lassen. Die Unbeholfenheit der mächtigen Tiere, deren Flügel auf den Planken schleifen, reizt die Matrosen zu Spott und Schabernack.

Ce voyageur ailé, comme il est gauche et veule!
Lui, naguère si beau, qu’il est comique et laid!

Der geflügelte Reisende, wie ist er linkisch und schlaff!
Er, einst so schön, so lächerlich nun und hässlich!

In der letzten Strophe enthüllt der Dichter das Bild als Gleichnis. Georges Übertragung lautet:

Der dichter ist wie jener fürst der wolke •
Er haust im sturm • er lacht dem bogenstrang.
Doch hindern drunten zwischen frechem volke
Die riesenhaften flügel ihn am gang.

Das ist fast wörtlich übersetzt – bis auf eine Auslassung – statt »drunten« heißt es bei Baudelaire »Exilé sur le sol« – und eine sehr Georgesche Zutat: von »frechem volke« findet sich im Original nichts, nur vom Hohngeschrei, das den Dichter umgibt. Doch will mir scheinen, dass George damit nur einen Zug verstärkt, der sich bereits bei Baudelaire bemerkbar macht. Es fällt auf, dass beim Übergang von der ersten zur zweiten Hälfte des Gedichts auch der Numerus wechselt. War zunächst von Albatrossen die Rede, so schiebt sich nun der Singular ein. Es geht um den einen, um, wie die emphatische Rede vom Dichter dann suggeriert, den einen im Gegensatz zu den anderen, die ihn umgeben und ihn durch die Art, wie sie für ihn dasind, niederhalten.

Manches an dem Gedicht mutet konstruiert an. Dass der Dichter über den Wolken herrscht, im Reich der Phantasie nämlich, und deshalb auf Erden, wo er sich zwischen Interessen der handfesten Art bewegt, ein eher missliches, ein innerlich und äußerlich zerrissenes Leben führt, ist ein Gemeinplatz der romantischen Poesie. In den Fleurs du Mal entsteht daraus das Wechselspiel von ›Idéal‹ und ›Spleen‹. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird durch die allegorische Härte der Bilder gefesselt. Die Vertreter einer exotischen Vogelart, gezeichnet durch das Missverhältnis von Rumpf- und Flügellänge (das offenkundig wird, sobald sie gezwungen ist, sich in einem fremden Milieu zu bewegen), erscheinen als »indolents compagnons de voyage«, als ›träge Reisebegleiter‹ aus eigenen Stücken. Das Schiff, dem sie sich anschließen, ist ›unterwegs‹. Mag sein, dass die Besatzung ein festes Ziel ansteuert, doch hier, im Gedicht, bleibt es den Elementen ausgeliefert und dem immer möglichen Scheitern nahe:

Le navire glissant sur les goffres amers.

Das Schiff, das über bitteren Abgründen seine Bahn zieht.

Zwar heißt der Albatros ›roi de l’azur‹, doch anders als der Adler, das Wappentier der Könige, herrscht er über kein Revier. Die Seeleute können ihn fangen, weil er bereits ein Gefangener ist. Das fremde Dasein nimmt seine Aufmerksamkeit gefangen, es nimmt ihn mit – das ist die erste, die selbstgewirkte Fessel, der die zweite, der unfreiwillige Aufenthalt auf dem flachen und deshalb für ihn unbegehbaren Deck folgt. Der Dichter als König Ohneland, als zweifach, aus eigenem und fremdem Impuls Gefesselter, der aus freien und unfreien Stücken einer Reise ins Ungewisse beiwohnt, ist eine etwas andere Figur als der romantische Herrscher im Ungefähren. Der Aufschwung, zu dem ihn seine Konstitution drängt, ändert nichts an seiner Situation, sondern bestätigt sie ein ums andere Mal. Mehr: er zeichnet seine Situation als die aller, mit dem Unterschied, dass die anderen, die notorischen Plankenbewohner, nichts von ihr wissen oder wissen wollen.

 

5.

Ein poetischer Fund wie der Baudelaires hat nicht nur eine Genese. Unschwer ließe sich an ihm ein Epochenbewusstsein erläutern, in dem die ›Plattheiten‹ einer zusehends von den Erfolgen der Wissenschaften durchtränkten und über ältere Standards hinaus ökonomisierten Praxis sich in der Poesie zu Wort melden und einen Antiromantizismus hervorbringen, der, im Kern selbst romantisch, sich vorzugsweise in den komplementären Figuren der Revolte und des Scheiterns auszusprechen beginnt. Beide zusammen lassen das Motiv des Gefesselten begreifen – des zweifach Gefesselten, wie wir sahen.

Dies vorausgesetzt, zieht das Bild der exotischen Majestät, des »roi de l’ azur«, erneut die Aufmerksamkeit auf sich. Es lässt entfernt an den berühmtesten Gefangenen des Jahrhunderts denken: an Napoleon I., der am Ende seiner Laufbahn als Eroberer auf St. Helena zum Objekt der Sensationslust ihn genüsslich loignierender englischer Weltreisender herabgesunken ist. Wie sehr gerade letzteres Motiv die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen angezogen hat, bezeugen noch Chateaubriands Mémoire d’Outre-Tombe:

Diese verschiedenen Reisenden bemerkten, dass keine Spur von Farbe mehr im Gesicht Napoleons zu sehen war: sein Kopf glich einer Marmorbüste, deren Weiß durch die Zeit leicht vergilbt war. Keine Falte auf seiner Stirn, keine Runzeln auf seinen Wangen; seine Seele schien heiter. Diese scheinbare Ruhe erweckte den Glauben, dass die Flamme seines Genius’ erloschen sei. Er sprach langsam, sein Ausdruck war gewählt und beinahe anmutig. Manchmal strahlte sein Blick, aber dieser Glanz verging rasch, seine Augen verschleierten sich und wurden traurig.

Ziehen wir die Linien aus. Auch Napoleon ist ein Exilierter, ein freiwillig Gefangener, wie der Schreiber hervorhebt, da er sich aus eigenem Antrieb unter den Schutz der englischen Krone begeben habe. Das winzige Eiland inmitten des Ozeans unter der südlichen Hemisphäre ergänzt das Bild: der ausgreifendste Tatendrang, den die Welt je sah, sieht sich auf den engsten Raum eingeschränkt, an einen Felsen geschmiedet wie der prominente Gefesselte des antiken Mythos – Prometheus. Denkt man an die nutzlos, ja hinderlich gewordenen Flügel des Baudelaireschen Albatros, so bekommen die Worte des Korsen auf dem Sterbelager, wie Chateaubriand sie überliefert, eine ganz eigene Färbung:

»Wie tief bin ich gefallen«, murmelte er, »ich bewegte die Welt und kann nun nicht einmal mehr meine Augenlider heben.«

Chateaubriands Ausführungen sind aufschlussreich, weil sie explizit den Mythos Napoleon von der historischen Person zu trennen versuchen. Der ›legendäre‹ Napoleon, der sich zusammensetzt »aus den Phantasien der Dichter, den Erinnerungen der Soldaten und den Erzählungen des Volkes«, findet keineswegs seine Zustimmung. Im Gegenteil. Er schreibt:

Die Welt gehört Bonaparte... was der Zerstörer nicht mehr erobern konnte, vereinnahmt sein Renommee. Lebend hat er die Welt nicht erworben, tot besitzt er sie.

Der posthume Despotismus, von dem es heißt, er sei ›noch zwingender als der erste‹, besteht darin, dass die Popularität, in der sich der tote Usurpator sonnt, die Zukunft verstellt: »Bonaparte a dérangé jusqu'à l'avenir« – Bonaparte hat sogar die Zukunft zerrüttet. Er ist zum ›Hindernis‹, zum Hemmschuh für künftige Entwicklungen geworden. Denn die Napoleon-Legende wurde zum gründlichsten Feind der Freiheit:

Wie könnte eine freie Regierung entstehen, da er in den Herzen das Prinzip aller Freiheit verdorben hat?

Für diese hinreißende und zugleich verderbliche Wirkung nicht allein auf Frankreich, sondern auf die Jugend Europas erhält der Leser eine psychologische Erklärung: ihr zufolge spielen neben den Ruhmestaten des historischen Bonaparte seine Leiden, sprich: seine Rolle als der Verbannte von Sankt Helena eine entscheidende Rolle. »Zum ungeheuren Schrecken der Großmächte«, schreibt er, »nahm er in seiner Gefangenschaft noch an Bedeutung zu; vergebens hielt der Ozean ihn in Ketten, das bewaffnete Europa lagerte an der Küste, die Augen starr auf das Meer gerichtet.«Das klingt einleuchtend: der scheinverwahrte ›Genius des Krieges‹ hatte sich schon einmal, auf Elba, seiner Fesseln entledigt und war zurückgekehrt – mit welchen Wirkungen auf die schriftstellerische Einbildungskraft, davon legt etwa das Grabbe-Drama über die Herrschaft der Hundert Tage ein beredtes Zeugnis ab. Der gefangene Kaiser wird zum Herrscher über eine unerfüllte Zukunft – eine Zukunft, die nur seine erträumte Rückkehr zu bringen vermöchte. Nebenbei sei vermerkt, dass Chateaubriand diesem Mythos, auch wenn er ihn ablehnt, kräftig Vorschub leistet: den Leuten, die nach dem Ende des ersten Kaiserreiches das Heft in die Hand nehmen, gilt das kräftige Wort, sie entstammten einer Generation von Milben. Nur die Freiheit selbst rangiert über dem Kaiser. Sie gibt der Kritik den Maßstab.

Allerdings hält Chateaubriand daran fest, dass nicht Napoleon Frankreich – sprich: Frankreichs Größe – ›gemacht‹ habe, sondern Frankreich Napoleon. Ohne die Revolution, genauer: ohne die realitätsverändernde Wirksamkeit der Ideen von 1789 wäre der Aufstieg dieses Kometen undenkbar gewesen – jedenfalls in der bekannten historischen Bahn. Der Usurpator, der Despot, dem sein Biograph bescheinigt, er habe stets nur ein negatives Verhältnis zur Freiheit besessen, ist der große Vollstrecker der Gleichheit. Die elektrisierende Wirkung auf seine Zeitgenossen, die überwältigende Loyalität der Franzosen verdankt er dem Umstand, dass er die Rangunterschiede in der Gesellschaft nivellierte, »nicht, indem er sie abschaffte, sondern indem er sie hob«: indem er das Volk mit sich auf den Thron brachte, indem er »die Könige und den Adel in seinen Vorzimmern demütigte« und damit dem »plebejischen Dünkel« schmeichelte.Die Mehrzahl der Franzosen wünschte nicht die Freiheit, sondern die Verbindung von gesellschaftlicher Nivellierung und militärischer Machtentfaltung; dafür war er der Mann.

Chateaubriand spielt mit einem alten Topos: der Verwandtschaft von Demokratie, sprich: politischer Gleichheit der Gesellschaftsglieder, und Despotismus, sprich: Gewaltherrschaft eines einzelnen.Die Größe, die er Napoleon attestiert, besteht darin, dass er zur rechten Zeit auftrat, um das revolutionäre Chaos in Frankreich zu beenden, dass er eine mächtige Regierung, ein über die Grenzen Frankreichs hinaus angenommenes Gesetzeswerk, eine effiziente Verwaltung schuf und

weil er dünkelhafte Gelehrte, anarchische Literaten, voltairische Atheisten, Straßenredner, Mörder aus den Gefängnissen und auf den Straßen, Schwätzer der Tribünen, der Clubs, der Schafotte gezwungen hat, ihm zu dienen...

Um wessen willen? Um einer neuen Idee willen? Keineswegs. Die Größe Bonapartes, gewissermaßen ihr posthum sich entblätterndes Geheimnis, liegt darin, dass er, innerlich unberührt von den Ideen, die seine Zeit bewegen, für die Vertreter dieser Ideen eine Faszination gewinnt, die sie nötigt, ihm als dem scheinbaren Exekutor dieser Ideen und zugleich als Erfüller geheimerer Sehnsüchte Gefolgschaft zu leisten. Für diesen Napoleon, den »Delinquenten des Sieges«, hält Chateaubriand eine brisante Formel bereit: er nennt ihn »cet homme à deux existence«, den Mann mit dem Doppelleben.

 

6.

Wie eine Probe aufs Exempel dieser Analyse liest sich, was Heinrich Heine in den Reisebildern unter dem Titel Ideen. Das Buch Le Grand schreibt. Der Text erschien 1826, fünf Jahre nach dem Tod des Idols. Heine nennt Napoleon dort ›den Mann des Volkes‹ – man beachte den bestimmten Artikel!

Britannia! Dir gehört das Meer. Doch das Meer hat nicht Wasser genug, um von dir abzuwaschen die Schande, die der große Tote dir sterbend vermacht hat. Nicht dein windiger Sir Hudson, nein, du selbst warst der sizilianische Häscher, den die verschworenen Könige gedungen, um an dem Manne des Volkes heimlich abzurächen, was das Volk einst öffentlich an einem der Ihrigen verübt hatte – Und er war dein Gast und hatte sich gesetzt an deinen Herd –
Bis in die spätesten Zeiten werden die Knaben Frankreichs singen und sagen von der schrecklichen Gastfreundschaft des Bellerophon

– so hieß das Schiff, das Napoleon in die Verbannung brachte.

Einst aber wird dieses Lied hinüberklingen, und es gibt kein Britannien mehr, zu Boden geworfen ist das Volk des Stolzes, Westminsters Grabmäler liegen zertrümmert, vergessen ist der königliche Staub, den sie verschlossen – Und Sankt Helena ist das heilige Grab, wohin die Völker des Orients und Okzidents wallfahrten in buntbewimpelten Schiffen, und ihr Herz stärken durch große Erinnerung an die Taten des weltlichen Heilands, der gelitten unter Hudson Lowe, wie es geschrieben steht in den Evangelien Las Cases, O’Meara und Antommarchi.

Allerdings wäre der Autor nicht Heine, wenn es bei dieser allzu schlichten Apotheose bliebe. In der Reise von München nach Genua wird das Bild differenziert. Man täusche sich, schreibt er, wenn man ihn für einen »unbedingten Bonapartisten« halte:

Meine Huldigung gilt nicht den Handlungen, sondern nur dem Genius des Mannes. Unbedingt liebe ich ihn nur bis zum achtzehnten Brumaire – da verriet er die Freiheit.

Heine empfiehlt seinen Lesern also einen halbierten Napoleon, so wie er, ganz analog, im Verein mit den Linkshegelianern einen halbierten, einen progressiv verkürzten Hegel in der Philosophie empfiehlt. Offen bleibt die Frage, worin denn der ›Genius des Mannes‹ sich offenbare, wenn nicht in seinen ›Handlungen‹. Immerhin setzen die Überlegungen Chateaubriands an dieser Stelle ein. Die Ambivalenz des Tatmenschen, der die verworrene Situation der Zeit mit dem Schwert entscheidet, ist Heine wohl bewusst. Er fasst sie in die Bemerkung, es könne wohl sein, dass die künftige Geschichte nicht mehr als »Räubergeschichte« – das zielt auf die militärischen Erfolge Napoleons –, sondern als »Geistergeschichte«, soll heißen, als Geschichte der Emanzipation geschrieben werden müsse, als deren symbolischen Helden er letzteren mit soviel Emphase feiert. Mit diesem Einwand wendet er sich gegen die bei den deutschen Burschenschaften grassierende Kyffhäuser-Legende, gleichsam das rechtsrheinische Gegenstück zum Napoleon-Mythos der Franzosen. Auch die Mär von Barbarossa, dem Kaiser, der das Heilige Römische Reich wiederaufrichten wird, wenn die Zeit ›reif‹ ist, enthält ja einen Entfesselungsmythos. Der schlafende Kaiser mit dem imposanten Bartwuchs figuriert darin als Symbol des durch den französischen Imperator in einen scheinbaren Todesschlaf versenkten alten Reiches. Die gegensätzlichen Mythen, darauf lenkt Heine den Blick, entspringen nicht nur der Konkurrenz der Nationen, sondern auch der Konkurrenz der Ideen. So wie sich die Figur Napoleons, allen historischen Bedenken zum Trotz, unwiderruflich mit den progressiven Ideen der Französischen Revolution verbindet, so verbindet sich die Figur des mittelalterlichen Kaisers im politischen Rollentausch mit den rückwärtsgewandten politischen Ideen der deutschen Romantik.

 

7.

Bilanzieren wir. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (politisch gesprochen: zur Zeit der Restauration) findet in bestimmten europäischen Literaturen eine mythologische Verschiebung statt. Der Typus des positiv konnotierten geschichtlichen Tatmenschen, traditionell vorgestellt im Bild mythischer Heroen vom Schlag der Theseus und Herakles oder historischer Figuren wie Alexander, Cäsar und Karl der Große, verbindet sich, angestoßen durch den Napoleon-Mythos, mit dem Symbol des Lichtbringers Prometheus. Das Symbol ist in sich geschichtlich: es spricht von einer strahlenden Vergangenheit (dem in der Erinnerung stets gegenwärtigen Siegeszug des Rebellen gegen die Mächte der Finsternis), einer tristen Gegenwart (seiner Fesselung durch die Vertreter der von ihm herausgeforderten alten Ordnung) und einer ungewissen Zukunft (der erhofften oder ersehnten Entfesselung des Titanen). Das Entfesselungsmotiv steht für die fordernde Gewalt des Neuen. In Shelleys Prometheus Unbound von 1820 verbindet es sich mit dem politischen Freiheitswillen, in dem Stück Prométhée Délivré des Baudelaire-Freundes Louis Ménard, erschienen 1844, mit dem Heroismus des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. Und es ist Baudelaire, der in seiner Rezension dem Autor bescheinigt, er habe »den ergiebigsten Vorwurf gewählt, und den unermesslichsten, den gehaltvollsten Gegenstand, das umfassendste Thema unter allen protestierenden Themen...«

Die Apologie des geschichtlichen Helden, des ›Genius der Tat‹, die sich hinter diesem Motiv verbirgt, hat verschiedene Gesichter. Vor allem enthält sie eine nicht zu beseitigende Ambivalenz: so wie der Held selbst, mit den Augen des Historikers betrachtet, Züge aufweist, die seiner Stilisierung zum Lichtbringer entgegenstehen – Machtversessenheit, Treulosigkeit, Menschenverachtung –, ebenso erweist sich sein Mythos als durch die Parteien instrumentierbar. Heines Spott über den Barbarossa-Mythos und Chateaubriands Verachtung der ›imperialistischen‹ Napoleonlegende stehen sich darin nahe, dass sie den ›echten‹ Volkshelden gegen den ›falschen‹ auszuspielen versuchen – ein nutzloses Unterfangen, wenn ihre Einsicht stimmt, dass jener ›Tatkern‹, der den großen Mann von seinem schreibenden und sonstigen Gefolge trennt, in Wahrheit keineswegs ideengesättigt, sondern von vollendeter Gleichgültigkeit gegenüber den Ideen erfüllt ist, als deren angeblicher Vollstrecker er in den Phantasien seiner Mitmenschen erscheint.

Es handelt sich also, oberflächlich gesehen, um einen Ideentausch: der Intellektuelle staffiert den Täter mit dem Ideenfundus aus, der es diesem erlaubt, vor der Welt seine Rolle zu spielen (und sich dabei der stärksten Triebkräfte der Epoche zu versichern). Im Gegenzug empfängt er nichts anderes als die Konzeption des Tatmenschen selbst, des unwiderstehlichen Vollstreckers der Ideen. Da diese, nüchtern betrachtet, selbst bloß eine Idee ist, bleibt als letztes Band zwischen intellektuellem Entwurf und Realität allein die gänzlich unbestimmte Vorstellung einer alle Fesseln von Konvention und Herkommen sprengenden ›Größe‹, wie wir sie aus der Literatur jenes Jahrhunderts zur Genüge kennen. Schriftsteller, Intellektuelle, Dichter: sie alle arbeiten am Mythos des großen Mannes und, bei fortschreitender Desillusionierung, an seiner Mimikry. Der Erfolg Nietzsches am Ausgang des Jahrhunderts beruht nicht zuletzt darauf, dass er die komplementären Rollen des Intellektuellen und des Heros miteinander verbindet und damit ein neues schlüssiges Selbstbild des Intellektuellen und eine neue Rede vom Wirklichen entwirft.

Baudelaires Albatros verlegt das Drama des großen Mannes nach innen. Die tristesse der gefangenen Majestät ist der angemessene Seelenausdruck dessen, der ebensosehr vom Geist des Aufruhrs wie vom Bewusstsein seiner Vergeblichkeit durchdrungen ist. Poesie ist Mimikry von Größe.

In der prosaischeren Gattung des Romans zeitigt das Verlangen nach Größe eine Typologie des scheiternden Helden. Auf der einen Seite stehen die mimetischen, zur Identifikation einladenden Helden – man denke an Julian Sorel in Stendhals Le Rouge et le noir, auf der anderen Seite der dialektisch geschulte Typus des gewissenhaften Verbrechers à la Dostojewskij. In Raskolnikows Gedankengängen ist der Napoleon-Mythos von Anfang an präsent. Dem Leser wird das bewusst, als jener im Gespräch mit dem Untersuchungsrichter die Grundgedanken eines Artikels referiert, den er nach dem Abgang von der Universität, also lange vor seiner Tat, veröffentlicht hat. Er sagt dort:

»Wenn die Entdeckungen von Kepler und Newton [...] infolge irgendwelcher Umstände oder infolge irgendwelcher Konstellationen auf keine andere Weise der Menschheit hätten bekannt gemacht werden können als nur durch das Opfer von einem oder zehn oder hundert und so weiter Menschenleben, dann hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, diese zehn oder hundert Menschen... zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekannt zu machen. [...] Weiterhin entwickle ich in meinem Artikel den Gedanken, wenn ich mich recht erinnere, dass alle... beispielsweise Gesetzgeber und Menschheitsführer, angefangen von den ältesten und später die Lykurge, Solone, Mohammeds, Napoleons und wie sie alle heißen, dass alle ausnahmslos Verbrecher waren, schon dadurch, dass sie, indem sie ein neues Gesetz stifteten, schon durch diese Tat, sich über Althergebrachtes, als heilig Verehrtes und von den Vätern Überkommenes hinwegsetzten und selbstverständlich auch vor Blutvergießen nicht zurückschreckten [...].«

Der ›Hauptgedanke‹ der Schrift, so Raskolnikow, habe darin bestanden,

dass die Menschen einem Naturgesetz zufolge im großen und ganzen in zwei Kategorien einzuteilen sind: In eine niedere (die gewöhnlichen), das Material sozusagen, das einzig und allein der Erhaltung der Art zu dienen hat, und in die eigentlichen Menschen, das heißt, jene, die die Gabe oder das Talent haben, ihrer Mitwelt ein neues Wort zu sagen.

Die Tragödie Raskolnikows besteht darin, dass er sich nicht auf der ›Höhe‹ seiner Anschauung halten kann. So räsoniert er wenig später:

Nein, solche Menschen sind anders beschaffen; der wahre Herrscher, dem alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet ein Gemetzel in Paris, vergisst eine Armee in Ägypten, vergeudet eine halbe Million Menschen im russischen Feldzug [...] und ausgerechnet er wird postum als Gottheit verehrt – also war ihm alles erlaubt.

Gegenüber einem solchen Menschen »aus Erz« fühlt der Mörder einer Pfandleiherin sich wie eine ›Laus‹ – Chateaubriands Milben sind da nicht weit.

Der Titel von Raskolnikows Essay wird im Roman nicht vollständig mitgeteilt. So hat man gemutmaßt, er könnte, in Anlehnung an Beccarias bekannte Untersuchung, »Über Verbrechen und Strafe« gelautet haben. Der Titel der jüngsten Übersetzung des Romans, »Verbrechen und Strafe«, soll den Zusammenhang sichtbar machen.Von ›Schuld und Sühne‹ hingegen handeln die Dämonen. In diesem Roman gewinnt das Verbrechen eine weitere Dimension: es wird politisch. Nikolaj Stawrogin, der ›düstere Held‹, wie ihn die Literatur tituliert, profitiert gewissermaßen von den Erfahrungen Raskolnikows. Er ist der Typus des Täters ohne Tat – so scheint es jedenfalls, solange er von seiner wirklichen Untat nichts verlauten lässt. Diese geheimnisvolle Eigenschaft lässt ihn zum Mittelpunkt eines Kreises ›westlich‹ gesinnter Revolutionäre werden, in deren irrealen Revolutionsplänen ihm die Rolle des Anführers zufällt, gleichsam eines Napoleon in spe und ohne dass er sich auf sie festlegen ließe. Die Psyche des Menschheitshelden, des großen Verbrechers, so lässt sich der Roman lesen, nährt sich aus dem gewöhnlichen Verbrechen. Stawrogin bezichtigt sich, ein junges Mädchen in den Tod getrieben zu haben. Am Anfang, so bekennt er, stand seine quasi-experimentelle Nachgiebigkeit gegenüber einem Impuls aus der rätselhaften, gegen das moralische Wesen abgedunkelten Region verbotener Lüste. Der Vorsatz, die Wollust auszukosten, die aus der Übertretung ethischer Normen resultiert, und sei es um den Preis des eigenen Lebens, verändert den Mann und erzeugt die Scheu derer, die ihn kennen, ohne ihn länger als ihresgleichen zu betrachten. Die unbestimmte Erwartung der anderen umgibt ihn mit der Aura des künftigen Täters. Dass er es vorzieht, sich selbst zu vernichten – moralisch, gesellschaftlich, schließlich physisch –, statt den Erwartungen seiner Anhänger zu willfahren, enthält eine Absage an den Mythos vom großen Individuum und bestätigt ihn durch seine schauerliche Konsequenz.

 

8.

Es scheint, dass sich die Frage nach der Identität der Romanfigur Moosbrugger in diesem Kontext beantwortet. Meine These lautet, dass Musil den zuletzt skizzierten Dostojewskijschen Typus in der Gestalt Moosbruggers auf seinen analytischen Kern reduziert. Wenn eine gewisse Nachgiebigkeit gegenüber den Lockungen des Verbotenen, ein gewisser Grad an pathologischer Reizbarkeit, verbunden mit einer unalltäglichen Entschiedenheit des Charakters identisch ist mit der Anlage zum Tatmenschen, also zum großen Verbrecher, dann bleibt der primitive Triebtäter zwar weiterhin ausgeschlossen vom Kreis der Anwärter auf den Ehrentitel eines Menschheitsgenies. Aber seine Erscheinung bietet den Vorteil, dass sie das Problem des Genies auf die befremdliche Disposition eingrenzt, die beide, den großen Verbrecher und seinen geistlosen Doppelgänger, verbindet: die Fähigkeit zur ›Überschreitung‹, wie Raskolnikow sie nennt, die ohne die ›Übertretung‹ von Regeln nicht zu haben ist. Diese Fähigkeit ist gleichbedeutend mit einem Mangel: dem essentiellen Nichtbetroffensein durch elementare Kategorien der Verständigung. In ihrer Mitte steht die des für seine Gedanken und Taten verantwortlichen Subjekts. Subjekt ist die Person, die sich gegenüber den wertenden Instanzen dadurch legitimiert, dass sie so und nicht anders handelt. Die drollig-gespenstische Manier Moosbruggers, in seinen Einlassungen vor Gericht selbst der Anklage zur Hand zu gehen, die Abwesenheit des Bedürfnisses nach Legitimation, die sich darin bekundet, fasziniert Ulrich von Anfang an. Moosbrugger, der über keine eigene Sprache verfügt, verfügt über die Sprache der Juristen und Psychiater nach seinem Belieben: das macht ihn zum medizinischen Fall, aber einem zweideutigen.

Und Moosbrugger widerfährt (da von einem ›Gelingen‹ wohl nicht die Rede sein kann), was in der Welt der gewöhnlichen Intellektuellen auseinanderfällt: die Einheit des ›anderen Zustands‹, des mystischen Einsseins von Ich und Welt im Gefühl mit dem Bewusstsein grenzenloser und grenzenlos ordnender Macht. »Der Tisch war Moosbrugger«, heißt es im Kapitel »Moosbrugger tanzt«.

Der Stuhl war Moosbrugger.
Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst. [...]
Er beherrschte jetzt alles und herrschte es an. Er brachte alles in Ordnung, ehe man ihn tötete. Er konnte denken, woran er wollte, augenblicklich war es so fügsam wie ein gut erzogener Hund, zu dem man ›Kusch!‹ sagte. Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht.

›... obgleich er eingesperrt war‹: dieses ›obgleich‹ verdient es, näher betrachtet zu werden. Denn im Fortfahren macht der Erzähler deutlich, dass die Tatsache des Eingesperrtseins eine conditio sine qua non der Allmachtsphantasie darstellt.

Pünktlich kam die Suppe. Pünktlich wurde er geweckt und spazierengeführt. Alles in der Zelle war pünktlich streng und unverrückbar. [...] In einer merkwürdigen Umkehrung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, dass sie ihm auferlegt war.

Dass Musil selbst von derlei Machtphantasien keineswegs unberührt war, sie vielmehr an einen zentralen Aspekt seiner Auffassung vom ›Dichter‹ rühren, bezeugt ein Aphorismus:

Bedenke: ich hätte mit meinen Fähigkeiten eine Rolle in der Welt spielen können.
Warum nicht gewollt: Weil ich die Welt beherrschen wollte.
Warum dann nicht Politiker?: Weil der Dichter sie mehr beherrscht.
Nein: weil er sie in Dingen beherrscht, die anders nicht zugänglich sind.

Es hat also einen guten poetologischen Sinn, wenn sich in den Notizen zum »Mann ohne Eigenschaften« die Gleichung findet: »Größenideen des Manischen = Tagtraum des Gesunden.« Das ist an Ort und Stelle auf das Verhältnis Clarissens zu Walter gemünzt. Doch die Bedeutung der Gleichung erschöpft sich darin keineswegs. Die Erlösungsidee, die Clarisse erst gegenüber Walter, dann gegenüber Ulrich und schließlich gegenüber Moosbrugger hegt, fällt zur Gänze in ihre sich langsam entfaltende Krankengeschichte: sie ist Ausdruck ihrer Manie. Zugleich entspricht sie dem Tagtraum einer Epoche und dem ohne Wahn nicht zu habenden Selbstbild einer Intellektuellengeneration, die in der Sprache Nietzsches das Rätsel der eigenen Existenz ausgesprochen fand.

Erlösen = Gedanken und Handlungen, welche, sobald sie geschehn, das Leben pfeilgleich leicht machen. Erlösen ist also eher gleich Erlösersein, eine persönliche Eigenschaft. Deshalb ohne alle soziale Überlegung, innere Zukunftsphantasie.

Die Leichtigkeit im Übergang, im Überschreiten der durch Sozialität gesetzten Grenzen ist das gemeinsame Kennzeichen des Genies und des pathologischen Verbrechers, des im Verbrecher – der durch seine Tat bewiesen hat, dass er zur Überschreitung bereit und fähig ist – entfernt sich ankündigenden Genies. Clarisse, soweit sie ihr Programm der Erlösung (ihrer ›geheimen‹ Nietzsche-Nachfolge) durchzuführen imstande ist, erlöst also gleichsam den Erlöser in sich selbst. Die Fixierung auf die genieverdächtigen Männer in ihrer Umgebung – mit Moosbrugger als stellvertretendem Kraftzentrum – schuldet sie ihrer fortdauernden Fixierung auf den ›männlichen‹ Geist – ihrer Hysterie. In dieser Hinsicht gibt ihr Besuch im Saal der hysterischen Frauen mancherlei Aufschluss. Ein überwältigendes schwesterliches Gefühl, heißt es da, überkommt sie angesichts der in den Posen imaginärer Geschlechterspiele sich windenden Kranken (Charcots Untersuchungen in der Salpêtrière lassen von ferne grüßen), und zum begleitenden Arzt sagt sie:

Dieser Saal ist wie ein ungeheures Vergrößerungsglas, über Triumph und Leiden einer Frau gehalten.

Man beginnt zu verstehen, warum gerade einer wie Moosbrugger in diesem seelischen Ambiente zu einer geheimen Bedeutung gelangen kann. Seine gefährliche – und gefährdete – Fremdheit inmitten einer Welt scheinbarer Normalität, in der Frauen und Männer, Intellektuelle und Täter miteinander umgehen, ohne sich wechselseitig in den Abgrund zu reißen, erzeugt die andere, unscheinbare, aber wirksame Fessel, die ihn und die Gebärerinnen des Imaginären verbindet.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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