1.

Kaleidoskope sind optische Geräte. Im einfachsten Fall bestehen sie aus einer zweckmäßig verspiegelten Röhre, einem locker mit bunten Materialien gefüllten, lichtdurchlässigen bzw. durchsichtigen Behälter sowie einem Guckloch. Erfunden hat sie Anfang des 19. Jahrhunderts der schottische Physiker Sir David Brewster. Kaleidoskope erzeugen filigrane symmetrische Bilder von großer Farbkraft, die sich durch einfaches Schütteln leicht variieren lassen. So erklärt sich der Name der Apparatur nebst ihrer noch heute ungebrochenen Anziehungskraft, vor allem auf Kinder: Sie lässt schöne Bilder sehen. Abgeleitet aus der Verbindung von griech. καλός (›schön‹), εἴδος (›Form‹) und σκοπέω (›schauen‹), entfaltet sich rund um die technische Apparatur das Wortfeld KaleidoskopKaleidoskopikKaleidoskopie. Signifikant seltener findet in den Texten für bestimmte Personen der Ausdruck Kaleidoskopen Verwendung: ›Schönseher‹ sein ist kein erstrebenswerter gesellschaftlicher Status.

Blickt man aufs neunzehnte und die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts zurück, liegen die Dinge ein wenig anders. Eine gewisse Affinität kaleidoskopisch erzeugter Bilder zur ornamentalen Kunst, zum Dekor, zu Kunsthandwerk und ›Design‹ ist nicht von der Hand zu weisen und historisch verbürgt. Dort, wo sich Kunst und Design trennen, trennt sich die Kunst von den Vorstellungen einer Epoche, in der ihre Erzeugnisse vornehmlich zur Verschönerung der Welt beitragen sollten. Mit ihnen verfällt auch die opto-mechanische Schönheit der Schüttelbilder der Geringschätzung der Ästheten. Anders als Fotografie und Kinematographie vermehren sie offenbar nicht das Wissen um die Welt, sondern ›bloß‹ die Welt der schönen Dinge. Man kann diese Deutung zurückweisen, aber sie erklärt das lange Desinteresse der Kunst an Wunder- resp. Verwunderungseffekten kaleidoskopischer Herkunft.

Verwunderung spielt im Universum der Mersmannschen Dinge eine nicht zu unterschätzende Rolle. »Wenn einem Kunstwerk, gleichsam als Taufe, Gerechtigkeit widerfahren ist, dann war schon der zarte Anfang seiner Entstehung auf Verwunderungs­punkte angelegt«, heißt es im Alphazet unter dem Stichwort »Verwunderungspunkte«. Als Beispiele nennt Mersmann das schöne Muster einer Krawatte und den scharlachfarbenen Ausschlag am Arm einer schönen Frau. Die ornamental entfesselte Malerei zielt, unabhängig von Darstellungsintention und Sinndimension des Kunstwerks, auf die Sehlust des Betrachters. In solchen Details befreit sich, so der programmatische Gedanke, die Malerei vom Bann der Auslegungen, der kulturgegeben auf ihr lastet. Es sind »Blüten, die aus den Schleiern des Schicksals oder der Schöpfung hervortreten«. Sie besitzen die Kraft des Mantras, den Blick aus der Umklammerung durch die Vergangenheit zu lösen und auf die leere Zukunft zu richten. Damit stehen sie auf einer Stufe mit dem entfesselten, jeder gegenständlichen Grundlage spottenden Augenreiz kaleidoskopisch erzeugter Bilder.

Ausgesprochen finden sich solche Gedanken in der letzten Erzählung der Kaleidoskopischen Schriften.

Und dies ist ja nur der Anfang, die kleine Vorschau auf den Orkan der Verwandlungen, der seine Sendboten jetzt noch sehr friedlich unter die Büsche eines Abhangs oder in die Spalten einer Felswand gelegt hat... Aber zufrieden mit allem, was sich zeigt, zugleich erschüttert durch die Überempfindlichkeit, die so plötzlich die Herrschaft über den Geist antreten kann, stehen die Eremiten auf ihrer Wiese, Sektierer der Kaleidoskopen: Wehe, ein Hauch weht sie an, gleich verwandeln sie sich, werden bunt und zerfallen, um neu zu erstehen... Nur die Mutter des Asketen, den Korb voller Pilze, ist vorerst mitsamt ihrem spitzen, steingefährdeten Kopftuch in stummer Verwunderung stehengeblieben.1

Nimmt man die Kaleidoskopie als einen der vielen Anfänge der Kunst, aus denen sich ihre Züge erraten lassen, so gibt die kaleidoskopisch verfahrende Kunst sich als eine Kunst des Anfangs, als anfängliche Kunst. Hier tut sich ein Assoziationsraum auf, der wahrgenommen sein will. Mersmann selbst zitiert mit der Formel »wir in die Leere der Zukunft dringende Kaleidoskopen« eine Wendung aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft:

Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger vielleicht als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu Schaden gekommen, aber wie gesagt gesünder, als man es uns erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund – will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, daß unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst außer sich geraten sind...

Die argonautische Existenz im Rücken, vollzieht der Kaleidoskop die nächste Wende: die Rückkehr zur Kunst, verstanden nicht als Rückkehr zur Tradition oder zum Handwerk, eher als Rückkehr zur gestalteten Oberfläche, überhaupt zum Sehen. Die utopischen Ländereien jenseits des bisher Gesehenen reizen nicht mehr – der Künstler streicht sie aus, er konzentriert sich auf das fallweise nie Gesehene, das ›Unabsehbare‹: darin liegt für ihn der Inhalt der nachargonautischen Kunst. Das kaleidoskopische Verfahren erlaubt keine systematische Findung. Es bleibt – und zwar auf jeder Stufe der Konkretisation – ergebnisoffen. Der jeweils nächste Fund ist durch den vorhergehenden nicht oder allenfalls schwach determiniert. Der kaleidoskopische Prozess vollzieht sich sprunghaft, der Richtungssinn wechselt, das Erreichte bleibt und versinkt in ein und demselben Vorgang. Der Unterschied zwischen Werk und Werkfolge, wenn es ihn für den Künstler jemals gab – hier ist er aufgehoben, ohne ›das Werk‹ – als Begriff und Sache – damit preiszugeben. Es gibt immer etwas zu sehen.

Wie immer gibt das ›etwas‹ die Rätsel auf. Eine Oberflächenkunst, harmlos in ihrer ungebrochenen Raumdimensionalität, gibt nichts zu sehen, weil sie alles zeigt. Im Zeigen liegt der Verweis auf etwas, das nicht im Bild liegt. Was hier geschüttelt – oder erschüttelt – erscheint, ist der Sinn selbst als die Größe, um die sich, ungeachtet aller sinnlichen Präsenz, die Kunst, alle Kunst bewegt, jedenfalls solange Reste des christlichen – oder allgemein-religiösen – Formgefüges in ihr wirksam sind. Innerhalb dieses vom Einzelnen nicht abzuschüttelnden Rasters entfaltet Mersmanns Kunst ein halbmechanisches, dem Zufall verbundenes Spiel mit Wörtern und Bildern. Ihr erstes spielerisches Moment ist das In- und Durcheinander der Bilder und Texte selbst. Es besitzt eine ästhetisch-programmatische, auch poetologische Dimension. Ihr zu Grunde liegt, halb verborgen, die post- oder besser meta-surrealistische Herausforderung an alles, was als ›Vernunft‹ auftreten können soll: ein Herausfordern oder, listiger, Herausschütteln von Ordnung aus etwas, das nach Nicht-Ordnung oder Chaos aussieht und vom Künstler als primäre Wirklichkeit ›verworfen‹ wird. Auch wenn es manchem widersinnig erscheint: die Poesie der Un-Ordnung verdankt sich einer enzyklopädischen Anstrengung. Insofern ist und bleibt sie eine Poesie der zu leistenden Übergänge.

 

2.

Schüttelbilder sind zufällige Arrangements von Elementen, die zunächst nichts weiter verbindet als das Zusammengeschüttetsein. Dass sie auf einer Fläche erscheinen, enthält bereits ein Element der Täuschung, da es die räumlichen Verhältnisse, die zwischen ihnen herrschen, unterschlägt. Die zweite Täuschung entsteht durch Spiegelung: die Längsspiegel des Kaleidoskops vervielfachen den Anblick des bloßen Materials und verleihen ihm eine geometrische Struktur, die es von sich aus nicht besitzt. Kaleidoskope, bei denen sich der Winkel zwischen den Spiegeln verstellen lässt, erlauben daher nicht nur unterschiedliche, sondern auch unterschiedlich strukturierte Bilder. Die letzte Konstante im Bild ist das Material selbst, die Größe, Form und Farbigkeit der einzelnen Elemente. Auch sie lässt sich variieren. Linsenkaleidoskope etwa verwenden keine eingelagerten Materialien, sondern den frei wählbaren Anblick der Umgebung als optische Grundlage.

Nüchtern betrachtet ist die gleichmäßig nach bestimmten, dabei variablen Mustern erfolgende Verteilung von Farbflecken auf einer Fläche keine besonders aufregende Angelegenheit. Das Spielerische daran verdankt sich der einfachen Herstellung dieser Bilder. Dass sie überraschen, dass sie überraschen können, rührt von der Spannung zwischen der Simplizität der Ausführung und dem Komplexitätsgrad des Ausgeführten her. Für einen, der weiß, welche Objekte der optischen Pracht zu Grunde liegen, kommt das Staunen über die Verwandlung ihres Aussehens hinzu: ein immer erneuter Anlass zum Nachdenken darüber, was diese Verwandlung bewirkt und ermöglicht. Andererseits reduziert sich das Staunen wieder angesichts der Einsinnigkeit, die sich unübersehbar in den vielfältigen Wiederholungen auftut. Wer das Prinzip begriffen hat, geht rasch über den scheinbaren Reichtum der Bilder hinweg. Nur Kinder verharren länger bei ihrem Anblick. Das Sich-Sattsehen ist keine physiologisch, sondern ›kulturell‹ gesteuerte Option, die auf physiologischen Gegebenheiten ›aufruht‹.

Die kaleidoskopische Ordnung der Bilder ist beliebig. Sie steht im Belieben derer, die sie herstellen, und sie bleibt beliebig im Sinne der Zufallsgegebenheit.

An der Herstellung sind mindestens zwei Instanzen beteiligt: die ›konstruierende‹ bzw. ›einrichtende‹ und die ›handhabende‹. Die erste Instanz bestimmt den Typus der zu erzeugenden Bilder, die zweite das Einzelbild, soweit von Bestimmen hier die Rede sein kann. Eher könnte man sagen, sie bestimmt die Bandbreite der entstehenden Zufallsbilder, die nicht sogleich verworfen, sondern der mehr oder minder eingehenden Betrachtung zugeführt werden. Diese Bandbreite kann groß sein, sie kann im Extremfall mit derjenigen des Zufalls übereinstimmen, sie kann auch sehr eingeschränkt werden, so dass auf eine große Zahl verworfener Bilder eine kleine und ›strenge‹ Auswahl von akzeptierten entfällt. Über die Auswahl selbst, ihre Kriterien und Mechanismen ist damit nichts gesagt.

 

3.

Mit Mersmann gesprochen: Kaleidoskopische Kunst ist ›tautognomisch‹. Sie sagt nicht immer dasselbe, sie sagt es auch keineswegs auf dieselbe Weise. Sie sagt ihren Spruch, sie sagt ›es selbst‹. Was immer sie sagt (und zu sagen weiß), geht aus Erschütterungen hervor – ob diese stark oder schwach sind, tut nichts zur Sache. Die leiseste Erschütterung ist imstande, die stärksten Übergänge hervorzubringen – erste Regel der Kaleidoskopie. ›Im Leben‹ mag die Erschütterung einen guten (oder bösen) Sinn haben, sie mag gewollt oder erzwungen, durch Zufall ausgelöst sein oder sich einer Katastrophe verdanken. Das Kaleidoskop registriert nur den mechanischen Stoß und setzt ihn mechanisch um. Haben die Bilder, die dabei entstehen, deswegen keinen Sinn? Das zu behaupten wäre ein wenig voreilig, schließlich ›kommen‹ sie bei solchen Gelegenheiten ›hervor‹, beanspruchen also eine Art Realpräsenz aus gegebenem Anlass. ›Dieses Bild ist aus dem und dem Anlass entstanden‹ – ein solcher Satz reklamiert eine hohe Erklärungsdichte, als könnte, wer nur wollte, aus dem gegebenen Anlass das ganze Bild erklären. Es will aber keiner und das ist gut so, denn schnell könnte sich herausstellen, dass es nicht ginge. Dennoch bleibt die Rede plausibel. Sie unterstellt die Präsenz eines Ereignisses in zwei Räumen. Die Form, die sie dabei wählt, ist die der kausalen Verknüpfung: pingo ergo sum. Was das Schütteln und Geschütteltwerden und seine Wirkungen angeht, so hat sie damit nicht unrecht. Gegenüber der Kunst sind alle Kaleidoskopen. Vorausgesetzt, sie bleiben ihr gegenüber, soll heißen, durch eine Apparatur von ihr getrennt: zweite Regel der Kaleidoskopie.

 

4.

Die Konzeption der A.B.C.-Bücher ist ›ikonographisch‹. Das versteht sich gewissermaßen von selbst. Die Buchstaben des Alphabet werden vom Künstler rückübersetzt in Elemente einer Bildersprache. Aber was heißt schon ›rückübersetzt‹? Die Zeichnung nötigt zur pikturalen Betrachtung all der Höcker, Blasen, Stützfüßchen etc., die zusammen den Buchstaben ›ergeben‹. Plötzlich zeigen sie Dinge: Haus, Baum, Berg, Kegel, Brille oder Brezel. Sind sie keine Buchstaben mehr? Bedeuten sie plötzlich diese Dinge? Keins von beiden: es sind und bleiben schmuckhaft ausgestattete Buchstaben, in denen die Schaulust diese oder verwandte Dinge erkennt, übrigens ohne immer sicher zu gehen, dass sie sich nicht täuscht, was immer das heißen mag. Der ausgestaltete Buchstabe steht für das Lemma oder auch nicht, er kann es umspielen oder konterkarieren oder ›links liegen lassen‹. All das ist möglich, es wird in der Folge der Blätter durchgespielt, aber im Modus der zufälligen Fügung.

Lesen lernt man so nicht, Schreiben ohnehin nicht. Die ikonographischen Buchstaben verfehlen den Charakter der Buchstabenschrift, insofern sie sie behandeln, als bestünde sie aus Piktogrammen. Unter didaktischen Gesichtspunkten enthalten sie daher ›dummes Zeug‹, ›Unfug‹, ›Belanglosigkeiten‹ – Spielelemente, die nicht zum (Schrift-)Thema gehören. Zweifellos unterbieten sie, Graffitti vergleichbar, den Standard ›seriöser‹ schriftlicher Artikulation. Damit fordern sie, zur Überbrückung der Differenz, den paratextuellen Eintrag heraus. Von ihm erwartet der Leser, dass er darüber informiert, worum es im Bilde geht. Der Künstler trägt diesem Begehren Rechnung, indem er in die Bild-Buchseiten hineinschreibt, nicht ohne das Begehren damit in ein anderes zu verwandeln, da sich der Eintrag alsbald als erläuterungsbedürftig erweist. Der Kommentar, das verdeutlicht schon eine flüchtige Lektüre, überbietet die Mitteilungsnorm, die vom ikonographischen Pseudo-Zeichen unterboten wird. Gleichzeitig kommt durch die Handschrift ein neues graphisches Element ins Bild hinein.

Bleibt es ein Bild? Der Eintrag ergänzt die pictura und erweitert sie, da er selbst ›graphisch reizvolle‹ Züge trägt, er ist Bestandteil des Bildes, er rundet, wie man sagt, den Eindruck ab. Er zerstört ihn aber auch und verwandelt ihn in etwas anderes: den Eindruck von einem Blatt, in das jemand Erklärungen hineingekritzelt hat. Wer ist dieser Jemand? Der Zeichner? Ein Kommentator, der sich zum Bild verhält? Der es ›respektiert‹ und verdeutlicht? Der es gerade nicht respektiert und durch sein Gekritzel überformt? Aber das sind Fragen, die mehr dem ›Blatt‹ als dem ›Bild‹ gelten. Jedenfalls sind Blatt und Bild nicht dasselbe, wie Kopf- und Fußbeschriftung des Blattes eindeutig kundtun. Das Blatt ist Schrift-Stück. Der übliche Aufbau einer Mersmann-Seite mit Titel, Gegenstandsbeschreibung, Bild oder ›Abbildung‹ mit hineingekritzelten Erläuterungen und darunter stehendem Kommentar erinnert an technische Zeichungen oder, allgemein gesprochen, an didaktische oder lexikalische Aufbereitungen erklärungsbedürftigen Bildmaterials. Als Anregungsquelle nennt Mersmann Schriften aus der alchemistischen Tradition.

 

5.

Mersmanns frühe A.B.C.-Bücher entstehen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Bis dahin ist er der Maler großer Wandgemälde, unter denen die Ungestüme Reise (1987) in einem öffentlichen Durchgang zwischen zwei Straßen der Wiesbadener Innenstadt, einer Art Innenhof, eine abschließende Sonderstellung einnimmt. Dieses Bild weist bereits einen Aufbau und eine Motivik auf, die sich von denen der A.B.C-Bücher nicht grundsätzlich unterscheiden. Der Betrachter erblickt ein Quadrat auf ungestümer Reise in die Zukunft, kutschiert von einem aus dem Motiv-Repertoire de Chiricos übernommenen manichino. Flankiert wird der surreale Auftritt von einer Gruppe aus Frauen und Kindern sowie einem Vogelknaben, der einen Kreis auf dem Kopf trägt. Was das Wandbild von einem A.B.C.-Blatt unterscheidet, sind, neben dem schieren Format, der Anbringungsort und die Abwesenheit der Schrift. Aber da ist bereits Vorsicht angebracht. In Mersmanns bildnerischem Œuvre besitzen Quadrat und Kreis ikonographische Qualität. Sie gehören zu einer Reihe quasi-schriftlicher Zeichen, die in den verschiedenen Medien wiederkehren und eine Art intermediäres Bedeutungskontinuum erzeugen.

Mersmanns erste A.B.C.-Bücher sind, wenn man so will, Zeugnisse eines ebenso abrupten wie auffälligen Format- und Medienwechsels. Das stationäre Großbild, die an öffentlichen Orten augestellte Großplastik fördern andere Weisen des Sehens und Betrachtens als das Buch und seine verschiedenen Derivate. Auch hier fallen Unterschiede ins Auge. Die A.B.C.-Bücher lassen sich weder sinnvoll vorlesen noch gemeinsam betrachten. Das liegt weniger am Medium Buch als an der Art ihrer Gestaltung. Ohne die ›Abbildungen‹ ›ergibt der Text keinen Sinn‹. Bild und Text zeigen eine Tendenz zur Miniaturisierung, die gelegentlich nach der Lupe verlangt. Mersmanns Blätter wollen entziffert werden. Der Zug zur Vereinzelung des Betrachters rückt sie ›rein technisch‹ an die Seite der Kaleidoskope. Man blickt in sie hinein, man ist überrascht von der Pracht der Farben, von der geordneten Vielfalt der Formen und Motive, die überall ›wie zufällig‹ anmutet, man möchte wissen, was man da sieht – und tatsächlich bekommt man eine Erklärung. Ob sie greift, ob sie stimmt, darüber ist Gewissheit nicht zu erlangen. Und gerade so, wie man kaleidoskopierend nicht bei einem Bild ›stehenbleibt‹, sondern zum nächsten weitergeht, lädt auch das A.B.C.-Buch zum Durchblättern ein: nicht im Einzelblatt, sondern in der durch Zahl und Folge der Buchstaben festgelegten Ordnung findet es die ihm gemäße Rahmung. Das Mersmannsche Kaleidoskop ist alphaskopisch, so, als wollte es sagen: Was immer du siehst, suche darin die Schrift.

 

6.

Ordnungssysteme sind Realitätsentwürfe, denen die Tendenz zur Verzerrung des Gegebenen innewohnt. Ordnung in die Verhältnisse zu bringen, wie sie nun einmal sind, ist immer auch eine praktische Aufgabe: wer die Welt ordnet, der verändert sie. Ebenso gut könnte man sagen, der Entwurf entzerre die Wirklichkeit, aber das läuft – praktisch – auf dasselbe hinaus. Die Verhältnisse wiederum verzerren jeden Entwurf, und zwar unaufhaltsam, unnachsichtig und irreversibel. Verhältnisse, die sich einem Entwurf verdanken, tragen, so sagt man, eine Handschrift. Sie ist dieselbe, die auch den Entwurf prägt. Der Entwurf trägt die Verhältnisse nicht, er liegt ihnen als Handschrift auf. Bestenfalls ist sie in sie eingraviert, eingetragen oder ›eingeschrieben‹. In dem Maß, in dem die Verhältnisse den Entwurf verzerren, ihn verändern, ihn mit anderen Entwürfen mischen, verzerren sie auch die Handschrift: sie wird unlesbar oder nur unter Mühen entzifferbar. Gleichzeitig dehnt sie sich aus, wird welthaltiger, nachhaltiger, schwerer zu tilgen.

Ein Künstler, der einen Ordnungsentwurf in die Welt setzt, der Dinge ordnet, die ihm ordnenswert erscheinen, sei es, dass er ihr Konterfei auf eine Fläche setzt, sei es, dass er sie beschriftet, ein solcher Künstler rechnet, von Ausnahmen abgesehen, nicht damit, dass er gesellschaftliche Kräfte weckt, die seinen Entwurf umzusetzen bereit wären wie den Plan eines Sparkassen-Neubaus oder ein Parteiprogramm. Sein Entwurf ist in der Regel selbstbezüglich und in den Grenzen seines Erdachtsein optimiert. Er soll als ästhetische Umsetzung eines als Denkgebilde oder -bewegung verstandenen Meta-Entwurfs verstanden werden und in dieser Gestalt möglichst lange und vielseitig verfügbar bleiben. Sammlungen, Museen, öffentliche Orte, nicht zuletzt Bücher und Bibliotheken übernehmen die Aufgabe, ihn zu konservieren.

Ein Künstler, der mit flüchtigen Materialien arbeitet, hat also die Wahl: er kann versuchen, das Handicap auf technischem Wege zu überlisten und er kann dem Vergänglichkeitswert seiner Kunst demonstrative Bedeutung zuschreiben. Das Kaleidoskop, mit der raschen Vergänglichkeit seiner Bilder und dem Rausch des Neuen, den es damit erzeugt, ist, so gesehen, eine Art Kunstgenerator.

Wäre dein Bild, scheint es zu sagen, so gleichgültig wie das von mir erzeugte Augenblicksbild, so würdest auch du nicht zögern, es im nächsten Augenblick zu zerstören. Auf Dauer nähert sich jedes Kunstwerk dem kaleidoskopischen an: es wird gleichgültig, weil es vergeht. Die Trauer um die verlorenen Schätze der Kunst ist unecht. Sie gilt entgangenen Genüssen, von denen man nicht weiß, ob man ihrer fähig wäre. Der Rest ist Archäologie.

Es existiert eine Archäologie der Wörter und es existiert eine der Materialien und Orte. Ein Künstler, der als junger Mensch zwischen zertrümmerten, pulverisierten, während eines kurzen, aber entscheidenden Abschnitts der eigenen Lebensgeschichte in Objekte der Archäologie und der Restaurationskunst verwandelten Kunstobjekten sein Handwerk lernte, sieht seine Tätigkeit diesem Aspekt der Kunst stärker als andere ausgeliefert: die Materialien wie die Trümmer besitzen für ihn den Wert von Reliquien der vom Menschen torquierten Natur und der vom Menschen geschändeten Menschennatur.

Schon ein flüchtiger Gang durch die A.B.C.-Bücher belehrt den Betrachter-Leser darüber, dass es sich um Reliquare handelt: Behälter eines sakralen Schatzes aus mehr oder weniger beschädigten, mehr oder weniger heilen Bildern und Gegenständen. In sie erscheint hineingestopft, was dem Künstler merkwürdig und bewahrenswert scheint. Keines dieser Objekte erklärt sich selbst. Jedes dieser Objekte ist es selbst, so wie der manichino an einer Wiesbadener Hauswand kein de Chirico ist und kein Mersmann, sondern ein manichino, wie er auf den Bildern de Chiricos zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Die scheinbaren Ausgeburten einer überquellenden Phantasie auf den Blättern der A.B.C.-Bücher, mit Phantasienamen geschmückt und mit zum Teil phantastischen Legenden ausgestattet, entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Fundstücke. Allerdings wurden sie nicht aus Dachstuben entwendet oder aus dem Schutt der Straße geklaubt. Der Künstler hat sie dem Gedächtnis entnommen – in sämtlichen Stadien der Verwandlung und des Zerfalls, der Assoziation, der Vermischung, der Verwechslung mit anderem. Das kaleidoskopische Verfahren des Zusammenwerfens und Aufleuchtenlassens in einem Zusammenhang, der hier und jetzt, dieses eine Mal trägt, forciert die Gedächtnisarbeit, es interpretiert sie nach Art einer technischen Vorrichtung, vergleichbar dem Objektvorsatz des Kaleidoskops, mit dessen Hilfe der Betrachter immer neue Elemente und Materialien in den Sichtkanal schiebt.

 

7.

2002 veröffentlichte Mersmann einen Band Erzählungen mit dem programmatischen Titel Kaleidoskopische Schriften. Das vorangestellte Motto lautet: »Du lieber Gott, in Unwissenheit wie ein Kaleidoskop geschüttelt zu werden, verschafft prophetische Zustände. Ausruf eines Mönchs bei einem Erdbeben.« Eine dem darin ausgesprochenen Wink folgende Lektüre gerät früher oder später an die Erzählung Deitsche Herzensspuren. Mönchischer Unwissenheit entspricht hier die kulturelle Unbedarftheit eines Bauarbeitertrupps, der nach dem Ende der DDR den geschichtsträchtigen Untergrund am Potsdamer Platz für die geplanten Neubauten präpariert. Die Gruppe besteht aus russischen Zuwanderern, sogenannten Volksdeutschen. Am Vorabend der definitiven Versiegelung des Baugrunds können zwei von ihnen, Vater und Sohn, der Versuchung nicht widerstehen, in die Trümmerwelt des untergegangenen ›Reichs‹ einzutauchen. Ihre Motivlage wird als schlicht beschrieben:

›Der Polier hat geflucht und gesagt, ich soll bloß den Mund halten, sonst hätten wir hier die Baubehörde am Hals. [W]ir können die gefundenen Sachen doch auf dem Flohmarkt verkaufen.‹ Das beste wollte er aber heimlich für sich behalten.

Während droben die Betonfahrzeuge im Anrollen sind, öffnen sie in einem unterirdischen Tunnel eine Folge von drei versiegelten Türen. Das geschieht nicht ohne Beklemmung.

Martin wagte es nicht, wie schon in der Wachstube, aus Angst vor dem Vergangenen und doch so erschreckend Unmittelbaren, den Draht auch nur zu berühren. Auch der Vater, das Siegel betrachtend, nahm erst dann und nur langsam die Hand von der Lampe, als sich das Zeichen nicht richtig erkennen ließ und ein unbefangenes Zugreifen nötig wurde. Jetzt erst löste sich dieser Bann. Immerhin lagen zwischen der neuen Berührung und der vergangenen vierundfünfzig Jahre! Damals hatte der Boden gebebt, das Heulen der Stalinorgeln, explodierendes Licht, Kommandorufe und Schüsse hatten die letzte Umdrehung des Drahtes begleitet. Und dieser allerletzte reichsamtliche Akt der Ordnung war es, vor dem sie so tief erschraken.« Die Zahl der Siegel nimmt von Tür zu Tür zu. »Es handelte sich schon fast um eine Art Kriegsbemalung, einen Akt barbarischer Abwehr, denn Türe und Rahmen waren ganz wild und willkürlich, ja vielleicht in einem Akt von letzter Verzweiflung, über und über versiegelt. Von überall her spannten sich farbige Kordeln mit Siegellack, ganz gleich wohin, und es waren selbst noch mit Ringen und Fingerspitzen, Uniformknöpfen, Orden und Ordensbändern die Hebel der Türe versiegelt.

Was findet man in einem derart, wie sonst nur im Reich der von traumatischen Erinnerungen geschüttelten Psyche, versiegelten Raum? Nicht jedenfalls die vom Sohn erhoffte Leiche von Eva Braun, dem fehlenden Stück der Sammlung. »Der Raum«, schreibt Mersmann,

war entschieden größer als die anderen Kammern. Es war ein übersichtliches Gewölbe, wie ein Tunnel, der aber doch nicht weit führen konnte, denn die kupfernen Wände warfen schon bald in der Tiefe das Licht zurück. Eine große Anzahl von aufgerichteten Walzen mit Adlern, Hakenkreuzen und kurzen Schriftzügen standen ... umher, aber auch eine Masse einfacher Stempel, deren gedrechselte Griffe in menschlicher Größe aufragten. Sie lagen in Fächern oder auch achtlos am Boden. Viele waren noch voller Erde und zeigten, daß man noch kurz vor dem Ende in Bombentrichtern und Trümmern unverdrossen oder verzweifelt gestempelt hatte. Es gab auch steil nach unten gerichtete Mörser, auf eisernen Stelzen wie Vögel, neben ihnen, fast wie Eier, Berge farbiger Kugeln. Zumeist waren sie schwarz-weiß-rot, aber wohl auch in den Farben anderer Länder oder neu zu gründender Reiche. Das konnte wohl das mitgeschleppte Grundbuch erklären.

Angesichts solcher ›irgendwie‹ verbotener Gerätschaften überkommt den geschichtsunkundigen, mit phantastisch-privaten Assoziationen vollgesogenen Sohn ein verqueres Bedürfnis.

Die kleineren Siegelwaffen, seltsame Gewehre mit großen Läufen und auch Pistolen sehr starken Kalibers, umgeben von Kästen geprägter Munition, zogen Martins Interesse auf sich. Er beschloß im stillen, Versuche [da]mit zu machen und dies mit erprobten Freunden. Es war ein aufreizender Gedanke, die Mauern öffentlicher Einrichtungen, Partei- und Verwaltungsgebäude damit zu zeichnen.

Da ist Gefahr im Verzug. Der Erzähler arrangiert einen kleinen obrigkeitlichem Eingriff, der dem Spuk gerade noch rechtzeitig ein Ende setzt.

Ein Gewitter, so schien es, ließ sich bis hier in die Tiefen vernehmen. Sie empfanden diesen Einbruch der Wirklichkeit und den fast symbolisch folgenden Donnerschlag mitten zwischen den Werkzeugen einer vergessenen, staatlichen Metaphysik wie ein schlimmes Zeichen. Allerdings weckte er auch die vom Anblick so vieler rätselhafter Dinge ein wenig betäubte Aufmerksamkeit...

Hier beginnt die Spur einer auffälligen Überblendung.

 

8.

Zu den Operatoren im Mersmannschen Universum aus Bildern, Ordnungsmustern, symbolischen Verfügungen, Gesten und Aufhebungen gehört ein von ihm angelegtes ›Grundbuch‹. Es hält eine Reihe von privaten Gesten fest, die zugleich Hoheitsakte darstellen: »Dedikationen und Votivgaben«, wie der Verfasser auf der Frontseite erläutert. »Das Grundbuch hat öffentlichen Glauben.« Die Sprache erinnert an gewisse Bekundungen des Surrealismus, an Nietzsches schrille späte Korrespondenz, nicht zuletzt an Posen Lautréamonts, dem Mersmann im Wassermusikalischen A.B.C. ein Grabmal gezeichnet hat. Anders als bei den illustren Vorgängern greift hier nicht der private Raum in den öffentlichen aus, sondern der öffentliche Raum imprägniert mit seinem Stempel- und Feststellungswesen den privaten. Mersmann Geste ist weniger absurd als funeral. Es sind Bergungen, die er vornimmt. Die Mimikry an die staatliche Ordnungskultur, die ganze Bewegung der Stempelgenerierung und -anwendung, der ausgefüllten Spalten, Bekräftigungsformeln und Unterschriften, die Verwendung selbstgefertigter Siegel ahmt eine Macht nach, die in gewisser Weise außerhalb des privaten Vorstellungsvermögens bleibt. Deshalb ist das einzig Reelle daran die Schutz- und Nachweisfunktion, also gerade das, was der Nachahmung abgeht. Das macht aber nichts, denn das Wesentliche ist mit dem Akt vollbracht. Mersmanns Grundbuch ist ein Kultbuch: die Eintragungen sollen Kulthandlungen entsprechen, deren Effekte keine Macht mehr auszuradieren vermag. Dieses Grundbuch geht der Erfindung des sich zu Tode stempelnden Nazi-Reichs voran.

 

9.

Als Erzählmotiv kehrt das geheime Stempelkommando des Dritten Reiches in den Schattenforschungen wieder, einem bizarren, nur in Ausschnitten zugänglichen Erzählkonvolut.

Zu den Erdschüssen und Erdstempelungen des hoheitswütigen Imperiums addiert sich darin ein geheimnisvoller, zum Zeitpunkt des Geschehens unbemerkt gebliebener Beschuss mit tantrischen Zeichen tibetischer Herkunft, der dem davon betroffenen Teil Europas einen neuen Sinn, eine andere Geistigkeit einprägen soll. Jedenfalls ist das die Arbeitshypothese der Schattenforscher. Ihre Gespräche umkreisen, mehr tastend, ratend als wissend, die Ergebnisse ihrer Forschungen rastlos umkombinierend, die verhüllte Ankunft einer ›karmischen‹ Weltsicht und das Ende der europäisch-christlichen, auf Grund und Folge und damit auf die Fortdauer einer eingebrannten Schuld bauenden Geschichte. Hier liegt der Zusammenhang zwischen zerrüttetem ›Grund‹, kultischer Praxis und kaleidoskopischem Ordnungsmodell greifbar zutage.

Greifbar ist aber auch etwas anderes: das Gewirr von Buchstaben, Zahlen, Emblemen und Hoheitszeichen, mit dessen Aussaat eine Geschichtsepoche und vielleicht die Epoche europäischer ›Geschichte‹ zu Ende geht, wird durch Maschinen erzeugt – Stempel, Siegelgewehre, Erdmörser, Stempelkanonen, ein bizarres und bedrohliches Arsenal von Druckmaschinen zur Landschafts- und Länderbeschriftung.

Mersmann befindet sich damit im Sog einer Denkrichtung, die, angestoßen von Marshall McLuhan und anderen Medientheoretikern, in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die ästhetische Debatte beherrschte. In ihrem Zentrum steht die etwas reißerische Idee vom Ende der Gutenberg-Galaxis, prosaisch gesprochen vom Ende der Epoche des Buchdrucks.

 

10.

Nähern wir uns dem Problem auf einem kurzen Umweg. 1986 erscheint, zunächst als elektronisches Buch, eine Schrift mit dem eigenartigen Titel Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Der aus Prag stammende Autor, Vilém Flusser, ganze acht Jahre älter als der zur Flakhelfer-Generation zählende Mersmann, ist vor Hitler geflohen und hat das Leben eines Emigranten geführt. Sein letzter großer akademischer Auftritt sind die Bochumer Vorlesungen von 1991 mit dem Titel Kommunikologie weiter denken. Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob Mersmann Flusser gelesen hat. Letzten Endes dürfte es nicht so wichtig zu sein. Erkennbar ist eine Konvergenz der Konzeptionen, die vielleicht nicht so sehr erstaunt, wenn man sich daran erinnert, wie verbreitet diese Gedanken zu ihrer Zeit waren.

»Die Erfindung des Buchdrucks«, schreibt Flusser,

hat – was auch die Geschichtsbücher dazu sagen mögen – den Universalienstreit für die Dauer der Neuzeit zugunsten der Realisten entschieden. Zwar haben zahlreiche Nominalisten an der Ausarbeitung der modernen Philosophie und Wissenschaft entscheidend mitgewirkt, aber der realistische Leitsatz ›universalia sunt realia‹ ist zu einem Grundsatz des neuzeitlichen Denkens und Forschens geworden. Wir glauben an die Realität von Universalien, von Typen, an die Realität von Atompartikeln, von Genen, von Gesellschaftsklassen, von Völkertypen, und wir versuchen, sie aufzudecken und zu manipulieren. Wenn gegenwärtig dieser Glaube ins Wanken gerät, wenn wir hinterrücks dazu neigen, Nominalisten zu werden..., dann ist das auf die Erschöpfung des typisierenden Denkens zurückzuführen: es wird absurd.

Als Ursprung dieses Denkens ortet Flusser die Erfindung des Buchdrucks: »Die Erfindung des Buchdrucks hat den Universalienstreit zugunsten der Realisten entschieden.« Sie konnte ihn deshalb entscheiden, weil sie ihn »aus seiner spekulativen Ebene in die praktische verschoben« hat. Die entscheidende Leistung Gutenbergs besteht, Flusser zufolge, nicht in der Erfindung der Druckmaschine, sondern in der Durchsetzung der Einsicht, dass Schriftzeichen ›Typen‹ sind. Die gedruckten Schriftzeichen sind, anders als die geschriebenen, Universalia, allerdings solche, die, ungleich den Ideen der mittelalterlichen Metaphysiker, »modelliert, verbessert und verworfen werden können«.

Flusser schreibt:

Eine Drucksache ist eine typische Sache und keine charakteristische, unvergleichliche, einzigartige... Nicht als charakteristische Sache..., sondern als Typ ist die Drucksache wertvoll. Nicht das Herstellen der Drucksache ... ist bei ihr das Interessante, sondern das Herstellen der Typen ... Die Betrachtung einer Drucksache wirft die klassische Anthropologie des ›homo faber‹ über den Haufen.

Das Typisieren, das Manipulieren von Zeichen, die ›Sinngebung‹, besser: das Informieren wird angesichts der Drucksache als die des Menschen würdige Tätigkeit evident. Das Arbeiten, das Erzeugen von charakteristischen Sachen wird als untermenschlich, als eine auf Druckpressen abzuwälzende Geste verachtet. Die erste Folge dieser Verachtung ... ist die Industrierevolution, als das Installieren von Maschinen. Der Buchdruck kann als Modell und Keim der Industrierevolution verstanden werden: Informationen sollen nicht nur in Bücher gedrückt werden, sondern mechanisch auch auf Textilien, auf Metall, auf Plastik.

Die Drucksache reicht weiter, über die Industrierevolution hinaus bis in die nachindustrielle Gesellschaft. Sie ist der Keim der gegenwärtig emportauchenden Verachtung für charakteristische Gegenstände und der Hochachtung der typischen, ›reinen‹ Information.

 

11.

Diese »typische, ›reine‹ Information« ist auf den A.B.C.- Blättern überall zu finden, vornehmlich in den kubischen Formen des Quadrats und des Dreiecks, vor allem aber in einem außerordentlich vielgestaltigen Maschinenpark, der zur Hervorbringung der seltsamsten Produkte benützt wird, denen eines gemeinsam ist: sie imitieren, ersetzen, verdrängen, verzerren, verfälschen etwas, das ›rein‹, also unvermittelt, auf keinem der Blätter zu finden ist – den menschlichen Ausdruck. Die graphische Formel des Bauhauses und damit der Maschinenästhetik schlechthin ist für Mersmann das Quadrat. Der in die Zukunft reisende manichino führt sie nicht ohne Grund im Gepäck. Aber die handgezeichnete Darstellung eines Quadrats ist kein Quadrat, sondern etwas, das an ein Quadrat erinnert, etwas, das auf die geometrische Form des Quadrats näherungsweise verweist: die Handzeichnung verfälscht, verschiebt, verzerrt die reine geometrische Form. Das gleiche gilt für die allenthalben anzutreffenden handgezeichneten Lettern, zu denen der Landschaftsbuchstabe, das ikonographische Zeichen hinzukommt. Es handelt sich also, bildlich gesprochen, um Verwerfungen der abstrakten Letternschrift wie der reinen geometrischen Form.

Handgeschnitten und damit irregulär sind auch die Stempel, deren Zeichen die Blätter zusätzlich bedecken. Wieder anders die handschriftlichen Einträge: sie sind Schrift, sie thematisieren sie nicht, sie repräsentieren, sie konterkarieren sie nicht. Doch sind sie am Ende das auffälligste Element von allen. Inhaltlich mögen sie in die Irre führen, auf jeden Fall aber führen sie aus dem Bild heraus. Sie bringen sich in ihm deutend ihm gegenüber in Position. Das entspricht der ursprünglichen Geste der Schrift in Flussers langem Gang durch ihre Geschichte: sie zerreißt das Bild, sie verwandelt seine stellvertretende Gegenwart in Geschichte(n).

 

12.

Flusser hat die finalisierende Bewegung des typisierenden Denkens an mehreren Stellen seiner Bücher beschrieben. Sie mündet, seiner Diktion folgend, in »Wahnsinn«.

Denn dieser Fortschritt – der Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik – aus der konkreten Sache hin zum abstrakten Typ weist sich langsam, aber sicher als verderblicher Wahnsinn aus: beispielsweise in Auschwitz, in der thermonuklearen Rüstung, in der Umweltverschmutzung, kurz in den alles universalisierenden und typisierenden Apparaten... Das Buchdruckdenken ist dabei, überholt zu werden.

In einer typischen Mersmann-Erzählungmit dem Titel Das La Femme Territorium durchläuft eine Frau ein pseudo-magisches body shaping program. Soweit der Leser sich die skurrile Geschichte zusammenreimen kann, spielt, technisch gesehen, der Buchdruck dabei die entscheidende Rolle. Anlässlich eines Kino-Besuchs gerät die Protagonistin außer Kontrolle. Unvermittelt mutiert sie zur rasenden Druckmaschine:

Einer der aufgeschreckten Nachbarn, ein dicklicher junger Mensch, wurde von der ganz übermächtigen S. ohne Umstände ergriffen, neben den Bänken im Gang auf den Boden geworfen und unter Geheul wie eine Walze hin und her über den Teppich gerollt. Nach jeder Umdrehung vollzog sie auch noch die Lüftung seines offenen Mantels als Aufdeckung des bekannten Filztuches über dem Abdruck. Dies bemerkte am deutlichsten der entsetzte Herr G., die anderen Zuschauer mochten es nur ordinär finden... Was G. aber am Eingreifen hinderte, war die plötzlich auftauchende unerklärliche Masse zäher Farbe, die überall rasch den ganzen Teppich bedeckte und von deren Schwärze und Klebekraft nur G. als Fachmann etwas wissen konnte. Schon zerrten einzelne Flüchtlinge mühsam ihre Schuhe durch diesen Brei und suchten in Richtung der Toiletten einen Ausweg. Besonders ein Herr im Pelzmantel, groß wie ein Bär, schrie unausgesetzt: Herrjenochmal, die Schuhe haben sechshundert Mark gekostet.

Originell ist die Vorstellung, in Auschwitz, in Hiroshima, in der Umweltzerstörung rase sich ein Denken zu Tode, das gern als ›neuzeitliche Rationalität‹ oder kurz als Vernunftglaube bezeichnet wird, sicher nicht, vor allem, wenn man die Schriften der Frankfurter Schule mitsamt ihrer Stichwortgeber in Betracht zieht. Und zweifellos ist auch dieser Gedanke übergriffig und damit ›rational‹ in jener abfälligen Bedeutung des Wortes, die hier überall durchschimmert. Die Idee, im finalen ›Irrsinn‹, in der rasenden Bewegung der Verwandlung von Materie in Information taumle sich ein Moment des Übergangs zu anderen, weniger katastrophalen Denk- und Verhaltensmustern frei, besitzt demgegenüber den Charme einer irrationalen Erwartung, die offenbar unablösbar der rationalen Kultur innewohnt: als Hoffnung auf das Andere, das ganz Andere, auf das, was not tut. Auch hier ist Skepsis angebracht. Immerhin lässt sich die Überlegung nicht von der Hand weisen, dass, was an sich notwendig wäre, sich letztlich auch einen Weg in die Wirklichkeit zu bahnen imstande sein müsse. Hier zeigt sich eine gemeinsame Wurzel von Rationalismus und Irrationalismus. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf, lässt sich auch umkehren: Finalitätsgedanken dieser Art verbinden Mersmann mit Flusser. Nichts anderes dürften die Stempelaktionen und Erdbeschüsse des Kriegsendes in Europa, der Zeit des keinem militärischen Kalkül mehr gehorchenden Tötens und Sterbens, demonstrieren, wenn sich unverhofft die Zeichen eines anderen Denkens, einer bislang als nichteuropäisch erachteten Denkart darunter mischen. Was bei Flusser die Informationsrevolution, das bewirkt bei Mersmann die kaleidoskopische Bewegung des erschütterten Gemütes, das im Schutt der Geschichte – die immer als eigene Geschichte sprechend wird – sich eine andere Herkunftslinie mehr zusammenknüpft als -findet.

 

13.

Auch Flusser kennt diese andere Herkunft. Für sie stehen Namen wie Husserl und vor allem Kafka. Kafka ist eines der Idole in Mersmanns antirationalem Universum. In den A.B.C.-Büchern erscheint Kafka an prominenter Stelle: die Sechsundzwanzig Blätter zur Beförderung der Legendenbildung um Gutenberg aus dem Jahre 2004 enthalten unter dem Buchstaben ›Q‹ die Darstellung einer Maschine zur Beschriftung des menschlichen Körpers. Sie entspricht dem aus der Strafkolonie bekannten Apparat. Darunter steht zu lesen:

Lange vor Kafka kam die Inquisition auf die Idee ihre Urteile auf die Körper gebildeter Ketzer zu drücken. Gelegentlich waren es Hohnsprüche wie auf dem hier gezeigten Blatt, manchmal auch fromme Ermahnungen oder das Urteil und kirchenrechtliche Kommentare.

Der abgebildete Hohnspruch lautet: »Et in Arkadia ego«. Zur Unterstreichung des Zusammenhangs zwischen Quälmaschine und Buchdruck zeigt der dornenbestückte Stempel die Elemente des alphanumerischen Systems, wobei die Null, als Grundlage der Mathematik, gleich sechsmal (genau genommen siebenmal) zu sehen ist. Die ›Typen‹ regieren die Welt – jedenfalls die der Schuldsprüche und ihrer Begründungen. Die Mechanisierung der Folter zeitigt einen interessanten Nebeneffekt: sie nötigt dem Folterer einen Rhythmus auf, der durch Ausführungs- und Wiederherstellungs-, also Erholungsphasen gekennzeichnet ist. Im angehängten Kommentar heißt es:

Der ausführende Quälvater ... zog zweimal am Tag die Leine. Mehr als zweimal am Tag die Leine zu ziehen, war nur in besonderen Fällen, etwa bei holländischen Ketzern gestattet. Der betreffende Mönch begab sich alsdann zur Wiederherstellung seiner Verfassung ins Kloster Freudenberg.

Der für das moderne Berufsleben signifikante Wechsel von Arbeit und Freizeit korrespondiert mit dem Konsumcharakter des Spektakels.

Der plakatierte Ketzer wurde häufig als besonderes Schauobjekt auf Jahrmärkten vorgeführt, so nachweislich in Mainz zum Fest des Wiegendruckes dem 12. Oktober 1722.

Das lässt, immerhin, offen, ob der Ketzer in natura oder das vorliegende und nachträglich kommentierte Blatt (als Flugblatt oder Flugschrift) bei dieser Gelegenheit zum Einsatz kam.

Einen Sonderfall, schreibt Monika Schmitz-Emans, stellt dieses Blatt insofern dar, als auf ihm kein Wort mit der Initiale ›Q‹ zu entdecken ist, es jedoch »auf unmissverständliche Weise einen Akt äußerster Quälerei zeigt«. (Das Q steckt im ›Quälvater‹, aber versteckt in der Anmerkung zum Kommentar.) »Das Ausbleiben eines der Ordnung entsprechenden Schlüsselwortes mag signalisieren, dass es für die menschliche Grausamkeit keine passenden Worte gibt. Der Leser, nicht nur der Kafka-Leser, versteht auch so, was er sieht.«

Geht man zurück in die Zeit der Wiesbadener Wandmalereien, also in die frühen achtziger Jahre, dann findet man dort ein Kafka-Porträt, das den Prager Dichter demonstrativ in einem halb magischen, halb romantischen Zusammenhang zeigt. Kafka erscheint als Alchimist im Dienste Rudolfs II., der mit der chaquetilla des Stierkämpfers bekleidete Körper läuft in einen mächtigen, grün geschuppten Molch aus, auf dem der Arm des Dichters ruht. Seine Füße kommen unter dem halb als Tisch, halb als Sofa fungierenden Möbelstück hervor, ein Fuß steht auf Kugeln, im Rücken des Dichters züngelt ein Feuer mit Salamander, ein Spiegel trennt die beiden Bereiche. Zwischen Dichter und Spiegel wird das Gesicht einer zweiten Person sichtbar, von deren Augen Strahlen ausgehen, wie man sie auf Demonstrationstafeln findet: ein Doppelgänger, der entfernt an Hoffmanns bekannte Selbstkarikatur erinnert. Sieht man genauer hin, so entdeckt man, dass auch der Molch ein menschliches Gesicht besitzt. Aus dem geöffneten Mund kommt eine gerötete Zunge hervor, die Lesern des Alphazet vertraut ist: hier erscheint sie unter dem Buchstaben O im »Teil einer chaldäischen Orakelmaschine« als gespaltene Zunge und Schreibfeder, die die Buchstabenfolge F-G-H an die Wand kritzelt (Alphazet, Buchstabe O), die Buchstaben fallen in einen Korb, an dem ein Wagenrad lehnt.

Wer Mersmanns Motive kennt, findet darin eine diskrete Hindeutung auf die Französische Revolution: es handelt sich um den Korb, in den bei den Hinrichtungen auf der Place de Grève die Köpfe der Guillotinierten fielen. In der Sprache Flussers: die charakteristischen Zeichen des Schriftstellers fallen unter die Guillotine der typographischen, sinn- und welt­verein­heit­lichenden Revolution. Auf beiden Seiten finden die Zeichen ein- und derselben Schrift Verwendung. Erst das ›Blatt‹, soll heißen die ikonographische Re-Formierung der typographischen Zeichenwelt bringt die Differenz ans Licht, die zwischen ihnen liegt.

Man kann die Linie Chaldäer – Alchemie – Hoffmann – Kafka als aufsteigende genealogische Linie deuten, aber genausogut auch als Rückgang auf weitgehend der Imagination anvertraute Quellen. Dem entspricht Mersmanns etwas kryptische Bemerkung über somatische Frühversuche Picassos und Braques zur chaldäischen Orakelmaschine, in der die Zeitfolge kurzerhand auf den Kopf gestellt wird.

Will man begreifen, wie Mersmann zur Medienrevolution und dem von den frühen Medientheoretikern in ihrem Gefolge erwarteten neuen Denken steht, dann muss man das Kafka-Bild in den optisch-räumlichen Zusammenhang zurückstellen, in dem es entstand. Leider sind die Teile des sogenannten ›Gelben Zimmers‹ von 1982 nur noch getrennt zu besichtigen. Man kann den Gesamteffekt aus der Rekonstruktion und aus vorhandenen Fotografien erahnen. Auch dieses Zimmer stellt ein ›Ordnungssystem‹ dar, das gelesen werden möchte. Das dominante Gemälde darin trägt den Titel Ankunft des göttlichen Urteils, dass Marco Polo sich von Venedig abwenden soll.

Das göttliche Urteil scheint in einem merkwürdigen Ausgabeapparat enthalten zu sein, den der reitende Bote an einem Stab in seiner Hand trägt. Doch gilt: auch der Aufbruch aus der frühen Metropole des Westens in die Weisheitswelten des Fernen Ostens bedarf der Technologie. Sie steht bereit in Form eines vergleichsweise riesigen, am Horizont lagernden Flügelfisches: Hybridwesen zweier Elemente, entfernt vergleichbar den Wasserflugzeugen der frühen Luftfahrt und damit doch eher beseeltes technisches Gerät als Natur.

Selbstverständlich funktionieren solche technologisch inspirierten Bestiarien entsprungenen Geschöpfe nur in der Phantasie. Dafür transportieren sie den, der sich ihnen anvertraut, unversehens an den Rand der bekannten Welt – ein nicht gering einzuschätzender Vorteil für jemanden, der, um es paradox zu formulieren, in diesen Rand investiert. Das Monster ist eine Artikulation der Grenze, eine Figur der Überschreitung oder ein Feld möglicher Reflexion.

Entsprechend lässt sich in jedem Bildkomplex des gelben Zimmers das ›leitende Monster‹ finden, die Phantasie- oder Spiegel- oder Dämonengestalt des Wirklichen, modifiziert nach Bereichen wie Sinnlichkeit/Begehren, Macht/Besitz, Sexualität/Konkurrenz, Muße/Meditation sowie, im Falle der Kafka-Figur, Schrift/Verwandlung. Die Kunst, so ließe sich schließen, kennt nicht den (und das) Moment des Abstrakt-Neuen, sie ist immer bereits eingelassen in eine Denk- und Vorstellungswelt, für die das Medium notwendig und notwendig kontingent ist. Die dämonologische Welt-Ordnung trägt und wird getragen vom Bewusstsein der Durchlässigkeit und der Polymorphie der Erscheinungen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Pferd des göttlichen Boten, das irgendwie auch ein Boot ist, ohne dass man verstünde, wie beides zusammenhängt.

 

14

Es ist kein Widerspruch, wenn der späte Mersmann des World Wide Web sich souverän als eines angemessenen Mediums zur Präsentation und Verbreitung seiner Bilder bedient, während er die Ortlosigkeit der Kunstwerke in den modernen Kunstmuseen mit drastischen Worten charakterisiert. Um diese Spannung zu verstehen, möchte ich in einer abschließenden Bewegung den Bogen zurück zu den uns bekannten Anfängen der Mersmannschen Kunst schlagen.

Das Gemälde Saturnische Bibliothek, entstanden in Anticoli Corrado bei Rom im November 1960, zeigt, vorsichtig ausgedrückt, eine Ansammlung von Gegenständen, von denen sich einige identifizieren lassen, andere nicht. Die Grenze ist fließend. Zum Beispiel bleibt es dem Betrachter überlassen, ob er das Auge im rechten unteren Drittel des Bildes als Augenfisch verstehen möchte oder ob er das runde Gebilde, das aus dem Taubengefieder auf der Schulter der zentralen, mehr angenommenen als sichtbaren Figur herauswächst, als Kopf oder als anorganische Kugel betrachten will. Je genauer man die Objekte betrachtet, desto mehr verschiebt sich diese Grenze in Richtung Ungewissheit. Doch natürlich bleibt ein Torso ein Torso, eine Hand eine Hand und ein Kopf ein Kopf, auch wenn die Stirn sich mit Blattwerk überzieht. Beeindruckend ist, wie sich alle Farben des Bildes aus dem beherrschenden Blau heraus entwickeln und ihm in wundersamer Weise verhaftet bleiben. In Verbindung mit dem Titel erzeugt das den Eindruck einer Proto-Welt, einer Welt dämmernder Ideen und Zukünfte eines vorgegenwärtigen Denkens, gleichsam eines in sein Vergangensein eingeschlossenen Futurs.

Leicht erkennbar ist der Melancholie-Komplex. Hier sei abschließend das Augenmerk auf die Denkfigur der vergangenen Zukunft gerichtet, genauer, des in die Vergegenwärtigungsform der Vergangenheit eingeschlossenen Zukunftsmoments. Hier liegt, soweit ich es sehe, der Kern des Mersmannschen Denkens.

Dieses Denken, für einen Maler nicht verwunderlich, ist eines in und an Bildern. Bilder sind in gewisser Weise zeitlos, man orientiert sich in ihnen nicht vorwärts oder rückwärts, sondern in einem flächigen Hin und Her. Ein Bild aufschließen, ihm eine Vergangenheit oder Zukunft entlocken heißt, es zum Reden und zur Rede zu bringen. Diese Vermittlung geschieht blitzartig – über den Titel und dort, wo dieser, wie in den A.B.C.-Büchern, nicht ausreicht, über das Eindringen der Schrift in die Bilder. Das Bild bekommt Risse, es wird ›durchsichtig auf‹. Insofern besitzt Flussers Metapher vom Zerreißen der Bilder durch die Schrift in den Techniken der Beschriftung ein funktionales Äquivalent. Soll heißen: das Verhältnis der Bilder und der in sie eindringenden Texte ist von Anfang an kontingent. Was immer die Texte sagen, sie sagen etwas anderes als die Bilder. Ihre Erzeugung geschieht per se ›kaleidoskopisch‹.

Auf das Thema ›Zeit‹ bezogen heißt das: ein beschriftetes Bild verwandelt sich ohne weiteres in einen antiquarischen Gegenstand und damit in den Repräsentanten eines zeitlichen Abstandes, genauer, einer nicht unterschreitbaren zeitlichen Distanz. Diese Distanz liegt zwischen dem Entstehungszeitpunkt des Bildes und seiner Beschriftung, sie liegt zwischen dem erkennbaren Zeitpunkt der Beschriftung – da alles Geschriebene einen erkennbaren Zeitindex besitzt – und dem Zeitpunkt der betrachtenden Lektüre, sie liegt schließlich im ›Gegenstand‹ des Bildes, durch dessen Benennung die Schrift es zu einem identifizierbaren Wissen ins Verhältnis setzt.

Streng genommen ist ein vergangenes Wissen kein Wissen mehr, sondern ein – wie immer relatives – Nichtwissen, ein kassiertes Wissen, dem gegenüber die Rede von den Asservatenkammern des Wissens beziehungsweise des Geistes ein gewisses Recht für sich beanspruchen darf. Im Fall des Gemäldes genügt dem Maler ein Titel, um dieses Verhältnis zu demonstrieren. Seine ›saturnische‹ Bibliothek ist eine solche Asservatenkammer, vollgestopft mit ›bedeutenden‹ Objekten eines vergangenen, aber nicht völlig untergegangenen Wissens.

Unter enzyklopädistischen Gesichtspunkten könnte man sagen: eine Bibliothek ist eine nicht transportable, weil nicht buchförmige Enzyklopädie partiell lexikalischen Charakters. Jede Bibliothek, auch die umfassendste, ist ein Auszug aus der Gesamtheit des Geschriebenen, eine kontingente Bestandsaufnahme des Wissens. Die Druckform des enzyklopädischen Lexikons verbirgt ein Stück weit das Transitorische dieses Wissens, sein fortwährendes Veralten und seine tagtägliche, um nicht zu sagen minütliche Ergänzung und Umgestaltung.

Das Internet bildet, wie täglich zu erfahren, in dieser Hinsicht eine sehr viel geschmeidigere Haut für das Wissen als das Buch: ein Grund, weshalb Lexika zu den ersten editorischen Unternehmungen zählten, die ins Netz umzogen. Auch klassische Bibliotheken sind, wie wir wissen, internetgefährdet, um nicht zu sagen -verseucht. Ihre virtuellen Bestände wachsen rascher als ihre räumlich-materiellen.

Gegenüber Enzyklopädien besitzen Bibliotheken den Vorteil, dass in ihnen Bücher, nicht Gedanken gesammelt werden, zwischen Autoren und Koordinatoren also keinerlei intentionale, auf Inhalte gerichtete Beziehung besteht, und dass sie, von räumlich-finanziellen Aspekten abgesehen, auf Zuwachs eingestellt sind. Erst die Realität des Internet erlaubt es (das erste Mal in der Geschichte menschlicher Kommunikation), den Gedanken des verfügbaren Wissens vom Modell der Bibliothek zu trennen: ein Fortschritt im Denken ebenso wie in der Distribution. Das Internet ist keine Bibliothek, da es Bestände nicht verwahrt, sondern fluktuierend, soll heißen ohne geregelten Zu- und Abgang zur Verfügung stellt. Was Wissenschaftler, Pädagogen und nicht zuletzt eine autoritäre Politik noch immer erschreckt, das durch keine mit Sachgebieten und historischen Indices operierende bibliothekarische Ordnung vermittelte Nebeneinander geltenden und verworfenen Wissens (von eklatanter und bösartiger Desinformation einmal abgesehen) ist kein Auswuchs und kein behebbarer Mangel, sondern ein prägnantes Charakteristikum des Netzes. Mit anderen Worten: Das Netz öffnet die gut verschlossen und kontrolliert geglaubten Asservatenkammern dessen, was man gern verniedlichend das kulturelle Gedächtnis nennt, das aber zu großen Teilen aus – zu Recht oder zu Unrecht – Verworfenem besteht: in den Bereichen der Theorie ebenso wie in denen der Lebensführung oder der Politik.

Eine Kultur, in der das Verworfene doppelt konnotiert ist: mit der Geschichte des Abfalls von Gott als das Böse schlechthin, christologisch gesehen als ›Eckstein, der verworfen wurde‹, um zum Grundstein zu werden, besitzt an dieser Stelle ein Problem. Betrachtet man Mersmanns A.B.C.-Blätter unter einem solchen Gesichtspunkt, erscheinen sie alles andere als harmlos. Sie bezeugen die Fortdauer des Verworfenen unter den Bedingungen eines übermächtig erscheinenden Verwerfungsapparates, als der sich die auf die Erfindung Gutenbergs abgestellte Wissensmaschinerie der Neuzeit auch interpretieren lässt. Das Verworfene fordert die Zukunft heraus. Alles, was seltsam, komisch, belustigend, ärgerlich, esoterisch oder auf eine bedrohlich anmutende Weise ›veraltet‹ wirkt auf diesen Blättern, wird beseelt von einem seltsamen Feuer, das noch das harmloseste Maschinchen in einem organischen Licht aufglimmen lässt und verlebendigt. Auf Mersmanns Blättern gibt es, wie auf den Gemälden, nichts Totes. Das ist keine frohe Botschaft, sondern eine, die jede Art des Bedenkens rechtfertigt. Der Maler selbst benennt diesen Aspekt, wenn er es als Aufgabe der Kunst bezeichnet, die absolute Offenheit der Zukunft, ihr Unbeschriebensein, ins Gedächtnis der Menschen zu heben:

Wir müssen begreifen, daß wir in jeder Hinsicht, mit oder ohne Wissen, zwischen den Fronten der immer zerfallenden Dinge und des unendlichen Chaos stehen. Jeder, der uns den Weg einer irdischen Sicherheit ohne den Hinweis auf den immerwährenden Triumph des Chaos verspricht, ist ein unwissender Eiferer. Die fortwährend leere Zukunft deckt uns kein einziges Faktum. Jedes Faktum ist Anfang seines eigenen Endes. Nur die Stiftung menschenkünstlicher Wirklichkeit, im vollen Begreifen des Nichts als Morgen, und sei dieser Morgen mit Göttern bevölkert, entspricht jener Schöpferpflicht, die der schützenden Dimension des menschlichen Lebens gerecht wird. Man kann es auch gröber sagen, nur das für unerreichbar erkannte Paradies ist zugleich die erreichbare Hoffnung. Der fruchtbarste Gott des Menschen ist noch der gestorbene.

 

 

Notizen für den schweigenden Leser

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