Aesthetica

Pillepalle, ein kleines dürres Männlein aus heimischer Produktion, hatte eine schwere Jugend. Wann immer er das Haus verließ, zum Beispiel um Einkäufe zu erledigen oder sich am Anblick der Welt zu erfreuen, stieß er am nächsten Zaun auf das Warnschild: »Kein Pillepalle!«

Anfangs, uneingedenk seines Namens, ließ er es unbeachtet und ging einfach weiter. Doch wo immer er seinen Fuß auch hinsetzte, er merkte bald, dass er nicht wohlgelitten war. Straßenjungen bewarfen ihn mit Steinen, Hunde versperrten ihm die Bahn. Wütend knurrten sie, wenn er sich unbeeindruckt gab und einfach weiter ging. Dabei entblößten sie ihr Gebiss, so dass er fürchtete, sie könnten ihn hamsterdipamster entzweibeißen.

Also ließ er den Weg Weg sein und flüchtete ins Gelände. Auch dort begegnete ihm als erstes eine Tafel mit der Aufschrift »Kein Pillepalle!«

Da dachte er sich: Es muss doch etwas dran sein an diesem Pillepalle, dass niemand ihn haben will.

Und er dachte weiter: Vielleicht ist einfach kein Pillepalle da und alle erwarten ihn sehnlich. Vielleicht ist es gefährlich, in einem Land ohne Pillepalle herumzulaufen?

Das leuchtete ihm beinahe ein.

Mit einem Mal streckte er sich und sagte: »Aber ich bin doch Pillepalle! Ich bin der Erwartete!«

Und er tat einige Schritte vorwärts.

Eine rundliche, erschöpft, doch zufrieden dreinblickende Frau, die ihm gefolgt war, beeilte sich, ihn zu überholen und stellte sich ihm in den Weg. Sie sprach nicht, doch ihre Lippen formten die Worte: »Kein Pillepalle!« Mit den Händen bildete sie eine Raute.

Was will diese Frau von mir? dachte Pillepalle. Warum verfolgt sie mich?

Und er sprach zu ihr: »Warum verfolgst du mich?«

Die Frau schwieg, blickte ihm sinnend ins Gesicht und ihre Lippen sprachen lautlos: »Ich lasse dich nicht, du küssest mich denn.«

Wenns weiter nichts ist, dachte Pillepalle, er trat auf sie zu und küsste sie auf die Schulter.

Die rundliche Frau schüttelte energisch den Kopf.

Da küsste er sie, einen leisen Widerwillen überwindend, auf den Mund. Die Frau schüttelte den Kopf so heftig, dass er fast in den Graben gefallen wäre. Nur eine Schnepfe, die gerade vorbeiflog, rettete ihn vor dem sicheren Untergang.

Was will diese Frau von mir, überlegte Pillepalle. Da fiel sein Blick auf die Raute. Schon fühlte er, wie sie ihn mächtig anzog.

Pillepalle beugte sich vor, presste das Gesicht auf die Raute und gab ihr einen tüchtigen Schmatz. Sie fühlte sich gar nicht leer an, wie er erwartet hatte. Fast war ihm, als erwidere sie seinen Kuss. Aber das musste wohl eine Sinnestäuschung sein.

Eine Stimme schien aus der rundlichen Frau zu dringen. Sie rief: »Du bist Pillepalle, der schreckliche Herr aller Dinge, wehe dem, der dich nicht erkennt!« Nicht die Frau war es, die so rief, ganz im Gegenteil, sie begleitete die Rede mit einem Ausdruck tiefen Unwillens, bloß der Mund blieb verschlossen.

Pillepalle grauste es. Er wandte sich zur Seite und versuchte an der Frau und der Stimme vorbeizukommen. Fast wäre es ihm gelungen, da huschte ein Hamster aus dem Gebüsch und stellte sich vor ihm auf die Hinterbeine.

»Ich weiß, wer du bist«, kreischte seine Fistelstimme, »ich habe dich längst erwartet. Wisse, dass der Vater von dieser da« – er hob die Nase noch höher und zeigte auf die Frau – »uns blühende Landschaften versprochen hat. Es wächst aber nur Kohl. Sag selbst: Was soll ein Hamster wie ich mit Kohl anfangen? Nichts, sage ich, dreitausendmal nichts! Es fehlt an Pillepalle, vorne und hinten. Da legt sich unsereiner ins Bett und folgt seinen Träumen. Denn folgsam sind wir. Du musst bloß mit den Fingern schnipsen, schon folgen wir dir. Nicht alle, um es gleich zu sagen, dort drüben läuft noch einer, dem folgt der eschatologische Rest. Früher war diese da« – wieder wies seine Nase auf die Frau – »eine von denen dort drüben, aber jetzt baut sie ihren eigenen Kohl und wir haben das Nachsehen. Überall hängen ihre Schilder ›Kein Pillepalle!‹, dabei fürchtet sie dich wie nichts auf der Welt.«

»Aber warum?« fragte Pillepalle.

»Wir sind viele«, rief der Hamster und blies seine Backen auf. »Mit dir in unserer Mitte sind wir unschlagbar.«

»Will sie euch denn schlagen?« fragte Pillepalle erstaunt.

»Wisse –« schrie der Hamster mit fast überschlagender Stimme. Aber er kam nicht weiter, denn aus den Büschen ringsum erscholl ein Chor von Unken: »Wir sind mehr!«

»Da hast du es«, flüsterte der Hamster resigniert und blickte sich scheu um. »Immer, wenn wir unsere Stimme erheben, sind die da zur Stelle und schreien: ›Wir sind mehr!‹«

»Sind sie denn mehr?«

»Wer soll das wissen? Sie scheuen das Tageslicht und schicken nur Einzelne vor.«

»Warum fürchtet ihr sie dann?«

»Wir fürchten sie nicht, aber wir fürchten ihr Geschrei.«

»Wer fürchtet sich denn vor Geschrei?« fragte Pillepalle und streckte sich, bis das Holz knackte.

»Das steckt so in uns drin«, wisperte der Hamster und schaute elend drein. »Denn wo Geschrei ist, da ist Macht, und wo die Macht ist, herrscht Gewalt, und wo Gewalt herrscht, da herrscht sie im Kreis ihrer Unken.«

»Das ist ja ein seltsames Alphabet, das du da herunterleierst«, flüsterte Pillepalle unwillkürlich, »bist du sicher, dass es damit seine Richtigkeit hat? Ich habe diese Frau vorher noch nicht gesehen, aber sie scheint mir ganz umgänglich zu sein. Du wirst es nicht glauben, ich habe sogar ihre Raute geküsst.«

»Was hast du?«, schrie der Hamster. Seine Augen glühten dunkelrot, so dass sie ihm fast herausfielen. »Dann ist alles verloren.«

»Warum das denn?«

»Das hat ihr ein Esel verraten: Wenn sie dich dazu bringt, die Raute zu küssen, dann gehört das ganze Land ihr. Warum nur muss ich diesen schrecklichen Tag erleben?« Und er rannte schnurstracks ins Gebüsch.

Die Frau war weiter gegangen. Das Land lag vor ihr wie ein offenes Buch. Sie hüpfte von Seite zu Seite, kletterte über die Buchstaben und sah sich kein einziges Mal um. Ein Mädchen tänzelte ihr entgegen. Es schien aus den Wolken zu kommen. Seine Backen waren vor Eifer gerötet und unter dem Arm trug es eine Sendung. Pillepalle konnte nicht genau erkennen, worin die Sendung bestand, dafür war die Entfernung zu groß. Aber eine Sendung war es ganz ohne Zweifel. Die rundliche Frau zog sie in ihre Arme. Da schwang sich das Mädchen mit einem Ruck auf die Schultern der Alten und gab ihr die Sporen.

Jetzt konnte Pillepalle die Sendung erkennen. Sie stand in leuchtenden Lettern auf dem Rücken der Jungen: »Kein Pillepalle!«

Woher kennt mich dieses Mädchen, rätselte Pillepalle und fühlte sich fast geschmeichelt. Sie kennt so wenig vom Leben, aber mich kennt sie schon. Ich muss bedeutender sein, als ich bisher annahm.

»Da hast du verdammt recht«, tönte es aus dem Baum, den er inzwischen erreicht hatte. Es war ein alter Baum mit einem linksliberalen Lätzchen zwischen den breit aufgespannten Ästen, innen fast hohl, aber für seine Verhältnisse noch immer agil. »Wisse, ich bin der letzte meines Holzes, wenigstens in diesem Land vor unserer Zeit. Meinesgleichen wächst drüben, über dem großen Wasser, wo die Menschen sich noch gegen die Machenschaften derer zu wehren wissen, die sie schon länger beherrschen. Denn Recht muss Recht bleiben, man muss die Freiheit im Geringsten verteidigen, auch wenn am Ende immer die Kohle siegt.«

»Die Kohle?« fragte Pillepalle verwirrt.

»Achte nicht auf das, was ich rede«, belehrte der Baum ihn sanft, »Achte auf das, was ich dir sagen will.«

»Das will ich gern«, meinte Pillepalle. »Was willst du mir damit sagen?«

»Das will ich dir sagen«, brummte der Baum, es war etwas wie ein Kichern dabei. Er ächzte, neigte sich und fiel prasselnd in sich zusammen.

Alles, was Recht ist, dachte Pillepalle, in diesem Land scheint ja einiges drunter und drüber zu gehen. Das war es wohl, was mir der alte Baum sagen wollte. Ein freier Geist in einem Land, das keine andere Freiheit zulässt als die, dem Nachbarn in die Suppe zu spucken. Pillepalle! So geht das nicht weiter. Ein alter Esel kann einer Frau viel verraten, aber er bleibt dabei immer, was er ist: ein Esel. Eine Frau, die sich von alten Eseln verführen lässt, wird von einem Kind ins Land der Märchen entführt, das ist ganz normal. Ich will nicht, dass die Hamster mir folgen. Und die dort drüben von der Hinterseite des Mondes sollen bleiben, wo der rote Pfeffer wächst. Hier bin ich und hier will ich bleiben. Finde ich ein Schild, auf dem steht: »Kein Pillepalle!«, dann schreibe ich darüber: »Pillepalle war hier!« Dann wissen wenigstens alle Bescheid. Denn eines weiß ich jetzt: Ich bin aus anderem Holze als diese da, die ihre Köter ausschicken, um mich zu verbellen. Und das ist gut so.

 

erschienen als:

Pillepalle (Acta litterarum)

Notizen für den schweigenden Leser

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