1.

Gibt es denn Lyrik? Und wenn es sie gibt: In welcher Falle sollte sie stecken? Ist ihr zu helfen? Hilft sie sich selbst? Wer so fragt, setzt sich rasch dem Befremden anderer aus. Warum sollte es keine Lyrik geben? Das wäre ja, vorsichtig gesprochen, seltsam. Und vorsichtig muss einer, mit Fragen konfrontiert, die am Selbstverständlichen zupfen, schon sein. Die Tatsache, dass Verse geschrieben werden, beweist wenig. Natürlich gibt es Verse. Aber gibt es auch Lyrik? Und, wenn hier gefragt werden soll: Gab es sie je? Gibt es sie noch? Wird es sie weiterhin geben?

›Lyrik‹ – das ist eine Rubrik, unter der Verse abgelegt werden. Der Ausdruck verdankt sich der Lyra, einem Saiteninstrument, zu dem man im alten Griechenland Lieder sang. Deren Texte werden, soweit überliefert, als Lyrik bezeichnet: ein Sammeltitel also, der einer verblichenen Praxis und der philologisch-buchpraktischen Notwendigkeit, dem, was davon übrigblieb, ein Etikett aufzudrücken, Rechnung trägt.

Sonst nichts?

Sonst nichts.

Oder doch: andernfalls wäre es müßig, alles, was in Versen daherkommt, ansatz- und versuchsweise unter diesen Begriff zu beugen, denn: es könnte ja sein, dass es sich dabei einmal wirklich um Lyrik handelt. ›Wirkliche‹ Lyrik, das lehrt schon die schmale Überlieferung des äolischen Liedguts, ist kostbar. Es sind Perlen im Meer des Geschriebenen, Gedichteten, zu Schallplatten und CDs Verarbeiteten, die diesen Namen verdienen, jene sechs bis zwölf hinterlassungsfähigen Gebilde, von denen der Lyriker Gottfried Benn schrieb. Ein ›Lyriker‹, immerhin: also einer, der sich ›in Versen ausdrückt‹, wobei dieses ›sich‹ stellvertretend für jenes ›es‹ steht, das es auszudrücken gilt, denn der Lyriker, das versteht sich fast schon von selbst, ist bloß ein Medium, ein Welt-Medium, in dem das, was durch die Saiten der Leier geht, immer wieder und immer wieder neu zu tönen beginnt.

Lyrik in diesem Sinn ist ein Projekt, an dem mehrere Generationen europäischer Dichter gearbeitet haben: entzückt oder geblendet vom Glanz jener dem Schutt entwendeten Kleinode einer untergegangenen Epoche, an denen vielleicht das Bruchstückhafte am meisten strahlt, von der Notwendigkeit beseelt, für die eigenen Produktionen ein Floß zu zimmern, um nicht in der Alltagsflut des Gereimten, Geschluchzten, Geschmetterten und Gesäuselten unterzugehen, so wie jene, aller Wahrscheinlichkeit zuwider, nicht untergegangen waren. Die Humanisten, als die ersten Europäer, die eine untergegangene Welt aus den Trümmern zogen, um ihre Zukunftsträume zu möblieren, sind die ersten Lyriker, die diesen Namen verdienen: Auslöser lyrischer Moden, wie sie seither binnen Jahrzehnten, Jahren und Monaten den Kontinent erobern und gelegentlich unverhoffte Spätblüten treiben.

Die erste und vielleicht erfolgreichste dieser Moden war der von Italien ausgehende Petrarkismus. Sein Gegenstück im zwanzigsten Jahrhundert ist die sogenannte ›moderne Lyrik‹, die etwa um 1850 in Frankreich erfunden wurde. Solche Zeiten und Räume umfassenden Moden haben ihre eigene Geschichte. Das führt – eher früher als später – dazu, dass ihren Vertretern und interessierten Interpreten die Unterschiede, die sich in ihnen auftun, wichtiger werden als die verbleibenden Gemeinsamkeiten. Darin liegt, aufs Ganze gesehen, das Moment der Krise. Die Falle geht zu, wenn sich der gemeinsame Rahmen als zu stark erweist, um gesprengt, und als zu eng, um noch respektiert zu werden.

 

2.

Die moderne Lyrik ist eine Erfindung Baudelaires. Seine frühen Exegeten, Rimbaud, Verlaine, Mallarmé, führten einer intellektuellen Avantgarde vor, was in Versen mög­lich wurde, wenn man sein Verfahren perfektionierte. Paul Valéry, der Nachzügler, unterfütterte die Praxis mit einer, genau betrachtet, bis heute konkurrenzlos geblie­benen Theorie, deren Hauptthese hieß: Lyrik ist rationale Magie. Die Parole ließ sich erweitern und abwandeln, sie war geeignet, Missverständnisse jeder Art hervorzuru­fen, aber sie brachte die Sache auf den Begriff. Darin lag ein Problem. Wer es erkann­te, fand Gründe, sich auf die Seite Stefan Georges zu schlagen, der glaubte, nur durch ein Reflexionsverbot das Geheimnis der Dichtung zu wahren. George hatte begriffen, dass Wirkungen auf die Psyche nur dann zuverlässig zu erzielen sind, wenn der Me­chanismus, der ihnen zugrunde liegt, dem Konsumenten verborgen bleibt. Mit Geor­ge beginnt die moderne Lyrik sich in einer Nähe zum Leser einzurichten, die sie als Ferne tarnt, et vice versa: Benn und Brecht brachten es, jeweils auf der anderen Seite, in diesem Spiel zur Meisterschaft. Wie so oft hatten die später Gekommenen das Nachsehen. Sie genossen das zweifelhafte Vergnügen, die Distanzmarken nach Belieben verrücken zu dürfen. Dem Publikum blieb es gleich. Es hatte sich in seiner Lesart eingerichtet; wer mochte es aus ihr vertreiben?

Als im Jahr 1985 der bis dahin als Liebkind des Feuilletons hervorgetretene Bühnenautor Botho Strauß ein ›Gedicht‹ – einen Gedichtband, um genau zu sein – mit dem etwas langatmigen Titel Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war auf den Markt brachte, da reagierte die Kritik, die bis dahin mit schöner Regelmäßigkeit die reizenden Dekors dieses Autors bewundert hatte, als sehe sie diesmal anstelle der versprochenen Tapete nur mehr Kleister, ja, als mute man ihr zu, ihn selbst mit anzurühren. Ein Großmeister der Zunft erläuterte der verstörten Lesergemeinde, ein »Wanderprediger der neuen Mystik« habe sich hier auf den Weg gemacht, auf den »Holzweg« nämlich – eine etwas unsaubere Anspielung auf den Heidegger-Titel Holzwege aus dem Jahre 1950, der in der damaligen, philosophisch nicht besonders bewanderten deutschen Öffentlichkeit schlechthin für die Verirrungen des Geistes in diesem Jahrhundert stand.

Um welchen Weg es sich dabei handelte, konnte für Kenner der Geschichtsbilder nicht zweifelhaft sein: vom »Kasernenhofton« des Gedichts war da die Rede und der rezensierende Sittenwächter verstieg sich zu der abenteuerlichen Behauptung, der Autor wünsche das »vom Intellekt bedrohte Seelenheil« des gedichtelesenden Teils der Gesellschaft in die »Gemeinschaft der dumpfen Horde«, sprich, die Volksgemeinschaft nationalsozialistischen Angedenkens zu »retten«. Das war starker Tobak und es war – wie manch andere Verlautbarung in gleicher Sache – unsinnig. Für jeden des Lesens einigermaßen Kundigen gingen die öffentlichen Anschuldigungen ganz offenkundig an dem vorbei, was der Autor zu Papier gebracht hatte.

Die Hektik, die sich damals Bahn brach, war allerdings durch eine Tabuverletzung hervorgerufen worden. Nur befand sich das Tabu nicht dort, wo es seine übereifrigen Verteidiger orteten. Das Vergehen des Autors bestand darin, dass er die in der zeitgenössischen Literatur allgegenwärtige Geste des Nichts geht mehr wörtlich genommen hatte und an den Ausgangspunkt der Moderne zurückgekehrt war, um – was? Sagen wir: um die Frage nach Gewinn und Verlust neu zu stellen. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein, das musste geahndet werden.

Sah es zu diesem Zeitpunkt so aus, als seien die Alarmsysteme nach wie vor intakt, so hatte das Management des sogenannten ›unvollendeten Projekts der Moderne‹ bereits gelitten. Das Ökonomische ist dabei nicht nur Metapher. Vermutlich wurde nie zuvor in der langen Geschichte der europäischen Literaturen soviel Lyrik produziert wie in jenen Jahren. Mit Sicherheit aber stieß sie nie zuvor auf soviel konzentrierte und diffuse Gleichgültigkeit – nicht nur bei denen, die ohnehin mit Gedichten ›nichts am Hut haben‹, sondern gerade in Kreisen, die von Berufs wegen mit ihr umgehen, also bei Lektoren, Literaturwissenschaftlern und so weiter. Gedichte schreiben galt damals wie heute als eine mindere Tätigkeit, als beliebiges Tun.

 

3.

Die Kehrseite der Botschaft Nichts geht mehr bildet die feste Überzeugung derer, die mit der Ware Literatur treiben: Alles geht, aber nichts kommt an. Sollte einmal etwas wider Erwarten ankommen, so verdankt es das keiner ›literarischen Qualität‹, sondern mehr oder minder kontingenten Umständen: einer exotischen Biographie, einem Stasi-Verdacht, einer ideologischen Debatte, in den meisten Fällen einfach der Abwesenheit eines literarischen Modells, das sich über den Tellerrand banaler Erfolgsrezepte erhebt.

Das klingt, als sei von der Literatur im allgemeinen die Rede, in der die Lyrik bekanntlich nur ein bescheidenes Nebenzimmer bewohnt. Doch es gibt Unterschiede in der Erwartung. Während das Feuilleton vorgibt, gespannt auf das Erscheinen des großen Romans zu rechnen, und einen literarischen Neuling, der sich nicht allzu ungeschickt anstellt, im Vorbeigehen mit den Insignien der Joyce-, Proust- und Musil-Nachfolge belehnt, bevor es ihn den so genährten Hoffnungen opfert, erwartet es von einem Lyriker nichts – worin es meistens gut beraten ist.

Nichts wirkt tödlicher auf den literarischen Ehrgeiz als dieses schulterzuckende Nichts, dieses bieder-ironische Es-wird-schon-werden, das Lyriker empfängt, falls man sie überhaupt zur Kenntnis nimmt. Hin und wieder lässt der Gedanke, hier würden alte Rechnungen beglichen, sich schwer von der Hand zu weisen. Immerhin fielen die prägenden Bildungserlebnisse der Kritikergeneration, die diesen Habitus ausbilden und zur Reife bringen durften, in die Jahre, in denen ein guter Vers als Verrat an der westlichen Protest- und Emanzipationsbewegung empfunden wurde, es sei denn, er diente dem Verrat:

Lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: sie sind genauer

Dass während mehrerer Jahrzehnte Gedichte zu den erregendsten Hervorbringungen der europäischen Intellektuellenkultur zählten, lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen. Eine Frage ist, wie groß die Zahl der ›Gebildeten‹ war, die an diesem Abenteuer des Geistes Anteil nahmen, eine andere die nach der Intensität dieser Erfahrungen und ihrer Ausstrahlung in andere Bereiche. Vielleicht hat der Athener Philosoph Panajotis Kondylis recht, der scharf zwischen jener ›synthetischen‹ Moderne und einer ›massendemokratischen Postmoderne‹ trennt, in der die Restbestände der elitären Moderne als kaleidoskopisch kombinierbares Sammelsurium die Lebenswelt aller illuminieren. Man kann es so sehen, doch bleibt die Frage, was die Lyrik dabei gewinnt.

Die Krise der Lyrik ist die Krise der modernen Lyrik – es gibt keine andere. Das legt die Frage nahe, warum es sie gibt. Sie klingt polemisch, aber sie hat einen rationalen Kern: Warum gibt es, unter den Bedingungen der Moderne, Lyrik und nicht nur Prosa? Wer so fragt, darf sich nicht von Antworten ablenken lassen, die keine sind. Lyrik wäre eine immer verfügbare Weise des Sprechens? Wer würde das in Zweifel ziehen, wenn es nicht die moderne Lyrik selbst täte: Ohne diesen Zweifel wäre sie gar nicht vorhanden. So, wie sie ist, gibt sie sich als Antwort auf den Einbruch der Prosa in die gedichtete Welt; da beginnt das Problem.

Die neuzeitliche Welterkundung vollzieht sich, nimmt man den Gegensatz Poesie – Prosa als gegeben an, im Medium der Prosa. Die Dichtung folgt dem – zeitversetzt und keineswegs überzeugt – nach. Noch die Aufklärungspoetik neigt der Auffassung zu, die Poesie spreche in Versen und das unterscheide sie von der Sprache der Wissenschaft und des Alltags. In diesem Gegensatz sind zwei Entgegensetzungen enthalten. Die eine lässt sich leicht bis zu Platon zurückverfolgen, der zwischen der Kunst des Dichters (und Rhetors) und den Künsten des Schiffbauers, des Arztes oder des Heerführers unterscheidet: erstere, so der platonische Sokrates, liege in der Beherrschung der Rede (oder einer bestimmten Form der Rede), letztere in der Beherrschung der Sache, über die gesprochen wird und um die es ›in Wirklichkeit‹ geht. Die andere nimmt die antike Rhetorik vor: als Verskunst ist die Poesie etwas anderes als die der Prosa verpflichteten rhetorischen Gattungen im engeren Sinn.

Seit der Aufklärung gewinnt dieser komplexe Gegensatz an Schärfe und Differenziertheit. Nicht die Prosa ist modern – die Moderne ist prosaisch. Längst vor der europäi­schen Neuzeit gilt die der Schrift verpflichtete Prosa als bevorzugtes Instrument der Welterkundung. Das Wissen, das in Prosa zählt, ist auf Zuwächse angelegt; die Mo­derne verschreibt sich dem Medium, in dem sie protokolliert und zunehmend produ­ziert werden. In der Prosa der Moderne wird das Wissen um die Weltdinge – anders als in der Poesie, die ›seit jeher‹ zu wissen behauptet – nicht bewahrt, sondern muss erarbeitet werden. Stets liegt das Beste, das sie zu bieten hat, in der Zukunft. Die Prosa der Moderne steht für die fortlaufende epistemisch-epistemologische und lebenspraktische Entwertung dessen, wovon die Poesie spricht. Das klingt einfach, vermutlich zu einfach für Anhänger der Komplementaritäts-These, die in den beiden Bereichen autonome Ausprägungen unterschiedlicher Kulturleistungen sehen wollen. Aber es muss gesagt werden, wenn man sehen möchte, welchen Weg die europäische Literatur in der Moderne genommen hat: die Poesie arrangiert sich mit der Prosa. Sie wird – nach und nach, auf klassizistischen und romantischen Umwegen, aber mit beharrlicher Konsequenz – Prosa: Die großen Romanwerke des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts legen vom Erfolg dieses Vorgangs Zeugnis ab.

Die Prosa der Moderne steht für die ›systematische‹ Entwertung dessen, wovon die Poesie spricht. Das klingt, fast hundert Jahre nach Max Webers These von der Entzaube­rung der Welt durch die neuzeitliche Wissenschaft, vertraut und verdächtig dazu. Aber man wird sich schwertun, den Weg zu beschreiben, den die europäische Litera­tur in den letzten zwei, drei Jahrhunderten genommen hat, ohne auf das von Weber beschriebene Phänomen zurückzukommen. In diesem Zeitraum arrangiert sich die Poesie mit der Prosa. Sie wird selbst Prosa – die großen Romanwerke des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts geben davon Zeugnis. Die poetischen Gattungen verschwinden oder sie werden in Prosa neu erfunden. Was von der alten Verskunst übrigbleibt, sammelt sich unter dem Namen Lyrik. Glaubt man den Ästhetikern des neunzehnten Jahrhunderts, so bewahrt sie den Geist der echten Poesie am reinsten auf. Noch der Ausdruck Paul Valérys, ›poésie pure‹, lebt aus dieser Tradition. Der Einfall eines Individuums – andere haben ihm vorgearbeitet – lässt sie zum Schau­platz einer Revolution werden, die denen des Wissens in keiner Weise nachsteht und deren Radikalität in keiner anderen Literatursparte begriffen, geschweige denn nach­vollzogen werden sollte.

 

4.

Um die von Baudelaire ausgehende radikale Neuorientierung der Lyrik zu begreifen, ist es zweckmäßig, zwei für die ältere Lyrik verbindliche Ideenkomplexe in Augenschein zu nehmen. Der erste betrifft die Technik des Verses. Lange Zeit betrachteten humanistische und vom Humanismus inspirierte Autoren es als eine vordringliche Aufgabe der Poetik, Regeln aufzustellen, nach denen die antiken Metren in die jeweiligen Volkssprachen (die nachmaligen europäischen Nationalsprachen) aufgenommen werden konnten. Unter dem Eindruck des ›freien‹ Verses hat man sich angewöhnt, darin einen historisch verständlichen, sachlich aber unsinnigen Klassizismus zu erblicken. Die Geschichte der Übernahme der antiken Metren durch die europäischen Nationalliteraturen erscheint daher post festum als eine Geschichte mehr oder minder produktiver Missverständnisse.

Außer acht gelassen wird dabei ein Motiv, das hinter diesen vielfältigen Versuchen steckt und in der unverbindlichen Versifikationspraxis spätromantischer und post-experimenteller Provenienz nahezu unsichtbar geworden ist.

Die Poetiken der Renaissance behandeln die antiken Metren nicht als historischen Bestand, sondern als Doktrin. Das Lateinische ist für die Humanisten die Muttersprache der Poesie. Die Kenntnis der lateinischen Metren ist daher weder zufällig noch marginal, sondern gleichbedeutend mit dem Wissen um die richtige Versifikation. ›Richtig‹ heißt hier regelgerecht – das liegt nahe, wenn man bedenkt, dass ›Poetik‹ in der Renaissance das zu befolgende oder wenigstens zu beachtende Regelwerk der Poesie meint.

Fragt sich nur, woher die Regeln ihre Überzeugungskraft beziehen. Die Antwort lautet wenig überraschend: von den Klassikern. Das trägt dem Umstand Rechnung, dass im Humanismus die ›auctoritas‹, die Autorität der Überlieferung, unangefochten fortbesteht. Aber die Antwort besitzt auch einen Hintersinn. Die ungebrochene Überzeugungskraft antiker Autoren wie Vergil oder Horaz verrät dem Humanisten, dass sie über wirkungsvolle Mittel verfügen, um auf das Gemüt ihrer Leser Einfluss zu nehmen. Unter ihnen steht das Metrum an vorderster Stelle. Die Wirksamkeit der überlieferten Poesie bezeugt, dass jene Autoren die richtigen Instrumente wählten. Und hier heißt ›richtig‹ nicht bloß ›regelgerecht‹, sondern angemessen.

Dieser Begriff, ursprünglich in der Rhetorik zuhause, schillert in allen Farben: darüber, was angemessen ist, entscheidet nicht die Regel, sondern die Einschätzung der Situation, in der man sich der passenden Regel entsinnen muss. Heute würde man eine solche Einschätzung ›intuitiv‹ nennen.Warum eine Entscheidung angemessen ist, darüber gibt – entschuldigen Sie die lapidare Auskunft – die Metaphysik Auskunft. Die Dichter der Renaissance beanspruchen für sich das Vermögen der ›Divination‹, der klaren und durch keine Mittler-Instanzen hindurch gewonnenen, im poetischen ›opus‹ sich aussprechenden Einsicht in die ›Wesenheiten‹.

 

5.

Die Renaissance-Dichtung ist eine Kunst unter Künsten – lateinisch ›artes‹ genannt –, in denen sich ein Herstellungswissen mit der Überzeugung verbindet, über das Gesetz zu verfügen, nach dem die erscheinende Welt hervorgebracht wird. Im frühhumanistischen System der ›artes liberales‹ und ›artes mechanicae‹, der ›freien‹ und ›mechanischen‹ Künste, verbinden sich nach heutigen Begriffen Kunst, Wissenschaft und Technik miteinander. Als Kunst unter Künsten beherbergt die Dichtkunst zweierlei Wissen: (a) ein Herstellungswissen (die ›ars poetica‹ im engeren Sinn) und (b) ein in den Dichtungen der antiken Klassiker niedergelegtes und für den Dichter abrufbereites Wissen um den gesetzmäßigen Zusammenhang der Dinge – ein kosmologisches Wissen, wie es in den Holzschnitten zu Conrad Celtis’ Quattuor Libri Amorum anschaulich dargestellt wird. Nicht viel anders als ein Magier wähnt ein Dichter des frühen Renaissance-Humanismus wie der erwähnte Celtis sich im Bunde mit den Kräften, die die Welt regieren. Die Kunst, davon ist er überzeugt, erlaubt es ihm, diese Kräfte zu lenken. So jedenfalls erklärt er sich die verblüffende Fertigkeit, auf das menschliche Gemüt Einfluss zu nehmen.

Man sieht den engen – und prima vista befremdlichen – Zusammenhang zwischen solchen magisch-neuplatonisch inspirierten Vorstellungen und den Anfängen der modernen Naturwissenschaft – etwa bei Galilei. Als ›Philosophia perennis‹ im Schatten der siegreichen Naturwissenschaften begleiten sie die Entwicklung der Kunst in der Neuzeit. Bei Dichtern der Protomoderne wie William Blake verbinden sie sich mit einem ausgesprochen antisubjektiven Affekt.

Damit lenken sie die Aufmerksamkeit auf den zweiten Ideenstrang, der die Entwicklung der Lyrik im gleichen Zeitraum bestimmt. Den Gedanken des Subjekts, das sich selbst die Regeln erteilt, nach denen es in seinen Hervorbringungen verfährt, findet man schon bei Giordano Bruno, einem Haupt- und Blutzeugen der Philosophia perennis, den man im Februar 1600 auf dem Campo de’ Fiori in Rom als Ketzer verbrennt – an einem bemerkenswert heiteren Tag, wie es in den Dokumenten heißt.

In § 46 von Kants Kritik der Urteilskraft heißt es dann lapidar:

Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel giebt. Da das Talent als angebornes productives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt.

Bis in die romantische Dichtung hinein greifen die beiden Ideenkomplexe ineinander wie die Räder eines Uhrwerks: keiner auf den anderen zurückführbar, jeder verschwistert mit der Aura des Schöpferischen – nur der Akzent wechselt.

 

6.

Ausnahmsweise kann man in der Theorie den Punkt exakt bestimmen, an dem die Lyrik des überlieferten Anspruchs der Poesie, ein Weltwissen zu repräsentieren, ent­kleidet und auf den Ausdruck bloßer Subjektivität, also sich selbst feiernder Inner­lichkeit, reduziert wird. In Hegels Polemik gegen die Subjektphilosophie Fichtes er­steht die Idee eines leeren, in einander widersprechenden – und seine Widersprüch­lichkeit zum Leiden an der Welt stilisierenden – Prätentionen sich herumwerfenden Subjekts, das zu keinerlei objektiven Wissensschritten taugt. Dieses falsche, dieses ›schlechte‹ Subjekt der Erkenntnis und der Moral darf sich glücklich schätzen, in der Kunst, im Kreis der seligen, sich in ihrem Nichtstun ungestört erhaltenden Götter, ein legitimes Wirkungsfeld zugesprochen zu bekommen. In der Lyrik, so Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik, »drückt« das Subjekt »sich aus«, und er lässt keinen Zwei­fel daran, wie das gemeint sei: »Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt ge­nügen. Dann nämlich wird das Gemüt selbst, die Subjektivität als solche der eigentli­che Gehalt, so daß es nur auf die Seele der Empfindung und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt.« Die Sätze erklären einen Bewusstseins- und damit Weltzu­stand für obsolet, in dem der Ausdruck einer Empfindung als sachbezogene Äußerung durchgehen konnte: Von jetzt an gilt als Lyriker, wer in den Belangen des Geis­tes (nicht zu reden von denen des wirklichen Lebens) nicht recht mitzureden weiß. Lyrik als irregulärer Ausdruck wechselnder und willkürlicher Stimmungen kommt nicht zur Sache. Sie bleibt im Vorhof der Erkenntnis zurück. ›Genialisch‹ ist, wer sich in Versen, gleichgültig welchen, mitzuteilen weiß, genial, wer überdies den Geschmack des Publikums trifft, das seine eigenen ehren­werten Gefühle, mit einem Schuss Verrücktheit gezuckert, vom Dichter zurückerstat­tet sehen möchte.

 

7.

Baudelaires Neubeginn trägt alle Anzeichen der Revolte. Die Revolte ist permanent: Sie richtet sich gegen die Poesie des dilettierenden, seinen diffusen Eingebungen vertrauenden Subjekts, und sie richtet sich, gleichsam durch das Subjekt hindurch, gegen einen Weltzustand, in dem dieser Typus des Dichters zum Repräsentanten der Kultur bestellt wird, obwohl er in weitgehender Gleichgültigkeit gegen die in ihr wirksamen Kräfte der Wissenschaft und Technik, des Geldes und des sozialen Aufruhrs seine Rolle spielt. Baudelaires Dichter-Typus beharrt auf der Anerkennung dieser Kräfte; eine Poesie, die sie zu leisten nicht fähig ist, gehört für ihn in die Rumpelkammer der Geschichte.

Anerkennung bedeutet nicht Einverständnis: Mit Baudelaire richtet sich die Dichtung in der Abweisung – andere werden sagen Kritik – der modernen Welt ein. Dieser Sachverhalt ist von äußerster Komplexität. Abweisung wie Kritik können die unterschiedlichsten Ausprägungen annehmen. Der Heroismus des Scheiterns, der im Sich-nicht-abfinden-Können mit den Realitäten seinen hinreichenden Grund besitzt, kommt darin ebenso vor wie das plötzliche, traumhaft wie das Ende der Geschichte hereinbrechende Jenseits der utopischen Phantasie, dem keine soziale oder politische Utopie genügt.

Bis hin zu Dada und Surrealismus, den Erben der Revolte am Ausgang des Ersten Weltkriegs, die mit den tradierten literarischen Formen auch die Lyrik zur Disposition stellen und damit in gewisser Hinsicht das Spiel zerbrechen, obwohl in ihrem Zeichen weiterhin bedeutende Verse entstehen, gilt: aktuell ist eine Dichtung, die ihre Kraft der Denunziation nicht aus vergangenen Dichtungs- oder Lebensformen bezieht, sondern aus dem unausgeschöpften Modernisierungspotential, für das die eigenen – in der Regel technischen – Überbietungen der jeweils zu Vorläufern ernannten oder zum ›Kadaver‹ degradierten Vorgänger-Dichtungen anschauliche Beispiele liefern. Die Posen und Paraden unserer Literatur: hier liegen sie zum guten Teil auf Abruf bereit.

 

8.

Die Lyrik Baudelaires und seiner unmittelbaren Nachfolger gewinnt ihre Konturen durch den Gegensatz zur Lyrik des Subjekts. Ihre Kennzeichen sind Mystizismus, Selbstreferentialität und Negativismus. Dass (sogar an erster Stelle) der Mystizismus in dieser Reihe genannt wird, mag erstaunen. Immerhin verpflichten Baudelaire, Valéry, Majakowskij und noch Gottfried Benn den Dichter auf das gesellschaftliche Leitbild des Ingenieurs: Poes Philosophy of Composition zählt in dieser Linie zu den dichtungstheoretischen Grundtexten. Die moderne ars poetica, so ließe sich die zugrunde liegende Vorstellung zusammenfassen, ist eine angewandte Wissenschaft. Gegenstand ihrer Darlegungen ist die Erzeugung gewisser Wirkungen auf die menschliche Psyche mittels gewisser sprachlicher Elemente und Operationen. Das klingt entschieden, doch die Praxis (und bei näherem Hinsehen auch die Theorie) spricht eine andere Sprache. Die Kalkülisierung der Dichtkunst gehört zu den nicht wenigen uneingelösten Postulaten der Moderne. Sie bleibt ›Projekt‹. Wichtig ist offenbar, dass überhaupt an zeitgemäßen Wissensformen Maß genommen wird, gleichgültig, mit welchem Erfolg.

Ein Effekt allerdings stellt sich unmittelbar ein. Zwar reklamiert der Dichter für seine Tätigkeit ein Wissen, das an den konstrukti­ven Wissenssparten der Epoche Maß nimmt. Aber er gibt es nicht preis – wie könnte er? Selbstverständlich dichtet er, ohne die Erfolge jener kommenden Wissenschaft abzuwarten, und gibt dabei fortwährend zu verstehen, sein Dichten resultiere aus einer Fülle technischer Anläufe. So hält er die Vorstellung lebendig, über ein heimliches Wissen zu verfügen. Anders als das Geheimwissen mittelalterlich-frühneuzeitli­cher Schulen allerdings scheint es unaussprechlich zu sein, wenn man einmal von den allzu schlichten Handwerksregeln absieht, die etwa Benn in seinem nicht ohne Grund so bekannt gewordenen Vortrag Probleme der Lyrik zu Protokoll gegeben hat, ohne die Diskrepanz zwischen Anspruch und Einlösung auch nur einen Moment mit Aufmerk­samkeit zu bedenken.

Warum reicht es dem modernen Lyriker nicht, seine Kunst als Handwerk zu be­greifen? Handwerk lebt von erworbener Erfahrung. Wenn der Handwerker sein Tun erläutert, dann gegenüber Leuten, die sich in gleichen oder ähnlichen Erfahrungspro­zessen bewegen. Vor dem Publikum bleibt er stumm. Der Lyriker der Moderne hinge­gen spricht mit dem Publikum; er müsste es neu erfinden, sollte es ihm einmal kein Gehör schenken. Dass er seine Behauptungen nicht einlösen kann, ist kein Grund für ihn, von ihnen abzurücken. Die Kunst stammt aus dem Geheimnis – davon redet er. In den Worten Valérys (Propos sur la poésie, 1927): »Niemals hätte es Dichter gegeben, wäre man sich der zu lösenden Probleme deutlich bewußt gewesen ... Wir versuchen ..., das Versemachen als unmöglich anzusehen, um die Anstrengungen der Dichter mit klarerem Blick zu bewundern, ihre Tollkühnheit und ihre Mühe, ihre Wagnisse und ihre Verdienste zu begreifen und über ihren Instinkt zu staunen.«

Seinen Ursprung findet das Geheimnis darin, dass der Lyriker davon überzeugt ist, seine Kunst korrespondiere mit dem Weltgrund, und zwar an jeder Stelle. Also darf es nicht damit getan sein, die paar Handgriffe besonders herauszustellen, die dem Gedicht äußerlich sei­nen unabdingbar ›modernen‹ Charakter aufprägen. Die dichterische Weigerung, die Seele des Subjekts spazieren zu führen und die Arbeit des Geistes den für die moderne Arbeitsgesellschaft geltenden Maßstäben entsprechend nützli­cheren Gliedern der Gesellschaft zu überlassen, besorgt das übrige. Auf welchem Wege jener Weltgrund zu finden sei, ob auf dem einer den Natur- oder Ingenieurswissen­schaften abgeschauten Methode oder einer philosophischen Handreichung à la Nietz­sche oder Heidegger, bleibt dabei zweitrangig. Die Differenzen werden ohnehin durch das unausrottbare Literatenbewusstsein überflügelt, alles in allem es zwar nicht so genau, aber dafür besser zu wissen als die Spezialisten des Intellekts. Die Schwierig­keit liegt darin, dass dieses Wissen stumm bleibt, wenn man davon absieht, dass es sich in der Fertigkeit unter Beweis stellt, Gedichte zu schreiben. Doch welch ein Be­weis wäre das?

 

9.

Die Moderne treibt den Gegensatz von Vers und Prosa ins Extrem. Der Vers erschließt – wenn man ihr folgt – eine Welt der Artikulation, die sich von der Welt der Prosa, in der die Alltagssubjekte, wie vermittelt auch immer, miteinander kommunizieren, um Lichtjahre entfernt. Doch anders als die Renaissance verfügt die Moderne über keine Verskunst (ars versificandi). Das ist nicht so selbstverständlich, wie es die postmoderne Gesinnung des Alles geht suggerieren möchte. Es ist, um der Wahrheit die Ehre zu geben, höchst erstaunlich – immer vorausgesetzt, dass eine marginalisierte Kunst wie die Lyrik Erstaunen überhaupt noch hervorrufen kann. Der moderne Mystizismus der Form wendet den alten, Weltwissen und Gewußt-wie ineins denkenden Wissensanspruch der Poesie gegen die harmlose Poesie des Subjekts und entleert ihn im gleichen Zug aller tradierten Inhalte.

Diese Inhalte betreffen, verstechnisch gesprochen, Metrum und Prosodie, den Kernbereich der alten Doktrin. Das Bekenntnis zur Modernität verlangt – gebieterisch, wenn man will – die Absage an vormoderne Wissensformen. Das Leitbild des Technikers drückt nicht mehr und nicht weniger als den Glauben aus, man könne sich an spezifisch modernen Wissensformen schadlos halten und den Verlust kompensieren – eine eitle Hoffnung und ein verfrühter Triumph.

Als Operationsfeld der neuen analytischen Anstrengung wählt Valéry, der raffinierteste Theoretiker der Dichtung in der Moderne, die Sprache. Nicht ohne Grund: Wer jeden Dogmatismus der Kunstübung vermeiden möchte, sieht sich auf das weiteste Umfeld der lyrischen Artikulation zurückverwiesen. Dafür bekommt er es mit einem Paradox zu tun: Der Verdacht des poetischen Dogmatismus, ursprünglich gemünzt auf die Kunstmittel der Tradition, verhindert zuverlässig die Identifikation objektiv poetischer – sprich: lyrischer – Elemente in der Sprache. Entweder alle Sprachelemente sind poesiefähig oder keines. Mit anderen Worten: Die Sprache selbst hat ein Doppelgesicht. Auf der einen Seite ist sie, als Kommunikationsmedium, beschreib- und systematisierbar, theoriefähig. Auf der anderen Seite korrespondiert sie auf eine Weise mit dem, was ist, die sich im theoretischen Zugriff verrätselt und verspiegelt: Die Meditation um die lyrische Abgründigkeit der Sprache kreist dort, wo sie zur Artikulation drängt, nolens volens um die im lyrischen Sprechen zutage tretenden Binnenverhältnisse der Sprache. Die vielberedete Autoreflexivität der modernen Lyrik ist ein Reflex dieses theoretischen Dilemmas. Selbstreferentialität und Sprachmystizismus bedingen einander, sie sind zwei Seiten ein and derselben Sache.

Fragt man, wie eine Dichtung aussehen soll, die solchen Prämissen entspricht, so kann man sich vieles vorstellen. Es könnte jedoch sein, dass eine Formel besonders geeignet ist, die auseinanderstrebenden und einander teilweise krass widersprechenden lyrischen Praxen zu charakterisieren. Lyrik ist nicht Prosa: soll heißen, Lyrik entfernt sich auf allen möglichen Wegen von den kommunikativen Aspekten, die in der Prosa des alltäglichen Verkehrs und der wissenschaftlichen Theoriebildung überwiegen. Sie entfernt sich von ihnen, obwohl sie im gleichen Material arbeitet – Konsequenz der Überzeugung, dass es keine spezifisch lyrischen Sprachelemente, keine metrischen und prosodischen Unverzichtbarkeiten des lyrischen Sprechens gibt. Sie entfernt sich von ihnen, indem sie sie negiert, sie entfernt sich von ihnen durch Techniken der Negation. Solche Techniken lyrischer Negation sind beschreibbar. Sie zu registrieren und zu erläutern gehört seit langem zum Tagesgeschäft der Interpreten. Die diversen Figuren der Bedeutungsumkehr, der leeren oder ›absoluten‹ Metapher, des Abwesend-Anwesenden, der Mehrsinnigkeit und so fort gehören ebenso hierher wie die diversen Sprachgebärden des Einspruchs, des Widerrufs, des Nicht-gelten-Lassens, der sanften oder dröhnenden Empörung – Gebärden, die jedem Leser moderner Lyrik hinreichend vertraut sind.

Der Negativismus der modernen Lyrik hat viele Gesichter. Auch bleibt er nicht auf die Lyrik beschränkt. Die literarische Prosa ist ihr, wenngleich mit Einschränkungen, in gebührendem Abstand gefolgt. Betrachtet man die Diffusion der literarischen Techniken im zwanzigsten Jahrhundert, so findet man kaum eine Errungenschaft der Lyrik, die nicht auf die eine oder andere Weise Eingang in die Prosaliteratur gefunden hätte. Doch man wird kaum eine Prosa finden, die den Negativismus in gleicher Entschiedenheit dazu benützt hätte, herauszufinden, was geht.

Die Prosa kennt die einholende Bewegung, die, bei veränderten Prämissen, auf das, was in ihr gesagt wurde, zurückkommt und bei ihm verweilt. Das gilt für Konstellationen, die aus der älteren Literatur vertraut sind, und es gilt für das Wissen um die Grundlagen der modernen Welt, das in den Wissenschaften bereitliegt. Die lyrische Revolte hingegen kennt nur die zweifache Distanz: zunächst zum lyrischen Herkommen, das sie in toto zurückweist, sodann zur umgebenden Welt, die sie genauso umfassend denunziert.

Die Vielzahl lyrischer Moden in der Moderne beleuchtet die unüberwindliche Schwierigkeit, die es bereitet, die eigene Tradition – in die ja auch jede moderne Regung sogleich zurücktritt – schreibend vollständig zu negieren. In der Praxis richtet man sich darin ein, Traditionen – Feindbilder, wenn man so will – innerhalb der Tradition zu isolieren, soll heißen, die eine umfassende Tradition über einen jeweils anderen Kamm zu scheren. Das Verwerfen in toto verlangt gebieterisch nach einem pars pro toto, das dem Widerruf seine Schärfe gibt. Ergänzt wird dieses Verfahren durch die Entdeckungsrituale, die mit der posthum zelebrierten Modernität älterer Autoren jederzeit weitere Gestaltungs-Paradigmen zu mobilisieren erlauben. Sie erinnern uns daran, dass auch der lyrischen Erfindungsfähigkeit bisweilen engere Grenzen gesetzt sind, als es das Arbeitsethos des Schriftstellers eigentlich erlaubt.

 

10.

Es gibt Bücher, deren durchschlagende Wirkung in ihrer Epoche sie anschließend dem Vergessen überantwortet – vermutlich, weil die verspätete Lektüre nicht umhinkommt, Schwächen und Peinlichkeiten zu konstatieren, die im Gang der Auseinandersetzungen, in denen sich ihre Aufnahme vollzog, hintangesetzt worden waren. Jean-Paul Sartres 1947 erschienene Schrift Qu’est-ce que la littérature? ist ein solcher Fall. Dennoch bleibt sie aufschlussreich. Sie hat wesentlich zur intellektuellen Deklassierung des ›Dichters‹ nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Die ersten Seiten des Eingangsessays (dt. Was ist schreiben?) bieten das schlagende Beispiel einer nach wenigen Schritten abgebrochenen und polemisch ausgebeuteten Analyse der ›Poésie‹. Ihre Bestimmungsstücke sind bekannt. Es sind die der von Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé geprägten Moderne. Gedichte werden nicht aus Ideen, sondern aus Wörtern gemacht. Bei Sartre heißt das:

In Wirklichkeit hat sich der Dichter mit einem Schlag von der Instrument-Sprache zurückgezogen; er hat ein für allemal die poetische Haltung gewählt, die die Wörter als Dinge und nicht als Zeichen betrachtet.

Ein Dichter ›gebraucht‹ die Wörter nicht, er stellt sie zusammen. Klang und Form sind die Eigenschaften, die seine Aufmerksamkeit erregen und seine kompositorischen Absichten auf den Plan rufen. Ein Prosa-Schriftsteller, so Sartre, benützt die Sprache als Werkzeug. Die Aufmerksamkeit, die er auf sie verwendet, erschöpft sich in dem Aspekt, ob sie als Mittel zu seinen Zwecken taugt. Der Dichter hingegen wendet ihr eine durch keinerlei Zwecke begrenzte Aufmerksamkeit zu, er blickt, wie Sartre schreibt (und es liegt ein beißender Spott in diesen Worten), auf den sich in seinem Sprachpanzer bewegenden Menschen von außen. Das heißt, er sieht ihn eben nicht, da der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ihm den Blick auf den Menschen dahinter verwehrt. Der Dichter, so lautet die Quintessenz, stellt sich außerhalb der condition humaine, er sieht ›mit den Augen Gottes‹. Der engagierte Prosa-Schrift­steller hingegen stürzt sich als Kämpfer in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Epoche: Er hat alle Hände voll zu tun. Er hat, dürfen wir ergänzen, keine Zeit zu dichten; schließlich gibt es Wichtigeres zu tun.

Man könnte über den einer erregten Epoche angehörenden Versuch Sartres, ›die Dichter‹ aus dem Kreis derer, die im Ernst mitreden, wenn es um die menschlichen Dinge geht, hinauszudrängen, achselzuckend hinweggehen. Er selbst rechtfertigt ihn mit der historischen Erfahrung der Résistance, ohne den Gedanken zuzulassen, dass diese wie jede Erfahrung auch Konsequenzen anderer Art verträgt. Der Manichäismus, den er beim Feind jener Jahre am Werke sieht, ist offensichtlich, wenn auch in Umfang und Zielsetzung unvergleichbar, in seiner eigenen Argumentation virulent. Andererseits findet er in seiner Skizze der Poesie zu Formulierungen, die geeignet sind, den langsamen Abschied von der hier behandelten Moderne historisch und begrifflich ein Stück weit zu bestimmen. Der Dichter, schreibt Sartre, behandelt die Wörter wie Dinge, nicht wie Zeichen. Er macht sich ihre Intonation, ihren Klang, ihre Länge, ihre Biegsamkeit zunutze – er komponiert in Wörtern wie der Maler in Farben. Aber natürlich kann er von der Bedeutung der Wörter nicht absehen –

allein die Bedeutung kann ja den Wörtern ihre verbale Einheit geben; ohne sie zerfielen sie zu Tönen oder Federstrichen...

zu wenig eindrucksvollen überdies, wie sich unschwer ergänzen lässt. Diese linguistische Trivialität führt Sartre an den Kern seines Vorwurfs. Die Wörter als Dinge auffassen heißt, ihre Bedeutungen als Teil ihrer Natur, als Aspekt ihres Gegebenseins zu behandeln.

Ins Wort eingegangen, von seinem Klang oder seinem visuellen Aspekt aufgesogen, verdichtet, vermindert, ist auch die Bedeutung ein ungeschaffenes, ewiges Ding; für den Dichter ist die Sprache eine Struktur der äußeren Welt.

Da sich die Bedeutung der Wörter im Gebrauch erschließt, verrätselt sie sich im Verzicht auf ihren Gebrauch. Sie wird zum Objekt einer grüblerischen Aufmerksamkeit, die sie mit den diffusen Beziehungen verschmelzen lässt, welche die Wörter als Gegenstände mit anderen Gegenständen unterhalten. Sartre gibt eine kleine Analyse der so gewonnenen poetischen Bedeutung des Namens ›Florence‹ – Florenz.

Florence ist Stadt und Blume und Frau, sie ist Blume-Stadt und Frau-Stadt und Blume-Mädchen alles zugleich. Und der merkwürdige Gegenstand, der auf diese Weise erscheint, besitzt die Flüssigkeit von fleuve (Fluß), den sanften rotbraunen Glanz von or (Gold) und gibt sich schließlich mit décence (Dezenz) hin und verlängert durch die fortgesetzte Abschwächung des stummen e unendlich seine Entfaltung voller Vorbehalte. Dazu kommt die verfängliche Bemühung der Biographie. Für mich ist Florence auch eine bestimmte Frau, eine amerikanische Schauspielerin, die in den Stummfilmen meiner Kindheit spielte und von der ich alles vergessen habe, außer daß sie lang wie ein langer Ballhandschuh war und immer ein wenig matt und immer keusch und immer verheiratet und unverstanden und daß ich sie liebte und daß sie Florence hieß.

Die biographische Volte zum Schluss ist insofern verräterisch, als sie nichts spezifisch Poetisches enthält. Man bemerkt die Ungeduld des Autors gegenüber seinem Gegenstand, die unter Verzicht auf den Einsatz angemessener begrifflicher Mittel einen empfindlichen Punkt berührt. Es ist, wie wir gesehen haben, nicht so einfach, vom Gebrauch der Sprache abzusehen, und keineswegs selbstverständlich ist, was uns auf der ›anderen Seite‹ der Sprache erwartet. Zweifellos sind die literarischen Techniken, die eingesetzt werden, um im lyrischen Gebilde Distanz zur Sphäre des Gebrauchs und der gesellschaftlichen Interaktion zu schaffen, intellektuelle Techniken, deren Ausarbeitung, Konkurrenz und Wirksamkeit denselben Kriterien geistiger Aktivität unterliegen wie die von Sartre propagierte des ›engagierten‹ Literaten. Der Schein der Naturgegebenheit der Wörter und ihrer Bedeutungen ist also in zweifacher Hinsicht falsch (und in einer dritten Hinsicht keineswegs nur falsch): zum einen vor dem Hintergrund einer von Sartre bevorzugten pragmatischen Theorie der Sprache, zum anderen als ›unmittelbarer‹ Ausdruck einer unterstellten Naivität des dichterischen Umgangs mit der Sprache.

Der Schein der Naturgegebenheit der Wörter und ihrer Wirkungen in den lyrischen Gebilden geht aus einer Leseeinstellung hervor, die sich für die technischen Fragen dieser Kunst nicht mehr wirklich erwärmt und deshalb nur zwei Varianten zulässt: den Glauben an ihre geheimnisvolle Fähigkeit, Zutritt zu Bereichen zu verschaffen, die dem Alltagsbewusstsein verschlossen bleiben, obwohl ihre Bedeutsamkeit die der anderen Lebensbereiche bei weitem übertrifft, und die Aufsässigkeit gegen diese Kunst, die in der Ufer- und Richtungslosigkeit ihrer Resultate Belege dafür findet, dass der versprochene Aufbruch bei Windstille stattfindet und bequem in der Disziplinlosigkeit personbezogenen Assoziierens zu Ende gebracht werden kann. Das ist es, was Sartre mit dem Hinweis auf die Wirkung jener zufälligen Erinnerung an die Schauspielerin Florence suggeriert.

Diese zwiespältige Leseeinstellung geht nicht einfach an der Sache vorbei. Die professionelle Literaturkritik etwa, die viel dazu beiträgt, eine literarische Praxis zu stabilisieren, lebt seit jeher von der Möglichkeit des Einstellungswechsels. Gibst du, so lautet ihre Frage an jedes neu an die Öffentlichkeit gelangende Gebilde, dem Leserglauben an die ›magische‹ Qualität deiner Fügungen, tiefgestaffelte Komplexe von Bedeutsamkeit ahnen zu lassen, hinreichend Nahrung oder zwingst du uns, den Betrug hinauszuposaunen, der in deiner wie in jeder Veranstaltung dieser Art verborgen liegt? Können wir, heißt das, ein weiteres Mal mit dem Denkverzicht leben, der in unserer Bereitschaft ruht, uns von ›magischen‹ Wortgruppen beeindrucken zu lassen? Im Gedanken der Wortmagie, Herzstück einer auf unbedingte Wirkung fixierten Kunstlehre, treffen sich die Absichten des Lyrikers und die Erwartungen seines Publikums. Beide werden durch einen wohlvertrauten Effekt auf getrennte Bahnen gezwungen. Während der in seinem Material arbeitende und sich den objektiven Gegebenheiten beugende Lyriker nach Techniken forscht, die es ihm erlauben, dem verzweigungsreichen und randlos wuchernden Labyrinth ästhetisch motivierter Negationen, in dem er sich von Berufs wegen bewegt, eine weitere Windung hinzuzufügen, hat das Publikum, lektüregesättigt und oberflächenfixiert, das Prinzip aller Innovation längst erkannt und zeigt sich entschlossen, die individuelle ästhetische Ambition gänzlich unbeeindruckt zu konzedieren. Die Aufmerksamkeit des beschlagenen Publikums auf ›seine‹ Dichter entfernt sich nicht weit von der Rest-Neugier, mit der man einer Gruppe von Ehrgeizigen zusieht, die sich in aussichtsloser Lage bemüht, nicht das Gesicht zu verlieren. Schwindet diese letzte Aufmerksamkeit, dann schwindet auch der gesellschaftliche Bedarf an dergleichen Produktionen und mit ihm die Möglichkeit, durch entsprechende Leistungen Anerkennung und Ansehen zu erwerben. Der Gedanke ist nicht so kontingent, wie sich vermuten ließe. Valéry konnte zeigen, dass es zu den primären Antrieben Baudelaires gehörte, die Autoritäten des Tages herauszufordern. Insofern holen die Anfänge das ›Konzept‹ ein.

 

11.

Die lyrische Moderne endet in Iterationen. Unter einem breiteren Gesichtswinkel teilt sie dieses Schicksal mit einer Reihe von Erscheinungen, die nach dem Scheitern der 68er Revolte unter eine Art von kulturellem Erhaltungszwang gestellt wurden. Vermutlich hat es das ›unvollendete Projekt der Moderne‹, sieht man von den Gesinnungen einzelner Wortführer ab, nie gegeben. Jede nennenswerte literarische Tat ruft in ihrer Sprache weit mehr und Älteres auf als die Reminiszenzen der Moderne. Der Erfolg des lyrischen Modernismus beruht auf einem der ältesten, bereits im Petrarkismus zu beobachtenden Tricks des Genres. Ein einfacher, in allen Sprachen leicht zu handhabender Schematismus erweist sich als unendlich biegsam und geeignet, das lyrische Sprechen in den europäischen Literaturen (die amerikanische eingeschlossen) zu revolutionieren. Modernisierung, ›Self-modernization‹ lautete die Vokabel, mit der Ezra Pound sein Programm der Aneignung der neuen Techniken einst umriss. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die sogenannte klassische Moderne auf dem Terrain der Lyrik wenig mehr war als der Prozess dieser ursprünglichen Modernisierung. Hier entstanden die Werke, von deren Nimbus die Nachfolger bis heute zehren. Zu Unrecht, wie uns scheint: Das smarte Know-how der Späteren bewahrt wenig oder nichts von den machtvollen Motiven, mit denen verbunden es einmal Einlass in die vielschichtigen Literaturen und literarischen Zustände Europas suchte und fand.

Andererseits ist nicht zu leugnen, dass der schematische Modernismus sich, auch darin dem Petrarkismus vergleichbar, aufs leichteste mit bestimmten Denkmotiven des Jahrhunderts verbinden ließ. Der Negativismus ließ an so vieles denken, vorausgesetzt, man kombinierte ihn mit dem jeweils passenden Feindbild: Christliche Metaphysik und Heideggersche Eigentlichkeit, Faschismus, Kapitalismus, westliche Rationalität und Ausbeutung der Natur sind in gegebenen Konstellationen so etwas wie die natürlichen Feinde der Literatur geworden, auf die man die Hunde einer jederzeit scharfen oder leicht scharfzumachenden poetischen Kleinform loslassen konnte, ohne sich genötigt zu sehen, größere gedankliche, vielleicht sogar weitergehende Mühen auf sich zu nehmen. So konnte es geschehen, dass die Bemerkung Theodor W. Adornos, nach Auschwitz könne es keine Lyrik mehr geben, in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg eine zweite Welle des lyrischen Modernismus auslöste. Der Grund ist einfach: Auf dieses negative Fundament ließ sich eine Vielzahl neuer Lyrismen bauen. Wer hier dichtete, war von vornherein gerechtfertigt. Er befand sich auf richtigen Seite: Wer sollte ihn kritisieren?

Das Leiden an der Realität ist eine Baudelairesche Mitgift. Sein Dichter erfährt es als Auszeichnung. In den Fleurs du Mal wandelt sich die Dornenkrone des leidenden Christus zur ›couronne mystique‹, zur mystischen Weltenkrone auf dem Haupt des poète maudit. Das mit dem Nachkriegsverbot, über Leiden anders als in Kategorien sozialen Unrechts zu reden, unterfütterte Grollen hat diese Auszeichnung widerrufen. Vielmehr: Es hat sie auf die ganze leidende Kreatur übertragen. Nur als Mit-Leidender, als Geringster der Leidenden, darf der Dichter das zu Papier bringen, was an Leidensbereitschaft und Leidensfähigkeit in ihm darauf wartet, ins Gedicht gehoben zu werden. Denn das Unrecht, das die Gesellschaften des Westens dem Dichter antun, hält sich gewöhnlich in engen Grenzen. Die mechanisierte Ausbeutung des Leidens anderer – um damit die schmalen Vorräte eigenen Leides aufzubessern und zu veredeln – zeugt von dem enormen Rechtfertigungsdruck, unter dem die Literatur insgesamt steht. In einem Klima, in dem Pop-Barden und Unterhaltungsschriftsteller sich Gedanken über die Zukunft der Menschheit machen müssen, um ihre Klientel bei der Stange zu halten, bleibt die Reflexion darauf, was die Lyrik von anderen Äußerungsformen des Geistes unterscheidet, umgehend auf der Strecke. Die Mechanisierung der Gesinnungen und die Mechanisierung der lyrischen Praxis gehören zusammen. Beide dauern als Zeugnisse einer stillgestellten Reflexion.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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