26.

Im Mai 1991 erschien in einer Frankfurter Tageszei­tung ein Artikel, in dem ein bekannter (West-­)Berliner Historiker mitteilte, er habe sich um eine an der Ostberliner Humboldt-­Universität in seinem Fach aus­geschriebene Professur beworben. Der Vorgang wirkte prima vista ungewöhnlich, aber kaum tadelnswert. Der Schreiber räumte der Öffentlichkeit ein Recht ein – ihr Interesse mochte sich zeigen –, über den Erfolg der angezeigten Bewerbung auf dem Laufenden gehalten zu werden. Jedenfalls schien er selbst dieser Auffas­sung zuzuneigen. Wie sonst ließen sich seine abschlie­ßenden, etwas orakelhaft wirkenden Worte verstehen? »Man wird sehen.« Natürlich gilt in einem solchen Fall das Wort: Wer sieht, der wird gesehen. Da der Kandidat sich ohne Not der Öffentlichkeit präsentierte, blieb diese aufgefordert, ihre eigene Meinung zu bilden. Zusehen mochte also, wer wollte.

Zweierlei stand außer Frage. Erstens gab es zum damaligen Zeitpunkt Anlass, den Wechsel eines Professors, gleich welchen Fachs, von einer west-­ an eine ostdeutsche Universität für objektiv wünschens­ wert, gewiss auch für subjektiv reizvoll zu halten. Zweitens ließ die Eignung dieses Bewerbers, unab­hängig davon, zu welchen Beschlüssen die zuständige Kommission am Ende gelangen sollte, keine Wünsche offen. Man durfte also ruhigen Herzens ›zusehen‹. Dass Ost und West in Berlin so bequem aneinandergrenzten, ließ sich – für den Kandidaten – als glückliche Fügung betrachten, vorausgesetzt, man hielt (wogegen sich nichts einwenden ließ) den Verfolg des individuellen Glücks – the pursuit of happiness – für nichts Ver­werfliches.

In diesem Punkt allerdings mussten sich Zweifel regen. Denn der Kandidat machte auf seine Bewer­bung mit Sätzen aufmerksam, denen zu entnehmen war, dass er es keineswegs für ein Glück halten würde, an der Institution, an die er sich bewarb, auch zu lehren. Genauer gesagt: Es schien ihm ein Unglück zu sein, dass diese Institution, die nach Reputation, Aus­stattung und Studentenzahl mit der ihn gegenwärtig beschäftigenden – der Freien Universität im Westen der Stadt – nicht von fern konkurrieren konnte, über­haupt weiterbestand: »Ich hielt und halte es … für ganz selbstverständlich, dass wir – in meinem Falle: die Historiker der FU – in absehbarer Zeit in die alte Uni­versität übersiedeln würden, übersiedeln werden, deren Traditionen eines wissenschaftlichen Pluralismus wir nach besten Kräften in den vergangenen Jahrzehnten fortgesetzt haben.« Denn»mit der Wiedervereinigung war in meinen Augen nicht nur das Ende der bisheri­gen Humboldt­-Universität gekommen, sondern auch der Gründungsauftrag der Freien Universität erfüllt und damit entfallen.«

 

27.

Es handelte sich demnach um keine normale Bewer­bung, sondern um etwas anderes, das dringend der Kommentierung bedurfte. Es hätte ja sein können, dass weniger gewitzte Kollegen die Ausschreibung miss­verstanden als das, was sie war oder zu sein schien. Die öffentliche Anzeige der Kandidatur enthielt eine Warnung an andere, sich auf ein Verfahren einzulas­sen, dessen Ausgang, wie immer er aussehen mochte, den Zweck desavouieren würde, dem es diente: also Hände weg! Dem Leser fiel auf, dass der Kandidat nicht für seine Person sprach, sondern für eine Gruppe von Hochschullehrern – »wir – in meinem Falle: die Historiker der FU« –, Professoren also, die allesamt, wie man annehmen durfte, in einem ordentlichen Verfahren in ihr Lehramt berufen worden waren und nun mit dem Gründungsauftrag ihrer Universität nicht etwa die Geschäftsgrundlage ihrer Tätigkeit entfallen sahen, sondern bestenfalls die Notwendigkeit, zwischen Sinn und Funktion in eigener Sache hinreichend zu differenzieren. Denn wie immer sich das Verhältnis zwischen den Berliner Universitäten künftig regeln würde: Klar war, dass politische Entscheidungen an­standen, denen gegenüber der herrische Anspruch einer Professorenriege, man möge ihr die Räumlichkeiten, in denen eine abzuwickelnde Kollegenschaft ihrer verachteten Paralleltätigkeit nachging, besenrein übergeben, zumindest ebenso »lächerlich« wirken musste wie, dem Autor zufolge, der Fortbestand der Freien Universität auch »nach dem Ende der roten Diktatur«.

Hier sprach der Historiker ex cathedra: als einer, der von Haus aus weiß, dass Politik, jede Politik, zu Irrtümern neigt, die sich erst spät oder überhaupt nicht korrigieren lassen. So gedacht, mochte es gewisser­maßen konsequent erscheinen, wenn eine Handvoll Fachgelehrter aufgrund ihrer Kenntnis älterer Zusam­menhänge, die den verantwortlichen Politikern offen­sichtlich nicht mehr gegenwärtig waren, sich zu einem Coup entschloss, der, wenn er schon nicht gelingen konnte, so doch das Fähnlein der einschlägig Aufrech­ten – wie viele mochten es sein? – von aller künftig aufzuarbeitenden historischen Schuld im voraus freisprach. Doch die Pilatusgebärde derer, die zu wis­sen behaupteten, dass sie am Ende nichts ausrichten würden, passte allzu gut in die Szenerie der laufenden Anpassung, um den rühmlichen Vorwurf vollendeter Harmlosigkeit nicht allzu intensiv auf sich zu ziehen.

Die Bewerbung – und, parallel dazu, die der nicht namentlich aufgeführten Kollegen, soweit sie die Motive des Wortführers teilten – diente nicht dem per­sönlichen Fortkommen, sondern der Zuspitzung einer Situation. Der sich als legitim verstehende, bisher aus nicht von ihm zu verantwortenden Gründen im West­teil der Stadt angesiedelte Teil der Historikerzunft (Groß-­)Berlins gedachte es keineswegs hinzunehmen, dass in jenen Räumlichkeiten im Ostteil der Stadt, auf die er ein moralisch­politisches Recht zu haben bean­spruchte, Historiker ihren Platz behaupten oder ein­nehmen sollten, die sich nicht im entferntesten mit ihm würden vergleichen dürfen: »Was wird also ge­schehen? Wir werden vermutlich eine dritte Variante sich realisieren sehen: Wieder mal Mittelmaß. Es wird, Hals über Kopf, einige gute, mehrere mäßige, eine Reihe problematischer Berufungen geben, nämlich die Ernennung ost­westlicher Konzessions­-Schulzen, nach vielen Kungeleien«. Unverkennbar war das der rei­zendste Alleinvertretungsanspruch, der je auf deut­schem Boden formuliert wurde, nicht nur gen Osten, sondern auch gegen den eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs gerichtet, frei nach dem Brecht­-Motto: »nach uns wird kommen / Nichts Nennenswertes.«

 

28.

Was konnte sonst nicht im Ruf größerer Unbedachtheit stehende Wissenschaftler des saturierten Westens dazu verleiten, sich derart zu exponieren? Offensichtlich die Situation selbst: Wer immer sich in ihr vornehm zurückhielt, an dem würde, so der Argwohn, der Zug der Zeit wie eine Horde ungebärdiger Büffel vorbei­ donnern. Wer ältere Rechte vorweisen zu können glaubte, legte sie auf den Tisch. Bevor sich die zeit­weise sprachlosen, dafür um so energischer bespro­chenen Kollegen im Osten zur Notgemeinschaft der Revolutionsgeschädigten formieren konnten, war das Boot schon gezimmert, das sie alsbald mit zunächst zweifelhaftem, aber sich rasch steigerndem Erfolg in den Hafen einer überforderten Arbeitsgerichtsbarkeit wiegen sollte. Zwar zerfiel das pseudojuristische An­spruchsgebaren medienerfahrener westlicher Behaup­tungsakrobaten, welche Maßstäbe dekretierten und pauschale Bezichtigungen in der Öffentlichkeit streu­ten, alsbald hinter den Kulissen, dort, wo in zahllosen Komitees und Kommissionen das hochschulpolitische Erbe der DDR en detail gemustert wurde. Den Effekt der vorbereitenden Einschüchterung der anderen Seite beförderte es jedoch aufs beste. Bisweilen verblüffte die Grandezza, mit der selbsternannte Akteure der Einheit ohne Verzug auf nunmehr gesamtdeutscher Bühne zur Selbstdarstellung schritten, ohne den Um­stand in ihr Kalkül aufzunehmen, dass es im gemein­samen Haus jetzt neue Zuschauer gab – Zaungäste zwar, die noch zurückzustehen gewohnt waren, denen diese Gewöhnung aber in dem Maß abhanden zu kommen begann, in dem sie die Praktiken kennen­ lernten, mit denen man ihnen begegnete.

Das waren einmal die bereits abgewickelten oder verängstigt unter dem Damoklesschwert kommender Stellenkürzungen dahinlebenden Kollegen Ost. Sie schienen in diesem Spiel bloß am Rande in Betracht zu kommen. Vor ihnen mochte sich genieren, wer wollte – es gab deren genug. Man hätte vielleicht einwenden können, dass auch jene als Vertreter eines erst neuer­dings stigmatisierten Wissenschaftsbetriebs, so wie die Dinge nun einmal lagen, ein unbestreitbares Bürgerrecht besaßen, an den Hoffnungen und Begehrlich­keiten, die das westliche Gemeinwesen in seinen Subjekten fördert, nach Kräften zu partizipieren, statt in neugeprägter Demut das Haupt zu beugen. Doch abgesehen davon gab es, immerhin, eine Öffentlichkeit in nuce, die sich in den revolutionären Tagen der alten DDR effektvoll zu Wort gemeldet hatte und nun, nach der Vereinigung, zur Kenntnis nehmen musste, dass über ihre Angelegenheiten in sich weiterhin ›westlich‹ verstehenden Medien auf eine Weise befunden wurde, die die schrittweise Zivilisierung des Ostens als prin­zipiell nicht ausgeschlossen, jedoch nur durch eine Phase fürsorglicher Entmündigung hindurch zu bewir­ken ins Auge fasste. Es war menschlich, so zu verfah­ren – Versuchungen, denen niemand erliegt, sind schließlich keine –, und zutiefst verletzend. Vor allem beförderte es den Anpassungsdruck auf diejenigen, denen man ihr Angepasstsein ungeniert vorwarf. Das Resultat machte prompt Eindruck – den denkbar schlechtesten.

 

29.

Zu dieser Zeit wurde es bereits nötig, gelegentlich daran zu erinnern, dass die neuen Bundesländer es nicht wären, hätte die Dauermisere des alten Staates nicht längst vor der Wende jene lautlose Erosion der Gesinnungen bewirkt gehabt, die es den Organisatoren des Beitritts erlaubte, im wesentlichen unbehelligt durch die alten Mächte ihr Werk zu tun. Das bramar­basierende Gerede von der »zentralen kommunisti­schen Wissenschaftsfestung«, die es zu schleifen gelte, erwies sich im gleichen Zeitraum als wirklichkeits­fremd, in dem seine Wortführer sich voll missionari­schen Eifers dazu verstiegen, den ahnungslosen Zeit­genossen die Augen zu öffnen. Nüchtern betrachtet, bestand die Aufgabe darin, in einem bis dahin weit­gehend von Konkurrenz verschonten Wissenschafts­milieu gegen die Banalität und den menschlich­-allzumenschlichen Nepotismus nach dem Ende der politischen Gängelei etwas mehr Effizienz und Sachbezug durchzusetzen – schwierig genug für alle, die es betraf. Real waren die Berührungsängste auf beiden Seiten, die Befürchtungen, sich auf falsche Freunde einzulassen, naiv zu sein oder zu wirken. Ein einziges ungelegenes Wort, ein falscher Tonfall, jede Art verkürzter Rede konnten Verheerungen anrichten: Zwischen keiner Reaktion und Überreaktion blieb oft nur ein schmaler Spalt.

 

30.

Die grundsätzliche Frage angesichts der traumatisier­ten Wissenschaftsszenerie im Osten lautete: Wie hält der neue Staat es mit den Funktionseliten des untergegangenen Staates? Bei manchen, etwa der Staats­sicherheit, lag die Antwort auf der Hand. Bei anderen überließ man sie den Mühlen einer Justiz, die für diese Aufgabe nur mangelhaft gerüstet war. Insgesamt ent­hielt man sich der Stimme. Im neuen System mochte zurechtkommen, wer wollte. Die Rhetorik des Über­gangs, die dem redlichen Mitbürger, der stets nur seine Arbeit getan hatte, zusicherte, dass ihm nichts geschehen werde, es sei denn Gutes, hatte den Vorteil, dass sie bereits im Staat der Werktätigen salvatorische Funktion besessen hatte. So reden keine Arbeiter, so reden Leute, die sich in ihrer Karriere nicht aufhalten lassen wollen. Sie enthielt demnach das Angebot an fast alle, sich in die neu zu schaffenden Strukturen möglichst geräuschlos einzufügen, vorausgesetzt, sie erfüllten gewisse definierte Voraussetzungen – ein ›vernünftiges‹ Angebot, das immerhin dazu führte, dass die Reorganisation der Hochschullandschaft heute von ihren Machern – vermutlich zu Recht – als erfolgreich vollzogen betrachtet wird.

Mit den Augen der beteiligten Subjekte gesehen, bestanden jedoch keinen Augenblick Zweifel daran, dass dies ein zähes Spiel zwischen Siegern und Besieg­ten zu werden versprach. Ein Spiel mit vielerlei Unbe­kannten – entscheidend war, wer sich auf die Seite der Sieger, wer sich auf die Seite der Besiegten schlug und geschlagen wurde. Zwar wusste niemand, zu welchem Ende: Mancher Siegertyp aus dem Westen scheiterte rasch am Korpsgeist der Besiegten, mancher im Osten, der sich aus gutem Willen oder schnöder Berechnung auf die Seite der ›Sieger‹ stellte, musste erfahren, dass Unbotmäßigkeit noch immer vom Kollektiv geahndet wurde. Aber keine Seite zeigte sich gewillt, den puren Sachbezug zum Nennwert zu nehmen – aus gutem Grund vermutlich. Anders als die Schriftsteller, anders als die Kirchen waren die Hochschulen in der Revolu­tion stumm geblieben: Ihr Recht, mit eigener Stimme zu sprechen, war damit verwirkt. Die Revolution war über sie gekommen, hatte sie aufgebrochen und damit begonnen, ihre Inhalte in alle Winde zu zerstreuen, lange bevor die Evaluierungen ihren Lauf nahmen.

 

31.

»Die Karl­-Marx­-Universität steht nicht für beliebige Lehrinhalte zur Verfügung«: Das hörte der Gast aus dem Westen im Sommer 1990, den Leipziger Augu­stusplatz vor Augen, aus dem Mund eines ›Un­bescholtenen‹, dem alsbald die Aufgabe übertragen werden sollte, sein Fach zu reformieren. Der so sprach, dachte nicht daran – oder doch? –, dass er damit an einen Vorgang rührte, der inzwischen dreißig Jahre zurücklag. Damals hatte ein ›Student‹ unter dem Titel »Eine Lehrmeinung zuviel« die Treibjagd auf den Germanisten Hans Mayer eröffnet. Noch weniger gewahrte er, dass er einen Moment lang den Blick auf ein trutziges Innenleben freigab, das sich in den kom­ menden Stellungskämpfen verschleißen sollte, ohne sich Raum zum Atmen zu nehmen, getrieben von einer Angst, die dem Westler vollkommen unbegreiflich, dem Ostler vollkommen durchsichtig erschien, ohne dass sie einander darüber näherzukommen vermochten. Diese Angst des Verlierers, die auf Kongressen para­dierte und sich zu Hause in Aktenberge vergrub, unter­schied den ostdeutschen Wissenschaftler von seinen polnischen oder ungarischen Kollegen, die sich ohne Aufhebens zu den Siegern der Geschichte zählten und zählen durften, ein wenig erschöpft zwar ob der knap­pen Kassen, aber einverstanden mit dem Gang der Dinge. Sie machte ihn kenntlich, sie machte ihn un­kenntlich. Sie nahm ihm das Gesicht.