Aesthetica

Aufzeichnungen aus einem leeren Haus

für Renate

Flesh for life

Die alte Frage ›Was sollen wir tun?‹
in den Ofen geschoben –. Ein weiteres Mal
schlägt sie den Helden mit seinen eigenen Waffen,
als sei des Geschehenen nie genug.
Und wirklich und wirklich...
So ist es. Nach alledem und
vor alledem: ein zweiter Anfang, ein dritter
ist, wie der erste, Anfang genug, ein Beginn
dazwischen. In-? Gleichviel. Die platonische Rede
entwaffnet nicht wirklich –
Da findet sich anderes.
Werkzeuge gibt es genug,
uns zu verhindern.

 

Töricht

Töricht, nein, töricht ist keiner (selbst nicht der Tor),
dem es passiert, wenn auch manches
Tor zu passieren ist, unvermutet.
Helle zu Dunkel und Dunkel zu Licht –
Wechsel ist alles. Manches daran berührt
abstoßend, kleiner Stromschlag gefällig, das stärkt die Person,
die auf Abgrenzung fußt. Kein anderes Mittel,
den Kopf frei zu bekommen. Und frei
lebt es sich besser, das ›gut‹
überspringen wir, weil ... es
tut nichts zur Sache.

 

Aus –

Vertrautheit zieht sich zurück, um neuer Vertrautheit
Platz zu machen. Das ist ein seltsamer Zug,
ein Möglichmacher, dem zu misstrauen
fast unmöglich scheint. Manchem, dem’s fast
gelang, ging alles daneben. Doch was bedeutet das: alles?
Wer mit den Weisen vertraut ist, der geizt mit Vertrauen.
Er legt beiseite. Wofür? Für nichts. Nichts
ist schwer zu erhalten, schwerer geht nichts und nichts
geht gar nicht. Warum also warten? Dieses Leben vergeht und jenes
bleibt unerreichbar, so nah
es auch scheint. Rätsel aus Silben?
Einsilbig wärest du gern. Es ersparte den Ausfall,
wo allein der Fall zählt.

 

Ein Streifen Wegs

Du sagst mir, du hättest
lange gewartet und ich
sage, ich hätte gewartet, doch du
sagst mir, ich hätte
früher entscheiden, und ich
sage, du hättest recht, aber da sei
nichts zu entscheiden gewesen auf Grund
einer Entscheidung, die nicht
revidierbar gewesen, als seien wir Mächte
in diesem Spiel, eingebunden
in alte Verträge, die sich erneuern,
sobald der Irrsinn sich zeigt,
der sie gezeitigt.
Jetzt endlich,
angewendet auf diesen
Fall aller Fälle, lecken sie Blut.

 

Lass hören

Nicht vermengen, was zählt!
Was einer verlor, ein Ohr,
ein Auge, mag sein, in Wahrheit
wand es ihn los. Ohne zu zögern
bot es sich dar, als Mut
mutlos wurde und Selbst-
behauptung zur leeren Behausung,
ein Organ zuviel, zuwenig, zuviel –. Das zu entscheiden
fällt schwer. Warum auch? Was zählt, zählt. Wer mitzählt,
hat viel zu erzählen. Verflucht sei,
wer vieles erzählt, ohne Not, als sei
Erzählen schön, eine Lust, die sich mitteilt.

 

Aus dem geschuldeten Leben

Das Recht der Toten, sagt man, ist riesig.
Riesig die Erwartung, die sie gegen uns hegen.
Wirklich, sie sind unser unfassbarer Teil. Nur schwer
kommt gegen sie an, wer einmal den Friedhof
der Hoffnungen zögernd betrat oder durch Fakten
kahlgeschlagen ins Licht
einbrach, das bisher ihn trug.
Niemand nimmt an, was ihn ausgrenzt. Also sei niemand.
Finde die Grenze. Überzeuge dich. Von den verheißenen
     Tunneln
findest du keinen. Kein Austausch
findet hier statt. Ungeteilt
trennen sich Welten. Ungeteilt
verzehrt sich das Erbe.

 

Mövenpick

Seltsames Land, seltsame Zeit, in der wir uns trafen:
Land der Ausgegrenzten, die zu Ausgrenzern wurden,
um, rasch wie gedacht, sich ausgegrenzt wieder zu finden.
Als sei’s ein Los, unentrinnbar wie die Bahn des Planeten,
Los machtloser Eiferer um die Macht.
Mit sehender Blindheit geschlagen, geschlagen auch
mit geilem Gespür, anspruchslos, großtuerisch
vor der Hure Geschichte, um Eindruck zu schinden.
Als fiel’ so für sie etwas ab vom großen Umsonst.
Umsonst! Aus den Annalen gestrichen, flackern sie unstet,
bis das Aus sie bedeckt, der alte Schandfleck, zur Unzeit.

 

Geschenkter Efeu

Nicht vermengen, was zählt –
es vermengt sich schon selbst, leichter
stellt sich nichts her als Bedrückung.
Wer aus einer kommt, geht leicht in die nächste, ihm soll
nichts daran fehlen. Denn nichts
fürchtet er mehr als das Fehl. Mit feiner Witterung
spürt er’s heraus, von Fehler zu Fehler
geht seine Flucht. Vermeidung? Sinnloses Wort. Aufs
      Vermeiden
zielt, was er treibt. Aber (groß, mit dem langen Aah):
Vermieden wird nichts.
»Lass zählen, was zählt.« Seltsames Rätselwort,
geflüstert im Morgenschein. Schattenlos glänzt es. Mir ist,
als wäre es deins.

 

Trauminsel Wachsamkeit

Wer kommt, kommt. Das pflegt so zu sein.
Also kommen wir, quer übers Feld,
mit Sack und Pack. Was trägt, trägt nicht: das
ist eine Erfahrung, die keinem erspart bleibt.
Dagegen hilft nur: nicht träge sein,
die täglichen Sporen, das heimliche Wachsein,
das sich nicht kundtut. Wer Wachsein mimt,
den, nun, den kann man vergessen, er blättert sich auf
im Gang des Geschehens, eine Rose zur Tatzeit,
ein Stachelgestrüpp gegen Mitternacht.

 

Annalen des Schmerzes

Heimlichkeit unter wachsamen Blicken,
stilles Geschenk an die Mitwelt,
in Unschuld begangen, offen also,
ein Ritus der Kirche, zu der sich bekennen
leicht fällt, leichter als dem Apfel vom
Stamm der Erkenntnis, der, gefallen, den Fall
absolut setzt – losgelöst
lenkt es sich leichter und Denken
schmerzt. Also her mit den Schmerzen.
Nicht um des Denkens willen, o nein. Geltung
verschafft es sich so. Und Geltung
soll sein. ›In Ordnung‹ –
ein Euphemismus wie andere, ärgerlich oft,
aber lebenstauglich und alles in allem
aus härterem Holz.

 

Mariposa

Possenspiel unter nächtlichem Himmel,
bei Tage wegauf, wegab, die Treppe ins Nichts,
die ›Kultur‹ bedeutet, und hier:
Scala dorada. Die Stufen der Sprüche,
das weiße Haus, der Gebärstuhl des Sokrates,
in Fels gehauen, als ließen sich so
ernten die Früchte des Zorns. Seichtes Geplätscher
meldet den Irrtum. Steinernes Mahnmal
versteinter Gedanken, der Sonne, dem Wind, dem Regen
zurückerstattet. Aufgeschichtet über dem Land
der leichten Bekleidung, unfrommer Erwartung
einer vergoldeten Zukunft, die rasch
sich entfernt, als sei sie dem Elend,
dem stets sich verneinenden,
nicht länger verpflichtet.

 

»Leben ist 94«

Diesen Spruch
muss man sich merken.
Schwer zu erreichen, aber als Anspruch
nicht zu verachten.
Standard setzt Standard. Dieser
hält das Pendel in Gang, den Ausschlag
meldet er nicht. Schlagen wir aus! Was immer sich
herausschlagen lässt, es trifft den Schläger
hinein ins Gesicht, die verlässlichste aller Uhren,
untrüglich nicht, aber aufs Ende
geht sie pünktlich, der Rest
geht mit. Auch er lebt
vom Gewesensein. Der Sturm,
vom Paradies her gemeldet, zerrt an den Boten.

 

 

 

erschienen als:

Knoten (Acta litterarum)

Notizen für den schweigenden Leser

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