1.

Wenn das mot juste sich versagt, tritt an seine Stelle die Ironie. Sie ist selten um das richtige Wort verlegen, den wer sich ihrer bedient, weiß im voraus: es ist das falsche. Ironisch gesprochen könnte das Thema der nachstehenden Überlegungen lauten: Der Teppich des Lebens oder die Quellen der Inspiration. Damit wäre dann das biographische Missverständnis programmiert, denn wenn wir etwas zu wissen glauben, so dies, dass Dichter aus vielerlei Quellen schöpfen und die trüben meist die ergiebigsten sind. Das jedenfalls ist die eine Sicht auf die Sache. Die andere nährt die Hoffnung, niemandem zu nahe zu treten, falls man die Art und Weise, in der Morwitz und seine Nachfolger bei George solche Quellen gesucht und benannt haben, versuchsweise als trivial beiseiteschiebt.

Nichttrivial wäre ihr zufolge das Unterfangen, Quellen im Konzeptuellen zu suchen.

Der frühe George hat mit dem Inspirationsgedanken nicht viel im Sinn. Zwar weist er ihn nicht ebenso nachdrücklich zurück wie Valéry, der das Bonmot bekannt gemacht hat, die Dichtkunst gleiche der Ingenieurskunst, wo es bekanntlich unerlässlich sei, dass der Erbauer einer Lokomotive sich mit einer Geschwindigkeit von vierundzwanzig Meilen in der Stunde fortbewege. George wirkt interessierter, doch drückt sich seine Distanz zum Inspirationstopos deutlich genug aus. Sie prägt die frühe Charakterisierung des Kunstwerks als »mache«, sie steht hinter dem Eingangsbild der Hymnen, der Inversion des Musenkusses, sie steuert die Parteinahme des Dichters der Hymnen gegen die Musik und für eine nüchtern-handwerkliche Malerei, in der es gilt, »den griffel der sich sträubt zu führen«, und sie ist in der Selbstherrlichkeit Algabals inbegriffen, der als Urheber seiner Gegenwelt die Zeit der Begeisterung hinter sich gelassen hat.

George vertritt hier eine programmatisch ›moderne‹ Linie, die er bei Mallarmé kennenlernen konnte und die später in den dichtungstheoretischen Schriften Valérys ihren deutlichsten Ausdruck gefunden hat. Wenn man die vielerlei Subtilitäten, die bei beiden Autoren im Spiel sind, einmal beiseitesetzt, so besagt das Argument, dass die Droge Dichtung keineswegs dem Rausch entstammen muss, den sie beim Leser erzeugen soll, und dass gute Gründe dafür sprechen, die Zustände, in die sie den Leser versetzt, beim Dichter gerade nicht – und schon gar nicht im Vorgang des Dichtens – vorauszusetzen. Unter dem Eindruck gewisser, von der Dichtung erzeugter Stimmungen kann sich jeder Mensch als Dichter fühlen. Gerade darin besteht die poetische Wirkung. Der Dichter hat die nüchterne Aufgabe übernommen, Mittel zur Erzeugung solcher Stimmungen herzustellen: das bedeutet zu dichten, nicht, dichterisch zu fühlen.

Diese Vorstellung unterscheidet sich nicht nur von der Inspirationslehre, sie widerspricht ihr explizit. Schließlich behauptet diese, der Dichter vermöge seine Hörer oder Leser hinzureißen, weil er selbst ein Hingerissener sei. Unabhängig davon, ob die Theorie das, was ihn überkommt, Eingebung oder Rausch oder beides nennt, scheint der Gegensatz der – mittlerweile klassischen – Auffassungen über jeden Zweifel erhaben zu sein. Über jeden Zweifel? Immerhin ließe sich fragen, welche geheimnisvollen Kenntnisse den Dichter befähigen sollen, Effekte zu kalkulieren, wenn er selbst sich ihnen beharrlich entzieht. Woher bezieht er sein Wissen um seelische Wirkungen, wenn nicht aus eigener Erfahrung? Aus einem abgebrochenen Psychologiestudium? Wenn aber die dichterische Tätigkeit ohne mimetischen Impuls nicht auskommt, dann lässt sich der Anteil des Affekts auch nicht zugunsten des kalkulierenden Verstandes eliminieren. Im Gegenteil: was, wenn nicht der durch das Kalkül provozierte und und sich im Herstellungsprozess konkretisierende Affekt sollte wohl die Herstellung das ›Produkts‹ steuern? Wie immer man die Dinge betrachtet, Dichtung ist kein Stoff, der nach Rezept in beliebigen Quanten hergestellt und konsumiert werden könnte, um pünktlich nach Einnahme seine Wirkung zu tun.

Die europäische Tradition, mehrdeutig wie stets, kennt unterschiedliche Arten von dichterischem Rausch. Der Humanist Scaliger stellt sie einander im ersten seiner Sieben Bücher über die Dichtkunst gegenüber. »Die Dichter«, schreibt er,

rufen also deshalb die Musen an, damit sie von Raserei erfüllt vollbringen, was ihre Aufgabe ist. Von diesen Gottbegeisterten aber habe ich bis jetzt zwei Arten festgestellt. Der ersten Art kommt jene göttliche Kraft vom Himmel herab von selbst und unvermutet zur Hilfe, oder einfach auf einen Anruf hin ... Die zweite Art schärfen die Ausdünstungen des Weines, die die Werkzeuge der Seele und den Geist selbst von den stofflichen Teilen des Körpers hinwegziehen.

Und er zitiert Sophokles mit der anzüglichen Bemerkung, nicht Äschylos, sondern der Wein habe dessen Tragödien hervorgebracht.

Vergleicht man beide Begeisterungsarten, so ist klar: letztere besitzt den Vorteil der Praktikabilität. Abgesehen von Phasen allfälligen Katzenjammers ist sie jederzeit verfügbar. Kein Wunder also, wenn Scaliger konstatiert, die bekannten Dichter hätten sich eher an sie als an erstere gehalten – Hesiod und Homer, die ehrwürdigen Gründervätern der Poesie, selbstredend ausgenommen.

Der Rausch als Steigerungsmittel der seelischen Kräfte – kaum ein Thema liegt der literarischen Moderne näher. De Quinceys Confessions of an English Opium-Eater, denen Baudelaire seine Paradis artificiels folgen lässt, die Absinth-Exzesse Rimbauds und Verlaines, die Rauschgift-Experimente Ernst Jüngers und Gottfried Benns – sie alle signalisieren eine Bereitschaft, der gegenüber das Ingenieursgehabe Valérys allenfalls die halbe Wahrheit einrückt. Der entschiedene Vorstoß in die Rauschregionen deformiert das hergebrachte Universum der Poesie. Der junge George steht da nicht völlig abseits. Schon Morwitz hat das Gedicht Neuländische Liebesmahle in den Hymnen als verhaltenen Hinweis in diese Richtung gelesen. Nach Zeit und Dichtungsauffassung wäre daran nichts Besonderes; merkwürdiger mutete es an, wenn sich dergleichen Spuren nicht fänden.

Stoff für Biographen. Zum Zweck dieser Untersuchung darf der Hinweis genügen, dass Rausch, Berauschung, rauschhafte Zustände unterschiedlicher Art innerhalb Georges Werk zu den stehenden Motiven zählen.

Das war ein stürzen ohne zäume
Ein rasen das kein arm beengt –
Ein öffnen neuer duftiger räume
Ein rausch der alle sinne mengt.

So heißt es im Siebenten Ring. Wenig später liest man:

Mich überfährt ein ungestümes wehen
Im rausch der weihe wo inbrünstige schreie
In staub geworfner beterinnen flehen...

Im Stern des Bundes findet sich die Dionysos-Reminiszenz vom »trunkne[n] herr[n] des herbstes« und im Neuen Reich liest man:

Sieh hier den becher golds
Voll von funkelndem wein –
Jedes hat einen schlurf!

Dieser lässt ohne verdruss
Wissen was zu uns steht ·
Heben vom tisch wir ihn bloss.

Halluzinatorische Züge enthält das erste Gedicht des Vorspiels zum Teppich des Lebens, dem Wende-Zyklus, mit dem George zu seinen an Mallarmé und Baudelaire Maß nehmenden Anfängen auf Distanz geht:

Da trat ein nackter engel durch die pforte:
Entgegen trug er dem versenkten sinn
Der reichsten blumen last und nicht geringer
Als mandelblüten waren seine finger
Und rosen · rosen waren um sein kinn.

Aber man kann im Vorspiel auch Züge der Abweisung einer Praxis der kontrollierten Bewusstseinserweiterung erkennen. So, wenn der Engel auf die losgelassenen Wünsche des Dichters antwortet:

Gewährung eurer vielen kostbarkeiten
ist nicht mein amt · und meine ehrengift
 
wird nicht im zwang errungen · dies erkenn!

Von welchem Zwang sollte da wohl die Rede sein, wäre nicht das Experiment mitgedacht, das den Effekt der Grenzüberschreitung verlässlich macht und ›mechanisiert‹? Der Dichter, gewillt, dem Engel zu folgen, löst sich von einer gängigen Praxis, in welcher letzterer einerseits zu erscheinen imstande ist, andererseits eingeschlossen bleibt in den Spiegelraum des auf chemischem Wege provozierten Tagtraums. Als Ratgeber, als Freund, Führer und »ferge« hat der Engel diesen Raum des kontrollierten, auf die experimentelle Situation eingegrenzten Unvorhersehbaren verlassen und ist zum Doppelgänger aufgerückt, dessen Kommen und Gehen keine experimentelle Anordnung mehr bindet und der daher unvorhersehbar geworden ist. Das unkontrollierte Kommen und Gehen des Engels, der Zeiten der Fülle und des Mangels, der Gezeiten, erinnert an das Kommen und Gehen der anderen Inspiration, in der, wie Scaliger sagt, »jene göttliche Kraft vom Himmel herab von selbst und unvermutet« dem Dichter zur Hilfe kommt. Dass von zweierlei Rausch die Rede ist, bestätigt das sechste der Vorspiel-Gedichte, in dem der Engel den Dichter belehrt:

Entsinne dich der schrecken die dir längst
Verschollen sind seit du mir eigen bleibst
Und nur durch mich der gluten kelch empfängst
Der dich berauschen wird solang du leibst.

 

2.

Hat sich George hier im Ernst zu einem archaischen Dichtungsmodell bekehrt? Wenn ja, was wäre die Basis dieser Bekehrung? Ein pathologischer Fall von unüberwundenem Narzissmus oder multipler Persönlichkeit, der seinen poetischen Ausdruck in Spiegelmetaphorik und Doppelgängermotiv findet? Lässt man dergleichen Deutungen, die zuviel und also im gegebenen Fall eher nichts erklären, beiseite, so bleibt die unbestreitbare Tatsache, dass im Teppich eine gewisse Hinwendung zu den Ursprüngen stattfindet. Georges Wende trägt antimodernistische Züge – daran ist nicht zu deuteln. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass erst im Vorspiel der Entwurfcharakter der Dichtung – und nicht allein der Dichtung – formuliert wird. Jedenfalls lässt sich so der Spruch lesen:

Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet
Durch euch so gross ist und durch euch so gilt..
Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet

Weiterhin bliebe zu klären, wie sich die Inspirationsrhetorik des Vorspiels – »Gib mir den grossen feierlichen hauch« – mit dem hieratischen Dichtungsverständnis verträgt, dem zufolge das Gedicht, wie Wolfgang Braungart schlüssig gezeigt hat, als Hostie fungiert. Der Priester, der Brot und Wein verwandelt, bedarf keiner Inspiration, nicht einmal eines unalltäglichen Grades an Aufgeregtheit. Vermutlich wäre sie eher schädlich, da sie den reibungslosen Ablauf des Rituals in Gefahr brächte.

An solchen Stellen erweist sich der Grad an Kohärenz, über den ein Werk verfügt. In einem Gedicht aus dem Zyklus Gezeiten, das gewiss noch andere Assoziationen zulässt, zeichnet George so exakt die skizzierte Konstellation nach, dass es sich anbietet, von ihm eine Antwort auf unsere Fragen zu erwarten. Das Gedicht heißt Der Spiegel, und seine erste Strophe lautet:

Zu eines wassers blumenlosem tiegel
Muss ich nach jeder meiner fahrten wanken.
Schon immer führte ich zu diesem spiegel
All meine träume, wünsche und gedanken
Auf dass sie endlich sich darin erkennten –
Sie aber sahen stets sich blass und nächtig:
›Wir sind es nicht‹ so sprachen sie bedächtig
Und weinten, wenn sie sich vom spiegel trennten.

Das ›Blasse‹, das ›Nächtige‹ sind Attribute, die der George der zweiten Phase für den der ersten bereithält. Wenn im Fortgang des Gedichtes von »bitternisse[n]« und »alter schatten schmerzliche[m] vermodern« die Rede ist, dann deutet das in dieselbe Richtung. Auch der Ausdruck ›fahrten‹ ist dem Leser von früheren Anlässen her geläufig. Von ihnen erwartet er – poetischen Ertrag.

Was immer die »träume, wünsche und gedanken« des Sprechers sein mögen, eines ist sicher: Sie sind in diesem Ertrag nicht aufgegangen. Jedenfalls nicht restlos, wie sie vor ihrem aktuellen Spiegelbild erfahren, von dem sie sich gleichwohl nur unter Schmerzen lösen möchten. Man wird in dem »blumenlosen tiegel« wohl die letzte unbestechliche Instanz des Erkenne-dich-selbst sehen müssen, jene Ich-Instanz, vor der das lebens-, in diesem Fall kunstdienliche Geflunker verstummt.

In der zweiten Strophe erfolgt, durch »Auf einmal« eingeleitet, die Wende: das Ich erfährt das »glück in vollem glanze«. Man beachte die Rauschmetapher, die dabei zum Einsatz kommt: »Mir däuchte dass sein arm mich trunknen wiegte«. Die entscheidende Vokabel aber lautet ›Hingabe‹:

Ich habe endlich ganz in wildem lodern
Emporgeglüht und ganz mich hingegeben.

Entspricht das nicht ganz der Botschaft des Engels im ›Vorspiel‹, wo es heißt:

»Du gibst den rausch · sie schwebt zum ewigen tore
Erhoffter strahlen jauchzendem gemisch
Sie gleitet durch den saal zum göttertisch
Erfüllung leuchtet · lösung schallt im chore«

Erinnert fühlt man sich schon. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass der Spiegeltest auch diesmal negativ ausgeht. Das Gedicht endet resigniert:

Ihr weint nicht mehr doch sagt ihr trüb und schlicht
Wie sonst: ›wir sind es nicht! Wir sind es nicht!‹

Also keine neue Ausfahrt, kein Auf-ein-Neues, kein weiteres ›Modell‹. Wohl aber die Festschreibung der mühsam erworbenen Einsicht, dass der plastische Kern des Subjekts, der in der unzensierten Regsamkeit seiner Träume und Wünsche zum Vorschein kommt, Distanz herstellt, auf Distanz bleibt, auch im Bann einer Unbedingtheit, die der Rausch der Hingabe im Gefühl erzeugt. Die kleine Differenz, welche die dritte gegenüber der ersten Strophe bereithält, liegt darin, dass die ›gedanken‹ in der letzten Strophe nicht mehr dabei sind, dass sie demnach, so darf man wohl schließen, ihre Form gefunden haben und gegenüber der letzten Frage stumm bleiben. George wird also nicht aufhören, den mit der Figur des Engels im Vorspiel verbundenen Gedanken der Umkehr oder der Wende zu verkünden und ihn in immer neuen Konstellationen zu entfalten. Vor dem Forum der Träume und Wünsche jedoch bedeutet das willkürliches Innehalten, Verrat am Letzten Resignation. Nicht, als ob es ein Letztes gäbe, das über das Gesagte hinaus auszusprechen wäre: vielmehr steht hier die nicht weiter reduzierbare Fähigkeit des menschlichen Geistes, weiterzugehen, seine Bildungen hinter sich zu lassen, in Frage. Und so konsequent es erscheint, dass ein Denken seinen Bildungen die Treue wahrt, so erstaunlich und selbst ergreifend erscheint dieser Ausdruck einer äußersten Redlichkeit gegen sich selbst bei einem so zur Starrheit neigenden und den Starrsinn befördernden Intellekt. Der Enthusiasmus ist also nicht das letzte Wort Georges in dieser Sache, ebensowenig wie der Gedanke der Treue gegenüber dem einmal bedingungslos Ergriffenen und Verkündeten. Anlass genug, die ›Sache‹ einer erneuten Prüfung zu unterziehen.

 

3.

Der Vorzug der Inspirationstheorie liegt darin, dass sie eine für jedermann erkennbare fundamentale Eigenschaft von Dichtung, ihre Nichtdiskursivität (also ihr Heraustreten aus dem sonst allgegenwärtigen pragmatischen Kontext, der, wie Valéry feststellte, uns einen Satz wie ›Es regnet‹ nur dann gebrauchen lässt, wenn wir ihm entnehmen können, dass es regnet, so dass es sinnvoll erscheinen mag, sich mit einem Regenschirm zu bewaffnen), durch ein Instanzen-Modell erklärt. Der Dichter ist, sobald er dichtet, nicht länger der reizende Nachbar, auf dessen Wort man mühelos vertraut, weil man nicht ohne Grund unterstellt, dass er weiß, was er sagt. Er ist ein anderer, und da diese Vorstellung im gemeinen Leben einen unguten Beigeschmack besitzt, so sagt man, ein anderer habe zeitweise von ihm Besitz ergriffen: ein Gott, ein Dämon, ein bewegendes Prinzip. Der vom Geist ergriffene Dichter ist nicht länger die Person X, er ist ein Mittler, eine Mittelfigur zwischen Gott und Mensch, zwischen Geist und Individuum. Das macht es verständlich, dass seine Rede die alltägliche Sprachpraxis durchbricht. Denn diese Praxis ist menschlich. Die ›andere Rede‹ der Dichtung unterbricht diese Praxis, auch wenn sie am Ende von ihr handelt oder zu handeln scheint.

Erstaunlich unbeschadet hat die Inspirationstheorie den doppelten Religiositätsschwund in Antike und Neuzeit überstanden. Nach der Romantik verlagert der Symbolismus als erste gesamteuropäische Bewegung die Instanzen konsequent in das dichtende Subjekt. Anstelle des rätselhaften Gottes offerieren diese Autoren eine Tiefendimension des Subjekts, der sich all die glänzenden Wortkombinationen verdanken, die man durch das Bedürfnis, sich zu verständigen, nicht oder nur unzureichend erklärt findet. Rimbauds ›dérèglement‹, Lautréamonts zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch, die ›écriture automatique‹ der Surrealisten waren – jedenfalls im nachhinein betrachtet – ebensoviele Wege, die Tiefenschicht des Subjekts zum Sprechen zu bringen. Schließlich blieb es der Freudschen Traumtheorie vorbehalten, eine Art Standard-Schichtenmodell zu entwickeln, mit dem alle möglichen Anwender, darunter eine nicht unbeachtliche Reihe von Dichtern, über Jahrzehnte ihr Auskommen fanden.

Leider erklärt das so ungemein praktikable Modell nicht alles. Recht besehen, liegt das durch die Dichtung aufgeworfene Problem nicht in den Vorstellungs- und Satzinhalten, die von ihr produziert werden, sondern in deren Verknüpfung. Angenommen, die hypothetische Traumlogik der Poesie, seit der Romantik immer wieder mit klugen Bemerkungen bedacht, existierte: so läge ihre Leistung darin, diesseits der Leistungen des wachen Intellekts eine stabile Sinndimension zu garantieren, eine Art Körper- oder besser Maschinensprache des Begehrens und der Seele, die in hohem Maße als gegeben und der freien Entwurfsfähigkeit des Intellekts – des Freudschen Ich – entzogen gedacht werden müsste. Eine solche Sprache wäre nicht verfügbar. Jeder Versuch, sich ihr verbal anzunähern – etwa in der Dichtung – wäre bereits Übersetzung und also Interpretation, folglich, jedenfalls in dieser Hinsicht, nicht prinzipiell unterschieden von sprachlichen Äußerungen überhaupt. Und es wäre zwangsläufig eine Übersetzung von Gnaden des souveränen Intellekts, ohne jede weitere Kontrollinstanz außer dem, was die Freudsche Theorie nicht ohne Hintersinn als ›Widerstand‹ der individuellen Psyche gleichermaßen bezeichnet wie denunziert. Die poetische Zurichtung von Sprache mit dem Ziel, das Unbewusste möglichst unverfälscht zum Sprechen zu bringen, lässt das Ziel zwangsläufig zwischen dem Dogmatismus, der immer schon weiß, was das Unbewusste will und sagt, und den Vagheiten einer grenzenlosen Sagbarkeit verdämmern.

Der theoretische Ansehens- und Vertrauensschwund der gängigen Praxis der Traumdeutung erhöht die literarische Attraktivität von Theorien, die eine solche stabile Dimension von Bedeutung jenseits der Bewusstseinsebene schlechterdings für Aberglauben erklären. Valéry, dieser ungleiche Zwilling Georges, der Formulierungen in Bereichen findet, zu denen letzterer schweigt, weil sein Selbstverständnis es gebietet, skizziert in den Cahiers eine Reihe von Überlegungen zur Traumtheorie, die den Freudianismus seiner Zeit mit Lust und beträchtlichem Erkenntnisgewinn unterwandern. Ihnen zufolge repräsentiert der Traum nicht ein Mehr, sondern ein Weniger an Bedeutung. In der vorbewussten Tätigkeit des Traumes zerfallen die komplexen formalen Muster, in denen sich Denken und Sprache organisieren. Was wir Träume nennen, sind diffuse, aber erzählbare Erinnerungsstücke, Übungen in einer reduzierten Syntax, mit denen das Wachbewusstsein auf die Produkte einer den organischen Reizungen haltlos ausgelieferten Kombinatorik reagiert, wenn es denn zufällig einmal passiert, dass sie die Schwelle zum Wachzustand passieren.

George fällt es nicht ein, einer Zerfallstheorie à la Valéry zu huldigen. Dass Träume etwas bedeuten – und zwar etwas Dichterisches –, gehört zum eisernen Bestand seiner Überzeugungen. Die Frage lautet eher, was sie bedeuten: In dieser Hinsicht ist das zitierte Spiegelgedicht unschätzbar. In ihm werden, wie gesehen, die Träume zum Träger jener negativen Kraft, angesichts derer die Unbedingtheit der Setzungen zerschellt oder zerbricht. Das in der Weise der Unbedingtheit Erfahrene – es sei an die Hingabe erinnert, von der in der zweiten Strophe die Rede war – erweist sich sub specie des Traums als bedingt und also als ablösbar vom Subjektkern. Was immer ein Traum bedeuten mag – er gibt seine Bedeutung nicht preis, gleichgültig, wie sehr ihm der Intellekt zu schmeicheln bereit ist. Die poetische Ausgießung des Sinns findet nicht statt. Ein Traumstück Georges trägt den Titel Der redende Kopf. Darin berichtet der Erzähler, er habe eine »thönerne Maske« an der Wand seines Zimmers aufgehängt. Anschließend habe er seine Freunde eingeladen, »damit sie sähen wie ich den kopf zum reden brächte.« Der Kopf soll den Namen eines Anwesenden nennen. Stattdessen beißt er das Traum-Ich in den Finger. Erst nach erneuter, mit äußerster Konzentration vorgebrachter Aufforderung nennt er den gewünschten Namen. Also doch – sollte man meinen. Aber man lese: »Wir verließen alle entsezt das zimmer und ich wusste dass ich es nie mehr betreten würde.« So gewiss George von der dem Traum eignenden Kraft, die Dinge zu benennen, überzeugt war, so nachdrücklich verband sie sich für ihn mit dem Gefühl einer Grenze, die zu überschreiten er für unziemlich hielt. Nennen wir es seinen sich selbst reglementierenden Aberglauben.

Bleibt die Frage, was dann der Eintritt des Engels im Vorspiel bewirken soll. Offenkundig versucht George mit seinen intellektuell eher bescheidenen Mitteln, das moderne, von den Romantikern entwickelte und bei den Zeitgenossen experimentell, soll heißen, wissenschaftsfähig gewordene Inspirationsmodell zu sprengen. Das geschieht, indem er den Engel aus dem Halluzinationsraum – der dem des Traumes so sehr verwandt ist – heraustreten lässt und ihn als ›real-imaginären‹ Begleiter des Dichters konzipiert. Engel und Dichter tauschen Rede, sie tauschen gelegentlich ihre Identität oder verschmelzen zu einer namenlosen Person – dies alles keineswegs auf der Ebene eines augenblicklichen Wahns oder einer pathologisch zu nennenden Geistesverfassung des Autors, sondern hübsch ordentlich im Fiktionsraum des Gedichts, in dem bekanntlich noch ganz andere Dinge möglich sind. Der Engel des Vorspiels ist ganz als Realität entworfen und damit, selbstredend, ganz Fiktion. Das Spiegelgedicht trägt letzteres nach.

Sollte also eine verschwiegene Antipoetik Georges existieren, dann gäbe es dafür den einen oder anderen guten Grund. Denn der Entschluss, den Mittler vollständig in den Raum der zur Realität erklärten Fiktion zu versetzen und auf diese Weise die Idee einer in der Dichtung freizulegenden Sprache des originären Vor- oder Unterbewusstseins hinter sich zu lassen, klärt das Problem dichterischer Rede nicht, sondern verlegt es hinter die Bühne des schönen Scheins und einer zur eigenen Lebenswelt erklärten Märchenszenerie. Von den Kunst-Engeln der Antike als kostbaren und dürftigen Stellvertretern einer vergangenen Lebenswelt, in der das Schöne ebenso anschaulich wie anwesend war und dem Begehren einen Sinn unterlegte, den die »begier« des Kunstbetrachters vergeblich zu erhaschen sucht, spricht das Gedicht Standbilder: das sechste:

An den engeln mit quälendem glanze verglast
Such ich die pochenden adern und drängenden rippen
Brenne von gluten die in ihren bildnern gerast
Heiligen marmor befeuchten die frevelnden lippen.
...
Und ich frage: wie hat dieser haare zier
Und dieses blickes die früheren wesen umzingelt!
Wie dieser mund hier geküsst zu dem die begier
Sinnlos hinan als rauch ohne flamme sich ringelt!

Wäre dies die Botschaft des Engels, so richtete sie sich unmittelbar gegen die Kunst – gegen alle Kunst, sofern sie nicht Bestandteil der Lebenskunst ist, der Kunst, das Leben im Erlebnis zu übertrumpfen und sich selbst kostbar werden zu lassen.

 

4.

Als gelte es, die Spannung, unter der der Teppich-Zyklus steht, soweit zu steigern, dass eine an sich klare, fast durchsichtig zu nennende Sprache künstliche Dunkelheit produziert, weil ihre Aussagen zu den vorausgegangenen in Widerstreit stehen, setzt George das Standbild-Gedicht vor die Lieder von Traum und Tod, mit denen der Zyklus ausklingt. Deren erstes, die Reinhold und Sabine Lepsius gewidmete Blaue Stunde, beginnt mit einem unscheinbaren, aber bemerkenswerten Enjambement. »Sieh diese blaue stunde«, heißt es da (und der Leser, dem noch das Wort vom »grossen lebensfest« gegenwärtig ist, reiht sie mühelos unter die Bezeugungen dieses währenden Festes ein), »Sieh diese blaue Stunde / Entschweben hinterm gartenzelt!« –

Erregt und gross und heiter
So eilt sie mit den wolken – sieh!
Ein opfer loher scheiter.
Sie sagt verglüht was sie verlieh.

Das steht in deutlichem Gegensatz zum Standbild-Gedicht, in dem das festgehaltene Vergangene nur sinnlose »begier« provoziert: die ewig ungestillte Begierde des Antiquars. Auch die Anwendung auf die Kunst – in diesem Fall auf die Musik – vollzieht das Gedicht selbst:

Wie eine tiefe weise
Die uns gejubelt und gestöhnt
In neuem paradeise
Noch lockt und rührt wenn schon vertönt.

Das Gedicht – um diese Aussage behutsam aus den Versen herauszulösen –, das Gedicht ist die Gegenwart des Vergangenen, die zweite Gegenwart nach der ersten, von der es heißt, sie sei ein »opfer loher scheiter«. Offenkundig sind in dem Wort ›scheiter‹ zwei Vorstellungen zusammengefasst: die von der Zeit als Scheiterhaufen, in dessen lodernden Flammen das Gegenwärtige vergeht, und die vom Scheitern des Gegenwärtigen in der Zeit. Unabhängig davon, welche Vorstellung man für dominant hält, fällt der zweiten Gegenwart im Nachhall, in der vergegenwärtigenden Erinnerung die Funktion der Sinngebung zu: »Sie sagt verglüht was sie verlieh« und »In neuem paradeise«: in einem zweiten Paradies nach dem Fall in das Wissen und in die Zeit.

Man findet in diesen Liedern Verse, die mit großer Entschiedenheit auf die geheimnisvolle Fähigkeit der Vergegenwärtigung und die unausweichliche Wiederkehr des vordergründig an den Fluss der Zeit Verlorenen hinweisen. So in Juli-Schwermut:

Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit.
Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur

Allerdings fährt das Gedicht fort:

Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich
Der blumen müd · der schönen blumen müd!

Also nicht die bloße Wiedervergegenwärtigung, sondern das taedium vitae, das in sie eingeht, das inmitten der Wiederkehr des Gleichen aufgeht gleich der »schattenlilie asphodill« eines anderen Gedichtes (›Feld vor Rom‹), lässt den Sinn erstehen, der weder der geheime Sinn des Vergangenen noch des Gegenwärtigen ist, sondern der Grund des Angerührtwerdens durch das eine im anderen, die geheimnisvolle, nicht auszugleichende und durch keine fixierte Relation zu erschöpfende Differenz zwischen beiden.

Diese Differenz bedeutet nichts. Sie entsteht spontan im Akt des Erinnerns wie in dem des Benennens. Normalerweise bleibt ihre Wahrnehmung peripher. Anders im Gedicht: Was man als Gedichtraum beschreibt, diese eigentümliche Arche Noah des Gewesenen, entsteht hauptsächlich dadurch, dass sie in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rückt. Die Trias von unstillbarer Trauer, Bewusstsein der jeden Vergleich übersteigenden Kostbarkeit der Erinnerungsinhalte und einer zwischen Rührung und plötzlicher Lust changierenden Gefühlskomponente kehrt nicht zufällig in allen Liedern von Traum und Tod wieder, sie ist eine Weise, die im Nachvollzug des Gewesenen fühlbar werdende Differenz zum Sprechen zu bringen – wie spontan oder erzwungen, muss jeder Leser an sich selbst erfahren. Mit beachtlicher Präzision fügt George den Traum in diesen Zusammenhang ein:

Sie die in träumen lebten sehen wach
Den abglanz jener pracht die sie verliessen
Um gram und erde · und sie weinten stille
Die stunden füllend mit erinnerung

Kostbar wird die Erinnerung im Blick auf dasjenige, was erst in ihr in dieser Schärfe hervortritt, obwohl oder weil es das unwiederbringlich Vergangene ist, der elementare Lebensvollzug, das prädikatlose Lebendigsein, das im Rückblick als traumhaftes Leben, als Traum erscheint – nicht unberechtigt, denn gerade so pflegt man Träume zu erinnern. Das Erwachen als Sündenfall, der neben »gram und erde« das »neue paradeis« der Dichtung und der Kunst zeitigt: das ist kein neuer Mythos, sondern der Versuch, den modernen Mythos vom Unterbewusstsein als der entzifferbaren Matrix des Begehrens zu entkräften und angesichts des eigenen Willens zur Mythologie dem unprätentiöseren Ich eine verschwiegene dichterische Zuflucht zu schaffen. Daher sind die Lieder von Traum und Tod kein Gegengewicht zum Vorspiel, sondern, um es in der Sprache des Ritus zu sagen, eine Bitte um Absolution. Nicht ihr Gewicht, sondern ihre Leichtigkeit nimmt für sie ein.

Der Wasserspiegel, der »blumenlose tiegel« des Spiegelgedichts sei, so sagte ich zu Beginn dieser Überlegungen, die unbestechliche Instanz des Erkenne-dich-selbst, vor der die dichterische Inszenierung der Kritik verfalle. Diese Auffassung muss nun korrigiert werden. Die Dichtung selbst enthält das Korrektiv gegen ihre programmatischen Fehlläufe. Neben der programmatischen Dimension, in welcher der Baudelaire und seinen Nachfolgern abgeschaute Modernismus ebenso angesiedelt ist wie die auf ihn antwortenden Figuren der Wende und des Engels, besitzt sie offenbar auch eine gnoseologische Dimension. Und es leuchtet ein, dass die Frage der dichterischen Inspiration eine nicht-programmatische Komponente besitzt, die auf letztere verweist.

 

5.

Wenden wir uns dem dritten Motiv zu, das neben Rausch und Traum die Lieder beherrscht: dem bereits im Titel anklingenden Todesmotiv. Man versteht schon, dass es dazugehört. Schließlich ist der Tod eine der mächtigsten Instanzen der Erinnerung.

Nun deine trauerboten mich erschüttern,

heißt es in Fahrt-Ende,

Wall ich verträumt wohin du gern entflohest...

Überdies rückt die Form des Erinnerns, die, wie wir sahen, in der Dichtung angelegt ist, die Empfindungen von Abgestorbensein und Lebendigkeit der Erinnerungsinhalte in einen unmittelbaren Zusammenhang. Die spontane Verlebendigung des Vergangenen potenziert die Empfindung des ›Vorbei‹ zur tief erregenden Totenwache. Dichtung hat etwas von Gespensterbeschwörung. Es nimmt nicht wunder, dass George die Grenzen des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses in vielen Gedichten ineinander verschwimmen lässt. Stärker als jedes Sujet hebt dieser Kunstgriff das Geisterhafte der Dichtung heraus.

Aber noch etwas anderes ist dabei. Das kündigt sich an in jenem »wie bin ich / Der blumen müd · der schönen blumen müd«, und setzt sich in einem Gedicht wie Flutungen fort:

... sie blickte prüfend um
Und fröstelte · so sagt dem blinden kind
Die kühle an dass schon der abend kam.
 
Nun reisst und rinnt von neuem früheres weh
Ihr ist wie sonst dass jede fiber fühlt..
Dass vieles ging...

Die Vorahnung des eigenen Todes sollen wir hier als Auslöser jener Erinnerung begreifen, die wir in der Dichtung ihr Werk verrichten sahen. Und es dürfte nicht gänzlich anders gemeint sein, wenn Feld vor Rom mit den Worten endet:

Noch einmal halt an diesem hügel still
Pflückend die schattenlilie asphodill.

Die Aussage liegt in der Partizipialkonstruktion: Übe dich im Gedenken – den gegebenen Anlass dazu bietet im Gedicht die überreiche Vergangenheit Roms –, ›während‹ oder ›indessen‹ oder ›indem‹ du die Todesbotschaft aufnimmst. Dass schon die blaue Stunde von nichts anderem kündete, bekräftigt der erste Nachtgesang:

Was ich tat
Was ich litt
Was ich sann
Was ich bin:
Wie ein brand
der verraucht
Wie ein sang
Der verklingt.

Und so weiter. Die Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren. Reicht der Gedanke, dass es sich um ein menschlich-allzumenschliches Motiv handelt, um seine Beinahe-Allgegenwart in diesen Gedichten zu erklären? Ich denke nicht.

Valéry nannte die Dichtung »une sorte de machine à produire l'état poétique au moyen des mots.« Ihre Aufgabe, bemerkte er, bestehe darin, den Leser zuverlässig in einen archaischen Zustand zu versetzen, den Menschen sonst nur gelegentlich und zufällig kennenlernen. In ihm empfindet er die Welt als Totalität und sich als Teil von allem. Diese Strategie der Ich-Entgrenzung, die sich in der Literatur des Jahrhundertbeginns allenthalben findet und auch in bestimmten Gedichten Georges eine schüchterne Spur hinterlässt, marginalisiert das Subjekt und mit ihm den Tod, der als Motiv im Fin de siècle eine so bedeutende Rolle spielt. In gewisser Weise konzipiert sie den Tod des Subjekts: durch die spielerische Überschreitung von Grenzen, durch das rauschhafte Eindringen in Räume, die, mit dem Index ›unendlich‹ versehen, das Ende nicht absehen lassen. In diesem Rausch ist die Differenz beiseitegeschoben, aus welcher die Lieder die dichterische Erinnerung hervorgehen lassen. Georges Beharren auf ihr kommt also nicht von ungefähr; es enthält ein Bekenntnis zum Subjekt, zur Endlichkeit des Subjekts und seiner Möglichkeiten. Verständlich auch, dass die Lieder die Gedanken an Rausch und Qual miteinander verbinden: ›Qual‹ sind die vielen Tode, die das Subjekt stirbt oder doch beinahe stirbt, dem die Entgrenzung misslingt oder doch nur insoweit gelingt, dass sie als eine fatale Drift, als falsche Tendenz spürbar wird. Der dröhnende Antisubjektivismus des Vorspiels und der verhaltene Subjektivismus der Lieder verweisen auf zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der eine propagiert das Sichfinden des verlorenen oder verloren geglaubten einzelnen in einem imaginären und gemeinschaftstiftenden Du, das alle Kennzeichen des Subjekts an sich trägt oder trüge, wenn es nicht an sich die Zeichen der Sterblichkeit vermissen ließe (wenn nicht seine Aufgabe darin bestünde, den Tod für eine Weile aus dem Bewusstsein zu verbannen oder auf jede erdenkliche Weise zu mildern), der andere schafft beinahe-serielle Sinnbilder der Todesverfallenheit und verklärt sie zum Wesen der Poesie. Der eine transponiert die illusionäre Unsterblichkeit der Sucht und des Rausches in die Leichtigkeit eines Lebens, in dem der Tod zu einem Nicht- oder Fast-nicht-Merklichen gemacht wird, der andere buchstabiert am Traum, der das Erwachen immer schon hinter sich hat, das Totenreich des Lebendigen, die gehämmerte Kostbarkeit eines gewesenen Atemzugs. Der eine berauscht sich an einer Licht- und Morgen-Metaphorik, am immerwährenden Aufbruch, an Sieger- und Herrscherposen, der andere redet von Scheiterhaufen, Abendröte und der Kleinheit dessen, der sich auf einen schlichten Zuruf hin »vor dem tod so entblösst« weiß.

An dem wasser das uns fern klagt
Wo die pappel sich lind wiegt
Sitzt ein vogel der uns gern fragt
Der im laube sich dem wind schmiegt.
(›Tag-Gesang III‹)

Dieser »vogel der uns gern fragt«, ist das Lied, und seine Frage lautet: Wer bist du? – entsprechend der stummen Aufforderung des Erkenne-dich-selbst im Spiegel-Gedicht. Das Lied ist das Echo dessen, was durch die Frage in ›uns‹, den Hörern, aufgerührt wird, ohne sich zu einer klaren Antwort zu formen. An ihre Stelle tritt die Antwort, die das Lied gibt:

Und der vogel spielt leis auf:
Flur und garten sind vom blühn tot
Jedes weiss sich schön im kreislauf ..
Sieh die gipfel vor dir glühn rot!

Wer den Kreislauf begriffen hat, ist schon in die Erinnerung hinübergeglitten, die das gewesene Glück, das rauschhafte Einssein, die vorübergehende Berührung durch den Engel, der vom Tod nichts weiß, zur Voraussetzung hat:

Nur erinnrung lässt als traumsold
Der zu glücklichern seinen zug lenkt
Seiner hand entrieselt traumgold
Das er früh und nur im flug schenkt.

Der Traum erscheint in zweifacher Gestalt: als präsentisches Todlos im früh gewonnenen »traumgold«, im »traumsold« der Erinnerung als Tauschmittel, als Hinterlassenschaft und Entgelt. Was wird da getauscht? Ein Glück gegen ein anderes? Ein versunkenes Glück gegen ein hochfahrendes? Vielleicht... auch wenn das Wörtchen ›bang‹ in der folgenden Strophe zur Vorsicht rät. Und was wäre schon ein minderes Glück, gegen das wirkliche gehalten? Jedenfalls – und darin besteht die Pointe des Gedichts – nimmt der ›sang‹ (nennen wir ihn Lied, nennen wir ihn Dichtung) der Erinnerung ihre Schwere und verwandelt das, was sie durch Versenkung in die Zeittiefe gewinnt, zurück in einfache Gegenwart.

Heb das haupt das sich bang neigt
Ob aus tiefen ein gesicht winkt –
Und so warte bis mein sang schweigt
Und so bleibe bis das licht sinkt.

 

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Die Interpretation ist ein seltsames Geschäft. Sicher leistet sie – auf ihre Weise – Erinnerungsarbeit. Ihr end- und rastloser Neueinsatz in der Frage, wie dies oder jenes angemessen einzufügen sei in das große Legespiel, als das die Institutionen der sogenannten Kulturwissenschaften unser kulturelles Gedächtnis präsentieren, hält äußerlich Distanz zu den rituellen Formen der Totenwache und des Totengedenkens. Doch das will nicht viel besagen. Manche gestandene Forscherpersönlichkeit würde vom Entsetzen eingeholt, erwiese sich das Resultat ihrer Vergangenheitserkundung wider Erwarten als gegenwartsfähig. Dass alles nicht so gemeint sei, dass das, worüber man rede, abgetan sei und dass dies gut sei, ist die conditio sine qua non aller routinierten Auslegerei. Vor dem Hintergrund eines solchen consensus lässt sich gelassen die These vertreten, das Vergangene besitze so oder so Macht über die Gegenwart – eine alles in allem gefährliche, aber nur um den Preis der Selbstaufgabe des Individuums oder einer Kultur zu brechende Macht. Vielleicht ist diese These ja falsch. Vielleicht führt die geläufige Parallele von individuellem und kulturellem Gedächtnis unmittelbar und mittelbar in die Irre. Vielleicht provoziert die hermeneutische Bemühung, das Vergangene als Vergangenes zu buchstabieren und miteinander zu verknüpfen, zwangsläufig die Idee einer anhaltenden Verschwörung, welche die verblichenen Akteure auf Kosten der Gegenwart veranstalten, eine Verschwörung, in der es törichterweise gilt, immer neue Akteure auf ihre Seite zu ziehen. Die Gegenwart – das ist eine Vergangenheit mehr. Der Vergangenheitsindex löscht jeden Gedanken an Geltung aus, er brandmarkt die Wiederaufnahme eines Gedankens als Wiedergängertum, er produziert eine Form theoriegesättigter Blasiertheit, die ihre Gegenstände eher als Vorwände nimmt, sich zu produzieren denn als ernsthaft zu befragende Instanzen. Eine Poetik, was ist das? Ein Produkt der Jahrhundertwende. Eine Künstlerpoetik überdies: also bestenfalls ein Programm wie andere.

Worauf das hinauswill: auf das vorsichtige Unterfangen, in dem, was hier Georges Antipoetik genannt wird, den gnoseologischen Anspruch zu respektieren und darin etwas anderes und mehr zu sehen als ein weiteres Stück Programmatik. Jede Kunst verfügt über ein Programm oder wenigstens über den einen oder anderen programmatischen Aspekt. Der Grund dafür ist ebenso einleuchtend wie einfach. Programme sind Plausibilisierungsangebote angesichts des Neuigkeitswerts von Kunstwerken, ihrer beeindruckenden oder überwältigenden Aktualität, ohne die der ästhetische Sinn beim Rezipienten erst gar nicht in Funktion träte. Ohne Programm, ohne programmgelenktes Verstehen bliebe die Neuheit von Kunstwerken in den entscheidenden Fällen abstrakt und damit das Werk, wie der einschlägige Ausdruck lautet, ›ungenießbar‹.

Programme müssen verständlich sein, Kunstwerke nicht. Ein Gemeinplatz der Ästhetik besagt, dass die ästhetische Kraft von Kunstwerken in demselben Maß gegen Null tendiert, in dem die programmgestützte Erkundung erschöpfende Ergebnisse zeitigt. Und umgekehrt: ihre zu relativer Dauer tendierende Neuheit reproduziert sich aus Reserven abseits aller programmatischen Rede. Da sie es ist, die den Begriff des Kunstwerks von Mal zu Mal sinnfällig auslegt, repräsentiert sie zusammen mit dem aktuellen Stand das Älteste der Kunst, ihre unverwüstliche Herkunft: dasjenige, worüber das Programm notgedrungen schweigt, weil es sich abseits der ästhetischen Präsenz nicht herbeizitieren lässt. Darin zeigt sich die nicht programmatische Dimension des Kunstwerks. Und es verhält sich keineswegs stumm, es redet in allen Sprachen, soll heißen, mittels aller Ausdruckssysteme der Kunst.

In seinen Liedern von Traum und Tod praktiziert George die Auslegung eines Tons – nennen wir ihn näherungsweise den elegisch-lyrischen – im Medium des lyrischen Sprechens. Realisierung und Auslegung gehen Hand in Hand. Ein solcher Ton ist weder historisch noch sachlich relativierbar. Er existiert – und enthüllt, insofern er existiert, eine Facette des komplexen, an Reflexionsschleifen und Selbstbezüglichkeiten reichen Wirkzusammenhangs, in den wir uns begeben, wenn wir mit Dichtung umgehen. Wir kennen die Weise und wir kennen den Text – ein Stück weit jedenfalls  –, und wir stellen fest, dass, soweit Text und Weise zusammenstimmen, nicht allein der Weise, sondern auch dem Text schwer zu widersprechen ist. Um eine Sentenz von Hans Blumenberg abzuwandeln: Die Quellen der Rezeption sind die Quellen der Inspiration. Diese Lieder offerieren ein Begreifen und überlassen es ihren Lesern, es zu dem ihren zu machen oder nicht. Unaufdringlicher dürfte es kaum gelingen.

 

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