Aesthetica

Das Virus SARS-CoV-2 hat, wie Insider wissen, eine ganze Literatur hervorgetrieben, die in den kommenden Monaten pünktlich auf dem Markt der Eitelkeiten und der unbekannten Bestseller eintreffen wird. Unser Herausgeber-Team hat eine satirische Vorab-Kompilation verfertigt, die der Leserschaft erste Einblicke bietet. Lachen (maßvoll) hilft! Kleine Bitte an kommende Weltgenies: Denken Sie daran, das Werk Ihres speziellen Gefallens erst nach seinem Erscheinen zu plagiieren.

1.

Mann liefert Frau mit Atembeschwerden im Krankenhaus ab, versucht verzweifelt sie zu besuchen oder doch wenigstens per Telefon zu erreichen, wird abgewiesen und erhält sie nach ein paar Tagen tot zurück – Covid-19-Befund negativ, Todesursache unbekannt.

Scheußliches Genre, schwer zu bearbeiten, ohne kontrafaktisch zu wirken oder sich bohrende Fragen nach dem behandelnden Krankenhaus einzufangen.

2.

Philosoph bestreitet die Existenz von Viren, steckt sich an und träumt, er lebe im Ausnahmezustand. Wieder gesund, befindet er sich im Ausnahmezustand und denkt, er träume. Im Traum ruft er zum Widerstand auf, aber es antwortet nur ein linker Theatermann, der ihm bedeutet, er solle jetzt besser das Bett hüten als das nackte Sein.

 Die Geschichte wäre hübsch, aber da selbst der begriffsstutzigste Leser auf Anhieb den Agamben erkennt, bleibt sie voraussichtlich unbearbeitet. >Kollegenneid

3.

Polizist konfiziert anlässlich einer Demonstration auf dem grünen Rasen das Grundgesetz, will es aufschlagen und entdeckt: Es ist hohl. Demonstrant erhält eine Ordnungsstrafe und eine Anzeige wegen Irreführung der Behörden. Demonstrant klagt gegen die Polizei mit der Begründung, grundlos verhaftet worden zu sein, da er nachweislich kein Grundgesetz mit sich führte. Der Fall geht vors Verfassungsgericht, das den Demonstranten mit der Begründung freispricht, er habe sich zu Recht aufs Grundgesetz berufen. Freigesprochen wird auch der Polizist, da er in der Situation nicht erkennen konnte, dass das fragliche Exemplar des Grundgesetzes inwendig hohl war.

Die übliche Kafkaeske, durch Freisprüche ins Lächerliche gezogen.

4.

Die Kanzlerin erklärt den Kampf gegen eine Sekte, die sich den irreführenden Namen ›Pandemie‹ zugelegt hat und mit ihren Ansteckungszahlen prahlt, zur Chefsache. Ein führender Virologe, der sie auf den Irrtum aufmerksam machen möchte, wird vom Regierungssprecher dazu vergattert, drei Jahre lang Tag für Tag vor laufender Kamera die Vorzüge ihrer Politik zu erklären.

Ein Plot, aber keine Geschichte, eigentlich nur ein Microplot, dazu bestimmt, an den Pforten der Geschichte (»Gates of History«) zu scheitern.

5.

Im Nachbarstaat ruft der Präsident den Kriegszustand aus und mobilisiert die Armee. Die Bevölkerung muss zuhause bleiben und kleine Brötchen backen. Die großen sind für Staatsgäste reserviert und verschimmeln, weil keiner kommt. Der Feind, SARS-CoV-2, kann, da unsichtbar, überall lauern. Die aufgeschlossene Regierung belauert das eingeschlossene Volk und das eingeschlossene Volk belauert die aufgeschlossene Regierung. Nach hundert Tagen bricht die Regierung die Suche nach dem unsichtbaren Feind ab. Das Militär dringt in die von innen verrammelten Häuser vor und findet – nichts. Ein General, der darüber einen Bericht verfasst, wird entlassen und stirbt an Covid-19. Der Präsident schließt sich im Präsidentenpalast ein und telefoniert mit einer befreundeten Kollegin. Die Kollegin rät ihm, Ruhe zu bewahren und nichts zu überstürzen: »So kommen wir gemeinsam aus der Krise heraus.« Der Präsident bittet seine Ehrengarde um einen Strick. Die Ehrengarde plädiert auf Eigenbedarf und quittiert den Dienst. Der Präsident irrt durch die verlassenen Häuser des Landes und sprüht an die Wände: »Ruhe bewahren!« Er wird verhaftet und in die Geschlossene verbracht. Seine letzten verbürgten Worte lauten: »Mehr Ruhe!«

Endlos-Groteske, die immer fortgeschrieben werden kann, gesetzt, der Autor weiß, worauf er sich einlässt und will kleine Brötchen backen.

6.

In einem modernen afrikanischen Land werden Erwachsene auf Corona getestet: positiv. Man testet Ziegen, Wachteln und Papayas: positiv. Der Präsident erklärt, der Test sei das Virus. Die Tests werden ausgesetzt: negativ. Scharenweise verlassen Touristen das Land, um sich zuhause testen zu lassen. Hochrangige Militärs und Politiker sterben wie die Fliegen. Covid-19? Wer das Wort in den Mund nimmt, wird eingebuchtet. Wer behauptet, die Symptome zu kennen, wird eingebuchtet. Wer behauptet, sie nicht zu kennen, wird eingebuchtet. Eine Neunzigjährige betet zu Gott: »Unsere Politiker sind krank. Erlöse uns!« Der Nachbar hört’s und wird verhaftet. (Die Neunzigjährige ist eine Agentin des Sicherheitsdienstes.)

Eigentlich keine Geschichte. Aber der Alltag hinter den Geschichten bleibt immer spannend.

7.

Mann und Frau sitzen mit Mindestabstand auf einer Bank. Sagt der Mann.

Genderwitz, abgestanden, aber immer wieder wirksam: »Häh?« Die Geschichte dahinter? Ein andermal.

8.

Journalist, seines Zeichens Hungerkünstler, beschließt, sich mit Covid-19 anstecken zu lassen, um eine Reportage darüber zu schreiben. Er sucht ein Krankenhaus auf, das ihn abweist: Kein Bett für den Simulanten! Der Journalist empört sich: Er ein Simulant? Warum? Er meint es ernst! Der untersuchende Arzt blickt ihn aufmerksam an und fragt ihn, ob er das ernst meint. Der Journalist fragt den Arzt, ob er seinen Beruf ernst nimmt. Der Arzt fragt den Journalisten, ob er ihn auf den Arm nehmen will und drückt den Summer. Der Journalist simuliert die Krankheit und ruft einen Kollegen an, der ihn interviewen soll. Der Kollege weigert sich und geht in freiwillige Quarantäne. Der Journalist hustet einen Polizisten an und wird wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt vorläufig festgenommen. Der Polizist hustet und wird nach Hause geschickt. Seine Frau holt sich Covid-19 beim Bäcker und verbietet ihm die gemeinsame Wohnung. Der Polizist nächtigt unter einer Brücke und stirbt an Lungenentzündung. Der Journalist schreibt eine Reportage mit dem Titel »Der Polizist, der mich festnahm« und bekommt einen Journalistenpreis plus Auslandsstipendium.

Journalisten-Geschichten haben den Nachteil, dass niemand sie ernst nimmt. Ansonsten ganz o.k.

9.

Ein Freund des Erzählers, der einen großen Garten besitzt, verlässt das Haus nicht mehr. Er spricht mit niemandem und hat den Verkehr mit seiner Frau auf ein Minimum eingeschränkt. Über seinem Schreibtisch hängt ein Plakat, auf dem steht: SOCIAL DISTANCING. Er hört alle Podcasts des obersten Staatsvirologen und denkt sich dabei seinen Teil. Er kennt alle Reden, die zu diesem Thema gehalten werden, angefangen vom Präsidenten bis herunter zum Landrat des Main-Kinzig-Kreises, und findet sie erhellend. Er findet auch, dass die Journalisten in der Krise ihren Job gut machen und wünscht ihnen insgeheim, dass sie das Virus in sich tragen. Natürlich symptomfrei! Er betrachtet die Sendeanstalten als Quarantäne-Gefängnisse und freut sich darüber, frei zu sein. Morgen schreibt er dazu ein Gedicht. In der Nacht verstirbt er.

Im Grunde eine melancholische Geschichte, leicht welk, mit einem Glas Rotwein zu begießen.

10.

»Quod erat demonstrandum!« rief ein Klinikchef, erzürnt über die verfehlte Politik seines Landes, und stürzte sich in die Gründung einer neuen Partei. Ein Parteipolitiker, der zufällig vorbeikommt, verweist ihm seine radikalen Ansichten und fragt ihn, warum er ohne Atemmaske herumlaufe. »Maskenatmung ist kontra-effektiv«, erwidert der Mediziner und zieht den Mantelkragen hoch, weil der Himmel sich plötzlich verdüstert und ein scharfer Wind aufkommt. »Parteigründung auch«, raunzt der Parteipolitiker. »Nicht, wenn sie ansteckend wirkt«, strahlt der Mediziner, »unser Zulauf ist enorm.« »Eben, eben«, scherzt der Parteipolitiker, »umso schneller landen Sie in der Quarantäne.« 

Versteht jemand die Pointe?

11.

»Sehen Sie, ich bin kein Arzt«, sagt der Ministerpräsident in vertraulicher Runde. »Wenn ich zum Arzt gehe, weil mir etwas fehlt, dann verschreibt er mir etwas und ich nehme es ein. Wenn ich zum Arzt gehe, weil dem Land etwas fehlt, dann verschreibt er ihm etwas und wir sorgen dafür, dass die Leute es einnehmen. So einfach ist das.« »Ich bin kein Politiker«, sagt der Mediziner, »aber was fehlt dem Land eigentlich?« »Vertrauen. Absolutes Vertrauen. Die Leute vertrauen der Medizin. Also gehen Sie hin und retten Sie das Land.« »Aber will das Land denn von Ihnen gerettet werden?« »Von mir? Schauen Sie: Sie retten das Land und ich bin gerettet. Anschließend rette ich Ihren Arsch und falls alles schief geht, retten wir uns gemeinsam.« »Wohin?« »Auf die Rettungsinsel, Sie…«

Typische Flüsterland-Anekdote, unterm Betttuch weiterzugeben, mit unterdrücktem Gegluckse.

12.

Na wo sind deine Covid-Millionen? Gebunkert oder gestreut?« »Weder-noch.« »Wo dann, altes Haus?« »Woher wusstest du…?« »Immobilien? Dass ich nicht lache. Das nächste Virus wird die vor 2010 gebauten Häuser befallen: Abriss oder Totalsanierung! Wie willst du das bezahlen?« »Alles eingepreist, mach dir da mal keine Sorgen. Mein Fondsmanager sagt immer: Die Leute kommen zu mir, weil sie sich vor dem Crash fürchten. Dann fangen sie an, ihn zu lieben. Lieben sie ihn zu sehr, dann fange ich an, mich zu fürchten.« »Klingt nach einem Dilemma. Wie zum Teufel will er da rauskommen?« »Keine Ahnung. Aber das ist seine Sorge. Darüber mach ich mir keinen Kopp.«

Geldanleger sind ironiefest. Das ist ja das Komische an der Sache. Insofern: ****

13.

In der Kita spielen die Kinder Corona. »Meins ist am schönsten«, ruft Gilda, und wirklich, sie besitzt ein Krönchen aus Gold, jedenfalls funkelt es so. »Meins duftet so gut«, schwärmt Linda mit den verträumten Augen und befühlt ihr Gesichtstüchlein, denn sie spürt die Liebe, mit der es genäht wurde. »Ich habe Corona«, doziert Pia ernsthaft, sie bohrt sich dabei in der Nase und tritt Henna vors Schienbein. »Pia!« ruft die Betreuerin scharf. »Wenn du das noch einmal sagst, muss deine Mama dich abholen kommen.« »Was habe ich denn gesagt?« »Pfui! Ich will das nicht nochmal hören.« »Ich sag’s aber nochmal. Alle haben Corona und ich habe nichts. Ich finde das ungerecht.« Draußen vor der Tür stehen die Mütter abholbereit und rätseln, ob sie das Risiko eingehen wollen. »Meine bleibt drin«, entscheidet Hennas Mutter. »Corona kann ich mir nicht leisten.« Alle beschließen, das sei jetzt Sache der Väter und ziehen ab. Wohin? Wohin zieht es die Mütter?

That’s just what they do. There is no alternative now.

14.

Das Parlament hat die Vorhänge zugezogen und döst, auf Mindestabstand bedacht, vor sich hin. Der Redner besitzt die neuesten Zahlen und wünscht sich, er könne das Auditorium damit infizieren. »Gib’s auf!« plärrt es ihm von den Oppositionssitzen entgegen, »davon verstehst du nichts.« »Ich behaupte nicht, etwas davon zu verstehen. Ich behaupte, dass es so ist, wie es sich hier darstellt«, entgegnet der Abgeordnete spitz. »Wenn wir andere Zahlen bekommen, dann stellt es sich eben anders dar. Wichtig für das Gesamtgeschehen ist etwas anderes.« Die Opposition erhebt sich geschlossen und begibt sich unter Wahrung des Mindestabstandes in Quarantäne. Die Regierungsparteien beschließen den Großen HNO-rundum-sorglos-Schutz fürs Plenum. Nur so sei zu gewährleisten, dass die Regierung ihrer Verantwortung für Volk und Gesundheit in aller Freizügigkeit gerecht werden könne. »Wir dürfen ihr nicht im Weg stehen. Das würde uns das Volk nie verzeihen.« »Es gilt das gesprochene Wort!« ruft ein parteiloser Abgeordneter in den Saal, dessen Anwesenheit bisher übersehen wurde. Die Parlamentspräsidentin übergibt ihn der Polizei und nimmt den Trendschal vor, um nicht zu sehen, was auf sie alle zurollt.

Parlamentssatire, okay, passt immer. Heute vielleicht ein bisschen besser als gestern, da wollen wir sehen, was morgen kommt.

15.

Der Covid-19-Himmel ist röter als sonst und an den Rändern schwarz. Das gilt nicht bloß für den unteren Rand, sondern überraschenderweise auch für den oberen. Mit dem oberen Rand muss man sich erst einmal abfinden, das bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In der Krise wird nicht ge-, sondern bestritten. Ja, das macht einen Unterschied. Hat die Krise erst die Gesamtgesellschaft, d.h. das Stadium der vollendeten Prophetie erreicht, dann ist es sinnvoll, sich am oberen Rand der Wahrnehmung zu orientieren, dort, wo die wirklichen Entscheidungen fallen – über Menschen, Tiere und Tatsachen, in dieser Reihenfolge. Wer sich am unteren Rand orientiert, also dort, wo die Ergebnisse sichtbar werden, übersieht, dass nur durch Statistik, sola statistica, Wirklichkeit möglich und durchschaubar wird. Die einzig wahre Statistik ist die Grundlage aller seriösen Entscheidungen und daher das Große Buch der Sieben Siegel, die erst gelöst werden, wenn die finale Revision ansteht und alle Entscheidungen noch einmal getroffen werden müssen. (Aus einem Nachwort)
 

erschienen als:

Corona-Geschichten. Die besten (Acta litterarum)

Notizen für den schweigenden Leser

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