9.

Unter den komischen Augenblicken der Philosophiegeschichte wird einmal der massenhafte Schwenk der konstruktivistischen Schule zu der Überzeugung, das menschliche Bewusstsein lasse sich eher als »Software« denn als »Hardware« analysieren, einen stillen Ehrenplatz beanspruchen dürfen. Einsichten wie diese, die das Studium von Computerhandbüchern zur Endlosschleife geraten ließ, sind in hohem Maße ansteckend. Eine ganze Forschergeneration wurde durch sie in Brot gesetzt. Einer ihrer charmanten Vertreter ist Hilary Putnam, der in Repräsentation und Realität seinen Zunftgenossen eine Nase drehte: »Die Computerauffassung war ihrerseits eine Reaktion gegen die Vorstellung, daß unsere Materie wichtiger sei als unsere Funktion, daß unser Was wichtiger sei als unser Wie. Mein ›Funktionalismus‹ behauptet, daß eine Maschine (etwa einer von Isaac Asimovs Robotern), ein Mensch, ein Geschöpf aus Silikon und ein körperloser Geist womöglich allesamt mehr oder weniger gleich funktionieren, wenn man sie auf dem relevanten Abstraktionsniveau beschreibt, und daß es einfach falsch ist zu glauben, unsere Hardware sei das Wesen unseres Bewusstseins. Diesen Teil meiner früheren Auffassung – und er war für sie von maßgeblicher Bedeutung – werde ich auch in diesem Buch nicht preisgeben, ja er scheint mir heute noch genauso zutreffend und wichtig wie eh und je. Der Kunstgriff, den ich anzuwenden versuchen werde, ist der den Meistern des Jiu Jitsu zugeschriebene Kniff, die Stärke des Gegners gegen ihn selbst zu kehren: Ich werde zu zeigen versuchen, dass die Argumente für die Computerauffassung – und zwar ebendie Argumente, die ich selbst früher benutzt habe, um zu begründen, dass eine schlichte Gleichsetzung von mentalen Zuständen mit physisch‑chemischen Zuständen nicht richtig sein kann – verallgemeinert und erweitert werden können, um nachzuweisen, daß eine unmittelbare Gleichsetzung der mentalen Zustände mit funktionalen Zuständen – d.h. mit Zuständen, die dem Computermodell entsprechend gekennzeichnet werden – ebenfalls nicht richtig sein kann.«

Ist das nicht schön? Da existiert eine ursprüngliche Vorstellung, »daß unsere Materie wichtiger sei als unsere Funktion«. Auf sie bezieht sich der frühe, funktionalistische Putnam (Putnam I), indem er sie rundweg bestreitet. Der Schreiber des vorliegenden Textes wiederum (Putnam II) möchte diesen Funktionalismus nicht preisgeben. Wohl aber will er ihn als Gegner verstanden wissen, dessen Stärke er gegen ihn selbst zu kehren gedenke. Und warum? Um seine Thesen – zu bestreiten. Verstehe das, wer will. Die entscheidende Floskel der ganzen Passage lautet »unmittelbare Gleichsetzung«. Der gewendete Denker gefällt sich als Meister der mittelbaren Gleichsetzung, in der alles irgendwie gemeint und irgendwie bestritten werden kann. Entsprechend abgeklärt fällt sein späterer Rat an hartgesottene Funktionalisten wie Fodor und Dennett aus. Begnügt euch mit dem Irgendwie, den strengen Nachweis schafft ihr nie.

Nun stünde es jedem frei, die Gelassenheit auf den Punkt zu treiben, an dem er genausogut behaupten könnte, der Glaube, programmierbare Maschinen unterschieden sich von ihren »unintelligenten« Vorgängern wie Dinge mit Bewusstsein von Dingen ohne Bewusstsein, sei ebenso grundlos wie der Glaube, Pferde ließen sich bequem anhand ihrer unsterblichen Seele von Schmetterlingen unterscheiden. Gemessen am üblichen Geplänkel wäre dies sicher ein starker Einwand. Und es wäre erst der Anfang. Einmal auf den Geschmack gekommen, könnte unser Mann vom Lande kühn dekretieren, die Entwicklung programmierbarer Maschinen habe die Theorie des menschlichen Bewusstseins um keinen Deut mehr vorangebracht als die Erfindung der Dampfmaschine, des Hubkolben‑ oder des Elektromotors. Begründend könnte er ausführen, die Unterscheidung zwischen intelligenten und unintelligenten Maschinen sei ebenso krude wie durchsichtig – in beiden Fällen gebe es außer Wirkungen menschlicher Intelligenz nichts zu entdecken. Allerdings würde er sich hart an dem überraschend erkennbar werdenden Faktum stoßen, dass alle, die sich am Spiel beteiligen, es bereits wissen. Dass sie so reden, wie sie reden, lässt sich weder durch Verzweiflung noch Dummheit erklären, wohl aber durch eine betriebsmäßig abgesicherte Dreistigkeit, deren Kehrseite die grenzenlose Bereitschaft zum Mitmachen darstellt.

Doch das erklärt nicht alles. Bei Putnam wird spürbar, dass die Bereitschaft, irgendeine Brücke vom Physikalismus zum Mentalismus zu akzeptieren, Hauptsache, man entgeht auf diese Weise dem Gespenstervorwurf, selbst profundeste Zweifel an der Tragfähigkeit der Modelle in den Wind schlagen lässt. Nein, schreibt Putnam (und er wendet sich sinnigerweise gegen Dennettsvon ihm als reduktionistisch durchschautes Credo), es sei durchaus nicht so, dass man das ganze Spektrum menschlicher Intelligenzleistungen im Bereich der künstlichen Intelligenz simulieren können müsse, um das Computermodell für eine tragfähige Grundlage der Theorie des Geistes zu halten. Die allgemeine Anmutung reiche vollkommen aus: »Es ist ja auch möglich, das Wetter zu verstehen, ohne es besser vorhersagen zu können als früher. So kann es auch sein, dass wir imstande sind, das Gehirn als hierarchisch strukturiertes System von Rechensystemen (›Modulen‹) zu verstehen, ohne alle diese Einzelsysteme und alle ihre Wechselwirkungen hinreichend beschreiben zu können, um die Tätigkeiten des Gehirns vorhersagen oder sogar simulieren zu können.« Das heißt die Bescheidenheit auf die Spitze treiben. Verstehen lässt sich so manches, sofern man fünf gerade sein lässt und die Frage, warum man etwas gerade so und nicht anders verstehen solle, solange nicht entschieden werden könne, ob man es auf diese Weise besser versteht als auf eine andere, für eine unziemliche Form der Desolidarisierung erachtet.

Es muss eine berückende Vorstellung sein, alle menschlichen Geistestätigkeiten ließen sich irgendwie auf Binaritäten, auf »Input« und »Output« zurückführen, wenn einer ihrer prominenten Vertreter selbst noch das Irgendwie gegen den Anspruch der eigenen Schule, es dann auch von Fall zu Fall demonstriert zu bekommen, in Schutz nimmt. Diese Vorstellung enthält das Minimum, dessen man bedarf, um Naturalist zu sein und sich beruhigt der Auseinandersetzung mit Gott und der Welt zu widmen. Das famose Irgendwie schützt ebenso komfortabel gegen die Ansprüche des Physikalismus wie des Transzendentalismus, es erlaubt die Verwaltung ans Herz gewachsener Bestände und die lächelnde Abwehr so unprofessioneller Fragen wie der, ob denn die formale Interpretation der physikalischen Ereignisse im Gehirn wirklich erfolgreich aus den Funktionsroutinen des physikalischen Gehirns herausgelesen werden könne oder ob sie nicht die theoretische Leistung, die sich hinter den Begriffen ›Modell‹ und ›Interpretation‹ verbirgt, gedankenlos in ihren Gegenstand hineinkomplimentiere, und wer oder was wohl im letzteren Fall diese »Leistung« erbringe, immer vorausgesetzt, das Gespenst in der Maschine sei wirklich so mausetot, wie es alle gern hätten. Sich selbst produzierende, programmierende, befehlende, kommentierende, analysierende, sich in ihre Umwelt integrierende und (hoffentlich) sterbliche Rechner – Traumwesen also wie du und ich – sind die Helfer des Denkers bei der Abwehr idealistischer Anmutungen, und nur das kostbare Irgendwie schützt ihn gegen die Zumutung, selbst solche Maschinen konstruieren, produzieren, programmieren und mit Wesen der eigenen Art vergleichen zu müssen, auf dass wenigstens der Schein gewahrt bleibe, es könne dergleichen geben.

 

10.

Gegen Denken steht nur Gewalt: man kann auch sagen der Ist‑Zustand einer Disziplin, in der es sich nicht gehört, den Unfug beim Namen zu nennen, solange man ihm die Einladung zum nächsten Symposium schuldet. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass es die Praxis ist, die durch natürliche Auslese – etwa in der von Dennett so geschätzten Variante des »Baldwin‑Effekts« – sich die ihr angemessenen Theorien heranzieht. Ein imaginärer Gegner wie»der neuzeitliche Cartesianismus« ist einem real argumentierenden Gesprächspartner unbedingt vorzuziehen; so wissen sich alle bereits um die gute Sache bemüht, bevor überhaupt irgendeine Sache verhandelt wird. Die Hartnäckigkeit, mit welcher Dennett das sogenannte »cartesianische Theater«, also den Glauben an die Repräsentation physiologischer Vorgänge auf einer ›Bewusstsein‹ genannten zweiten Ebene der Realität, in den Theorien disziplinierter Neurophysiologen entdeckt, entspricht der Professionalität eines verwegenen Satanisten, bei dessen Auftreten auch ungeweihte Hostien reihenweise zu bluten beginnen, weil die versammelte Gemeinde es so will und weil sonst kein Grund bestünde, ihn hinzuzubitten. Natürlich dient die Schwarze Messe der Beschwörung des Axioms von der unzulässigen Weltverdoppelung durch die Sprache der Metaphysik, also der mehr oder weniger mechanischen Reduplikation eines Antiplatonismus, dem die entscheidenden Lektürefehler bereits an den Schriften Platons unterlaufen.

Wozu der Bluff? Ganz einfach: es ist das Buhlen um einen materialistischen oder realistischen oder naturalistischen Zugang zum Bewusstsein um jeden Preis. »Materialistisch« wäre etwa die Methode der Protokollsätze, weil sie von nichtphilosophischen Disziplinen wie der Psychologie, der Ethnologie usw. ohnehin angewandt wird, und weil sie den Gegner markiert, den irgendwie metaphysischen Glauben an den Geist in der Maschine, der Aussagen über Bewusstseinsphänomene, die auf naiver Innensicht beruhen, unbesehen »für wahr« nimmt. Beschäftigen wir uns mit der Maschine und überlassen wir den Geist beruhigt den Geistersehern. Der Schlachtruf wäre wirkungsvoller, wenn er nicht selbst bloß eine Variante des Gespensterglaubens darstellte. Nicht die Innensicht ist das Problem, sondern ihre Interpretation als Datenerhebung, die den »Auswerter« vor die Wahl zwischen einer »gläubigen« und einer »indifferenten« Lektüre stellt. Denn auch die indifferente Lektüre pflegt den Glauben an das gegebene Phänomen, das in den Aussagen von Testpersonen »zum Ausdruck kommt«. Praktisch hat sich der Glaube sogar verdoppelt: Der Heterophänomenologe glaubt daran, dass die Aussagen seiner Testpersonen, soweit sie nicht lügenhaft sind, als korrekter Ausdruck einer Innensicht hingenommen werden müssen, und er glaubt ebenso fest daran, dass diese Innensicht Illusion sei. Oder vielleicht doch nicht ganz so fest? Wer mit Lust Gespenst! Gespenst! ruft, der läuft Verdacht, sich selber immer aufs neue mühsam zum Ätsch! überreden zu müssen – am besten dadurch, dass er die Phänomene in einem Atemzug konstatiert und leugnet. Und es ist nicht nur unfair, es ist auch theoretisch unklug, wie Dennett den anderen einen unbewussten Glauben zu unterstellen, weil man sich dadurch des Gesprächspartners beraubt und just dem Solipsismus erliegt, den der Abschied von der Introspektion besiegen sollte.

Schließlich sollte man nicht außer acht lassen, dass die Jedermannsrede vom – endlich! – »unverkürzten« Naturalismus nicht nur irreführend, sondern auch hybrid ist. Jede Theorie verkürzt – im Horizont der Folgetheorien, in denen die Mittel, sie zu kritisieren, bereitgestellt werden. Daher folgt völlig selbstverständlich auf jeden mit Propagandagetöse vorgestellten unverkürzten Naturalismus der unverkürztere. Was denn sonst? Nichts Billigeres als der Standardeinwand gegen eine missliebige Theorie, sie verkürze die Sachverhalte. Die durch keine Phänomenologen‑Indifferenz einzuebnende Differenz zwischen Theorien und ihren Gegenständen bürgt dafür, dass dem Denken stets die Möglichkeit eines neuen, genaueren, differenzierteren Zugriffs offensteht. Unverkürzt wäre nur der Gegenstand. Die Hybris liegt darin, zu unterstellen, man behebe nicht diese oder jene Verkürzung, sondern die Verkürzung an sich. Der unverkürzte Naturalismus wäre nicht nur der definitive, er wäre auch der definitive Sieg des Naturalismus.

 

11.

Dass Gedanken zerlegbar sind, dass sie sich in unabsehbare Zusammenhänge zerlegen, sofern sie nur als bestimmte Gedanken der Reflexion offenstehen – dieser einfache, aber folgenreiche Gedanke der Reflexionstopologie verleiht jedem Gedanken, unabhängig vom Grad seiner Bestimmtheit, eine gewisse – und mit Gewissheit zu erwartende – Unbestimmtheit. Bestimmtheit, so ließe sich paraphrasieren, ist nur innerhalb offener Bestimmungsprozesse zu denken, und da letztere den guten Teil dessen ausmachen, was man gemeinhin »Denken« zu nennen pflegt, lässt sich die Zerlegbarkeit von Gedanken als Ausdruck der Differenz von Gedanke und Denken deuten. Sofern man es genau nimmt, müßte man allerdings wissen, um welche Art von Differenz es sich dabei handelt. Da sowohl »Bestimmtheit« als auch »Bestimmbarkeit« Attribute des Gedankens sind, steht jedenfalls dieses Begriffspaar, will man die Differenz zwischen Gedanke und Denken bezeichnen, nicht zur Verfügung. Nichtsdestoweniger ist es die Bestimmbarkeit von Gedanken, die dazu anregt, zwischen ihnen und dem Denken überhaupt zu unterscheiden. Da in dieser Relation auf seiten des Denkens nichts Bestimmtes zu stehen scheint, wirkt der Terminus ›Differenz‹ eher unangebracht: Es fehlt an Bezugsgrößen, die beide zueinander in ein bestimmtes Verhältnis setzen. Wer immer versucht, »das Denken zu denken« beziehungsweise in seinen invarianten »Strukturen« zu entwickeln, ohne sich darin durch naturalistische Vorentscheidungen beirren zu lassen, steht alsbald vor der Notwendigkeit, solche Bezugsgrößen zu entwerfen. »Es müssen Grundbegriffe und Operationen exponiert werden, die geeignet sind, allgemein die innere Beziehung der reinen Formen auf den Prozeß der Erfahrung nicht nur zu statuieren, sondern als deren logische Qualität auszulegen.«

Das systematische Denken beginnt, sobald sich einer dazu entschließt. Es macht sich bemerkbar: Wer eben noch damit beschäftigt war, sich auf dem Feld warmherziger Hypothesen über den biologischen Zweck unseres Denkapparates aufzuklären und gedankenverloren allerlei Simplified Versions mit Gummirädern und Greifarmen auszurüsten, um erste Schritte zu proben, sieht sich plötzlich dem Vorhaben konfrontiert, den Zusammenhang der Erkenntnismittel – der »reinen Formen« – so zu entfalten, dass ihre gegenstandserschließende Funktion und ihre »logische« Beschaffenheit ineins fallen. Mit der Aufgabe meldet sich die eben noch totgesagte Sprache der idealistischen Philosophie zurück. Es wäre ein hegelisierendes Programm, wenn es nicht die gezielte Destruktion Hegelscher Positionen enthielte. Doch gleitet die Polemik gegen den Gedanken der Selbstbewegung des Begriffs und der Aufhebung jeder Bestimmtheit im Absoluten nicht in philosophische Vergangenheitsbewältigung ab. Ihr Zweck ist auch für ungeübte Leser nicht zu verkennen: sie dient dazu, dem Systemgedanken eine neue Bewegungsart und eine neue Verfassung zu erschließen.

In diese Verfassung ist mancherlei integriert, was andernorts dazu benützt wird, den Systemgedanken als unhaltbar zu verwerfen. Unter den »Forderungen der Gegenwart«, wie sie der Philosoph buchstabiert, steht die Forderung nach Anerkennung der welterschließenden Rolle der »modernen« Wissenschaften unabhängig von ihrer fundamentalphilosophischen Deutung an oberster Stelle. Damit teilt er eine Überzeugung so unterschiedlicher Schulen wie des Neukantianismus, des logischen Positivismus und der analytischen Philosophie, nicht ohne gegen die letzteren anzumerken, erst eine transzendentale Theorie des Denkens erlaube es, die Dynamik der empirischen Wissenschaften zu denken und nicht nur zu konstatieren. Falls es eine Art anonymes Lastenheft der Moderne gibt, in dem penibel verzeichnet steht, welche Parameter philosophische Entwürfe enthalten müssen, dann gehört Marx zu denen, die das Glück der Ausführung zu schätzen wissen.

Philosophische Probleme sind leidige Probleme. Jeder Vorstoß auf vermeintliches Neuland zieht den altbekannten Rattenschwanz von Standardargumenten und vor allem ‑einwänden hinter sich her. Das Unterfangen, die Dynamik der Denkbewegung auf »sichere Grundlagen« zu stellen, ohne sie an dem einen oder anderen Systempunkt stillzustellen, macht da keine Ausnahme. Wer Dynamik zu denken unternimmt, sieht sich rasch von ihr überrollt. Der Transzendentalismus als der traditionelle dritte Weg zwischen Realismus und Idealismus lässt sich um so leichter übergehen, als weder die pfiffige Omnipräsenz der Kant‑Exegeten noch gelegentliche schüchterne Wiederbelebungsversuche am Leichnam des Neukantianismus für sich genommen jene Art von Attraktivität besitzen, mit der sich die Reichen und Schönen, welche die internationalen Gewässer des Leicht‑, Tief‑ und Flachsinns furchen, identifizieren könnten. Der Transzendentalismus erinnert an eine Hinkfigur: mit einem Bein im Gleichschritt der Zeitgenossen, ist er mit dem anderen an eine Kanonenkugel gefesselt, die, so plaziert, keinem Spatzen mehr Respekt oder gar Furcht einjagen kann.

Dieses arglos und tückisch in der Sonne liegende Hemmnis ist nicht, wie eine Legende es will, die Dunkelheit, sprich: mangelnde begriffliche Transparenz der Kantischen Kritiken, sondern das kantische Apriori, genauer gesagt das Apriori mit oder ohne Kant, das frei erwogene Apriori. Die Formel, mittels derer Marx ihm opfert – und sich vom originalen Kant verabschiedet –, heißt ›topologische Verschiebung‹. »Alle Gedanken«, schreibt er, »können als Formen und als Inhalte fungieren; sie fallen in sich, aber ohne bestimmten Momentgrund, auseinander in diese Seiten, je nachdem in welche Stellung sie topologisch verschoben werden.« Die Behauptung steckt in der Formel ›ohne bestimmten Momentgrund‹. Sie besagt, daß zwischen Formen und Inhalten keine Vermittlung denkbar ist und auch gar nicht sein darf, wenn Vermittlung überhaupt denkbar sein soll. »Die beiden Stellungen von Gedanken oder die Seiten des Gedankens sind in keiner Vermittlung auszugleichen oder gar aufzuheben. Grund‑ bzw. vermittlungslos sind sie wesentlich in ihnen, sofern es deren Wesen ist, Form und Inhalt in einem zu sein. Es liegt in ihnen eine durch kontinuierliche Bewegung oder Differenzierung zwar anfüllbare, aber letztlich unüberbrückbare Distanz; sie sind Einheiten der grundlosen topologischen Verschiebungen von Ort zu Ort, von Seite zu Seite.«

So ist jeder Gedanke, formal betrachtet, unendlich differenzierbar, inhaltlich gesehen der Ausdruck eines Soseins: »Nie erreichen sich Form und Inhalt im Gedanken; diese Dichotomie setzt sich unendlich fort: neue Gedanken (Inhalte) entstehen in der Form des differenzierten Gedankens (Inhalt) und setzen als solche die formale Struktur fort. Diese innere Dynamik ist aber nur als Entsprechung zur Möglichkeit der topologischen Verschiebung von Gedanken in der leeren Distanz ihrer Funktionen – als Formen und als Inhalte – anzusehen.«

Dieses ›nur‹ verdient die gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers. In ihm bezeugt sich die logische Phantasie, die in der Reflexionstopologie am Werk ist und den Begriff der Distanz als absoluter, in sich nicht mehr vermittelter Differenz immer dann heranzieht, wenn es gilt, die unterschiedlichen Dimensionen des Denkens auseinanderzuhalten und so jene Aporien zu vermeiden, die sich zwangsläufig einstellen, wenn die Reflexion auf Grundbegriffe diese »in Objektstellung« bringt und sich selbst als gegenständliche Analyse missversteht. Auf einer gewissen Ebene des Sprechens und Behauptens heißt das: Denken geschieht in der und durch das Herstellen von Distanz. Kontinuität schließt Distanz und damit Diskontinuität ein. In der Distanz des Denkens zu allem Gedachten setzt das Denken das Andere, dessen Kern kein Gedanke ist. »Alle Begriffe sind transzendentale.« Mit dieser Bestimmung setzt es sich selbst als Idee: »Die Entfernung des Denkens von und zu allem Gedachten, die sich, wann immer es sich die bloße Wiederholung von schon entwickelten Bestimmtheiten versagt und ihren Ursprung als den in ihnen vergessenen erinnert und als den eigenen entdeckt, in einer fixen Bestimmtheit nicht fassen lässt, wenn ihre Funktion, die Fiktionen an allen oder in allen Bestimmtheiten zu beseitigen, d.h. aber den Schein der unmittelbaren Einheit von Bestimmtheit und Grenze oder Kern zu beheben, erhalten bleiben soll, ist die Idee des Denkens.«

 

12.

Das Zitat vermittelt einen Eindruck des beharrlichen Minimalismus, der in den Marxschen Schriften am Werk ist und nur eine Weise, auf Überzeugungen oder punktuelle Entwürfe einzugehen, gelten lässt: die langsam vorrückende Bemühung, sie aus ihrer Singularität zu erlösen und dem Gang der Untersuchung einzuverleiben, – die Arbeit des Begriffs als einzig akzeptierte Form der Erlösung. Was nicht heißen soll, dass er ihnen unterschiedslos eine fiktive, zur umfassenden Fürsorge degenerierte Gerechtigkeit angedeihen ließe. Ob die Nonsenskomponente des jeweiligen Gedankens stillschweigend revidiert wird oder dazu herhalten muss, Hohn und Spott auf ihn herabzuträufeln, das entscheidet sich anhand der Stellung, die ihm innerhalb der jeweiligen Gedankenkette zugewiesen wurde.

Wie jedes andere produziert auch dieses Verfahren Pointen für Insider. So entdeckt ein aufmerksamer Leser in der Reflexionstopologie gleich zwei Antworten auf die kitzlige Frage, ob der Aphorismus wohl zu den ernstzunehmenden Erzeugnissen des menschlichen Geistes zu zählen sei: eine verneinende und eine bejahende. Die Verneinung fällt drastisch aus, was nicht weiter verwundert, da der Aphorismus die fortschreitende Gedankenentwicklung, in der sich das Denken als Denken konstituiert, per definitionem verweigert: »Dem Denken obliegt es, Zusammenhänge und Formen von Zusammenhängen als den Gedanken genuin zu erweisen; so hat es sich gezwungen, von der Form des Aphorismus, das eiliges, unfähiges ›Denken‹ aus Angst vor dem Widerspruch und zumeist in tiefem Unverständnis über ihn ist, ... sich zu verabschieden.«

Das klingt objektiv, weil es die Systemform entwickeln hilft, in der es gesagt wird, und weil es eine aus der Geschichte der Denkformen vertraute Entwicklung rekapituliert. So groß ist unser Vertrauen in das Schema »Entwicklung«, dass kaum jemand seine Zustimmung zurückhält, sobald es sich mit einem an sich plausiblen Gedanken verbindet. Manche freilich haben den Abschied des Denkens von seinen rudimentären Frühformen verpaßt: »Nicht zufällig haben die Popularphilosophen, wenn sie sich nicht interpretierend an fremde Tische setzten, ... oft die Insuffizienz zu denken zu überspielen versucht, indem sie die galante, überall wohlfeile und nach fast allen Seiten zu wendende, unverbindliche Kurzform des Gedankens wählten.«

Ist das gerecht? Offensichtlich nicht, denn Aphorismen sind auch Abbreviaturen, mit deren Hilfe Resultate eines überaus differenzierten Denkens in neue Felder verpflanzt werden können, um dort ihre zerstörerische oder heilsame, auf jeden Fall produktive Wirkung zu entfalten. Ein guter Aphorismus leistet vielleicht keine Arbeit, aber er sagt, was zu tun ist oder zu tun wäre und also zu tun bleibt. Auf der Höhe seiner Möglichkeiten kehrt das Denken zum Aphorismus zurück, weil es anders nicht in der Lage wäre, Einsichten zu bündeln. Wer es nicht glauben mag, lese die Schulphilosophen der Wolffschen Ära – in ihnen findet er die unglaubliche Ödnis eines nur zusammenhängenden und sich allseits gleichmäßig entfaltenden Denkens. Und sage niemand, das liege an den historisch gewordenen Inhalten. Ein »Aphoristiker« wie Lessing gewinnt sie umstandslos dem genießbaren Denken zurück.

Allerdings steht es jedermann frei, sich darüber zu wundern, wie vieles zu jeder Zeit in systematischer Hinsicht zu tun bleibt. Es gibt Ränder, an denen alle, die reinen Herzens sind, zu Aphoristikern werden. Schließlich findet der spekulative Gedanke selbst den Zusammenhang des Erdachten letzten Endes in »ganz formalen Invarianten« und verhilft so dem Aphorismus zu einer unverhofften Ehrenrettung: »das Denken scheint sich letztlich doch so zu parzellieren, wie es im Aphorismus seinen reinen Ausdruck findet.«

Was für das Denken gilt, das gilt in analoger Weise für das ausheckende Bewusstsein. Punktuelle, augenblicksverhaftete Bewußtheit schafft keine Zusammenhänge und bleibt unfähig, Zusammenhänge zu erfassen. Bewusstsein ist die permanente Distanzierung von Bewußtheit durch den »Bezug in die Ferne – durch Raum und Zeit ... Die Nähe der Ferne ist das Bewusstsein, und sonst nichts.« Das ist gegen die Bestimmung der Aura als einmalige »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« geschrieben. Die Polemik ist ganz still, ganz selbstbezüglich, ganz selbstvergessen: einer der Momente, in denen ein Abwehrreflex unversehens die ungeschützte Innenseite eines Gedankens bloßlegt. Die Nähe der Ferne ist das Bewusstsein; sie wäre es auch dann, wenn Ludwig Klages mit seiner Vermutung recht gehabt hätte, es handle sich dabei, diesseits von Geist und Verstand, um das in den Falten des Bewusstseins verborgene, sich im Erlebnis offenbarende Geheimnis des Lebendigen. Nichts, so der Gedanke, nichts gewinnt der Einfall, einen Gegenstand oder eine gegenständlich induzierte Stimmungslage in dieser Weise auszuzeichnen, dem Denken hinzu, als den irrtümlichen Glauben, es habe damit etwas Besonderes auf sich – einen wohlfeilen Glauben, in dem sich die unmittelbare Ergriffenheit spiegelt.

Auch bei Marx, so kann man folgern, täuscht sich also das Bewusstsein über sich selbst. Es täuscht sich erstens, weil es im auratischen Erlebnis einen Gegenstand grundlos aus der Reihe grundsätzlich gleichartiger Objekte heraushebt und isoliert und damit zu einem ganz besonderen Gegenstand umformt, während es doch, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, darin nur seiner allgemeinsten parzellierenden und singularisierenden Tendenz gehorcht. Es täuscht sich zweitens, weil die fortlaufende Tätigkeit des Bewusstseins, die in der Herstellung und Transgression von Erlebnissen besteht, ihr eigenes Werk ununterbrochen stört und aufhebt. Was als Aura erscheint, ist die Gestimmtheit des Bewusstseins, sich selbst, i.e. seine Leistung anzustaunen, als gebe es in und an den Gegenständen etwas, das sie umschließt und separiert, ohne an ihnen selbst als separat zu erscheinen.

Man kann das zugeben, ohne programmatische Schlüsse daraus zu ziehen. Eine Illusion durchschauen heißt nicht unbedingt, sie zu zerstreuen. Die Illusion, die dieser Begriff der Aura verbirgt, ist schlechterdings nicht zu zerstreuen. Sie zerstreut sich selbst, so wie sie sich bildet, weil sie zu einer flüchtigen Erscheinung gehört und weil sie dem Schein, der in jeder Erscheinung liegt, so eng verschwistert ist, dass sie bei jedem passenden Anlaß wieder auflebt. Auch hier waltet Selektion: Aura verlangt gehobene Anlässe, so wie nur der gute Aphorismus als solcher durchgeht. Die Seltenheit des Ereignisses impliziert bereits eine wertende Einstellung: die Schliche des Bewusstseins liegen der schönsten Aufklärung voraus und überdauern sie ohne Einbuße.

Was der Aphorismus dem Denken, das ist die auratische Wahrnehmung dem Bewusstsein. Dieser bei Marx unausgesprochen bleibende Gedanke folgt einigermaßen sinnfällig aus der Verschränktheit beider Perspektiven. Gäbe es nur einen raumzeitlich sich fortwälzenden Bewusstseinsstrom, so bliebe die Leistung des Bewusstseins, das zeitlich und räumlich Entfernte einzubeziehen und im gelebten Augenblick zu verbinden, eine bedenkliche Zugabe, und Theoretiker wie Dennett hätten jedes Recht, ihre fröhliche Gespensterjagd zu veranstalten. Erst ein ausgreifendes Bewusstsein, das sich zum räumlichen und zeitlichen Kontinuum explizit und konkret ins Verhältnis setzt, ermöglicht ein Denken, das den Gedankenblitz, den momentanen Einfall in gegliederte Verhältnisse überführt, während es ohne ihn gar nicht in Gang käme.

Es verlangt eine Phantasieleistung abseits dessen, was man ihr gemeinhin zutraut, ein solches Bewusstsein als bloße Funktion biologischer Abläufe oder Funktionen konstruieren zu wollen. Wäre das Bewusstsein eine Art Software, dazu bestimmt, auf der physiologischen Hardware, die wir Gehirn nennen, zu »laufen«, so bliebe entweder die Frage nach der entwerfenden Intelligenz (die auf den, wie der Fachmann weiß, in entscheidenden Punkten leeren Namen der Evolution getauft ist) oder das Problem der Determination: Computer sind Maschinen, die so konstruiert sind, dass sie unter – bereits entwickelten oder noch zu entwickelnden – Programmen antizipierbar funktionieren.

Es ist ein immerhin rührender Gedanke, die Evolution habe das menschliche Gehirn so geschickt erwürfelt, dass das, was wir Bewusstsein nennen, aus dem Zusammenwirken seiner Elemente ungefähr so entspringt wie ein jugendlicher Ausbrecher der Institution – Heim, Schule, Elternhaus –, die ihn zu seinem Unglück vorherbestimmt hat. Die konstruktivistische Bewusstseinstheorie leistet sich den Luxus, zwei Gaben vom Evolutionshimmel fallen zu lassen, die anschließend höchst wundersam – oder mehr recht als schlecht – zusammenpassen: das biologische Gehirn und das Bewusstsein. Wie der Zufall so spielt, lässt der Meister des Bewusstseins der Meisterin des Gehirns den Vortritt: Seit das Bewusstsein seine ersten zaghaften Experimente unternahm, soll, wie man hört, das Gehirn sich in seinem technischen Aufbau nicht mehr nennenswert verändert haben. Den Laien wundert das, da durch die Spezifikation der Anforderungen des Programmierers der Druck, leistungsfähigere Geräte zu entwerfen, beträchtlich zugenommen haben müßte. Andererseits steigert es seine Hochachtung vor den entfernteren Nachkommen ins Unermessliche. Sie werden, vermutet er, nicht nur über das modernere biologische Gerät, sondern auch über ganz neue Programme verfügen. Angesichts deren schierer Möglichkeit läuft ihm jetzt schon das Wasser im Munde zusammen, was aber eine eher atavistische Regung darstellt. Ein kleiner Blick ins Silicon Valley der Evolution, findet er, sollte ihm schon vergönnt sein.

Wie immer der Versuch, die Annahme einer zweiten Evolution – der des Bewusstseins – neben der ersten, biologischen, im Wissenschaftsgefüge zu etablieren, ausgehen wird, es bleibt der eigentümliche Ehrgeiz, zu verlangen, man müsse das Bewusstsein von außen beschreiben, mit Hilfe von Methoden, die an nicht‑mentalen Gegenständen hinreichend erprobt wurden, um das Etikett ›objektiv‹ zu verdienen, unter Verwendung einer Terminologie, die gegenüber den eigentlichen Bewusstseinsphänomenen weitgehend wasserfest erscheint. Letztere ist wichtig, schließlich gebührt ihr das Nebenverdienst, die verketzerte Introspektion und ihre Resultate aus dem Kreis der ernsthaft zu erwägenden Dinge auszuschließen. Nun mögen zwar die Resultate der Introspektion vernachlässigbar sein, nicht aber ist es ihre Möglichkeit, genauer gesagt, das Faktum der Introspektion, ohne das vom Bewusstsein überhaupt keine Rede sein kann.

Andererseits ist Introspektion ein großes und, wie so manches Große, ziemlich missverständliches Wort. Alle Selbstbeobachtung krankt an dem Umstand, dass sie »wie von selbst« an ihrem Selbst abgleitet, um sich mit allem Möglichen zu beschäftigen, mit Wahrnehmungen und Gefühlen ebenso wie mit Schlussformen und religiösen Überzeugungen. Nur die Art der Beschäftigung setzt diese in Distanz, so dass »wie von selbst« nicht bestimmte Wahrnehmungen, das Lehrbuchwissen der Logik oder eine religiöse Dogmatik zu Gegenständen des Nachdenkens werden, sondern unspezifische (obwohl auf ihre Weise ebenfalls spezifische) Einstellungen, Bezugsweisen und die zwischen diesen wiederum herrschenden Zusammenhänge. So geht die Selbstwahrnehmung ebenso beharrlich oder zwanghaft in ein Denken über, das Schlüsse zieht, auf Voraussetzungen achtet, seine Begrifflichkeit klärt, kurz, alle mentalen Operationen in sich vereint, die mit bloßer primärer Wahrnehmung unvereinbar erscheinen, ohne den Wahrnehmungaspekt deshalb im mindesten preiszugeben. Wenn es daher so etwas wie Introspektion gibt – und niemand, der recht bei Trost ist, dürfte daran zweifeln –, dann ist sie weder eine Methode noch ihr geistloses Gegenteil, sondern eine schweifende Untersuchungsart, in der die verschiedenen Bewusstseinstätigkeiten und ihre Einheit thematisch sind, ohne dass sie im Zuge ebenso ausgreifender wie kurzschlüssiger Erklärungen auf anderes zurückgeführt würden.

Diese aber, einmal als das durchschaut, was sie ist, nämlich als eine durch keine starre »Epoché« fixierte oder fixierbare Weise, die Dinge so zu sehen, dass immer wieder die organisierende Funktion »in den Blick« gerät, die das Bewusstsein wie selbstverständlich aus dem Umgang mit ihnen herausfiltert, weil es so und nicht anders objektiviert, – diese Untersuchungsart legt zwangsläufig den Gedanken nahe, es könne, nach der ersten und zweiten, so etwas wie eine dritte Evolutionsart geben: die Entfaltung der Strukturen, in denen das Bewusstsein dem Denken in ebendem Umfang Raum gibt, in dem es an sich selbst die gliedernde Gewalt von Zeit, Raum, Körperlichkeit erfährt.

Gegenüber den anderen beiden ist diese ein wenig im Nachteil, das Ei des Kolumbus bleibt in ihr unauffindbar, da der Ursprung des Bewusstseins hier ebenso dunkel erscheint wie der Jüngste Tag, an dem die Trompeten des großen Softwareherstellers den nächsten Systemwechsel ankündigen. Dieses Dunkel ist ihr sogar lieb und teuer; in ihm findet sie den Grund der Tätigkeit des Bewusstseins. Wäre das Bewusstsein in all seinen Binnenbeziehungen klar und durchsichtig, so wäre es nicht die gleichmäßig auf alle Gegenstände sich richtende aufhellende Instanz, sondern eine selbstbezügliche Fratze, deren Träger durch das ausgesperrte Dunkel trottete, ohne dass ihm der schmale Strahl einer Taschenlampe auch nur die flüchtige Ahnung eines Wegs vermittelte. Die aufscheinende Aura, der Schleier des Phantasmas, den der erste Gedanke über die Gegenstände der Wahrnehmung legt, lässt den Anfang des Bewusstseins im Dunkel versinken, der ohne sie flächig und indifferent, man könnte auch sagen: nicht vorhanden wäre.

 

13.

Wie immer man die Dinge dreht und wendet: es gehört zu den abgründigen Fragen des Denkens, wie wohl »das Bewusstsein« und »der physische Organismus« miteinander kommunizieren. Auf den ersten Blick erscheint daran gar nichts fraglich: die von den Sinnen erhobenen »Daten« sind im Bewusstsein unmittelbar »gegeben«, der Hunger »meldet sich«, sobald es physiologisch an der Zeit ist, desgleichen der Schmerz als Träger nicht immer leicht zu entschlüsselnder Botschaften des Körpers an seine Psyche – und an keine andere, was bedenkenswert genug ist. Die physische Welt – der eigene Körper eingeschlossen – steht dem Bewusstsein weit offen, so wie es umgekehrt weiß – oder lernt –, wie es auf sie einwirken kann.

Wenn es eine Instanz gibt, die nichts weiter ist als Kommunikation – und zwar mit der Welt, die nicht Gedanke und nicht Bewusstsein ist –, dann das Bewusstsein. Nichts weiter, weil wir die materiellen Prozesse, auf denen es aufruht, gerade nicht als einen Teil des Bewusstseins oder gar als sein »Substrat« anzuerkennen bereit sind, solange uns kein Anfall von Erklärungssucht auf Abwege führt. Andererseits weiß es – in der Weise eines mehr oder weniger unmittelbaren Innehabens – nur eben das Nötigste, um sich auf recht oberflächliche Weise als Herr über seine Organe aufzuspielen. Bei dieser Vorstellung wenigstens pflegt der Naturalismus mit Vorliebe zu verweilen, obwohl sich entgegnen ließe, dass alles mühsam erworbene physikalische und physiologische Wissen um die organischen Unter‑ und Hintergründe schließlich ebenfalls auf die Habenseite des Bewusstseins gehört, das als quasi‑naturale Instanz immer ein wenig nackt und unbedarft dasteht und sich angesichts seiner gelehrten Vettern und Basen in ihren avancierten Weisheiten kaum zu benehmen versteht und, wer weiß, vielleicht sogar schämt.

Schon Schiller wusste allerdings, dass diese Scham den Wilden über den Vertreter der Zivilisation erhebt, weil sie auf etwas hindeutet, was diesem fehlt. Letzterer, so der Dichter, hat gelernt, sein wirkliches Wesen vor seinesgleichen zu verbergen, und zwar derart gründlich, dass es ihm selbst abhanden gekommen ist, da es als bloß Innerliches seine Wirkung nur indirekt mittels höchst subtiler und ernsthafter Gedankenspiele üben kann. Während sich also der Wilde vor den anderen schämt – wofern er es nicht vorzieht, schamlos glücklich er selbst zu sein –, schämt sich das zivilisierte Bewusstsein angesichts dieses anderen vor sich selbst. Es will sich nicht wahrhaben, es will zurück. Wohin zurück, das entzieht sich weitgehend seiner Kenntnis. Allerdings glauben die anderen zu wissen, dass es dorthin möchte, wo es primär und ursprünglich zugeht und noch nicht mit dem System der indirekten Zwecke und der mit ihm verbundenen Heuchelei zu rechnen ist, das dem redlichen Saft seine redliche Wirkung verweigert. Aber (es tut gut, die Klassiker zu lesen!) Schiller glaubt nicht an diese Rückkehr, Bewusstsein bleibt Bewusstsein, Wissen bleibt Wissen, und alles, was wir wissen, geht ein in die Konstitution des Bewusstseins, wird Strukturmoment des Bewusstseins und lässt sich weder mit dem Skalpell noch mit Occams Rasiermesser daraus entfernen.

Weiß das Bewusstsein oder weiß es nicht? Falls nicht, woher wissen wir...? Wirft es uns in der Erkenntnis unserer Intelligenz wirklich um Lichtjahre zurück (und auf das Trockene einer Theorie, die mittels Statistik die ausgeschlossene Innensicht nachträglich wieder in den Gang der Untersuchung einfügt), wenn wir erfahren, dass das menschliche Bewusstsein, wie Experimente nahelegen, die Zeitfolge von Sinneswahrnehmungen quasi-automatisch umgruppiert, sofern dies in der Sache einleuchtet? Dass es sich also felsenfest an Datenreihen zu erinnern vermag, die so niemals »übermittelt« wurden, ohne dass ein Ich die Umgruppierung willentlich, etwa durch »Entlarvung« oder »bewusste« Zensur, in die Hand nimmt? Doch nur dann, wenn die Rede vom Bewusstseinsstrom jeden Sinn dafür verdunkelt, dass jene ursprüngliche Gliederung, welche die Zeit dem Bewusstsein antut, von Anfang an, das heißt grundlos, durch das Bewusstsein in Richtung auf logische und damit auch sachhaltige Gliederungen interpretierend überschritten wird, in denen sich ihm eine Welt erschließt, die auf der bloßen Zeitschiene, im Blitzlichtgewitter der Impressionen, überhaupt nicht vorhanden ist.

Was die naturalistische Theorie des Bewusstseins »selektive Wahrnehmung« nennt, teilt mit der biologischen Selektion, der das Bewusstsein seine Entstehung »verdankt«, nur das Wort. Dass sie wirklich »unbewusst«, ohne Einmischung eines von allen Seiten angefeindeten Ich vonstatten gehen soll, verwundert insofern, als dieses als angeblich deklarierte Ich ohnehin in seinem Herkommen unerklärlich, in seinen Funktionen ungewiss und in seiner Existenz fraglich geheißen wird. Wenn man das Ich prinzipiell als dunkel, wenn man seine selbstbezügliche Struktur aus logischen und empirischen Gründen als wesentlich unfixierbar erachtet, dann sollte man wenigstens die Dunkelheit von Prozessen, in denen das Bewusstsein zweifellos eine Rolle spielt, nicht als zusätzliches Argument gegen seine eingreifende Aktivität ins Feld führen. Sollte aber dort, wo bereits minimale Bewusstseins-elemente im Spiel sind, auch ein rudimentäres Selbstbewusstsein (das ja kein nachträgliches Implantat sein soll) in Funktion treten, dann mögen die Ergebnisse von Selektion, ergänzender Wahrnehmung und umschichtender Erinnerung für unser biologisches Erbe sprechen – woran würden wir es sonst erkennen? –, keineswegs aber tritt in ihnen das Bewusstsein als bloße Funktion von Prozessen in Erscheinung, die selbst nicht Bewusstsein genannt werden dürfen. Ein Bewusstsein ohne Ich ist nicht nur eine Flasche ohne Inhalt, sondern eine Flasche in einer Welt, in der niemand da ist, der mit einer Flasche umzugehen wüsste.

 

14.

Das Befremdliche des Bewusstseins besteht nicht darin, dass es sich naturalistischen Auslegungen verweigert, sondern dass es so und nicht anders existiert. Die Frage lautet daher, ob sich Theorien finden lassen, die diese Befremdlichkeit aufnehmen und sich an ihr steigern, so dass am Ende nicht irgendeine dürftige oder närrische Zweckerklärung herauskommt, eines der Schlupflöcher, durch die der Realismus nach Belieben ein‑ und auszieht, auf dass des gemütlichen Betatschens kein Ende werde. In dieser Hinsicht sind die ersten zweihundert Seiten der Bewusstseins‑Welten einer der befremdlichsten Texte der Philosophie zu nennen. Die Aufgabe, der sich das reflektierende Bewusstsein dort verschreibt, ist die Durchdringung der Opakheit des unmittelbaren Weltbezugs, insofern das Bewusstsein ihm bereits entfremdet ist, wann immer es seine Welt zu ordnen beginnt, und ihm daher als dem in ihm liegenden Fremden begegnet. Der intellektuellen Durchdringung kommt die Entfaltung der Strukturmomente im Bewusstsein teils entgegen, teils zuvor.

Durch das Setzen von Distanz entgeht das Bewusstsein überall der Unmittelbarkeit, ohne sie deshalb – außer in einem sentimentalischen Sinn – zu verlieren. Die Theorie des Bewusstseins gebraucht ihrerseits den unausgesetzten Bezug auf sie als Vehikel – i. e. als »Idee« – der eigenen Fortbewegung. Dennoch bleiben die reflektierende Erschließung des Bewusstseins und die Genese dieses Bewusstseins getrennte Größen. Stets ist von beiden Seiten mehr im Spiel als der alleinige Stand der Entwicklung. Daran mag es auch liegen, dass der geneigte Leser am Duktus der Untersuchung ein Gegenstück zur Alterslosigkeit des Proustschen Erzählens zu erkennen glaubt. In der Unbedarftheit des analysierten Bewusstseins findet sich die kategoriale Reife – sprich Differenziertheit – des analytischen Bewusstseins ebenso wieder wie seine anfängliche Lust auf Neues und bislang Unerschlossenes: die Welt des Geistes liegt in ihr verschlossen zutage wie beim ersten Kontakt.

Was an der Entfaltung des Bewusstseins notwendig ist oder sein kann, hat mit Logik insofern zu tun, als es bereits in seiner rudimentären Verfassung unter dem Zwang stehend gedacht wird, mit der Ausbildung elementarer Kategorien wie Zeit und Raum Strukturen zu entwickeln, in denen sich etwas wie Denken, wenn auch zunächst in seinen krudesten Bestimmungen, zu regen beginnt. Die nötigende Instanz des Bewusstseins ist die Zeit, nicht die reine Zeit, die unter dem Dach des unmittelbaren Weltbezugs nicht begriffen werden kann, sondern die dreidimensional gegliederte, die vermöge der Kopräsenz ihrer Dimensionen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – im Jetztpunkt »kontrahiert« ist. »In ihm sind – streng genommen – alle Augenblicke, da sie nicht in der Zeit Abstand voneinander haben, da die Zeit nicht in der Zeit ist bzw. verläuft, kopräsent; und diese Kopräsenz ist der Raum als das gleichgültige Zusammen aller ›Punkte‹, die sich unendlich abstandslos alle in Einem berühren, so die Weite des Raums als die des Augenblicks gewähren lassen.« Raum und Zeit setzen (als gedachte) wiederum Distanz voraus: heterogene Distanzen diesmal im Unterschied zur unaffizierten Distanz, die in allen Gedankenverhältnissen anzutreffen ist.

Dass Bewusstsein kein Jungfernhäutchen ist, durch das man nach Gusto zur Funktionalität der physikalischen Welt‑Dinge vorstoßen könnte, wird kaum irgendwo so deutlich wie auf dem Feld der Spekulation über Raum und Zeit. Zugleich ist kaum irgendwo die physikalische Dimension von Bewusstseinstheorie greifbarer: nicht im Sinne der vergeblichen Reduktion von Bewusstsein auf Physis, sondern in der erfolgreichen Verknüpfung mit physikalischer Theorie. Dafür finden sich Beispiele. »Wenn das Hervorgehen der Gliederung, d.i. letztlich die Dimensionierung von Raum und Zeit in ihrer heterogenen Distanz und so den heterogenen Distanzen gründet und dies so, dass diese ihrerseits unselbständig sind, den Grund ihrer Möglichkeit in jener haben, dann ist es klar, dass zwar nicht die Zeit, wohl aber Zeit als zur Dimension gegliederte Verlaufszeit ist; das aber bedeutet, dass diese formal immer sich gleich bleibt – ›ewiger‹ Ablauf im Nacheinander und und unaufhörliche Verschiebung in immer offene Zukunft –, insofern sie aber im Verlaufenden gründet, von diesem auch qualitativ abhängt. So erklärt sich die Dilation der Zeit: Von den Distanzen, ihrem Verhältnis im Raum zueinander und von ihrer für das Maß ihres Aufbaus und im Aufbaukontext aller Distanzen konstitutiven Bewegung bzw. Bewegungsenergie hängt die je konkrete Zeitgliederung ab.«

Die Ausbildung eines über das augenblickliche Gesichtsfeld, von einem geschichtlichen Zeitpunkt an über die eigene Gattung und den kosmischen Ort ihres Bestehens hinausreichenden Zeit‑Raum‑Bewusstseins ist eine Evolution im Denken, mit Mitteln des Denkens, auf seinen eigenen Wegen. Das ist keine sehr revolutionäre Erkenntnis, aber die Langeweile, die sie erzeugt, unterscheidet sich nicht substantiell von der Langeweile des allmorgendlichen Aufstehens, Duschens, Ankleidens und so fort – wer sie fürchtet, darf auch einmal im Bett bleiben, ohne Hoffnung, ihr dadurch dauerhaft zu entgehen. Nebenher ruft der Vergleich ins Gedächtnis, dass die dynamische Entfaltung des Denkens in einem messbaren Raum und einer messbaren Zeit neben den Produkten des Geistes auch gleichbleibend schlichter Inzitamente bedarf. Die Theorie spart diesen Aspekt nicht aus. Im Gegenteil, ihr ist der Gedanke geläufig, dass allen Facetten des ausgebildeten Weltbewusstseins spontane Abschiede eingeprägt sind. Das unentfaltete Bewusstsein liegt jenem nicht ein für allemal voraus, sondern entlässt aus sich noch den geringsten aller Aufbrüche.

Dass, glaubt man dem Denker, es dabei wenig lustvoll zugeht, liegt auch an den angeführten Beispielen: der momentane Schmerz, das plötzliche Erschrecken sind überzeugende Gliederungsreize, zu denen sich absichtsvoll die »reine« Trauer des Bewusstseins über das unwiederbringlich Vergangene hinzugesellt, in der sich seine Zeit als der Grund seiner Selbst‑ und Fremdbeziehung manifestiert. Hier wirkt die alte Klage über die Entfremdung der Seele von sich selbst in der rational durchdrungenen Welt nach, die Marx noch in der Ironie konserviert. Demgegenüber fallen Beispiele wie die überraschende Erektion oder der erregende Zufallsfund unmittelbar ab. Doch sollte man neben der unablegbaren Trauer das tiefe Gefühl des Einverstandenseins und der Erleichterung, das mit dem Erwachen des Bewusstseins einherzugehen pflegt und das auch Selbstmörder nicht völlig abzulegen vermögen, nicht in Vergessenheit geraten lassen. Die Freuden des Geistes verlangen keine gereifte Weltsicht, sie erheben sich aus Schlaf und Traum.

Dennoch: die Notwendigkeit, die der philosophische Gedanke an den Formen des im unmittelbaren Weltbezug versunkenen Bewusstseins konstatiert, gleicht jener der Not abgedrungenen Wendigkeit eines aufs Trockene geworfenen Fisches, der es ohne Zweifel vorziehen würde, in dem ihm gemäßen Element eine ruhige Bahn zu ziehen. Das besagt, dieser Teil der Analyse steht unter dem Diktat nicht allein der Entfremdung (das wäre zu verschmerzen), sondern auch der mangelnden Fremdheit des Analysierten. Der unmittelbare Weltbezug ist immer da, er ist Teil auch des reflektierten Bewusstseins, das seine Befremdlichkeit erst entdeckt, sobald es aus methodischen Gründen von ihm abzusehen versucht. Eine Bewusstseinstheorie, die nicht unter der fixen Vorstellung leidet, einen nur sehr bedingt alltagstauglichen Prototyp anstelle des fertigen Modells unterschieben zu müssen, enthält auch dort, wo sie »erste Regungen« thematisiert, bereits das voll entfaltete Weltverhältnis als Darstellungsperspektive und ‑hintergrund. In ihm ist die Gedanke gewordene Wirklichkeit nicht als etwas anderes oder ganz fremdes, sondern als Eigenprodukt des Bewusstseins mitgedacht. Das impliziert aber, dass es grundsätzlich gleichgültig ist, von welcher Stelle die Theorie des Bewusstseins ihren Ausgang nimmt. Das Bewusstsein taugt nicht für Genesen, die immer zu kurz ausfallen, weil es selbst der Grund für gedankliche Genesen aller Art ist.

 

15.

Dass es sich bei alledem um Bewusstseinswelten und nicht um eine Welt des Bewusstseins handelt, ist dem Gedanken der zwangsläufigen Parzellierung des Denkens ebenso geschuldet wie dem Umstand, dass sich das Bewusstsein unterschiedliche Welten schafft. Das Bewusstsein? Eine mythische Vorstellung. Eher noch ließe sich sagen, die vielen Bewusstseine modifizierten ihre doch sehr unterschiedlichen Weltentwürfe im wechselseitigen Austausch auf ein Ziel hin – die eine gemeinsame Welt. Auch diese Rede wirkt problematisch, da das Ziel unerreichbar bleibt und unerreichbar bleiben muss, insofern das Bewusstsein unabdingbar Einzelbewusstsein, Ichbewusstsein ist und bleibt. Das einzelne Bewusstsein beginnt, es sammelt sich aus diffusen Anfängen, es bildet sich in Konkurrenz gegen andere, es überholt sich selbst und bleibt stets, sieht man von tiefgehenden Identitätsstörungen ab, völlig davon überzeugt, seine Anschauungen repräsentierten »die Welt«. Und das gilt nicht bloß im vorwissenschaftlichen Raum: die Welt des Molekularbiologen unterscheidet sich von der Welt des Soziologen, der nebenan seinen nächsten Symposiumsbeitrag vorbereitet, nicht nur marginal und nicht nur in Ausübung seiner Wissenschaft, sondern elementar und bis ins Unterfutter der privaten Gesinnungen hinein. Die Fortschritte seiner Wissenschaft sind die seinen, während er jahraus jahrein der Überzeugung frönt, »die Welt« sei eine völlig stabile Größe, über die man sich mit seinen Mitmenschen prinzipiell müsse einigen können.

Wie auch sonst? Ohne das tiefsitzende Bedürfnis, »sich zu einigen« (oder »die Sache auszufechten«, was eine andere Weise wäre, sich zu verständigen), verlöre diese Welt von einem Augenblick auf den anderen allen Zusammenhang und alle Stabilität, sie versänke in jenem Abgrund der Gleichgültigkeit, in dem die Maschinchen des von Dennett gleichfalls angeführten Bewusstseinskonstrukteurs Braitenbach allerlei putzige Kommandos aus der Politsphäre (»vorwärts«, »rückwärts«, »ausweichen«) ausführen und Bewusstsein spielen, ohne in ihren Schaltkreisen den Sinn für die Komik ihres Tuns vorzufinden, der ihren Erfinder so sichtbar leitet. Überhaupt dürfte der Sinn für Komik das wichtigste Mittel gegen das hemmungslose Auseinanderdriften der Bewusstseinswelten sein: Lachen eint, ohne zu einigen.

Die Rede von der einen Welt ist eine utopische Rede. Das zuzugeben fällt angesichts der Erfahrung begrenzter Ressourcen und globaler Aktionsräume nicht leicht. Der Irrtum, der sich hier einmischt, ist leicht auszuräumen. Er beruht auf der Verwechslung kalkulierter Zusammenhänge mit Realverhältnissen, die auf keine Weise (es sei denn als Idee) »im Bewusstsein« oder »in Gedanken« gegeben sind. Das mag schade sein. Aber es ist die Grundlage der Freiheit des Subjekts, das im anderen Fall von seinen ihm unendlich fremden Wirklichkeiten erdrückt würde. Auch der Hinweis auf die eingeschränkte Kapazität der Systeme, die Welt nur als Grenze (»Umwelt«) zulässt, trifft den Sachverhalt nur begrenzt. Er unterstreicht die Verwechslung und erliegt ihr doch. »Komplexitätsreduktion« ist ein nicht sonderlich überzeugendes Erklärungsschema, sobald man es nicht auf einzelne Bewusstseinsphänomene, sondern auf Bewusstsein schlechthin anzuwenden beginnt. Selbsterhaltung und Ressourcenaneignung, verstanden als Possessivverhältnisse, die sich in jedem Weltverhältnis antreffen lassen, sind Modi oder Tendenzen des Bewusstseins, aber sie definieren es nicht. Solange die Differenzierungspotentiale des Subjekts als Entdifferenzierungsstrategien missverstanden werden, bleibt die Komplexität der Welt, salopp gesprochen, ein hohler Darm.

Anschlussfähig hingegen ist eine solche Theorie schon. Die Betrachtung von Wissenschaft als Ressource gilt als angenehm kühl und rechenhaft, man glaubt damit dem Nützlichkeitssinn von Sponsoren und öffentlich‑rechtlichen Geldgebern zu schmeicheln. Innerhalb der Wissenschaften verschafft sie der Förderung praktisch ausgewiesener Ressourcen einen absurden Stellenwert. Die Folgen sind bekannt. Die Allianz von verdienter Routine und gesundem Anschaffungssinn bestimmt das verfügbare Wissen bis in seine feinsten Verästelungen hinein. Verständlicherweise begünstigt das allgemeine Erwartungsklima keine Disziplinen, von denen sich niemand – soll heißen, kein Investor – etwas erwartet. Den Unabhängigkeitssinn fördert es nicht: Der antizipierte Erwartungsdruck verwandelt wirtschaftsferne Fächer und Fächergruppen in eifrige Produzenten von »Bewusstsein«. Das lässt sich steuern.

An derlei Mechanismen bekundet sich die Härte einer Realität, der sich keiner entziehen kann. Man sollte daran denken, sooft generalisierend von der modernen Wissenschaft die Rede ist. Die offenen Horizonte werden durch Vor‑ und Zugaben aller Art nicht etwa zugestellt, sondern gespiegelt. So kann man fast sicher sein, nicht allzu weit zu kommen, wenn man sich auf sie zubewegt. Auch in dieser Hinsicht lässt Rorty sich seine Position etwas kosten. Eine Kultur ohne Zentrum ist eine Kultur, in der manche das Sagen haben, während die meisten sich gerne reden hören. Sie »akzeptieren die Entwicklung«, die anderen haben dazu keinen Grund.

Jeder, der guten Willens ist und über die nötigen Mittel verfügt, kann sich durch redliche Anpassungsleistung ein »Bewusstsein« erarbeiten, das eine Reihe von gehobenen Standards erfüllt. Eine solche medialisierte – und mediatisierte – Bewusstseinsschablone rückt das Gaukelbild der einen Welt schon in greifbarere Nähe. Die Übergänge sind gleitend. In der »sich sozial einvermittelnden Selbstfixierung«, wie Marx die unablässige Nötigung des Subjekts nennt, sich innerhalb seiner Mitwelt einzurichten, ist die Fremdfixierung enthalten wie Jonas im Wal. Das beginnt bei der Sprache, es setzt sich über Arbeit, Sexualität und Besitz fort bis in die Intimität des Bedürfnisses hinein, »etwas werden« zu wollen. Und da ist noch etwas: die Forderung einer Kultur (der umgebenden und der internalisierten) an den einzelnen, sich verfügbar zu halten, verfügbar zu sein – eine ethische Forderung, die vor keiner selbstgefertigten Grenze des Ich haltmacht –, erlaubt dort, wo sie sich einhängt, als Gegenstrategie nur die Notwehr, in intellektueller Hinsicht die blinde Reserve. Nur ein grundloses Nein lässt sich nicht aushebeln. ›Ich habe meine Gründe‹ heißt zunächst einmal: ›Ich möchte mich nicht äußern‹. Es heißt aber auch: ›Ich anerkenne die Übermacht eurer Gründe.‹ Vor die Wahl zwischen zweierlei Selbstpreisgaben gestellt (so sagt mein Gefühl), entscheide ich mich für die Preisgabe des sozialen Ich in diesem besonderen Fall. Aber das soziale Ich ist keine Haut, die man abstreifen könnte. Tatsächlich zieht das Subjekt nur den Zusammenbruch einiger seiner Fixierungen dem anderer vor. Das ist möglich, weil Selbst‑ und Fremdfixierung bei Bedarf ineinander umschlagen können, weil sich das Selbst besten‑ und schlimmstenfalls in und aus Zusammenbrüchen erneuert.

Der moderne Jonas verfügt über Mittel, den Wal durch einen mächtigen Zauber zeitweilig zum Verschwinden zu bringen. »Dieser Verlust, wenn er denn eintritt, macht sich deshalb eigentümlich unsichtbar, weil er nicht erfahren wird als Aufhebung oder Stillstand der Reflexionspotentiale, obwohl er darauf hinausläuft, sondern – im Gegenteil – als Belebung, als sichere und sichernde Einbettung in die diversen übergreifenden Dimensionen, in denen Artikulation und Ausbreitung als differenzierte, ausgefaltete Medialisierung des konkreten Subjekts möglich werden können, und als Steigerung der eigenen Kraft im Zusammenhang geliehener, beanspruchter Leistungen der bestehenden kulturellen Vermittlungen.« Was will man mehr.

 

16.

Wenn das so ist – und es gibt wenig Gründe, daran zu zweifeln –, dann sollte jeder Gedanke, der damit kokettiert, den »Forderungen der Gegenwart« zu genügen, äußerstes Misstrauen auf den Plan rufen. Denn diese Forderungen sind in dem Maße diffus, in dem sie innerhalb verschiedener Welten, also aus vielfältigen und jeweils unterschiedlich erlebten Aktualitäten heraus, aufgestellt und bekräftigt werden. Zudem sind sie im Kern plural, denn sie betreffen den einzelnen auf höchst unterschiedliche Weise. Wie die eine Welt ist auch die eine Gegenwart eine Metapher für etwas, das es nicht einfach gibt, obwohl – ein wichtiger Zusatz! – Bedarf existiert. Die »wohlgeformte Psyche« nimmt den Umstand gelassen: immerhin erkennt sie die Zeichen seelischer Deformation bei denen, welche die eigene Person so mit dem Weltlauf verquicken, dass sie die Differenz zwischen Forderungen, welche eine notgedrungen personzentrierte Gegenwart an sie stellt, und Forderungen, die »im Raum stehen«, weil sie dort »von anderer Seite« deponiert wurden, nicht mehr empfinden und einkalkulieren.

Was die Gegenwart fordert, bestimme ich: dieser Satz – und er allein – bringt mit einem Zauberschlag alle Schwierigkeiten zum Verstummen, in die sich der einzelne durch das unentwegte Hineinhören in die Aktualität und den Gehorsam gegenüber dem Zeitgeist (gleichgültig darum, welche seiner Zyklen er zur Kenntnis nimmt und welche er als »bloß modisch« abtut) verstrickt. Man muss diesem Satz nur alles Hochfahrende nehmen und ihn im analytischen Sinn verstehen. Die Forderungen der Gegenwart bleiben unbestimmt, solange nicht der einzelne seine Aktualität bestimmt, und er ist gut beraten, wenn er sich des Perspektivismus bewusst bleibt, der die Grundlage einer solchen Operation bildet. Was Wolfgang Marx über die Geschichte schreibt, gilt sinngemäß auch für die Gegenwart: »Die Weltgeschichte in ihren verschiedenen Dimensionen vermag kein Gesetz ihrer Entwicklung preiszugeben, weil sie keines hat.« Die Gegenwart vermag keine allgemeinen Forderungen zu stellen, weil sie toto coelo fordernden Charakter hat.

 

17.

Wie jede Realsystematik ruft auch die des subjektiven (oder »personalen«) Geistes nach dem Widerspruch. Warum so? Warum nicht anders? Warum überhaupt? Über die letzte Frage entscheidet der Wille zum System. Wo er nicht vorhanden ist, kann er durch keine gedankliche Operation herbeigezaubert werden. Schwerer fällt es, auf die beiden anderen eine befriedigende Antwort zu geben. Wie eh und je fasziniert die Hegelsche Lösung, weil sie allen Antworten aus der Mottenkiste vorhandener Kenntnisse die Anerkennung versagt. Die Lösung liegt im Denken selbst. Dort aber liegt sie (und nicht erst seit Hegel) auf Eis. Weit entfernt davon, Gründe beizubringen, warum »unsere Welt« so und nicht anders strukturiert sei, fällt es dem Denken leicht, tausend Gründe beizubringen, warum sie anders gedacht werden kann und gedacht werden können muss. Jeder Vorschlag kommt als Überbietung, er enthält die Bewegung der Überbietung und reizt dazu, sich an sie als das einzig Stabile des theoretischen Spektakels zu halten.

Bleibt die Schwierigkeit, wie stabil das Stabile gedacht werden kann, um das Kriterium der prinzipiellen Beweglichkeit zu erfüllen. Wer die relative Stabilität der Welt in der Dynamik ihrer Prozesse behauptet, muss auch den zweiten Schritt gehen (und Marx geht ihn, wie gesehen, ohne zu zögern): Er muss die Wissenschaft als den Ort, an dem diese Dynamik nicht nur im Denken erscheint, sondern fixe Gestalt annimmt, an dem sie zu Institutionen, Einstellungen und Texten gerinnt, in ihrer faktisch‑gegenwärtigen Ausprägung – als Stand der Forschung etc. – hinnehmen und damit noch die eigene Position am Rande des Geschehens gutheißen und bekräftigen. Die Unhintergehbarkeit der Wissenschaften, das ist unter den der Phantasie geschuldeten Forderungen der Gegenwart die eine, die alle anderen in ihren Bann zieht und letztlich aufzehrt. Sie allein verschafft dem Philosophen die Möglichkeit, den Faktor »Stabilität« auf ein formales Minimum zu reduzieren und auf eine projektive Gesamtheit von Weltverhältnissen auszudehnen. Der Widerspruch, dem er damit entgeht, liegt auf der Hand – Dynamik und Stabilität bedingen einander und stoßen einander ab.

Aber entgeht er ihm wirklich? Wieviel ist eine immer relative Stabilität wert, wenn in und unter ihr das Bedürfnis keimt, die unvermeidlichen Zusammenbrüche zu antizipieren? Was bedeutet angesichts instabiler Bedeutungen das Bedürfnis nach Stabilität? Wie die Rede von der einen Welt und der einen Gegenwart zeigt, ist es durch ein theoretisches Konstrukt allein nicht zu befriedigen. In ihm paart sich das Verlangen nach stabilen Verhältnissen dies‑ oder jenseits des bloß Gedachten mit dem Verdacht, etwas am restlos dynamisierten Denken sei nicht reell. Ein vages Verlangen und ein vager Verdacht – dennoch sind beide so unzerreißbar wie die Sonnenfäden, an denen das individuelle Bewusstsein momentweise sein Eins‑ und Anderssein erfährt.

Der Naturalismus, diese Hexenküche des sich als Fortschritt tarnenden Ressentiments, führt das Verlangen und den Verdacht zusammen. Darin liegt das Geheimnis seines Erfolges. Im Handumdrehen verwandelt er den Verdacht in Gewissheit und befriedigt so das Verlangen. Was alle anthropologischen Primärbestimmungen vom Hetz‑ und Fluchttier über den »homo religiosus« und »homo faber« hin zum »homo compensator« und »consecrator« so lächerlich aussehen lässt, ist weniger ihre konkurrierende Vielfalt als vielmehr der abgründige Ernst, mit dem jede von ihnen dieselbe grundlegende und gar nicht aufzulösende, vielmehr nur noch auszulegende und in den realen Aufbau der menschlichen Welt auseinanderzulegende Bedeutung für sich beansprucht: Realsystematik als Realsatire. Der Ernst ist entscheidend. Er gilt dem Bedürfnis und antwortet ihm aus vollem Herzen. Niemand überhört den Ton, der in Erstbestimmungen mitschwingt. Er gibt der Seele Laut, und sie antwortet ihr freudiges Ja.

Wie anders? Das einholende Denken, das darauf verzichtet, den Ausschluss von Optionen zu praktizieren, und »gelassen« den Punkt zu bestimmen unternimmt, an dem sich ihr Erklärungspotential erschöpft, ein solches Denken trägt wohl der Dynamik intellektueller Entwürfe Rechnung. Im gleichen Zuge verurteilt es sich dazu, den divergierenden Entwürfen den Vortritt zu lassen und erst reaktiv in Erscheinung zu treten. Auch darin steckt eine Form der Überbietung. Allerdings eine, die vorgibt – und sie hat gute Gründe dafür –, nichts weiter zu leisten als den Akt der reflexiven Durchdringung, der die Grundlinien auszieht, auf denen sich Wissensakkumulation in ihrer jeweiligen Gegenwart vollzieht. Dem im Bann des Naturalismus reflektierenden Bewusstsein sagt das nur eines: Der Transzendentalismus weiß es nicht besser. Schlimmer, er bietet dort keine Hilfe, wo jedermann ihre Notwendigkeit einsieht. Die realen Wissenszuwächse, von ihm freudig begrüßt, kommen ohne ihn zustande. Wo also liegt der Gewinn?

Wer die Dynamik des Denkens zu thematisieren unternimmt, sieht sich unausweichlich mit dem Paradoxon konfrontiert, dass der angreifenden Wucht des Differenzierungsverlangens, dem habituell gewordenen Bedürfnis nach Dynamisierung des Wissens und seiner Ausdrucksformen die vorhandenen Wissensbestände und ‑konzeptionen als beharrende, gewissermaßen konspirative Elemente entgegenstehen. So absurd es wäre, aus den Nullsummenspielen, die von gewieften Wissenschaftstaktikern zu gewonnenen Schlachten an der globalen Enträtselungsfront erklärt werden, den Schluss ziehen zu wollen, Wissenschaft selbst sei bloß der Hokuspokus der Moderne, auffällig bleibt das Auseinanderdriften der Entwicklungskurven neuartiger Theorien und jenes geschäftsmäßigen Vorrückens der Normalwissenschaft, das sich in der Vermehrung der Zahl der Objekte und der ihnen gewidmeten Untersuchungen zur Schau stellt, schon.

Man kann dafür nicht bloß das »faule wissenschaftliche Bewusstsein« an den Pranger stellen, das »sich stolz und eitel gemacht hat in der Beherrschung von Kleinigkeiten und die Prestigesahne schamlos genießt«. Es scheint überhaupt, dass man das Problem noch nicht genügend im Blick hat, solange man Anstoß nimmt. Die Felder des Wissens sind normalerweise besetzt und die Entwicklungskurven des Individualbewusstseins und des theoretischen – wie auch des praktischen – Wissens selbst sind schlechterdings nicht zu synchronisieren. Da dieses Wissen aber nur im individuellen Bewusstsein erscheint, kommt letzteres ganz von selbst zu verkehrten Annahmen über sich und den Weltlauf. Nimmt man es genau, so ist gerade das wissenschaftliche Bewusstsein notwendig falsches Bewusstsein, weil es auf den Faktor der individuellen Erfahrung nicht Verzicht leisten kann, obwohl er den auf das Gegebene, den reinen Stand der wissenschaftlichen Dinge, gerichteten Blick ablenkt und damit verfälscht.

Doch nicht genug: weit eher als das normale, das »faule« wissenschaftliche Bewusstsein, das sich seiner Verlegenheit bewusst bleibt, steht das rechtmäßige Idol des Neuerers unter dem Verdacht, den wirklichen Vorstoß auf unbekanntes Gelände, der sich mit seinem Namen verbindet, dadurch negativ wettzumachen, dass es die auf sein Projekt fokussierten Kräfte zur Teilhabe an seinen Idiosynkrasien einlädt und verpflichtet. Dies vorzugsweise dann, wenn die freisetzende Bewegung des Denkens den Zenit überschritten hat und die erschöpfende Selbstrealisierung der individuell geprägten Form bereits ganz anderen Göttern huldigt. Dabei ist es dieses Gedränge, das die Nachfolgenden – und nicht nur sie – motiviert und zusammen mit dem verachteten Betrieb das Fortleben der Institutionen sichert. Die Kräfte des einzelnen verzehnfachen sich im Gedränge, um nicht zu sagen durch das Gedränge, und werden zu neun Zehnteln von ihm aufgezehrt. Allein in der etwas anderen Zusammensetzung des letzten Zehntels liegt der Gewinn.

Die Berufung auf das Faktum der Wissenschaft hat wie die auf die Sprache oder die Marktwirtschaft etwas Zweideutiges und sogar Zerstörerisches. Zweideutig ist sie deshalb, weil sich selbstverständlich immer eine entwickeltere oder weniger entwickelte Wissenschaft als die vorgefundene denken lässt, ebenso wie eine rationalere oder weniger rationale Form des Marktes. Das Faktum, kaum gewonnen, zerrinnt dem, der es buchstabiert, unter den Händen. Zerstörerisch wird sie dort, wo sie das Individuum in Kämpfe verwickelt, die es nicht gewinnen kann – sei es gegen die Scientific Community, sei es gegen das im Bewusstsein angelegte Bedürfnis, sich zu realisieren und zu diesem Zweck mit festen Größen zu operieren. Das Recht des einzelnen, Abbrüche zu inszenieren, wann immer ihn die fleißige Integration in einen fiktiven Gattungszusammenhang zu erdrücken oder zu erpressen beginnt – Ich ist ein anderer –, endet nicht an den Pforten des Paradieses, in dem die Arbeiter des Geistes, über ihre Manuskripte gebeugt, der Sache die Ehre und der Ehre eine Gasse bereiten. Man kann dies zugeben und dennoch den Stab brechen – das ist damit nicht gemeint.

 

18.

»Die bloße Natur erneuert und verändert nicht nur sich selbst, sie vernichtet auch die toten Hüllen des Geistes, sie ist die verläßliche Realität, das einzige Faktum, das die Hoffnung auf die Erneuerung des geistigen Lebens gar nicht enttäuschen kann und will.« Kann darüber unter gesitteten Personen ein Zweifel bestehen? Wohl kaum, denn gesittet sein heißt zunächst und letzten Endes, die Endlichkeit der Person – nicht nur in bezug auf den Tod, sondern ebenso in den Belangen des Lebens – klaglos zu »akzeptieren«. Das ändert aber nichts daran, dass Äußerungen wie der zitierten etwas leise Ungehöriges anhaftet. Der Zynismus des Lebens muss nicht ins Recht gesetzt werden, er nimmt sich sein Recht immer und überall; als verläßliche Realität ist er das einzige Faktum, das die Hoffnung auf die Erneuerung des geistigen Lebens gar nicht erst aufkommen lässt – sofern darunter etwas wesentlich Zukünftiges verstanden werden soll. Die »Erneuerung des geistigen Lebens« ist gerade das, was soeben geschieht, sie trägt einer an sich gleichgültigen Gegenwart den Aktualitätsindex an, der sie gegenüber beliebigen Vergangenheiten als eine Konstellation auszeichnet, die es wert ist, gelebt zu werden.

Das Vorurteil lebendiger Systeme zugunsten des Lebens ist nicht besonders geistig, es ist die Wiederholung des Zynismus des Lebens im Medium des Denkens, das seinerseits nicht übermäßig dicht gegenüber den Zumutungen des Organischen genannt werden kann. Diese Zumutungen oder »Wonnen des Daseins« tragen keinen Zweck, sie haben kein Ziel, sie locken zu jeder Überschreitung und keiner, sie lassen den Tod als etwas Verächtliches erscheinen und als Garanten des Intellekts, der in jeglichem Gedachten die Totenmaske des Geistes entdeckt: Wer es nicht anders wusste, dessen Denken ist für uns gestorben und vor uns in Sicherheit. Ungewiss, welcher Aspekt mehr zu seiner Beruhigung beitrüge, wenn er imstande wäre, ihn zu realisieren.

Wir sind es nicht, und wenn wirs wären, / so wüssten wir’s gewiss. Was der Vers verschweigt, sind die Mühen der Ebenen, die in derlei Konditionalsätzen auf ihren Abruf warten – Mühen einer infiniten, wenngleich endlichen Menschwerdung, die dem definitiven Hohn über die Liste der sogenannten Daseinszwecke entspringt und die Bewegung der Reflexion als Schlüssel zu jedem oder beinahe jedem Lebensproblem in Anschlag bringt. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich: ein bedenkenswerter Satz, vorausgesetzt, man ist bereit zu akzeptieren, dass erst die Wendung gegen den »dunkel gefühlten Ich‑Impuls« die Realisierung jenes Ich mit sich bringt, das sich dort zu Wort meldet.

Ich ist kein anderer als der, der sich als ein anderer entwirft.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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