1.

Woraus entsteht Literatur? So lautet die philologische Gretchenfrage und die professionelle Antwort, variantenreich, aber im Kern stets identisch, hüllt sich in den Nachweis, dass Literatur keineswegs aus einem ungeschriebenen Etwas hervorgeht, wie ein naiver Kunstverstand mit beträchtlichem Beharrungsvermögen unterstellt, sondern aus Texten: sie gilt es zu entdecken oder, falls alle Mühe vergeblich sein sollte, zu rekonstruieren oder, falls der unmittelbare Aufwand jeden erdenklichen Ertrag zu übersteigen beginnt, in Diskursen zu lokalisieren, die ruhig weit wie das Meer sein dürfen – ein Tropfen mehr oder weniger Poesie, wer mag da rechten.

Ist es nötig, die Selbsttäuschung zu benennen, die hier im Spiel ist und durch keine weitreichende Kultur-Hypothese aus der Welt geschafft werden kann? Es bleibt eine empirische Tatsache, dass der naive Kunstsinn, der einer unklaren Spontaneität literarischer Schöpfung das Wort redet, nach, um nicht zu sagen aus jeder Abfertigung neu ersteht. Die Regelmäßigkeit, mit der das geschieht, die Selbstverständlichkeit, mit der Literaten und Leser aus dem philologischen Seminar ins pralle Leben zurückkehren, in dem Kreativität einen Namen und ein Gesicht haben muss, um zu wirken und geglaubt zu werden, sollte die Hoffart einer allzu selbstgewissen Wissenschaft ein klein wenig dämpfen. Immerhin lässt sich der Verdacht nicht so leicht ausräumen, dass jene rituelle Aufklärung über das Woher und Wohin der Texte ohne einen Schuss alchimistischen Glaubens nicht auskommt.

Das Problem liegt in den Vorgängertexten selbst. Es gibt sie, es gibt sie immer, aber bevor dieses ›immer‹ sämtliche Aufmerksamkeit verschlingt, sei der Blick auf den Umstand gelenkt, dass es sie in – mindestens – zwei Varianten zu geben pflegt. Entweder sind die stets bemühten Vorgänger- oder Diskurstexte so schatten- und geheimnislos, dass das Geheimnis der ästhetischen Produktion sich in ihnen von selbst verflüchtigt, oder das Geheimnis gleitet in die Vorgängigkeit zurück, aus der ihm Aufklärung zuteil werden soll. Entweder also eliminiert man das Problem des Schöpferischen oder man verschiebt es. Im ersten Fall wäre die Literatur, im zweiten ihre Erhellung eine optische Täuschung.

Auch wenn ein wenig Mut dazu gehört, die wohlfeil scheinende Rede am Interpreten-Tisch zuzulassen: Literatur – die ›schöpferisch‹ genannte – entspringt. Offenbar gehört der Kunstsinn, der diese anstößige Sicht favorisiert, genauso zur Sache wie seine rituelle Zurückweisung im Spiel der Textgenesen. Man mache sich da nichts vor: Die Zurückweisung selbst ist eine Form der Bezugnahme unter anderen. Sieht man näher hin, so entdeckt man in ihr gut verborgen die bekannte Figur des Aufschubs: Wir sind noch nicht so weit, das Geheimnis der individuellen Produktivität zu lüften, nachdem wir das Geflecht der Täuschungen und Selbsttäuschungen, der kollektiven Zuschreibungen und kulturellen Prärogativen gerade erst aufzudecken begonnen haben. Aber das muss, wer weiß, nicht so bleiben. Nur an der Zeit ist es nicht.

›Darum geht’s nicht‹ – das ist die Formel der Zensur, von welcher Seite auch immer – seltsamerweise erscheint sie so in den Untersuchungsgegenstand verwoben, dass ihr daraus eine doppelte Unsichtbarkeit erwächst. Wo, lässt sich fragen, sollte Zensur hier im Spiel sein? Erhellen und Abdunkeln sind zwei Seiten desselben Vorgangs. Je erhellender ein Ansatz, desto krasser der Ausschluss all dessen, was nicht hineingehört – das ist der Schärfe der Begriffe ebenso geschuldet wie der Genauigkeit der Methode. Wäre es so, dann wäre in der Tat nichts zu machen. Wenn jedoch die Methoden wechseln und der Ausschluss derselbe bleibt, wenn bestimmte Verfahrens- und Darstellungsweisen aus jeder Kritik unberührt hervorgehen, weil die stille Polemik, die ihnen eingeschrieben ist, eine konditionierende Wirkung auf die in diesem Felde Tätigen ausübt, bevor ein kritischer Gedanke Zweifel säen könnte, dann wäre das eine allzu harmlose Sicht auf den Gegenstand. Reflexion könnte in diesem Fall auch heißen, beredt zu machen, was die Verfahren rituell verschweigen.

 

2.

Die zweite Unsichtbarkeit kommt aus dem Gegenstand selbst. Wort und Weise ›motz el son‹ nannte Eva Hesse seinerzeit eine von ihr besorgte Auswahl von Schriften Ezra Pounds zur Poetik. ›Wort und Weise‹ – in Pounds Diktion verbinden sich mit diesen Worten zwei noch immer aktuelle Lesarten literarischer Produktion: ›Logopoeia‹ und ›Melopoeia‹. Die beiden Gräzismen bezeichnen zwei unterschiedliche Lesarten oder Aspekte von Sprachschöpfung – Logopoeia das Hervortreten von Bedeutungsschattierungen am Sprachmaterial, in denen sich die abwesenden Kontexte spiegeln, Schattierungen, die im Kontext nicht zur Wahrnehmung gelangen, weil sie dort bereits durch den bloßen Wortgebrauch abgegolten sind, Melopoeia hingegen die Musikalität des sprachlichen Gewebes, die Schicht, in der »eine ... musikalische Eigenschaft … Tragweite und Richtung [des] Sinnes« steuert. Was immer mit ›Tragweite und Richtung‹ gemeint sein mag, die Botschaft ist deutlich: als Teil einer Klangfigur gewinnt das Gesagte im poetischen Kontext eine eigene Bedeutung, die auf der Stelle schwindet, sobald die Klangfigur beschädigt oder aufgelöst wird.

Sieht man genauer hin, so zeigt sich, dass beide Lesarten des Poetischen (Pound will sie, nicht ohne Grund, als Spielarten von Dichtung verstanden wissen) jeweils eines der beiden Momente von Sprachschöpfung für die Bestimmtheit des Produktes verantwortlich machen: Logopoeia die Isolation der verwendeten Sprachelemente gegen die angestammten Kontexte, Melopoeia ihre Integration zur rhythmisch-melodischen Einheit. Auf der Oberfläche der Wahrnehmung wirkt das eine wie das andere überzeugend: der überraschende Bedeutungszuwachs der poetischen Sprache wird durch die Anwesenheit imaginärer Kontexte ebenso zufriedenstellend erklärt wie durch die rhythmisch-melodische Integration, welche die Einheit des Gesagten sinnfällig intensiviert und dem Verständnis des Hörers (auch der Leser ist ja in diesen Dingen Hörer) als semantisches Rätsel vorlegt.

Anders liegen die Dinge, sobald man versucht, die beiden Lesarten miteinander zu verbinden. Rasch zeigt sich, dass sie einander nichts zu sagen haben. Gleichgültig, welcher Art von Bestimmtheit man zuneigt: die jeweils andere Lesart ist stets eine Lesart zuviel. Entweder verdankt sich die Bestimmtheit der poetischen Sprache einer semantischen Inversion oder einer akustischen Suggestion. Beide Erklärungen ergänzen einander, doch weder erläutern sie einander noch stützen sie sich gegenseitig. Wie Pound ganz richtig vermutet, handeln sie von zwei verschiedenen Arten von Poesie. In seiner Inszenierung steckt ein Stück theoretischer Fiktion: schließlich geht (oder ginge) es darum, die Einheit beider, die eine, sinnfällige Bestimmtheit der Poesie oder, allgemeiner gesprochen, des literarischen Ausdrucks zu benennen.

In einem Punkt stimmen die beiden Lesarten überein. Hier wie dort entsteht Dichtung unversehens aus einem Tun, einer Geste, deren Schlichtheit in keiner Relation zu dem zu stehen scheint, was da aus ihr hervorgeht. Mit Pound zu reden: »Es gibt die Sache, die hervorbricht.« Nichts ist einfacher, als um ein paar Worte die Leere zu schaffen, die nötig ist, damit ihre Binnenverhältnisse wie von Geisterhand entfaltet hervortreten. Nichts ist einfacher und nichts ist bemerkenswerter als die innere Musikalität eines Stücks Sprache, das unversehens im Raum zittert, wo gerade noch Stille oder bloßes Geräusch stand. Der archaischen Geste des Schöpfens entspricht die Vorstellung einer subjektlosen Poesie, die nichts weiter benötigt als einen sprachlosen Raum und die Bedürfnislosigkeit eines Sprechers, um, mit Goethe zu reden, sich ›im Augenblick‹ zu organisieren.

Seligem Herzen, frommen Händen
Ballt sich die bewegte Welle
Herrlich zu kristallner Kugel...

Sprechen wir, angesichts soviel argloser Offenheit, über den verborgenen Mechanismus der Kunst. Sprechen wir über Zensur.

 

3.

Jedem Herausgeber sind sie geläufig. Striche, ein Wort oder eine Wortfolge aus dem Manuskript tilgend, von links nach rechts ansteigend, parallel oder überkreuz, meist energisch, gelegentlich zitternd, fast resigniert. Nicht zu vergessen die ausgreifenden Diagonalen, die wie gekreuzte Klingen Wacht halten über einen Abschnitt oder gar Absatz, als gelte es, um jeden Preis einen Ausbruchversuch zu verhindern: Streichungen, über denen sich die neu hinzugezogenen, die auf Zeit zugelassenen Wendungen türmen, erneut getilgt und erneut überwuchert. Doch das Getilgte ist nicht getilgt. Hinter dem tilgenden Raster behauptet es seinen Platz, blickt den Betrachter an wie die Gesichter von Gefangenen auf einer Kinderzeichnung. Es ist vorhanden, nach wie vor: als Durchgestrichenes, als, wie der Ausdruck lautet, ›Entferntes‹. Welche Ferne wird da geschaffen?

Es geht den Worten wie den Menschen: hat man sie erst hinter Gittern, sind die Gründe dafür rasch zur Hand. Blass, so der rascheste Vorwurf, sollen sie sein, verglichen mit denen, die sie verdrängen. Das mag sein. Doch in der Lage, in die sie gebracht wurden, steht anderes kaum zu erwarten. Was bleibt, nach allerlei Gründen, ist die Gewissheit, sie seien nicht die rechten gewesen. Etwas habe gefehlt, solange sie unangefochten den Platz hielten. Gelegentlich fällt die Wahl des Verfassers nach längerem Tasten auf eines von ihnen zurück (das Manuskript bezeugt die Suchbewegung): dann, erst dann, scheint es das rechte. Was also fehlte zu Beginn der Bewegung? Der Autor wählt, so sagt man: das klingt, als müsse er sich entscheiden. So viele Worte, so viele Gedichte. Manche Schriftsteller bevorzugen für ihr Tun das Bild der Jagd. Wie alle Bilder verrätselt es sich bis zur Resignation des Betrachters: Aufschlüsse sind so nicht zu erwarten. Der Autor hat ein Programm, eine mehr oder minder klare, eine mehr oder minder dunkle Maxime, die ihm hilft, sich zu entscheiden. Das unterscheidet ihn von einem Nichtautor. Doch der Parcours der Hindernisse, die er zu meistern hat, stellt sich von Mal zu Mal neu. Der Autor wählt weniger, als dass er verwirft: glücklich die Wörter, die ihren Platz behaupten. Unglücklich die Wörter, die vertrieben werden: entfernt und noch zur Stelle. Wenden wir uns ihnen zu.

Lexikalisch betrachtet, bedeutet ›Zensur‹ jede erdenkliche ›Maßnahme‹ zur Kontrolle von Gedachtem (oder Ungedachtem), das zur Äußerung drängt: von der behördlich verhängten (und durch das Grundgesetz dieses Staates verbotenen) ›Vorzensur‹ über die ›Selbstzensur‹ bis zum Freudschen ›Ich‹ als kontinuierlich wirkendem Filter von Triebäußerungen. Die Bereiche gehen ineinander über. Keine Fremdzensur ohne Selbstzensur, kein Selbst ohne Zensur. Wo immer man zufasst, erhält man die ganze Reihe: der Bereich kommunikativen Handelns erschließt sich nicht zuletzt der Frage nach dem Zensor. Der historisch erkämpfte Fortfall staatlicher Vorzensur lässt das Individuum äußerlich unbehelligt den Markt der Meinungen betreten. Das verlangt die Existenz eines solchen Marktes und nichttriviale Einsichten des einzelnen in die Grund-Folge-Verhältnisse, die ihn beherrschen. Selbstzensur setzt Fremdzensur voraus, sie ist, man mag es wenden, wie man will, ein Vorgriff auf – zu Recht oder Unrecht – erwartete Sanktionen. Das macht den ihr Unterliegenden dem Verfolgungswahn zugänglich wie dem Wahn eigener Unberührbarkeit.

Beide zeigen sich doppelsinnig, sobald wir die Situation des Schreibenden näher in Augenschein nehmen. Der Zensierte – der unter Zensur Schreibende – verfällt ihrem Mechanismus. Soll heißen, er schreibt auf sie hin, er fordert sie heraus, er duckt sich unter sie, er kalkuliert die Möglichkeiten, die sie ihm lässt, und schöpft sie aus, was nur bedeutet, dass er sich ihnen überlässt. Die – anonyme, sich in ihre Ungreifbarkeit hüllende – Instanz der Zensur macht nicht allein das Geschriebene, sondern auch das zu Schreibende kenntlich: sie verfügt, was zu weit geht oder nicht weit genug, sie dekretiert, was gewagt ist und was belanglos. Alles dies, wohlgemerkt, ohne Kenntnis der Intention des Schreibenden, und nicht ohne Grund. Denn sie weiß – oder wüsste, wäre sie eine wissende Instanz –, dass keine Intention unbeschädigt, wie man sagt, neben ihr bestehen kann, dass sie verschmilzt mit der anderen, ihr, der Zensur, Paroli zu bieten oder sie an sich selbst und dem anderen, dem Leser, zu exekutieren. Die Zensur, heißt das, gibt dem Schreibenden eine – vielleicht perverse – Macht über den Leser, die Macht, zu dekretieren, was ist, insofern es gesagt werden darf. An dieser Macht partizipiert – bedenkenswert auch dies – der listige, den Zensor übertölpelnde Text weit stärker als der zensurfromme, weil er neben der Macht der Zensur ihre Ohnmacht bezeugt, Ohnmacht vor dem Geist, der sich in ihm bezeugt. Das eben ist die Kunst. Kunst? Fragen wir.

Gibt es eine Affinität der Literatur zum Mechanismus der Zensur, diesmal nicht verstanden als eine funktionierende Behörde, sondern als die ineinandergreifende Maschinerie von Selbst- und Fremdzensur, von Wahn und Gehorsam, von produktiver Härte gegen sich selbst und Auflehnung gegen die Instanz des Anderen, die über das unumgängliche Maß interaktiver Anpassung in beliebigen Kommunikationsbereichen hinausgeht? Eine Affinität – vielleicht – besonderer Art, die ihre Legitimation aus derselben Quelle bezieht wie der beliebte Satz, dass der Geist weht, wann (und wo) er will? Das entfernte und doch erhalten gebliebene, das ins Dunkel des Manuskripts entrückte, erst der posthumen Besichtigung zugängliche, das im Einzelfall aus nur zu erratenden Gründen unterdrückte Wort entfaltet eine Beredsamkeit, die nicht allein den Preis des ›Schöpferischen‹, sondern dieses selbst zum Gegenstand hat. Das Getilgte ist nicht getilgt. Doch es ist, was immer man über es sagen kann, das Gleichgültige, das die Zensur nicht passieren konnte und deshalb als ein gleichermaßen Geschriebenes und Ungeschriebenes gilt, als Wort ohne Folgen, als an die Ohnmacht zurückgefallenes Wort. Wenn also Kunst – oder ›Dichtung‹ als eine Steigerungsform von Literatur – ihr Publikum ergreift, wenn sie Macht über seine Vorstellung gewinnt, keine bestimmte, wohlgemerkt, sondern eine, deren Effekt sich in die schlichten Worte kleiden lässt: So ist es, dann deshalb – zumindest liegt der Verdacht nahe –, weil in ihr eine Absicht am Werk ist, der es weniger darauf ankommt, zu sagen, was auch ist, sondern zu verfügen, wie man es nicht sagt – es nicht sagt. Das Gleichgültige, bei dem die Zensur anschlägt (gleichviel, ob sie mit Härte oder mit Missachtung ahndet), das durch sie zum Nichtgültigen Gestempelte erfährt durch diesen Vorgang eine sonderbare Auszeichnung. Auf der einen Seite lässt es den Künstler kalt: schließlich ist es das, was zu sagen sich nicht lohnt, da es ohnehin keine Chance hätte, Gehör zu finden. Andererseits hat es bereits Gehör gefunden. An ihm zeigt sich die Macht der Zensur, Gültiges von Ungültigem zu separieren: nichts kann den Künstler brennender interessieren. Was sich da zeigt, ist gerade das, um dessen willen er schreibt. Das Gleichgültige ist der Prüfstein des nicht Gleichgültigen, oder, den Gedanken auf die Spitze getrieben, es wäre das Nichtgleichgültige, wenn es die Zensur passierte. Der Mechanismus der Ersetzungen, die der Schriftsteller vornimmt – hier ein Ausdruck, dort eine Sequenz –, ist identisch mit der kreisenden Bewegung der Ermittlung des Nichtgleichgültigen inmitten des Gleichgültigen, soll heißen, der Ermittlung dessen, was es, das gleichgültig Benennende, aus dem einzigen Grund anzeigt oder verrät, weil es selbst nicht in Betracht kommt.

Die Betrachtung dessen, was nicht in Betracht kommt, treibt diese Bewegung voran. Das klingt paradox, ist jedoch eine einfache Anwendung des Satzes, dass kein ›Ausdruck‹ – das Wort in seiner ästhetischen Bedeutung genommen – ohne die korrespondierende Vorstellung einer Wirkung denkbar ist. Zusammen mit der vagen Richtung auf einen von fast aller Bestimmtheit entblößten Gegenstand erlaubt sie den Prozess, den ›schöpferisch‹ zu nennen nur wenig Überwindung erfordert. Diese Bewegung, dieser Prozess verdoppelt die Zensur, genauer, er unterstellt ihr eine Strategie, die es zu erraten und zu übernehmen gilt. An ihr entzündet sich die Gesinnung des Schriftstellers, jenes Fieber, das sich in der Jagd nach dem mot juste bekundet und sich im Glanz der gefundenen Wendung mitteilt. Die erste Lektion des Autors besteht darin, zu begreifen, dass der reine, gleichsam entspannte Sachbezug der beste Weg ist, Gleichgültiges zu produzieren, weil er es ins Ermessen einer unendlich fernen, von ihm unbeeinflussbaren Instanz stellt, zu entscheiden, ob es die Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit passiert oder nicht. Die zweite Lektion besteht darin, das Nichtgleichgültige zu ermitteln, also selbst Zensur zu üben: spielerisch, dilatorisch, zu dem einzigen Zweck, einen Dialog zu eröffnen, einen Dialog mit der Instanz, die an der Schwelle zur Öffentlichkeit wacht und die allein, wenn sie nur wollte – so die begleitende Autor-Phantasie –, Auskunft darüber erteilen könnte, wie deren Aufmerksamkeit zu gewinnen sei. Die dritte Lektion schließlich besteht darin, die Unmöglichkeit eines solchen Dialogs zu begreifen, da die andere Seite schweigend unterdrückt oder nur schweigt. Diese Einsicht, wenn es denn eine ist, eröffnet einen neuen Bewegungsraum, den Raum, in dem es darum geht, das Scheitern des Dialogs zu dokumentieren: den inneren Raum der Literatur.

Doch warum Scheitern? Wie, wenn die Zensur – nicht die eingebildete, sondern die wirklich geübte – keineswegs diese unbeeindruckbare Instanz wäre, als die sie im Scheitern des Dialogs, der Resignation vor dem Unsagbaren, erscheint? Die Frage stellt sich nicht nur im Blick auf die Zensur als Behörde, als administrative Zensur. Doch der Sonderfall macht manches deutlicher. Für den konformen Autor, der die Absichten der ›offiziellen‹ Zensur im voraus billigt, weil sie sich – seiner Überzeugung nach – von den seinen nicht unterscheiden, ist die Erfahrung ihrer Unbeeindruckbarkeit im eigenen Fall eine Erfahrung besonderer Art, weil sie ihn zwingt, entweder seinen Konformismus oder seine Autorschaft aufzukündigen. Denn er kann sich nur im Dialog mit der bejahten Instanz oder gar nicht begreifen. Die Zensur kassiert seinen Text: sie wird ihre Gründe haben. Das bedeutet: Eintritt in den Dialog. Die Zensur lässt einen fremden Text passieren, in dem – so will es dem Autor, so muss es ihm über kurz oder lang erscheinen – die gleiche Intention wie in seinem am Werk ist. Der naheliegende Schluss lautet: es gibt keinen Grund, seinen Text zurückzuweisen außer dem, dass er – sein Text – nicht jener, sondern dieser ist, also kein anderer. Die bejahte Zensur wird zwangsläufig zu einer Instanz reiner Willkür, sobald sie dem eigenen Werk gegenüber ablehnend in Erscheinung tritt. Sie erweist sich als der Einrede unzugänglich. An seiner Intention, so erfährt der Schreibende, zeigt sie sich durchaus nicht interessiert. Schließlich ist sie harmlos. Das Verdikt gilt dem, was mit seiner Produktion zwangsläufig zutage tritt: seiner Einbildungskraft. Ihr wird – das Wort ›Tendenz‹ deutet es an – eine Intention unterstellt, von der er, der Autor, nichts weiß, und die er deshalb nicht abstellen kann, es sei denn, er entschließt sich, sprachlos in seinen Selbstzweifeln zu verharren. Das eben ist es, was die Zensur von ihm zu verlangen scheint: Sprachlosigkeit.

In Leben und Schicksal, dem 1961 von den sowjetischen Behörden beschlagnahmten, 1980 in Lausanne gedruckten Stalingrad-Roman des Schriftsteller-Dissidenten Wassilij Grossman, gibt es den einen Augenblick, in dem die Protagonisten, stalinistische Führungskader allesamt, sich zum Abendbrot unter dem obligaten Stalin-Porträt versammeln und den in effigie unter ihnen weilenden Generalissimus hochleben lassen. »Sagajdak sah zu dem Bild hoch und sagte: ›Was gibt es da noch zu reden, Väterchen? Du weißt ja alles.‹ Und er leerte sein Glas.« Und so geschieht es. Der versiegende Redefluss folgt dem Fluss der Imagination, die nicht länger als namenlose mit namenlosen anderen kommuniziert, sondern als subjektive und damit falsche Tendenz unvermittelt in den Nahbereich gesellschaftlicher Ächtung mit allen zu gewärtigenden Konsequenzen gerät. Die Erzählung ist an ein Ende gelangt, und es entpuppt sich als Anfang: im folgenden Absatz bricht der Erzähler mit den Tabus des Stalinismus, die seinen Figuren den Mund versiegeln.

Worauf zielt das? Offensichtlich kommt hier die Grenzlinie zwischen Ausdruck und Nichtausdruck ins Spiel und damit das Entspringen oder ›Hervorbrechen‹ von Dichtung aus dem Grund eines Tabus. Der Gedanke ist nicht ganz neu. Aber er verdient eine Klärung.

 

4.

Manche Parallelen drängen sich auf, andere erweisen sich, einmal gefunden, als unabweisbar. Bei Grossman heißt es:

Getmanows Entscheidungen mußten stets und unter allen Umständen vom Parteibewußtsein getragen sein – worum immer es sich handeln mochte. Es bestimmte auch die Haltung des Parteifunktionärs gegenüber einem Buch oder einem Bild; er mußte, ohne zu zögern, auf einen vertrauten Gegenstand, auf ein Buch etwa, das er liebte, verzichten, sofern seine eigenen Neigungen mit dem Interesse der Partei in Konflikt zu geraten drohten. Aber Getmanow wußte: Es gab ein noch höheres Parteibewußtsein, das von vornherein Neigungen und Sympathien ausschloß, die nicht mit dem Interesse der Partei übereinstimmten, und dem Parteifunktionär nichts anderes lieb und teuer erscheinen ließ als das, was den Standpunkt der Partei zum Ausdruck brachte.

Der Kulturtheoretiker Norbert Elias schreibt:

Der Kunstschaffende experimentiert. Er erprobt seine Phantasie am Material, an dem sich gestaltenden Material seiner Phantasie. In jedem Moment hat er die Möglichkeit, mit seiner Gestaltung hierhin und dorthin zu gehen. Er kann entgleisen, kann beim Zurücktreten zu sich sagen: ›Das sitzt nicht, das hört sich nicht richtig an, sieht nicht richtig aus. Das ist billig, trivial, zerfällt, verbindet sich nicht zu einem integrierten Spannungsgefüge.‹ Nicht nur die Dynamik des Phantasiestroms ... ist also bei der Hervorbringung eines Kunstwerks beteiligt, sondern auch eine richtende Persönlichkeitsinstanz, ... eine Stimme, die sagt: ›So muß man es machen, so sieht es sich, hört es sich, fühlt es sich gut an, und so nicht.‹ ... Wenn sich ... der libidinöse Phantasiestrom relativ ungezähmt durch Wissen und Gewissen in ein Material ergießt, dann werden Kunstgestalten, wie man etwa an den Zeichnungen schizophrener Menschen sieht, zerrissen, unkoordiniert und oft zusammenhanglos. Vielfach steht Nicht-Passendes, das nur für die schaffende Person selbst Bedeutung hat, nebeneinander. Die immanente Eigengesetzlichkeit des Materials, mit deren Hilfe sich das Empfinden, die Vision des Künstlers anderen mitzuteilen vermag, ist ungefüge oder vollends zerbrochen und kann ihre Sozialisierungsfunktion nicht erfüllen.
Die Höhe des Kunstschaffens wird erreicht, wo die Spontaneität und Erfindungskraft des Phantasiestroms so mit dem Wissen um die Eigengesetzlichkeit des Materials und mit der Urteilskraft des künstlerischen Gewissens verschmilzt, daß der innovatorische Phantasiestrom bei der Arbeit des Schaffenden gleichsam von selbst in materialgerechter und dem Kunstgewissen entsprechender Weise zutage tritt. Das ist einer der sozial fruchtbarsten Typen des Sublimierungsprozesses.

Dort die Fähigkeit des Funktionärs, die Dinge mit den Augen der Partei zu sehen, ohne das Urteil der Partei abzuwarten, hierdas Vermögen des Künstlers, die ›immanente Eigengesetzlichkeit des Materials‹ im Kunstprozess zu ertasten, ohne sie im voraus zu kennen: die Ähnlichkeit wächst, wenn man weiß, dass Elias das Kunstgewissen an der Stelle auf die ›immanente Eigengesetzlichkeit des Materials‹ verweist, an welcher der Kunstprozess den ›gesellschaftlichen Kunstkanon‹ nicht länger bedient, sondern ›individuell weiterentwickelt‹. Auch bei Elias, der auf den ersten Blick einen eher bedächtigen Künstlertyp favorisiert, hat dies ›rasch‹ zu geschehen, ohne zu zögern, mit Grossman zu reden. Im Falle Getmanow liegt der Grund zur Eile auf der Hand: jedes Zögern könnte gegen ihn ausgelegt werden, da es hieße, das Undenkbare zu denken, dass er die »eigenen Neigungen« im Konfliktfall über die »Interessen der Partei« stellte. Bei Elias erhält die bedenkliche Inklination des Subjekts eine Erklärung, der Getmanow bedenkenlos zustimmen würde: es ist seine mangelnde Fähigkeit, den ›libidinösen Phantasiestrom‹ der Einsicht in die objektive Gesetzlichkeit des zu gestaltenden Materials zu unterwerfen. Künstler, so lässt sich schließen, ist, wem es gelingt, sein libidinöses Eigenleben im Ansatz zu disziplinieren. Wer zögert, lässt Kraft vermissen, die Kraft der Verlässlichkeit.

In solchen halb begrifflichen, halb anschaulichen Wendungen unterliegt die Metaphorik des Schöpferischen einer Metamorphose, an deren Ende nicht mehr das Schöpfen, sondern das Ab- und Umleiten des Imaginationsflusses, seine Kanalisierung im Dienste der Allgemeinheit steht. Der gelegentliche und distinkte Akt des Schöpfens weicht einer rastlosen Tätigkeit inmitten unabsehbarer innovativer Prozesse, die weiterhin ›schöpferisch‹ genannt wird, doch nur, um damit die Integration des Subjekts in das ›Leben der Gattung‹ zu bezeichnen. Künstler ist, wem es schwerfällt, den Fluss der Imaginationen, die von den in seiner ›Psyche‹ brodelnden Bedürfnissen erzählen, zu bändigen: es muss schmerzen, damit der Forderung der Kunst Genüge getan wird. Und er muss wissen, dass er es ist, der sich diesen Schmerz zufügt: so und nur so zieht die Menschheit den Profit aus ihm, auf den sie Anspruch hat.

Gleichzeitig aber erwacht in der gepressten Psyche der überkommene Topos neu: das Bild des mit Leichtigkeit schöpfenden Künstlers als das Bild des nie vor sich selbst versagenden Apparatschiks der Seele, des Über-Künstlers, dessen libidinöser Phantasiestrom ›gleichsam von selbst‹ in den durch das ›Kunstgewissen‹ zu verantwortenden Bahnen fließt und der deshalb imstande ist, in ungebrochener Spontaneität zu produzieren, so dass es dem Außenstehenden scheint, als »strömten die ... Erfindungen aus ihm heraus wie die Träume aus dem Schlafenden«. Wieder ist es Grossman, der die Aufmerksamkeit auf den psychosozialen Mechanismus lenkt, dem sich der Tagtraum von der in wenigen auserwählten Individuen zum Durchbruch kommenden reinen Spontaneität des Schöpfens verdankt. Das ›Wissen‹ Getmanows um ein »noch höheres Parteibewußtsein« als das eigene ist sichtbar gezeichnet von Versagensangst, einer Angst, die den Instanzen, vor denen seine Gedanken und Handlungen künftig bestehen müssen – Instanzen, die im Bild der Partei zusammenfließen –, von vornherein Unfehlbarkeit attestiert, die Unfehlbarkeit der Zensur, die nicht mit sich rechten lässt. Die Selbstzensur des Parteisoldaten muss der durch die übergeordneten Instanzen geübten Zensur in einem verzweifelten Wettlauf zuvorkommen, um sie im voraus zum Schweigen zu bringen. Nur so lässt sich der Absturz verhindern, der mit dem Anspruch auf ›schöpferische‹ Parteiarbeit ein für allemal aufräumt. Das fiktive Parteibewusstsein, das »von vornherein«, also ohne Verzug, »Neigungen und Sympathien« neben und vor dem Parteiinteresse ausschließt, symbolisiert die Einheit von innerer und äußerer Zensur, das Ende des ungleichen Wettlaufs: es vereinigt in sich den Anspruch des Individuums auf schöpferisches Handeln mit der impersonalen Unfehlbarkeit der Zensur in der vagen Idee eines unmittelbar im Einklang mit den objektiven Belangen der Partei und damit der ›immanenten objektiven Gesetzlichkeit‹ der Gegebenheiten befindlichen Handelns.

Aus diesem Blickwinkel fällt es nicht schwer, die »immanente Eigengesetzlichkeit des Materials«, von der Elias spricht, als Fetisch zu begreifen, der, aus der Polemik gegen das unter dem Stichwort ›objektive Tendenz‹ der Kunst abverlangte Parteisoll entstanden, implizit auf dem realdialektischen Restposten der Kenntnis der objektiven Bewegungsgesetze der Geschichte beharrt. Der Künstler entledigt sich der Parteizensur, um sich der Zensur der Geschichte zu unterwerfen. Soll heißen, er delegiert die Unfehlbarkeit der Zensur an jene zukünftigen, sprich: in eine unabsehbare Zukunft zurückweichenden Leser, die seine Schöpfung ›objektiv‹, aus der von ihm geleisteten Fortentwicklung der Kunst heraus zu würdigen wissen werden. Diese Strategie der perspektivischen Selbsttäuschung greift indessen weit über das Partei-Verständnis von Kunst hinaus. Der Künstler reklamiert für sich ein künftiges Wissen: das genügt, um sich im Bewusstsein versagter Anerkennung einzurichten. Schließlich handelt es sich um einen vorläufigen Misserfolg, den der Gang der Geschichte unaufhaltsam korrigieren wird. Beides, der gegenwärtige Misserfolg und seine Korrektur in einer noch nicht abzusehenden Zukunft, gehört zusammen. Warum? Das Argument ist geläufig: der Künstler versteht sich als Vorläufer, als einer, der nach Normen schafft, die zwar hier und heute noch nicht gelten, aber zu einem späteren Zeitpunkt als hier und heute gültig erkannt sein werden. Gibt ihm nicht die bisherige Geschichte recht? Jeder kennt die Namen, die eine solche Sicht der Dinge nicht unmöglich erscheinen lassen. Er befindet sich, alles in allem, in bester Gesellschaft.

Auch das ist eine perspektivische Täuschung. Denn jene im nachhinein überzeugenden Kunstnormen treten, sofern sie nicht untergeschoben sind, allenfalls in einem Prozess der Analyse und Auseinandersetzung zutage, der erst am fertigen Kunstwerk in Gang kommt, und dem der Künstler, auch wenn er es wollte, auf keine Weise vorgreifen kann. Die mystifizierende Rede von der ›Eigengesetzlichkeit‹ des Materials hält, eher ungewollt, das Moment der Blindheit des Künstlers im Schaffensprozess fest: wenn es die Eigengesetzlichkeit gäbe, dann nur um den Preis, dass der sie freisetzende Künstler sie nicht kennte. Die Unsicherheit über das Urteil, das andere sprechen werden und dem er auf keine Weise vorgreifen kann, obwohl seine Arbeit genau dies bezweckt, lässt sich nicht aus der Welt schaffen. So bleibt sie der Motor des ›Experiments‹.

 

5.

Zurück zur Dichtung. Simone Katrin Paul, eine der letzten Absolventinnen des Leipziger Literaturinstituts »Johannes R. Becher« vor seiner Überführung ins Deutsche Literaturinstitut, schrieb die folgenden Verse:

Die Konvention fällt dir, so leicht, ganz ab,
dein Kopf hält unbehütet jeden Weltraum offen,
dein Herz ist immerzu vor Ort,
und alle Landschaft läßt dich jetzt erfahren,
selbst das gesträubte Haar wird unterhand ganz sacht,
Sternschnuppen schenkt der Sommer groß bestirnt,
wie vom Komet geblendet hebst du dein Gesicht,
gibst auf, beginnst, und stürzt dir auf den Grund,
was soll passiern dir noch –
 
Laß fühln mich, Liebe!
 
Der Stolz, benannt, wirft sich der Demut unters Rad,
Begehrn versteift sich wie der Wind nicht richtungslos
ists aus der Welt oder in ihr, es findet Raum...
 
...
 
Laß fühln mich Liebe, was ich nicht verspüren kann:
soll ich, was bleiben könnte, mir bedenken und allein
deshalb nicht angetan, von nichts Berührung sein?
Was kann sich wissen? Wird es nicht bewußt?
 
Du sagst: es ist wie nicht von dieser Welt...
Es spürt mich auf. Ich seh die Zeit bei Sinnen
durch alle Uhren gehen
kein Zeiger jagt, denn sie vergeht sich nicht.

Das Gedicht, hier ausschnittweise zitiert, trägt den Titel Laß mich fühln, Liebe. Es variiert ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, Erklär mir, Liebe, das beginnt:

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,von Flocken blind erhebst du dein Gesicht...

und das endet:

Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

Vergleicht man die beiden Gedichte, so findet man, dass die neuere Autorin die Vorlage Zeile für Zeile überschrieben, also gleichsam mit dem eigenen Text gelöscht hat. Ein extremer Fall, wie geschaffen, den Mechanismus der Ersetzung, der unter der Oberfläche schöpferischer Spontaneität wirksam ist, in Augenschein zu nehmen. Der ersetzte Text liegt dem Leser vor: vollständig, randscharf, ohne erkennbaren Makel. Das geht einen Schritt hinter den dokumentarischen Einblick zurück, den ein Manuskript gemeinhin gewährt. Gleichviel: was dort als Durchgestrichenes verwahrt wird, fügt sich zwar in den seltensten Fällen in den einen kohärenten Text ein, den zur Gänze allenfalls das Gedächtnis des Autors bewahrt, wenn er nicht auch dort im Prozess des Schreibens erloschen ist. Doch zweifellos handelt es sich um Splitter nicht oder kaum rekonstruierbarer, in einer Vielzahl von Fällen heterogener Texte, die der Selbstzensur des Autors verfielen. Was war der Grund? Waren sie schlechter?

Die Frage scheint falsch gestellt. Das Bachmann-Gedicht scheint nicht schlechter, nicht besser zu sein als das der Paul. Es ist anders. Dennoch entspringt das spätere Gedicht einem Akt der Zensur, der das frühere Gedicht Zeile für Zeile für tabu erklärt: andernfalls käme der Prozess der Ersetzung nicht in Gang. Das Tabu ist geläufig: es dient dazu, Schöpfung und Plagiat voneinander zu trennen. Nichts liegt dem Verstehen näher: ein Gedicht kann nicht eines sein und ein anderes. Ein anderes aber muss es sein, um meines zu sein. Schöpferisch, heißt das, ist immer das Subjekt, das sich in seinem Text unterscheidet. Die Differenz der Texte zeigt den Akt des Schöpfens an, dem sie sich verdanken.

Das klingt trivial. Nicht trivial ist die Beziehung, die das Tabu zwischen beiden Texten herstellt. Angenommen, es verlangte die völlige Verschiedenheit beider Texte: abgesehen von der Schwierigkeit, dass die Differenz zweier Texte immer nur relativ bestimmt werden kann, wäre in einem solchen Fall der jeweils andere der in Rede stehenden Texte ein beliebig anderer. Das darf nicht sein, da sich das Tabu dadurch selbst auflöste – ein beliebiger Text ist nicht mehr als aus dem Akt der Ersetzung oder der schöpferischen Erzeugung von Differenz hervorgegangen zu begreifen. Das Tabu verlangt, die Differenz beider Texte nicht zu weit zu treiben. Nicht zu weit – die Frage ist: Wie weit? Sie stellen heißt, dem Zug der Selbstzensur näherzutreten, in dem die Lustangst des prospektiven Versagers sich zwanghaft mit der Vorstellung einer traumwandlerischen Sicherheit des Ergreifens verbindet. Es versteht sich von selbst, dass die Ersetzung nicht wahllos, sprich: regellos erfolgen darf. Dies eben hieße versagen. Andererseits darf die Regel nicht mechanisch befolgt werden können, da sie sich sonst auf beliebige Texte applizieren ließe und so beliebige Texte erzeugte. Die Regel, der das Paul-Gedicht sich verdankt, lautet, ausgeschrieben: Ersetze das Bachmann-Gedicht Verszeile für Verszeile so, dass der Umriss erhalten bleibt, soll heißen, Bedeutung, Metaphorik, Rhythmus erkennbar aufeinander bezogen bleiben. Entscheidend ist die Wahl der Verszeile als fester Bezugsgröße, als des mehr oder minder stabilen Wechselrahmens, der die avanciertere Fassung aufnimmt. Natürlich ist diese Wahl ein Akt reiner Willkür, Ausfluss eines nicht weiter zerlegbaren So könnte es gehen, welches das Risiko des Scheiterns prononciert, indem es die Breite erfindlicher Varianten empfindlich einschränkt. Die gewählte Richtschnur entpuppt sich als künstliches – sprich: keiner auf ›Bedeutung‹ zielenden Ambition verpflichtetes – Handicap, einzig dazu bestimmt, den Charakter des entstehenden Gebildes im voraus festzulegen. Der ›Charakter‹ schließt bestimmte Züge ein – Länge des Gedichts, Zahl und Umfang der Strophen etc. – und somit andere, denkbare, von vornherein aus. Das ist keineswegs nebensächlich: es bedeutet, ein noch unkalkulierbares Risiko einzugehen, die immer bestehende Möglichkeit des Scheiterns auf diesen einen Punkt zu konzentrieren. Von nun an entsteht, in allen Zwischenstufen und Varianten, ein Gedicht, nicht etwa eine Galerie gleichwertiger Entwürfe.

Durch das Überschreiben wird der überschriebene Text an die unbestimmte Menge gleichgültiger Texte zurückgegeben, zu denen er zählte, bevor er für einen Moment die Aufmerksamkeit gewinnen konnte, die ihm die Selbstzensur des Autors nicht weiter zugestehen will. Er kommt, so müsste man sagen, nicht länger in Betracht. Das ist die eine Seite der Sache. Die andere erschließt sich im Blick darauf, dass der überschriebene Text mit dem vorausliegenden – in diesem Fall das Bachmann-Gedicht – identisch ist, an dem sich der schöpferische Impuls entzündet. Der vorausliegende Text ist nicht nur ein vorhandener, der zufällig in den Gesichtskreis des Schreibenden gerät. Er ist der Text, der im Moment über alle Maßen präsent ist, so dass angesichts seiner das Unterfangen, selbst zu schreiben, mit einer Zwangsläufigkeit, über die das Subjekt nicht Herr ist, den anderen Text hervortreibt. Der eigene Text ist der andere. Das aber bedeutet, der zu eliminierende Text ist kein anderer als der gesuchte. Die schmerzliche Einsicht, dass der Text, der das Subjekt mit jener ästhetischen Lust bläht, in der die Empfindung der eigenen Produktivität überwiegt, gerade der ist, den geschrieben zu haben mir definitiv verwehrt ist, ein fremder Text – diese Einsicht vertreibt das Autor-Subjekt aus dem Paradies der Texte, die, obwohl sie von ihm nicht gemacht wurden, bei ihm stets überwiegen werden, weil sie ihn gemacht haben.

 

6.

Damit wäre die Überlegung wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen: Texte entstehen – manche werden es mit einem Aufatmen quittieren – aus Texten. Eine Modifikation verdient allerdings festgehalten zu werden: Dichtung entsteht dort, wo der bereits existierende Text den Schreiber mit der Sprachlosigkeit schlägt, die sich dem Wiedererkennen des Eigenen im Fremden verdankt. Die Bestimmtheit des literarischen Ausdrucks ›entspringt‹ diesem durch alle Ersetzungen hindurch sich erhaltenden Wiedererkennen. Daher gibt es zweierlei Bestimmtheit: die unter das Tabu fallende – den peinlichen oder missglückten Ausdruck – und die durch die List der Selbstzensur dem Tabu entgehende – den treffenden oder geglückten Ausdruck, der das Mal des verbotenen Ausdrucks trägt, ohne anders als unnachdrücklich an ihn zu erinnern. Das Unnachdrückliche ist das Sprechende.

Nicht Wort also, nicht Weise – wie fügen sich Pounds ›Logopoeia‹ und ›Melopoeia‹ in dieses Resultat? Zunächst entstammen sie einer spiegelverkehrten Problemlage. Bei Pound schafft sich die ›geschöpfte‹, sprich: autonome Wort- bzw. Klangfigur einen Hof von Bedeutungen. Falsch ist das nicht, auch wenn es den Anteil des Subjekts unterschlägt. Soweit dies mit Absicht geschieht, lassen sich die Gründe dafür rekonstruieren. Sie liegen in die kunstprogrammatischen Auseinandersetzungen an der Schwelle seines Jahrhunderts, die uns, seltsam genug, noch immer als die Schwelle zum Gegenwartsbewusstsein gilt. Andererseits berührt das antisubjektivistische Votum einen Aspekt von Dichtung, der sich als beständiger erweist als die Konstellation, in der er ans Licht tritt. Man kommt ihm ein Stück näher, sobald man das verhandelte ›Subjekt‹ genauer in Augenschein nimmt. Die Routine-Rede vom literarischen Subjekt (in Analogie zum theoretischen, zum praktischen, zum Rechtssubjekt) kann nicht verdecken, dass in allen unterschiedlichen Funktionen das Subjekt als dasselbe gedacht werden muss, wenn es sich nicht in der unaufhebbaren Unterschiedenheit der Funktionen und Funktionssysteme verflüchtigen soll. Es bleibt stets das eine ›konkrete‹ Subjekt. Man muss diesen Hintergrund sehen – und akzeptieren –, will man verstehen, was es mit dem ›Wiedererkennen des Eigenen im Fremden‹ auf sich hat, das den literarischen Prozess auslöst – denselben, den die Schöpfungsmetapher zu einem spontanen und einfachen Akt stilisiert.

In seinem Buch Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung beschreibt der DDR-Dichter Franz Fühmann eine Extremerfahrung im Geiste: das Hervortreten der – eigenen – dichterischen Produktivität unter den Prämissen einer zweifachen Gehirnwäsche, sprich: eines auf der Klaviatur der Schuld-, Abwehr- und Gemeinschaftsgefühle erzwungenen Mittuns und -denkens erst in der nationalsozialistischen, dann der realsozialistischen Gesinnungsgemeinschaft. Er beschreibt – darin liegt das Aufmerksamkeitsheischende – dieses Hervortreten minutiös als die Verwandlung einer Lektüre, in seinem Fall der in den letzten Kriegsmonaten begonnenen, unterbrochenen und wieder aufgenommenen Lektüre von Trakl-Gedichten. Das überwältigende Erlebnis der Lektüre und ihrer stufenweisen Anverwandlung geht einher mit einer signifikanten Unempfindlichkeit gegenüber dem Autor und seinen Lebensdaten, bezeichnend im Gespräch mit dem Vater kurz vor Kriegsende, der erzählt, er habe den ›armen Schorschl‹ im Frühherbst 1914 in einer Sanitätskolonne kennengelernt:

mit einem Mal nickte er heftig und rief mit der augenweitenden Lust des Wiedererkennens: Ja, akkurat, das sei es gewesen, das spinnerte Stückl, weswegen man den Schorschl bei einem Mullatschak so schrecklich gepflanzt hab, da habe man nämlich einmal Papiererl von ihm aufgestöbert und dann in der Messe reihum gegeben und vorgelesen, er entsinne sich wieder, Wort für Wort, und wie der Schorschl damals aufgebrüllt hab, und sich verfärbt hab, und ganz weiß geworden sei, und gezittert hab...

Wir tranken, und die Nacht sah uns zu. – Ich weiß heute nicht mehr, und wußte es sicher auch damals nicht, welches Gedicht mein Vater gemeint hatte... er widmete sich wortlos wieder seinen Rezepten: dem Gift im Fuchsmaul und dem Kraut der Träume, und vergrub sich in Folianten organischer Chemie, und ich scheute oder fürchtete mich, ihn weiter nach seinem Kameraden, dem k. u. k. Medikamentenakzessisten Georg Trakl, zu fragen, von dem ich damals noch nicht wußte, daß er sich eben in der Zeit, da mein Vater ihn entlassen wähnte, dem Greuel seines Tages in den Tod entzogen hatte, und dies wahrscheinlich durch eigene Hand. – Ich kannte damals nichts vom Leben der Dichter; ich wollte kein Bild. – So fragte ich denn nicht weiter, und nahm das Buch, und trank Wein, und glaube zu wissen, daß ich noch einmal das Gedicht las, das mich in jener Weise erschüttert hatte, von der man ahnt, daß die Risse erst später aufbrechen, den Untergang, seine dritte Strophe, die letzte, die nie wieder vergessene: Immer klingen die weißen Mauern der Stadt. / Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.

»... ich wollte kein Bild« – man kommt dieser Aussage ein wenig näher, wenn man den späteren, im Blick auf den Dekadenz-Vorwurf an die Adresse des Dichters geschriebenen Passus hinzunimmt:

War das, was in Trakls Gedicht geschah, nicht tatsächlich ein Abbau von ›Menschlichgutem‹ – welch Wort mich bei Hölderlin beseligt, da ich es als Vorwegnahme all des Edlen, Wahren, Guten und Schönen, das der Sozialismus freisetzen würde, empfand? Ich mußte diese Frage bejahen, und damit war die nächste da: Gehörte solcher Abbau von Menschlichgutem nicht zum Programm der Menschheitsfeinde, zum Überführen des kalten Krieges in den heißen, der ja in Korea schon tobte? – Alles war schlüssig; warum wehrte ich mich? – Reste des Alten. – Ich fuhr nach West-Berlin, um Flugblätter gegen den drohenden Krieg in Briefkästen Unbekannter zu stecken – müßte ich eigentlich nicht zuerst eines an mich selbst adressieren?

O ihr Psalmen in feurigen Mitternachtsregen; und diesen Psalm dann wiederlesen: Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen der Student vielleicht ein Doppelgänger schaut ihr lange vom Fenster nach hinter ihm steht sein toter Bruder oder er geht die alte Wendeltreppe herab – ich verstand kein Wort, und diese Worte sagten mein Schicksal, hinter mir stand mein toter Bruder, Doppelgänger Ich, hatte Trakl Brüder, ich hatte keinen, war ich gespalten, ich wußte es nicht, – Ich wollte doch nicht, daß ich dies las, warum las ich dies, und nahm wahr, daß ich’s las, obwohl ich nicht wollte, daß ich las und wahrnahm, und nahm wahr, daß ich wahrnahm, und nahm auch dies wahr und drehte mich im Strudel und sah mir, dem versinkenden Anderen, zu, und in dieses Anderen bösen Träumen erschien wieder die fremde Schwester, die Frau eines meiner Arbeitskollegen, der während einer Tagung in Weimar von unseren Sicherheitsorganen auf Grund einer offenbaren Verleumdung nächtens verhaftet worden war; ich hatte sie bislang nicht kennengelernt, doch ich wußte sofort, wer sie war, da sie eintrat und nach dem spurlos Verschollenen fragte. Wir waren verpflichtet, von nichts zu wissen...

Kein Bild wollen bedeutet hier, keine Zuschreibung vorzunehmen, keine Auslegung anzuerkennen, deren Resultat, angesichts des ›gültigen‹ Instrumentariums, voraussehbar wäre und in den Ängsten des Lesers vorweggenommen erscheint, stattdessen das Gedicht wörtlich zu nehmen bis zur Verschmelzung dessen, der da spricht (von dem nichts zu wissen zu den Voraussetzungen einer solchen Lektüre gehört), mit dem Leser-Ich – »hinter mir stand mein toter Bruder, Doppelgänger Ich, hatte Trakl Brüder, ich hatte keinen« –, nicht als soziale Identifikation, als spielerisch-ernstes Sichanmessen der Rolle eines anderen sozialen ›Subjekts‹ im Vollzug eines Rollensprechens, sondern, im Gegenteil, als die unter Schuldgefühlen sich vollziehende Verweigerung des geforderten Identifikationsaktes hier und jetzt – »ich verstand kein Wort«. Doch was heißt es dann noch, ein Gedicht wörtlich zu nehmen?

Einen verstellten Hinweis gibt Fühmann selbst, wenn er vom ›es‹ in Trakls Gedichten als dem abstrakten Zeichen des Todes redet: »In Auschwitz war es eine bläuliche Schwade. In Trakls Gedicht ist es das ›es‹«. Das ist sicher tief empfunden, dennoch bleibt es, bezogen auf einen bestimmten Vorgang an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und auf ein aus einem begrenzten literarischen Corpus gezogenes Abstractum, eine Behauptung, die der Bedeutung der Fragestellung nicht ganz gerecht wird. Es heißt, die Beantwortung der Frage auf das Gedicht und damit auf ein einzelnes Stück Literatur oder auf die Neigung eines Autors überzuwälzen, der bereits spricht, und fortspricht, obgleich die Frage eine generelle und nicht schon literarische Antwort verlangt. In dieser Hinsicht ist der Hinweis auf den Tod und die – durch den Auschwitz-Verweis in den Bereich unfassbaren Grauens verschobene – Endlichkeit des Subjekts als das Motiv hinter den Motiven der Literatur nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Hinweis auf das auf sein ›abstraktes‹ Subjektsein eingezogene und so der im Akt der Selbstzensur antizipierten gesellschaftlichen Ächtung preisgegebene konkrete Subjekt, das sich in seinen Bezügen sowohl findet als auch verliert. Das seiner ›Abstraktheit‹ innewerdende (und momentweise in ihr fast ›ertrinkende‹) Subjekt ist das Subjekt aller, der anonyme Ort, an dem eine ihrerseits anonyme, durch keine Urheberrechte gespaltene Imagination im Fluss ist. Dieses Fließen der Imagination allein wäre noch nicht produktiv zu nennen, aber es setzt – und hält – die ästhetische Produktion dort in Gang, wo sie, durch was auch immer veranlasst, hervortritt.

Produktiv in dieser Bedeutung ist, wer es zu sagen imstande ist oder zum Ausdruck bringt, wobei es nichts anderes ist als das, was in allen vorgeht. Sagen, wie es ist: dieses Es vor aller Auslegung, die bereits zensiert, ist das, woran sich die Deutungen abarbeiten, obwohl es nichts zu bedeuten hat. Der Grund ist einfach – erst das endliche, in der kommunikativen Distanz der Subjekte sich artikulierende Denken generiert Bedeutungen. Das Schöpferische, heißt das, ist grundiert mit Nicht-Bedeuten. Insofern es bedeutet, bedeutet es sich entfaltende – endliche – Subjektivität. Und auch das bleibt eine von außen herangetragene Bedeutung, die ein ›Bedeutendes‹ voraussetzt, darin durchaus im Bunde mit dem Dichter selbst, der sowohl den Vorgang des Dichtens als auch das Gedichtete für bedeutend hält, aber die Deutung, also das diskursive Ausschreiben der Bedeutungen, seinen Interpreten überlässt. Die ›schöpferische‹ Überlistung der Zensur im überschreibenden Aneignen des empfangenen Textes entpuppt sich, so gesehen, als eine Zurschaustellung des komplexen und Deutbarkeiten generierenden Mechanismus der Zensur, ohne den das Bild des schöpferischen Individuums nicht zustandekäme. Der scheinbar subjektlose Akt des Schöpfens steht darin für das einfache und auf keine Weise zu projektierende Hervortreten der Bedeutungen oder, genauer, des Bedeutungsmoments an den aus der Anonymität des Imaginationsflusses auftauchenden ›Bildern‹ der Poesie.

 

7.

›Also doch Philosophie‹ – der vertraute Einwurf des emsigen Interpreten orientiert sich an einem Wahrnehmungsmuster, das verständlicher wird, wenn man die darin erkennbare Reflexionsabwehr unter die Weisen eines professionalisierten Umgangs mit literarischen ›Erzeugnissen‹ zählt. Wer seinen Beruf darin erkennt, textuelle Bezüge zwischen den primären Gegenständen des literarischen Feldes – den sogenannten ›Werken‹ der Literatur – herzustellen und ›Horizonterweiterung‹ – hermeneutisch gesprochen – nur als Hinzunahme weiterer Texte begreift, dem mag irgendwann auch Diskursanalyse als das Ziel aller ›Interpretation‹ erscheinen und der vorläufige oder endgültige Verzicht auf den ästhetischen Werkbegriff als Telos seiner Disziplin, aber er bleibt einer Logik der Produktion verhaftet, die auf seltsame Weise an den geleugneten oder verdrängten Aspekten seines Gegenstandes teilhat. Die Leugnung oder Verdrängung des Mechanismus, der produktiv macht, durch den primär oder sekundär Schreibenden, der sich das Geschriebene durch Aus- und Einschlüsse zueignet, gehört zum Gestus des Verfügens, vermöge dessen die soziale Person den Raum der Literatur und ihrer Auslegungen betritt. Wer keinen Zweifel daran aufkommen lassen darf, wer an diesen Orten das Sagen hat, der muss das ›Sagen‹ radikal von der Positionalität dessen trennen, der sagt – aber umso bestimmter auf das eingrenzen, was ›hier und heute‹ Sache ist.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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