1.

Der Blick, scheu gemacht durch das ›Original‹ und vom Umwälzen der Seiten auf ›unalltägliche‹ Neugier gestellt, fällt auf die Abbildung eines Brunnens, zunächst ohne zu erkennen, dass es sich um eine solche handelt. Er sucht Hilfe bei der kräftigen Schrift, die dem abgebildeten Objekt am nächsten steht, und wird erneut abgewiesen: diese Schrift ist nicht oder nur zum geringen Teil lesbar. Man erkennt die Ausdrücke »occuli santi« und »vitae« - eine magere Ausbeute, aber eine bedeutungssteigernde. Es sind nicht irgendwelche Wörter, sondern bedeutsame, die auf einen sakralen Kontext hindeuten und gleichsam die Rechtfertigung dafür liefern, dass sich nicht alles auf den ersten Blick erschließt. Das Blatt will entziffert werden, es gibt seine Bedeutungen nur sukzessive preis. Die Aussicht, die sich damit verbindet, ist nicht unmittelbar sinnenfällig, sondern appelliert an eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Texten und Bildern (und, wie in diesem Fall, Kombinationen aus beiden), die der sakralen Überlieferung zugehören oder eine solche Zugehörigkeit beanspruchen.

Doch liegt ein solcher Anspruch hier vor? ›Occuli santi‹ ist ein merkwürdiger Ausdruck in einem Text, dessen Anmutung der einer mittelalterlichen Handschrift entspricht: das ›c‹, das in ›occuli‹ zuviel erscheint, fehlt in ›santi‹, das in dieser Form eher einer romanischen Sprache als dem Lateinischen zuzugehören scheint. Das ›cc‹ erinnert an ein ähnlich lautendes, aber etwas völlig Anderes bedeutendes Wort: ›occultus‹ (im Deutschen ›okkult‹). Zwischen den Heiligen Augen und dem Okkulten spannt sich eine Erwartung, die auf die Wahrnehmung des gesamten Blattes ausstrahlt. Zugleich regt sich so etwas wie Ironie-Erwartung, die fündig wird, wenn der Blick sich dem erklärenden Kleingeschriebenen unter der ›gotischen‹ Handschrift zuwendet: »Bisher nicht gänzlich entziffert« steht da und zeigt dem Betrachter an, dass ein profaner Sinn bereits dem eigenen vorgearbeitet hat.

Das Blatt trägt einen (handschriftlich eingetragenen) Titel: »Apogryphisches Blatt über den Brunnen des Lebendigen und Sehenden.«1 Für den, der nicht gleich ›im Bild ist‹, fügt der Kasten rechts neben dem Titel die Bibelreferenz nach: »1. Mose 25. Kap. V. 11«. Am Beer-Lachai-Roi, der »Brunnen des Lebendigen und Sehenden« (Luther) bzw. »des Lebendigen Michschauenden« (Rosenzweig), zwischen den Orten Kades und Bared gelegen, wird Hagar durch den Engel des Herrn, der ihr die Geburt Ismaels verkündet, zur Umkehr bewogen. Sie ist es, die dem Brunnen den Namen gibt: »So schaute ich hier / dem Michschauenden nach?« (1 Mose 16, 13). Später wohnt Isaak in der Nähe dieses Brunnens (1. Mose 24,62; 25,11). Zitiert wird die Stelle nach Luther. Was aber ist ein ›apogryphisches Blatt‹?

Als ›apokryph‹ (gelegentlich, meist in eher volkstümlichen Texten, auch ›apogryph‹) bezeichnet man im christlich-theologischen Zusammenhang Bibeltexte ›zweifelhafter‹ Überlieferung, also solche, die nicht zum kanonischen Textbestand gehören. Es wäre also ein Blatt zweifelhafter Herkunft, das der Künstler dem Leser-Betrachter hier vorlegt. Diese Lesart findet Nahrung im Erläuterungstext, der eine Art Überlieferungsgeschichte skizziert:

Nach der Zeichnung des Kreuzritters Petrus von Lichtel, einem Vorfahren des Paulus Homomaris, der die Zeichnung im Gewölbe seines Hauses in einem Tonkrug entdeckte. Der Brunnen wird von dem Reisenden Justus Nicolas Jaeger, der die Gegend von Mamre um 1776 nach Altertümern durchforschte, folgendermaßen beschrieben: ›Der bekannte Brunnen des Abraham ist von mäßiger Größe, höchstens 12 Fuß in der Breite und kaum höher als acht Fuß. Er ist über und über mit Teppichen bedeckt und gleicht von weitem den Auslagen eines Händlers, wie seltsam dies auch in einer Wüste erscheinen mag. Sehr eindrucksvoll ist das Haupt des Gottes und das Auge mit dem Zeichen des deutschen Ordens. Ich weilte lange vor diesem Gegenstand aus den fernsten Zeiten des alten Glaubens und beschloss, nachdem ich eine Skizze anfertigte, sie einst in Deutschland einem Künstler zu überlassen ihn für mein Landhaus nachzubilden.‹ Aus Tagebüchern des Sammlers und Kunstliebhabers.

Ist demnach ›apokryph‹ und ›apogryphisch‹, das Irreguläre der deutschen Endsilbe abgerechnet, dasselbe? Nicht ganz, denn gerade das Irreguläre ist es, was apokryphe Schriften auszuzeichnen pflegt: ihre Überlieferung weist dunkle Stellen auf, ebenso ihr Sinn, der nicht dogmatisch fixiert ist oder dem Kernbereich theologischer Auslegung zugehört. Das Wort ›apogryphisch‹ wäre also selbstreferenziell: es ist, was es bezeichnet (und im Bezeichnen von sich abstößt, da es die zugrundeliegende Trennung legitimer und illegitimer Texte nicht respektiert) – ein Witz Jean Paulscher Machart.

Die Dunkelheit des Blattes ist damit nicht ausgeräumt. Fast könnte man sagen, sie beginnt erst richtig an dieser Stelle. Die nächste Schwierigkeit bietet die Ortsangabe ›Mamre‹, die den Brunnen in die Nähe von Abrahams Wohnort verlegt – eine Eigenmächtigkeit des anonymen Auslegers, die jedoch einen weiteren Horizont eröffnet, wenn man weiß, dass im »Hain von Mamre« der HERR Abraham erscheint, um der bereits betagten Sara ihre Schwangerschaft anzukündigen, die Erscheinungsorte also durch einen perspektivischen Kunstgriff nahe beieinander zu liegen kommen.

Der Brunnen bei Mamre. Schon Archäologen haben sich über die Kritzeleien auf dem Brunnen gewundert die der Kreuzritter mit in seine Zeichnung übernommen hat. Die wahrscheinlichste Deutung ist wohl die des Archäologen Alois Schönfärber der sie römischen Soldaten zuschreibt. Siehe: ›Karikaturen in Pompej und Herculaneum.‹ Detmold 1998.

Wer spricht hier? Offenkundig ein heutiger Ausleger, wie das Erscheinungsjahr des Buches verrät, überdies einer, der die archäologischen Vorarbeiten der Deutung für mehr oder minder abgeschlossen erachtet. Denn dem Blatt zweifelhafter Herkunft schiebt sich nun ein (zweiter?) Tatbestand unter: die indirekte Versicherung, der Brunnen existiere nicht nur, er sei auch archäologisch gesichert und für Zeitgenossen zugänglich:

Übrigens scheint der Korpus des Brunnens wo der Putz beschädigt ist als römisches Ziegelwerk, wie ja auch der Kopf Gottes römisch geprägt ist. Die Bewohner der Gegend behaupten der Brunnen habe nie Wasser geführt dafür aber tiefe Seufzer ausgestoßen wenn ein Bettler oder ein anderer Unglücklicher auf seinem Rand Platz genommen hätte. Auch habe man oft ein Licht in den Augen des Gottes gesehen und man bedecke weniger aus Gründen religiöser Verehrung den Brunnen mit Teppichen sondern aus Angst und zeige ihn nur den Fremden.

Welche (fiktiven) ›Autoren‹ sind am Zustandekommen des Blattes beteiligt? An erster Stelle nennt der Text den »Kreuzritter« Petrus von Lichtel, den Vorfahren eines gewissen Paulus Homomaris von Lichtel, der das Blatt entdeckt und folglich ›ans Licht‹ gebracht hat. Der Name des letzteren ist leicht als Homonym des Künstlernamens (Paul Mersmann) erkennbar, der damit die Verantwortung für die Entstehung des Blattes ein Stückweit von sich abrückt. Mit Petrus und Paulus werden zwei Gründernamen des Christentums ins Spiel gebracht, dessen ›Heilige Schrift‹ - in diesem Fall: das ›Alte Testament‹ - als Gewährsgrund fungiert. Zweifellos (im Sinne der Zuschreibung) stammt nur die Zeichnung vom Kreuzritter, über die Herkunft der ›gotischen‹ Inscriptio erfährt der Leser-Betrachter nichts. Als Gewährsmann hingegen fungiert der zitierte reisende »Sammler und Kunstliebhaber« Justus Nicolas Jaeger, dessen Reise ins Heilige Land dem Text zufolge in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts fällt (1776).

Dem Bericht des Sammlers kommt offenbar die Aufgabe zu, erste gesicherte Aufschlüsse über den abgebildeten Gegenstand zu geben. Schließlich ist der ihn ›zitierende‹ Verfasser des ›aktuellen‹ Kommentars, der Bildlegende, zu nennen, falls es sich um ein und denselben Verfasser handelt. Dieser Kommentar ist deutlich dreigeteilt: in einen historischen (die Herkunft des Blattes und die Identität des Gegenstandes betreffenden), einen Sachteil und einen (mit »übrigens« eingeleiteten) Annex, bestehend aus einer kunsthistorischen Anmerkung und einem ›Bericht‹ vom Hörensagen. Insofern sind auch hier unterschiedliche Verfasser denkbar. Die Herkunft der Münzzeichnung auf der linken Seite des Blattes sowie der kleineren, teils mit Fragezeichen versehenen Einträge bleibt dunkel.

Diese kleineren Einträge betreffen das Aussehen des Brunnens, genauer, die nachträglich (?) hinzugefügten Kritzeleien oder Graffiti, die in einem eher losen, aber ebenfalls zu klärenden Verhältnis zu den ›originären‹ Brunnenelementen stehen. So wurde die Abbildung einer neronischen Münze offenbar eingefügt, um die Identifikation eines Graffiti-Kopfes als ›Nerokopf‹ plausibel zu machen – ein vergebliches Unterfangen, da die Ähnlichkeit offenkundig gering ist. Hingegen wirkt die als »Ein Pan?« charakterisierte schematische Zeichnung wie eine mit Hörnern versehene Karikatur des göttlichen Antlitzes, das den Brunnen zentral dominiert. Schließlich ›wiederholt‹ das karikierte Auge am Brunnenrand das Auge, das den Betrachter des Blattes aus dem Brunnen heraus anblickt, ohne dass zweifelsfrei zu entscheiden wäre, ob es sich dabei um eine auf dem Brunnen befindliche Abbildung – also ein ›originäres‹ Brunnenelement – oder ein Darstellungselement der Zeichnung, mithin eine Zutat des Kreuzritters Petrus handelt.
Dies also wären die Schichten der ›poetischen‹ Fiktion, mit denen es der Betrachter-Leser zu tun bekommt:
1. Der historische Brunnen, über den zu verschiedenen Zeiten entstandene Berichte und Beschreibungen existieren;
2. die diversen Bibelstellen, die auf den Brunnen anspielen und unter anderem eine Namenserklärung liefern, insbes. 1. Mose 25, 11;
3. die von unbekannter Hand – und zu unbestimmten Zeiten – ausgeführten Graffitti;
4. die mittelalterliche Zeichnung des Kreuzritters Petrus von Lichtel, versehen mit einem nur teilweise lesbaren lateinischen (?) Text;
5. der Bericht des reisenden Kunstliebhabers Justus Nicolas Jaeger aus dem Jahre 1776, der den Brunnen offenbar in Augenschein nehmen konnte, mitsamt dem Bericht über eine von ihm angefertigte Skizze;
6. die Publikation des Archäologen Schönfärber aus dem Jahre 1998;
7. der über das Blatt verteilte, dreigliedrige Erläuterungstext;
8. die kleineren, die Graffitti kommentierenden Einträge mitsamt der Abbildung der Neromünze.
9. Nicht vergessen seien schließlich die an einigen Stellen sprießenden Gräser, die sich nicht ohne weiteres in die Manier der Petrusschen Zeichnung einfügen. Mit einem weiteren Zeichner ›nach der Natur‹ (wenn nicht der Natur selbst) ist also zu rechnen.

Doch warum Fiktion? Zunächst einmal handelt es sich nicht um ein hier zu Auslegungszwecken isoliertes ›Blatt‹, das in einer Reihe weiterer Blätter steht. Als Illustrationen enthalten diese Blätter Darstellungen und Auslegungen zu einzelnen Stellen der Genesis, die sich einerseits zu einer künstlerischen Gesamtauslegung verbinden (oder verbinden lassen), andererseits eine ihrerseits auslegbare Folge von Paratexten enthalten, wie Genette sie nennt, von Texten, die sich gleichermaßen auf den biblischen Text wie auf die zeichnerische Darstellung beziehen, ohne zwischen beiden Funktionen scharf zu trennen. Das ›Fiktionale‹ der Blätter verdankt sich in hohem Maße dieser mangelnden Trennschärfe, deren Wahrnehmung einen Einstellungswandel beim Betrachter beziehungsweise Leser erzeugt: weg von der vertrauensvollen oder kritischen Kenntnisnahme der gegebenen ›Informationen‹ (über deren Wahrheitsgehalt zunächst nur spekuliert werden kann), hin zu einer entspannten, dem Amusement und der heiteren Nachdenklichkeit zugewandten Aufnahme.

Soviel vorausgeschickt, wird deutlich, dass es sich bei dem Blatt um eine Etüde über das Schauen respektive Geschautwerden handelt. Schon der Bibeltext legt dies nahe. Sowohl der Ausdruck ›Brunnen des Lebendigen und Sehenden‹ als auch der des ›Lebendigen Michschauenden‹ legt in seiner Formelhaftigkeit die Assoziation nahe, dass damit weder der ›bloße‹ Brunnen noch eine Brunnenfigur gemeint sein kann. Der da schaut, ist sowohl ein Schauender als auch ein ›Lebendiger‹ und Wissender. Die jüdisch-christliche Formel vom ›lebendigen Gott‹ erscheint da nicht fern. Dass Hagar, die entlaufene Magd Abrahams, an diesem Ort vom ›Engel des Herrn‹ zur Umkehr bewogen wird, passt in dieses Bild. Die Umkehr ist ein komplexes religiöses Motiv, eng verwandt mit dem Motivkreis des richtigen Lebens, das durch göttliches Eingreifen oder komplexe Formen der Begegnung mit einer Tiefendimension des Selbst aus dem ›falschen‹ Leben hervorgeht. Noch die zeitweise vielzitierte und -abgewandelte Formel Adornos, »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, ist in diesem Sinn religiös: sie gibt exakt die Bedeutung wieder, die den Begriff der ›Umkehr‹ im Sprachgebrauch der Erweckungsreligionen dominiert. Sehen, Gesehenwerden und Umkehr sind hier gewissermaßen eins, jedenfalls ergeben sie zusammen ein Motivknäuel, in dem eins das andere mit sich führt. Dem falschen Leben fehlt eine als entscheidend angesehene Erfahrungsdimension, es beruht demnach, gemäß der von optischen Metaphern dominierten Sprache der abendländischen Metaphysik, auf einem Nichtsehen des Wirklichen oder ist ihm strukturell eng verbunden. Die Umkehr oder Umwendung ermöglicht das wirkliche Sehen, so wie umgekehrt das Sehen die Umkehr als Neuausrichtung des Lebens bewirkt. Beide Prozesse greifen ineinander. Der Erweckungsgedanke wiederum führt die Umkehr auf ein Gesehenwerden zurück, das sich gleichsam in den sehend Werdenden hinein entlädt.

Wie immer man die alttestamentarische Formel des ›Lebendigen und Sehenden‹ interpretiert – sicher ist, dass sie in Verbindung mit der Geschichte der Hagar das Motiv der lebensverändernden Begegnung mit dem Offenbarungsgott transportiert. Auf der anderen Seite ruft der Brunnenname Assoziationen von beseelten Örtern und Gegenständen auf, die, strikt gesprochen, eher außerhalb der biblischen und christlichen Gottesvorstellungen liegen und auf naturreligiöse Vorstellungen verweisen. Zweifellos spielt der Mersmannsche Text auch mit ihnen, wenn es heißt, die Bewohner der Gegend hätten »oft ein Licht in den Augen des Gottes gesehen«. Die Begegnung mit dem Heiligen ist hier stationär, das heißt ortsgebunden gedacht und wird durch eine unbestimmte, das Wiederholungsmoment herausstreichende Zeitangabe (»oft«) zu etwas, das jederzeit stattfinden kann, aber nicht erzwingbar oder ›erzeugbar‹ ist.

Nur: Welches der Bildelemente stellt die »Augen des Gottes« dar? Zweifellos sind die ersten Kandidaten dafür die Augen im »Haupt des Gottes«, aber das Auge »mit dem Zeichen des deutschen Ordens« darf bei der Suche nach einer Antwort ebenso wenig vernachlässigt werden wie das darunter befindliche Fisch- oder Schlangenauge oder das hingekritzelte Auge auf dem äußeren Brunnenrand. Ob und wie weit all diese Augen den Betrachter (des Brunnens, der Zeichnung?) ansehen, wäre eine eigene Frage. Entscheidend ist die Nicht-Eindeutigkeit der Auswahl. Wie einer sich entscheidet, sagt mehr über seine eigene Disposition, den von ihm vertretenen Frömmigkeitstyp, seine kulturelle Prägung und den argumentativen Zusammenhang aus, in dem er sich bewegt, als über das vom Künstler Gemeinte. Dass er überhaupt an dieser Stelle etwas eindeutig Bestimmtes gemeint hat, gerade dies bleibt schließlich unbestimmt. Es ist ›nicht wichtig‹ und ›wichtig‹ in einem: nicht wichtig insofern, als es niemals das ›Auge‹ des Bibelgottes (oder einer heidnischen Lokalgottheit) selbst ist, das den Betrachter ansieht, sondern ein gestaltetes, in den Stein gemeißeltes oder gezeichnetes Auge, das Bild eines Auges – wichtig insofern, als die durch Überlegung gewonnene Information, dass Eindeutigkeit in diesem Bereich des Gesehenwerdens nicht zu erlangen sei, offenkundig mit der Gesamttendenz des Blattes zusammengeht, die Dinge durch Klarstellung zu verunklaren. Die verschiedenen – teilerfundenen – Überlieferungsschichten und ihr vages Verhältnis zueinander bezeugen diese Tendenz ebenso wie die Charakterisierung des Blattes in toto als ›apogryphisch‹, also illegitim, als genuiner Bestandteil des Blattes selbst.

Das erinnert stark an labyrinthische Strukturen. Gleichgültig, welches seiner Elemente man ins Auge fasst, stets bleibt es ungewiss, welches die angemessenen Schritte wären, um von ihm zu einem der anderen Element und von ihnen zu einer umfassenden ›Sicht‹ auf das Dargestellte oder Gemeinte zu gelangen. Dieselbe Struktur wiederholt sich im Blick auf ›das Auge selbst‹, unabhängig davon, für welches man sich entscheidet. Jedes dieser Augen blickt den Betrachter an. Es blickt aber auch durch ihn hindurch. Es sieht ihn und sieht ihn nicht. Sein Blick scheint ›für ihn bestimmt‹ zu sein, jedenfalls kann sich der Betrachter dieses Eindruck nur schwer erwehren, dabei ist er nur ein Betrachter unter anderen, einer aus der anonymen Gruppe derer, die das Blatt oder eine Reproduktion davon ›zu Gesicht bekommen‹. Und schließlich beruht der Blick, unabhängig davon, wem er gelten mag, auf einer Sinnestäuschung. Der ›Eindruck‹ verdankt sich dem Geschick des Zeichners, einer gewissen Anordnung von Linien, einer gewissen Farbigkeit auf der einen, der Fähigkeit des Betrachters auf der anderen Seite, das symbolisch Repräsentierte ›wiederzuerkennen‹ beziehungsweise zu ›realisieren‹.

Ist Kunst, allgemein gesprochen, legitim? Vermittelt sie Erfahrungen, Gedanken, kulturelle und religiöse Gehalte auf eine Weise, auf die sich ›alle‹ einigen können oder, auf welche Weise auch immer, in einem mühsamen, Gewalttätigkeit nicht ausschließenden Prozess kollektiver Bewusstseinsbildung geeinigt haben? Ist sie ›gültiger Ausdruck‹ oder ein müßiges Spiel, eine didaktische oder therapeutische oder ›protreptische‹ Anordnung, mittels derer die Nachwachsenden, die Phantasievollen, die Unentschlossenen, die Langsamen, die Unsicheren und die Trödler einer Gesellschaft mit den Grundzügen ihrer Kultur vertraut gemacht werden? Oder ist sie von Haus aus ›apogryphisch‹, ein aus zweifelhaften Überlieferungen stammender und sich nährender, stets abgeschlagener Konkurrent um die herrschende Weltdeutung? ›Kunst‹ meint hier nicht die bildenden Künste der Malerei, Plastik etc., sondern den Bereich der ästhetischen Produktion im allgemeinen, also auch der Literatur. In diesem Sinn ist das Blatt ›ästhetisch‹, es mischt die Künste im Zuge jener Autoreferenzialisierung, von der bereits die Rede war und die sich nach und nach, gemäß einem bestimmenden Zug der Moderne, als Autoreflexivität zu erkennen gegeben hat: die aufgeworfenen Fragen sind nicht auf die Deutung dieses Blattes zu beschränken, sondern gelten der Kunst als solcher. Genauer: sie zielen auf den Zusammenhang zwischen Kunst, ›Kultur‹ als kollektivem Erfahrungsraum und Geltung.

 

2.

Die Einseitigkeit der Unmittelbarkeit an dem Ideale enthält (§ 556) die entgegengesetzte, daß es ein vom Künstler Gemachtes ist. Das Subjekt ist das Formelle der Tätigkeit und das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes, wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin, sondern der Gehalt des inwohnenden Geistes sich ohne Beimischung und von deren Zufälligkeit unbefleckt empfangen und herausgeboren hat. Aber indem die Freiheit nur bis zum Denken fortgeht, ist die mit diesem inwohnenden Gehalte erfüllte Tätigkeit, die Begeisterung des Künstlers, wie eine ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos; das Produzieren hat an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, kommt dem Genie als diesem besonderen Subjekte zu – und ist zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Äußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten. Das Kunstwerk ist daher ebensosehr ein Werk der freien Willkür und der Künstler der Meister des Gottes.2

In seinen Vorlesungen über die Ästhetik beschäftigt sich Hegel eingehend mit der Frage, inwiefern Kunst Götter zu bilden vermag und dabei stets Kunst, das heißt, menschliches, der subjektiven Willkür unterworfenes und kontingentes Tun bleibt. Das ästhetische Paradoxon, wenn man es so nennen möchte, besteht darin, dass das Vorhaben, ein ›Abbild‹ (imago) der Gottheit – oder des Göttlichen – zu schaffen, offenkundig unsinnig ist, da es kein Vorbild gibt, an dem sich die Darstellung orientieren könnte. Die Art und Weise, in welcher das Göttliche den Menschen ›ergreift‹, schließt den Gedanken an ein künstlerisch gestaltetes Porträt von vornherein aus. Eine von Phidias gemeißelte Athene stellt die Göttin in der Weise dar, dass sie damit fasslich, anschaulich, ›plastisch‹ wird. Sie ist kein Abbild, sondern ein Kult- und Weihebild, ein Gegenstand der Verehrung und der Andacht. Dennoch ›wissen‹ die Menschen, dass dies nicht die Göttin ist – dass ›Bildwerk‹ und Göttin nicht identisch sind. Gegen eine solche Identifikation steht bereits die Vielzahl wirklicher und möglicher Kultbilder, die aufgesucht und miteinander verglichen werden können. Eine Statue kann weggeschlossen, beschädigt, zerstört werden, ohne dass der Göttin damit dasselbe Schicksal bereitet würde. Ähnliches gilt für den Christus auf Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtina, der, durch Restauratorenkunst verändert, doch stets denselben weltenrichtenden Christus repräsentiert.

In diesem Sinn sind auch die Gespräche und Taten der olympischen Götter in der Ilias Erfindungen Homers (oder einer langen ›mythischen‹ Überlieferungskette, aus der irgendwann die Ilias hervorgeht) und keine Aufzeichnungen eines Realgeschehens. Es sind aber keine ›bloßen‹ Erfindungen im Sinne von ›kurzweiligen Erzählungen‹, ›Schnurrpfeifereien‹ oder Comics, mit deren Lektüre sich Menschen die Zeit vertreiben, wohl wissend, dass das, was sie erzählen, nichts bedeutet, soll heißen, über die Lesesituation hinaus keine welterschließende Kraft besitzen. Eine solche welterschließende Kraft haben die griechischen Zeitgenossen und kulturellen Erben Homers den homerischen Epen zugestanden, bis mit dem Auftreten der Sophisten und dem Entstehen der sokratischen Philosophie sich der Zweifel an den Mythen zu einer antiken ›Aufklärung‹ verdichtet und in der Feststellung Platons, dass die Dichter lügen, eine Art abschließender Wertung erfahren.

Hegels § 560 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften gibt ein ebenso scharfes wie knappes Resümee dieses Gedankens. Im »Ideal«, soll heißen in den ästhetischen Bildungen einer Kunst, welche die ›Götter‹ einer Zeit und einer Kultur gestaltet, liegt der Gehalt der Vorstellungen, von denen die Menschen bewegt werden, unmittelbar zutage. Das bedeutet, dass er ihnen in objektiver, von ihrem Denken abgeschiedener Gestalt gegenübertritt. Der vom Künstler plastisch gestaltete Gott nimmt sogar einen eigenen Raum-Ort ein, er kann gesehen, im Ernstfall auch betastet werden, er ist da: ganz so, als sei er ein Wesen sui generis und nicht einem menschlichen Gehirn entsprungen. Doch gerade letzteres ist der Fall: dieses Objekt der Verehrung und der Scheu ist gemacht, ein seine Mittel und Möglichkeiten kalkulierender Künstler hat es sich ausgedacht und in einem bearbeitbaren Material ausgeführt. Die Menschen wissen das, sie kennen den Namen des Künstlers, sie überblicken, sofern sie hinreichend kundig sind, die Techniken der Materialbearbeitung und die Feinheiten der Gestaltung, die das Werk von den Arbeiten anderer Künstler unterscheiden, sie wissen Bescheid über die Konkurrenz der Künstler und sind im Ernstfall darüber im Bilde, dass ihr Lob und ihre Zustimmung darüber entscheidet, welche Darstellung der Gottheit angenommen und als gültig tradiert wird. Dies alles ist möglich, ohne dass die Gültigkeit des Bildes, soll heißen der mit ihm untrennbar verbundenen Gottesvorstellung, dadurch Einbuße erlitte.

 

3.

Das erinnert, auf das ›Blatt‹ bezogen, daran, dass auch die nicht überlieferte Brunnenfigur selbst von einer menschlichen Hand geschaffen wurde. Die im Text unterstellte oder zumindest suggerierte Identität der zeichnerischen Darstellung ist brüchig, denn weder über die Richtigkeit oder auch nur Verlässlichkeit der durch den Kreuzritter Lichtel angefertigten Zeichnung noch über deren zuverlässige Weitergabe (schließlich handelt es sich um ein »apogryphisches Blatt«, das die Möglichkeit einer Fälschung einschließt) noch über die Korrektheit der Reproduktion der ›am Ende‹ überlieferten Zeichnung ist innerhalb der Fiktion irgendein Aufschluss zu gewinnen. Dennoch ist es das Auge des Gottes, das den Betrachter anblickt, er möge sein, was er wolle, er möge sich dabei denken, was er wolle. Es genügt, dass das Gefüge ästhetisch-religiöser Überlieferung an dieser Stelle intakt ist, dass jemand also weiß, es handle sich, ikonographisch gesprochen, um das göttliche Auge, auf das man blickt. Dass, wie gesehen, auch an dieser Stelle gezweifelt werden kann, dass realer Zweifel möglich und vielleicht sogar unausräumbar ist, zeigt, inwiefern das von Hegel konstatierte unmittelbare Gegebensein des ›Ideals‹ im Kunstwerk an kulturelle Voraussetzungen geknüpft ist, die keineswegs zu allen Zeiten und unter allen Umständen vorauszusetzen sind. Bereits die jüdisch-christliche Gottesvorstellung weicht von derjenigen, die im ästhetischen Medium ›unmittelbar‹ realisierbar erscheint, erheblich ab. Insofern antwortet das Blatt ästhetisch auf die Problemlage einer Schriftreligion – und den Zweifel an ihr –, die sich durch die erzählerische Darbietung, wie sie der homerische Mythos bietet, ebenso wenig vermitteln lässt wie durch eine ›bloß‹ plastische Gestaltung.

Die Differenz der religiösen Kulturen deutet Hegel historisch: der gestaltlose Gott der Buchreligionen (das heißt für ihn vor allem: des Christentums), der ästhetisch nicht adäquat gestaltet werden kann, sondern geglaubt werden muss, zeigt in seinem System eine spätere Entwicklungsstufe des Geistes an, auf der die ästhetische Weltsicht insofern vergangen ist, als die wesentlichen Instrumente des gültigen Weltverständnisses in ihr noch gar nicht vorhanden sind. Michelangelos oder Grünewalds Christusdarstellungen unterscheiden sich von den Götterdarstellungen eines Phidias oder Praxiteles dadurch, dass nur ein gläubiges Gemüt, getränkt mit der christlichen Gottesvorstellung und wohl vertraut mit den biblischen Geschichten, begreift, was in ihnen ›zur Darstellung kommt‹. Entsprechend gilt, dass die Evangelienerzählungen keine Mythen sind, keine fraglos angenommenen Geschichten darüber, wie alles geworden ist, sondern explizit im Glauben ausgelegt werden müssen, sei es im theologischen Dogma, sei es in der Innerlichkeit der mystischen oder erweckungsreligiösen Erlebnissphäre. Doch auch diese Stufe der Selbstverständigung hält den Geist nicht auf Dauer fest. Erst die Freiheit des Subjekts, auf deren Grundlage das Denken nicht durch äußere Formen und tradierte Formeln beschränkt wird, sondern sich in der Arbeit des Begriffs realisiert, ermöglicht das Stadium, in dem der ›Geist‹ sich rückhaltlos zu verwirklichen vermag.

Man muss dieses Schema, in dem das Denken von der sinnlichen Anschauung, wie sie die Kunst gewährt, über die religiöse Vorstellungswelt zum Begriff ›fortgeht‹, im Hinterkopf haben, um die Wendung »Aber indem die Freiheit nur bis zum Denken fortgeht...« einigermaßen angemessen verstehen zu können. Zunächst einmal wirkt es paradox, wenn dem Künstler »nur« die Freiheit des Denkens, aber nicht der Gestaltung eingeräumt wird. Das Gegenteil scheint dem Alltagsverstand nach der Fall zu sein: gerade die freie Gestaltung scheint das zu sein, was den Künstler von seinen in ›angewandten‹ Berufen tätigen Zeitgenossen unterscheidet. Hegels Bemerkung erinnert daran, dass letztere Vorstellung ein modernes Umfeld vorausssetzt, in dem die Deutungshoheit des Künstlers und der Kunst in Bezug auf das allgemeine Weltverstehen nur sehr eingeschränkt existiert. »Bilde, Künstler, rede nicht. / Nur ein Hauch sei dein Gedicht« lautet ein Goethescher Vers, der dieses Dilemma des modernen Künstlers prägnant in Worte fasst. Die verständige, ›diskursive‹ Rede des Künstlers bleibt schwach im Zeitalter wissenschaftlicher Diskursivität. Der Künstler hingegen, von dem in Hegels § 560 die Rede ist, ist der Künstler in seinem eigenen Zeitalter. Nur deshalb kann er am Ende als »Meister des Gottes« apostrophiert werden. Der Künstler schafft den Gott. Er kann es deshalb, weil in ihm die Freiheit »nur bis zum Denken fortgeht«, soll heißen: nicht bis zu bestimmten Glaubensinhalten oder zum sich im Besitz aller Denkmittel realisierenden ›Begriff‹. In gewisser Weise ›begreift‹ der Künstler nicht, was er denkt, sondern gerät darüber in »Begeisterung«. Er muss den Gedanken, so wie er ihm kommt, unmittelbar aus sich herausstellen – just darin liegt seine »Tätigkeit«.

Versuchen wir diese Vorstellung für die Lektüre des Mersmann-Blattes fruchtbar zu machen. Man sieht, dass weder der zeichnende Kreuzritter noch der gegenwärtige Zeichner – und Beschrifter – des Blattes in diesem Sinne als enthusiastische Künstler verstanden werden können: der eine ist als Kopist hinreichend charakterisiert, der andere spielt mit der – imaginierten – Vorlage des Kopisten und einer unklaren Überlieferungslage. Künstler im Sinne des Hegelschen Paragraphen wäre der Erbauer respektive Gestalter des Brunnens selbst und des göttlichen Hauptes, das ihn ziert. Dieser Brunnen, von dem die Bibel nicht mehr zu sagen weiß, als dass ihn die Formel der göttlichen Präsenz gegenüber anderen kenntlich macht, ist in gewisser Weise heidnisch, da in ihm ›der Gott‹ in ähnlicher Weise gegenwärtig ist wie in den klassischen Götterbildern im Kontext der archaischen Religiosität, in deren Bann sie entstanden. In dieser Hinsicht ist es aufschlussreich und für den Stand der Deutungshoheit bezeichnend, wenn es im Text heißt, »man bedecke weniger aus Gründen religiöser Verehrung den Brunnen mit Teppichen sondern aus Angst und zeige ihn nur den Fremden«. Die religiöse Verehrung der örtlichen Bevölkerung für das Götterbild ist nicht verschwunden (»Auch habe man oft ein Licht in den Augen des Gottes gesehen«), sondern gedämpft. Man deckt es zu – die Anhänger der Buchreligion reagieren mit »Angst«, das heißt einer gewissen unfreien Sprachlosigkeit auf das Kunstwerk, das frei von Glaubensartikeln die Gottheit sichtbar macht.

Diese zentrale Erfahrung der Macht des ästhetischen ›Gebildes‹ bestätigt sich auf prägnante Weise in der Skizze, die der christliche Kreuzfahrer (der nur überliefern kann, was er gesehen hat) von dem Brunnen anfertigt, soweit der Betrachter ihrer in der vorliegenden Zeichnung nach dem Willen des Zeichner-Autors ansichtig werden soll. Auf ihr dominiert das Antlitz des Gottes die Wahrnehmung auf eine Weise, die das Gesehenwerden erneut in den Mittelpunkt rückt. Auch das gezeichnete ›Haupt‹ blickt den Betrachter an. Zugedeckt wird dieser Umstand durch den Begleittext, der sich betont antiquarisch mit dem Gegenstand befasst und ihn damit in den Zusammenhang wissenschaftlich approbierter Rede einbettet. Zweifellos verändert sich damit die ästhetische Wahrnehmung selbst: der unmittelbare und selbsttätige Eindruck, der von dem Kunstwerk ausgeht (oder ausgehen könnte), verwandelt sich unter der Führung durch einen selbst erst zu entziffernden – und teilweise unentzifferbaren – Text in etwas, das die lesende betrachtende Person für sich entdecken muss. Diese schweigend zu vollziehende Entdeckung gelingt in einer wiederum paradox zu nennenden Doppelbewegung, in der der erläuternde Text zurücktritt und komisch wirkt, in der er aber keineswegs gelöscht wird, sondern, im Gegenteil, die Richtung der Aufmerksamkeit bestimmt. So sehr die ästhetische Faszination die Aufnahme des Blattes in seiner Gesamtheit bestimmt, so diffus bleibt sie ohne den Jaegerschen Hinweis aus dem Jahr 1776 auf die »Zeiten des alten Glauben«, der ebenso der abrahamitische wie der Kunst-Mythos einer aufgeklärten Antike-Rezeption sein könnte.

Die historische Tiefenschichtung des ›Blattes‹ ist zweifellos fingiert, aber sie ist deshalb nicht marginal. Seine Komik persifliert den antiquarischen Sprachduktus. Sie reflektiert damit die eigentümlich ›moderne‹ Verfassung einer Literatur, in der die Dichotomie profan/sakral zwar nach wie vor wirksam ist, aber nur auf objektivistischen Umwegen erschlossen und benannt werden darf, weil innerhalb des vorherrschenden Verständigungstypus Sakralität nur im Modus distanzierter und distanzierender Rede über entfernte Kulturzustände oder zweifelhafte Erlebniswelten ›zur Sprache kommt‹, wie es ebenso treffend wie pragmatisch heißt. Mag auch der welthistorische Schematismus Hegels seit dem Positivismus des 19. Jahrhunderts nicht mehr vertreten werden, so ließe sich doch manches davon im Rahmen der Theorie der symbolischen Formen reformulieren, wie Ernst Cassirer sie im ersten Drittel des 20. Jahrhundert begründete. Bekanntlich fasste Cassirer den Mythos als eine eigene ›Denkform‹ auf, die vor und neben dem begrifflich-rationalen Denken, in dem sich die wissenschaftliche Gewinnung von ›Erkenntnis‹ vollzieht, die Welt auf ihre Weise erklärt und dadurch wirkliches Handeln ermöglicht, gleichgültig, was das begrifflich orientierte Denken davon halten mag. Eine andere, weniger wissenschaftsorientierte Deutung des Verblassens der mythischen Weltsicht enthält eine kleine von Gershom Scholem mitgeteilte Parabel aus dem chassidischen Umfeld, an der sich der Niedergang und die spezifische Fortdauer des Mythos in einer sich entwickelnden Kultur gleichermaßen ablesen lassen:

Wenn der Baal-Schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken, Gebete – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: »Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen« – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: »Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und das muß genügen.« – Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloss auf seinen goldenen Stuhl und sagte: »Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.« Und – so fügt der Erzähler hinzu – seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen.3

Was hier von den Vertretern der Kabbala gesagt ist, das gilt grundsätzlich, wenngleich auf unterschiedliche Weise, von allen Formen der Annäherung an das Heilige, also auch dort, wo sie in der Kunst geschieht. Sicher ist es problematisch, von einer ›Emanzipation‹ der Kunst und der Künste von den magisch-mythischen Zusammenhängen und Verhaftungen zu sprechen, in denen man ihre Entstehung und frühe Praxis vermuten muss. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Begriff der Emanzipation ein eher missleitendes Element der Verständigung über die Leistungen und Grenzen der wissenschaftsbasierten Kultur darstellt – wie übrigens auch der Begriff der ›Ratio‹, der als Kampfbegriff der historischen Aufklärung eine ähnlich diffuse Entwicklung genommen hat. Wenn Rabbi Israel von Rischin, der letzte Repräsentant des verblassenden Glaubens, in einem Schloss auf einem goldenen Stuhl sitzt, dann erinnert das daran, dass die Fortschritte der säkularen Kultur vor allem auf der materiellen Seite zu suchen sind, in Reichtum und Komfort, wie bereits Rousseau in seinem ersten Discours behauptet hatte. Das heißt aber, sie lassen die beredete andere Seite frei, gleichgültig, in welcher Form. Dieses Andere wird in der Legende auf eine indirekte Weise umschrieben, es ist das »Schwierige«, »irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe«. Die Begegnung mit dem Heiligen ist offenbar kein Selbstzweck, kein ›Erlebnis‹ ohne Weiterungen, eher eine Operation zu einem Nutzen, der festzustehen scheint, ohne dass es dazu weiterer Feststellungen bedürfte.

In gewisser Weise entsprechen einzelne Schichten des ›Blattes‹ den Stadien der Legende. Die Bibelstelle ›benennt‹ den Ort und das Zwiegespräch zwischen Hagar und dem Engel, das die Umkehr bewirkt. Der mittelalterliche Kreuzritter kennt den Ort und die Legende, er bewegt sich im Raum der Imitatio Christi, die den Gedanken der Umkehr in einem spirituell deutet und handgreiflich (als Rückkehr an die biblischen Stätten) praktiziert – er »kann die Gebete sprechen«, so wie in ihm das »Feuer« der Nachfolge brennt. Anders sein aufgeklärter Nachfolger im 18. Jahrhundert, der noch den Ort aufsuchen und den Brunnen abzeichnen – die Gebete sprechen – kann, nochmals anders der Archäologe Schönfärber, der sich darauf beschränkt, die Überlieferung zu sammeln, zu sichten und zu kommentieren und damit zwar nicht mehr expressis verbis auf heiligem Boden bewegt, aber noch immer das kulturelle Bewusstsein kontinuiert, innerhalb dessen die religiösen Bildungen eine sinnhafte Stellung einnehmen. Der moderne Künstler wiederum befindet sich in der komfortablen Rolle dessen, dem die Wissensbestände und die Technik erlauben, sich die überlieferten Materialien nutzbar zu machen: er sitzt in seinem Schloss auf einem goldenen Stuhl, er könnte vielleicht die (mutmaßlichen) Worte sprechen und sogar den (mutmaßlichen) Ort aufsuchen, ohne sie doch zu kennen, das heißt, als Wissender über sie zu verfügen. Allein als Künstler steht er in der Überlieferungskette und weiß sie selbst dort zu gebrauchen, wo er die Details erfindet, deren er zu seinem Zweck bedarf.

Wenn Hegel über den Künstler schreibt, »das Produzieren hat an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, kommt dem Genie als diesem besonderen Subjekte zu«, dann meint das nicht zwingend, dass der Künstler sich nicht von Sachverstand leiten lässt, sondern bloß spontan, aus einem Kunsttrieb heraus seine Gebilde schafft, also aus Instinkt – wäre dem so, dann bliebe die zweite Hälfte des Satzes (»und ist zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Äußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten«) unverständlich. Ohne den Gedanken der Präsenz, der ›Erscheinung‹ des Göttlichen in der Kunst, ist der Paragraph nicht zu verstehen. Dem Künstler gelingt etwas, was außerhalb der Kunst nur in einer transpersonalen kulturellen Anstrengung anzutreffen ist, im Zusammenspiel der Formen und Inhalte der Religion und in der begrifflichen Arbeit der Philosophie – das Zur-Darstellung-Bringen dessen, was im Hegelschen System der ›absolute Geist‹ heißt und was in einem anderen begrifflichen Milieu als Totalitätsaspekt des menschlichen Denkens und Handelns bezeichnet werden könnte. Allerdings zahlt der Künstler, mit Hegel gesprochen, einen Preis für seine Form des Produzierens: der von ihm konzipierte Gott bleibt Einfall, also etwas, wofür das differenzierte Wollen der Person in gewisser Weise nichts kann. Das meint die Formel von der »natürlichen Unmittelbarkeit« des Produzierens. Was an diesem Produzieren »Arbeit« ist, bleibt dem göttlichen Einfall gegenüber »äußerlich«: es hat nur insoweit mit ihm zu tun, als es die handfeste Bedingung dafür ist, dass überhaupt etwas Sicht- oder Lesbares entsteht. Der Sachverstand des Künstlers gilt daher gerade nicht der Sache (des Göttlichen, das sich für Hegel im Denken artikuliert), sondern der Ausführung des Kunstwerks.

 

 
 

 

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