1.

»No water! Nein nein, just done!« wehrten drei Hände, vergeblich gegen das einströmende Frühlicht gereckt, synchron Athanasios’ stürmisches Ansinnen ab, die mitgeführten Flaschen mit abgekochtem Wasser aufzufüllen.

Verwundert betrachtete Edward ein vom Hochlager herabbaumelndes, marschfertig bekleidetes und beschuhtes Beinpaar, dem mit einem Ruck der nackte Oberkörper folgte: Werner, eingeschlafen unter der leise pendelnden Drohung seines am Längsbalken hängenden Rucksacks, war aus Albträumen hochgefahren und stürmte nun hinaus zur Morgentoilette.

Toms Koje lag still und verlassen.

Stefan und Edward blinzelten sich aus ihren Schlafsäcken zu und angelten nach leichtem Schuhwerk.

Erneut fliegt die Tür auf und gibt den Blick auf die stämmige und biegsame, im Licht vibrierende Gestalt Caspers frei. Seine funkelnde blaue Schirmmütze entwirft im Verein mit den blauen Bettlaken je nach Blickwinkel magische Dreiecke, Sechsecke und Quadrate.

Er drängt zur Eile. Heute haben sie die längste Etappe vor sich und die Zeit ist knapp.

Edward seufzt und rollt sich aus dem Schlafsack; Stefan steckt die Sportlatschen zurück und greift zu den Bergschuhen, auf denen trophäengleich rötlicher Staub schimmert.

 

2.

Nachlässig rasiert, eine Schleppe aus Hüttenmief und Aftershave hinter sich herziehend, den Magen mit Suppe, Ei und zwei Scheiben Weißbrot vage auf Dankbarkeit gestimmt, trotten sie eine halbe Stunde später hinter den beiden Führern in den Wald hinein, steigen achtlos am Krater vorbei und wenden sich, von dichtem Gesträuch umschlossen, dem steileren Stück zu.

Waren sie bisher nordwärts gegangen, so schwenken sie jetzt nach Nordwesten. Vor ihnen hebt sich das Gelände in kraftvollen Wellen zwei Buckeln entgegen, Kifinika und Podocarpus Hill, beide oberhalb der Dreitausendergrenze, die sie bald erreicht haben werden. Fast hätten sie den ersten Wellenkamm genommen, ohne es richtig wahrzunehmen.

»Da«, lächelt Casper, lüpft seine Schirmmütze und reckt den Finger.

»Ah!«

Über der Südflanke des Podocarpus hebt sich ein breites, auf einer Seite jäh abfallendes Band ins Blaue, weiß, fern, schmal, nah, riesig – der Gipfelgletscher.

Stefan wischt sich den Schweiß von der Stirn und greift nach dem Fernglas. Ein zärtliches Einverständnis herrscht zwischen ihm und dem Kibo. Als einziger aus der Gruppe war er schon oben und will, warum auch immer, noch einmal hinauf.

»Weshalb?« fragten die anderen, als sie bei Gesùzusammensaßen, und er faltete die Serviette, schloss die Augen halb und antwortete mit einer Stimme, die samten aus anderen Räumen herüberklang: »Das Gefühl der Freiheit.« – »Verstehe«, bemerkte Werner in die Stille hinein, knapp, wie selbstverständlich, ein wenig mitfühlend auch, und fügte dann hinzu: »Natürlich verstehe ich nichts, aber akzeptiert, das ist deine Erfahrung, ich denke, jeder von uns wird seine machen, und das ist ja dann auch in Ordnung.« Danach wurde es richtig still.

Die Zärtlichkeit hat er auf die Bergführer übertragen. Auch jetzt steht er wieder mit ihnen zusammen. Caspers Schirmmütze funkelt in der Sonne, baumelnd fährt der Zeiger von Melchiors marineblauer Wollmütze auf und nieder.

Nur Dieter geht dazwischen. Auf Caspers Schulter gestützt, bringt er seinen Arm gegen das gleißende Ziel in Stellung: »Da oben werden wir stehen. Das kann uns keiner mehr nehmen.«

Stefan schickt einen wissenden Blick seitwärts, verlässt die Gruppe und versinkt in die Betrachtung einer blühenden Staude, die aussieht, als keime auf ihr eine Schar blassrosa Schmetterlinge.

Er verschmäht jede Kopfbedeckung. Manchmal, findet Edward, der ihm mit Blicken folgt, glänzt seine weiß überflockte Schädelkuppel wie eine Tiara.

 

3.

Die Feuerwalze hat eine weißgraue Leere zurückgelassen, aus der schwarzen Bartstoppeln gleich die dürren Stangen herausstehen, die von der einstigen Vegetation Zeugnis ablegen. Hier und da wird der Weg von hohen, schattenden Bäumen eingefasst, die der Zerstörung entgangen sind.

Es herrscht Betrieb.

In unregelmäßigen Abständen werden sie von Trägertrupps überholt, die ihrem eigenen Rhythmus folgen. Andere kommen ihnen von oben entgegen, an ihren Fersen vereinzelte Bergtouristen, Abbrecher offenbar.

Leicht kann man die Führer ausmachen; wie Könige bewegen sie sich zwischen den Trägern.

Stefan begafft die Chagga. Er kann sich kaum sattsehen. Aus den Klamotten, die sie auf ihren geschmeidigen Leibern tragen – glitzernde Radlerhosen unter wattierten Anoraks, ausfasernde Saccos zu adidas-Hosen mit breiten Rallyestreifen, braunschwarze Unterhemden, Bermudas, Pluderhosen, senkellose Turnschuhe, Sandalen, Badelatschen, hier und da an den Füßen der Bergführer ein Paar aufgemotzte Bergschuhe mit hightec-Emblemen –, haben sich die Touristen davongestohlen; so geistern sie endlos mit.

»Abenteuerlich« findet er diesen Anblick und weist die anderen mit einem Kopfnicken auf besonders »abenteuerliche« Kombinationen hin.

Die bei Casper erfragten Namen der Träger stehen der Garderobe nicht nach: Gabriel Moshy, Walt Macha, Zacharia Nyaki, Dante-Ottone Kileo, Zara Tussa.

Auf den Köpfen balancieren sie Taschen, Plastiksäcke, Leinenkoffer, Paletten mit Bier und Säften, durch Kunstfolie zusammengehaltene Batterien von Wasser- und Colaflaschen oder schwankende offene Wasserkanister, deren verschütteter Inhalt hier und da die Steine am Wegrand netzt. Als ein Porter, dessen Pudelmütze nur das Gesicht freilässt, im Vorübereilen das Haupt zu sehr beugt, erkennen sie freudig: das war der Eiermann.

 

4.

Die Führer sind privilegiert. Sie tragen nicht – allenfalls die eigene Ausrüstung oder, gelegentlich, den Rucksack eines Klienten. Prestigeeinbrüche inbegriffen. So, als ein schwitzend zur Gruppe aufschließender Engländer entdeckt, dass er die Wasserflasche vergessen hat, und kurzerhand seinen Guide zurückschickt, um sie zu holen, während er selber den Weg mit der Flasche des Gebeutelten in der Faust fortsetzt – Kolonialherrenbräuche, wie Wolfgang findet, der darüber fast ausfällig wird.

 

5.

Wolfgang ist glücklich. Meistens wechselt er sich mit Stefan in der Spitze ab, grüßt links, grüßt rechts sein gemächliches »Dschambo«, auf das die Guides und Porters mit einem Augenzwinkern und einem geflüsterten »Hi« antworten, ohne ihren Herdentritt zu verlangsamen. Seine wuchtige Figur verdeckt die undeutlich im Gelände aufscheinende Wegspur und alle folgen ihm.

Neben ihm treten die Führer zur Seite, knüpfen am Wegrand Gespräche mit ihresgleichen an, lassen sich zurückfallen und geben auf jede erdenkliche Weise zu erkennen, dass es auf sie nicht ankommt, solange er vorausmarschiert.

Sein Gesicht glänzt purpurn, Schweißtropfen netzen den Ansatz seines einst dunklen, jetzt grau gefärbten Kraushaars, kullern über die gewölbte Stirn und verschwinden hinter den eckigen Gläsern der Sonnenbrille, versickern als Rinnsale in seinem Schnauzbart und werden von schmatzenden Lippen eingesogen; die Wasserflasche, jederzeit griffbereit, ragt aus einer Seitentasche des Rucksacks heraus. Bei jeder Mahlzeit kramt er aus vielerlei und vielgestaltigen Fächern eine erstaunliche Menge an Müsli- und Schokoriegeln hervor, die er gutmütig lachend zum allgemeinen Verzehr freigibt.

Da wäre keiner, der sich verweigert.

 

6.

Er hat eine anstrengende Session hinter sich; die Sitzungen, Nachmittagssitzungen, Abendsitzungen, Nachtsitzungen, Präsidiumssitzungen, Publikumssitzungen, Umzüge, Umtrünke, Anfahrten, Heimfahrten, Alkoholkontrollen, die Büttenredner und Beinschwingerinnen, das Tschingderassa, Gehopse, Gelächter, Gegröle, das Fuchteln und Händeschütteln und die Ausnüchterungspillen danach haben den Wunsch in ihm erstarken lassen, sich zu entziehen. Und so bewegt er sich in der klaren Luft, als streife er jeden Augenblick ein frisches Hemd über; guttural.

 

7.

Selbstgewiss wie nur einer,
lotrecht in den Säulen, wohl aufgeführt,
mit gesteiftem Gebälk,
stark wie ein Hengst, gutmütig, hochmütig, reizbar,
dem Geheimnis gepaart.

 

8.

Apropos Geheimnis: Was er wohlverborgen in den Tiefen seines Rucksacks mit sich führt, reicht aus, um dieser Tour mehr zu verleihen als einen Sinn. Zwar hat er wie die anderen das Blatt bei Gesù unterzeichnet. Aber was er da signiert hat, berührt ihn nicht: es verfügt nicht über die Kraft der Verführung. Außerdem ist er glücklich verheiratet und in der Hinsicht zu keinerlei Späßen aufgelegt. Auch der Karneval dient letzten Endes dem Fortkommen. Fast immer ergibt sich dabei das eine oder andere Geschäft. Diese Medienfritzen hier sind auch nicht zu verachten; mag die Zukunft zeigen, wozu der Berg gut ist.

 

9.

Auch wenn Dieter sich im Hintergrund hält – in ihm pocht die Herausforderung vielleicht stärker als in allen anderen. Den Berg zu bezwingen ist er aufgebrochen, nachdem er den Vorsatz vor über einem Jahr gefasst und schrittweise in die Tat umgesetzt hat. Er ist der Arrangeur des Aufbruchs, er hat die Kontakte hergestellt, die Gruppe ins Leben gerufen, das Treffen bei Gesù arrangiert – auch, nebenbei, die ominöse Abmachung aufgesetzt –, ganz zuletzt für den Flug noch einen kleinen Swahelikurs zu Papier gebracht, und immer wieder, Stück für Stück, die Verhältnisse vor Ort zu ergründen versucht: Wo liegen die Tücken, wo die Gefahren des Unternehmens, was kann man tun, um ihnen zuvorzukommen? Sein Beruf hat ihn gelehrt, riskante Projekte ausfindig zu machen und dann die Risiken Zug um Zug auszumerzen; bald sollte er begreifen, dass diesmal die beste Strategie darin lag, Glück zu haben, einfach so... der Gegner schien unter einer Tarnkappe verborgen, als deren sichtbares Pendant sich pünktlich – er wusste davon, bevor er es zu sehen bekommen bekam – jeden Mittag um den Gipfel eine Dunstglocke zusammenzieht.

Es ging darum, das Glück mittels einer klinisch zu nennenden Operation herauszufordern. Gab man dem Körper Gelegenheit, sich auf die fallweise erreichte Höhe einzustellen, so schwand die Herausforderung wie das Kibo-Eis an der Sonne. Daher lautete die Aufgabe, durch einen straffen Zeitplan die Anpassung zu verhindern. Das Alarmsystem des Organismus musste durch die Schnelligkeit des Aufstiegs überlistet werden. Damit diese Rechnung aufgehen kann – so lernte er –, ist es wiederum nötig, langsam zu gehen – »pole pole« in der Sprache der Einheimischen –, langsam, ohne Zeit zu verschenken. Wenn dies gelang, stand der Gipfel offen, »no problem«, wie die Bergführer sagten, die einem scharf ins Gesicht sahen, als zeichneten sich dort bereits die Spuren des kommenden Desasters ab.

Wie auch immer – es durfte nichts geschehen, was sie aus dem Tritt brächte. Nichts durfte geschehen: weder im spektakulären noch im unspektakulären Sinn. Man musste sich in die Ereignislosigkeit begeben, um um... in jenes Gleiten zu geraten, das einen fortträgt, ohne nach Innen und Außen zu fragen.

Die Ereignislosigkeit ist das Fest, und es endet mit der Enthauptung des Giganten, dem prachtvollen Streich, der den Götzen in die Nichtigkeit zurückstößt, aus der er eines verfluchten Tages hervorgekrochen ist, man weiß nicht, wann und warum.

Ah ja, ins Nichts mit ihm! Nun ja, ein wenig pathetisch gedacht vielleicht, irgendwie unheimlich auch, aber zweifellos, es ist was dran, es ist was dran.

»Habari za watoto?«

Streng sieht er Melchior, der höflich und aufmerksam neben ihm läuft, ins Gesicht. Der Guide stutzt, dann kommt das Erkennen. »My children? Oh thanks! They’re o.k.«

 

10.

Links zieht Werner an ihnen vorbei: »Alles im Griff?«

»Unbedingt. – Kiasi gani?«

Melchiors Züge verdüstern sich.

»How many?« drängt der Fremde.

»Oh«, sagt der Einheimische mit wegwerfender Gebärde, »five or six.«

Der Fremde, unsicher, ratlos: »Hours? Today?«

»Hours, oh yes. Many hours. No problem.«

 

11.

Kein Problem. Woher denn auch? Langlauf, Tennis, Rad... ein kräftiges Trainingsprogramm hat er zuhause abgespult, in Saunen geschwitzt, in sternklaren Nächten sich einen abgefroren. Ein bisschen eng ist es geworden, zugegeben, im Büro ging es zeitweise heftig zur Sache. Er hat getan, was er konnte. Es wird schon reichen. Aber sicher.

Seit Wochen nimmt er jetzt Aspirin, tagaus, tagein. Heute morgen erst hat er mitbekommen, wie Werner beiläufig eine Brausetablette in seine Feldflasche rollen ließ. Der also auch.

Die anderen hat er zwar im Verdacht, weiß aber nichts Genaues.

Der Tip kam von Stefan. Sie haben das Thema nicht weiter vertieft. Aber er nimmt doch an, dass einer wie Stefan tut, was getan werden muss. Auch wenn er hier und da etwas lässig auftritt, im Kern, dessen ist Dieter sich sicher, im Kern verfügt Stefan über die Sanftmut einer Stahlfeder. Sein Charme besitzt etwas Umwerfendes.

O ja, gut kann er sich erinnern. Stefans Botanisieren hat ihn entsetzlich gefuchst, solange er nicht mithalten konnte. Wie manches andere hat sich auch das im Lauf der Jahre erledigt. Heute kann es geschehen, dass er sich ohne mit der Wimper zu zucken über eine Losung beugt, sie eingehend beäugt und beschnüffelt, anschließend die Brille abnimmt und aus der hohlen Hand einen lateinischen Ausdruck schöpft, oder dass er sich genießerisch über eine »extrem seltene« Schneckenart der Karibik auslässt – Strombus goliath aus der Gattung der Fechterschnecken, komischer Name, übrigens ein begehrtes Sammlerobjekt, woher hat er das nur? –, einfach so, aus dem Handgelenk, denn nach wie vor ist es nicht sein Bier. (Ein Schluck aus der Flasche, jetzt? – Aah.)

Auf alle Fälle wird er dranbleiben.

 

12.

Alles nimmt er ihm ab. Aber diese Freiheitsnummer... das war schon etwas dick aufgetragen.

Nein. Der will nicht nach oben, um frei zu sein. Einer wie Stefan macht sich höchstens frei, um nach oben zu kommen. Einmal, zweimal, warum nicht auch drei- oder viermal? So einer will oben stehen, koste es, was es wolle: Gipfeltourist, umbuhlt, Luxusgeschöpf, geschröpfter Voyeur, Routineekel –

Mer täte nix unmägliches verlange.

Und da ist noch etwas. Immer ist da noch etwas, aber dies hier, lose, regt sich wie ein Verdacht.

Dein Freund ein Frömmler: Könnte das wahr sein?

Darüber darf man doch nicht schweigen, darüber muss man reden.

Soll er es einmal ansprechen, beim dritten oder vierten, vielleicht auch fünften oder sechsten Viertele, wie es sich für ein solches Thema gehört? Naja, vielleicht nicht.

Freundschaft beruht auf Respekt.

Andererseits: etwas wie Andacht strahlt von ihm aus.

Sowas geht über.

Ob er da vorne jetzt auch den Griff nach dem Herzen spürt, die leichte Irritation, die nicht weggeht, seit sie die dreitausend unter sich gelassen haben?

Müßige Fragen.

 

13.

Motiviert sein

– Sie waren oben?

– Aber sicher.

– Der Weg ist das Ziel?

– Für alle, die es nicht schaffen: ja! Denken Sie an die Klimazonen – dafür muss einer doch sonst um den halben Erdball reisen. Tropischer Regenwald, Hochlandwüste, ewiges Eis – alles in fünf Tagen. Ist das nichts? Absolut... nun ja: phantastisch. Nur über eins sollten Sie sich klar sein – Sie müssen kämpfen. Je höher Sie kommen, desto heftiger müssen Sie kämpfen. Ihr Körper mag diesen Aufstieg überhaupt nicht, kein Körper mag diesen Aufstieg. Um die viertausend setzt der Kopfschmerz ein, der Sie nicht mehr loslässt. Übel, übel, speiübel, sagen wir es ruhig, aber auch da müssen Sie durch. Was meinen Sie? Leute, die unbehelligt nach oben kommen? Ganz recht, die gibt es. Aber, unter uns, machen Sie sich nichts vor: Zu denen gehören Sie nicht. Warum? Warum sollten Sie. Übrigens ist die Rechnung einfach. Jeder geht an seine Grenzen. Wer weitergeht, riskiert das Leben. Klingt gefährlich, äh? Genau. Sie steigen ja leicht, ganz locker. Sie haben keine Probleme, Sie nicht, woher denn – keine technischen Probleme, wohlgemerkt, keine Steilwände und dergleichen, ein Schritt gibt den nächsten. Aber... ein Schritt zuviel, und Sie sind weg vom Fenster. Manche sterben natürlich. – Als wir auf der letzten Hütte einliefen, reichlich benommen, um ehrlich zu sein, lagen da schon zwei junge Frauen auf diesen Pritschen, zwei Krankenschwestern, wie wir hörten, die halluzinierten gewaltig.

– Was passierte mit ihnen?

– Es hieß, sie würden auf Karren nach unten geschafft.

– Klingt, als wollten Sie abraten.

– Naja, nicht übertreiben. Wer sich vernünftig verhält, Sie wissen schon... Auf dem Gipfel sind sowieso alle Quälereien vergessen. Da oben denkt man nicht mehr, dafür reicht der Sauerstoff nicht, man ist glücklich.

– Was ist das für ein Gefühl?

– Ach sehen Sie, das... das...

– Sie waren zu sechst. Haben es alle geschafft?

– Wie kommen Sie denn darauf?

 

14.

Was, zum Teufel, treibt dieser Edward da?

Noch hatten sie das Ende der Brandzone nicht erreicht. Im lockeren Schatten einer Bauminsel, durch die der Weg sich aufwärts schwang, entledigten die Träger sich ihrer Lasten. Die Gruppe, darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren, beschloss eine kurze Rast.

Edward macht die Verstopfung zu schaffen. Er späht hinaus.

Sanft rundet sich der Hügel, versinkt in einer Mulde, steigt als verkohltes Leichenfeld wieder ins Blickfeld. Ausgebleichtes, weich fallendes Gras verbirgt den Boden, hier und da melden sich grüne Spitzen.

Die Gruppe, abgelenkt durch ein Reptil, steht abseits.

Vorsichtig biegt Edward einen Strunk zur Seite. Tastend setzt er den Fuß auf ein trockenes Grasbüschel, dessen weiße Blätter sich lautlos wie Sicheln um seine Schuhe schließen. Beherzt schreitet er aus.

 

15.

Der schwäbische Missionar Rebmann entdeckte den Gipfel am Morgen des elften Mai des Jahres 1848, obwohl dieser doch seit Menschengedenken dort aufragte und von keinem der um ihn verstreut lebenden Stämme der Hinweis überliefert ist, man habe ihn eines Tages nicht am gewohnten Ort gesichtet. Seinem Tagebuch vertraut der Gottesmann an, er habe ihn mit einer auffallend weißen Wolke bedeckt zu sehen geglaubt. Zu sehen geglaubt. Sein Führer, schreibt er, habe das Weiße, das er sah, schlechtweg Kälte genannt; ihm, Klaus Rebmann, sei aber ebenso klar als gewiss geworden, dass das nichts anderes sein könne als Schnee, »welchen Namen ich meinen Leuten sogleich nannte und die Sache zu erklären suchte; sie wollten mir aber nicht recht glauben.«

Nun ja. Hätte ihm jemand vorausgesagt, seine nächtlichen Kritzeleien würden im fernen Europa einen gelehrten Sturm entfachen – schließlich konnte die Vorstellung, es möchte am Äquator Schnee geben, nur einem kranken Hirn entsprungen sein –, wer weiß, er hätte sich vielleicht in voreilendem Gehorsam geübt und sich aller Hypothesen über die seltsame Lufterscheinung enthalten. Grund dazu hatte er: Spekulationen über seinen Geisteszustand – und den des Amtsbruders, der die Sache später bestätigte – konnten alles in allem dem Missionsgeschäft nicht von Nutzen sein.

So gewann der Leser. Er erhielt einen ungeschminkten Bericht über das, was der Entdecker sah: eine weiße Wolke, die sich bei abermaligem Hinsehen als Schnee zu erkennen gab. Nicht dass der geistliche Herr beim zweiten Aufblicken etwas anderes gesehen hätte – Stefan, über dem noch unverdauten Lektüreeindruck grübelnd, entschied sich für die Annahme, der Ausdruck »weiße Wolke« sei nur prophylaktisch zu verstehen, als sichernde Maßnahme gegen den Missstand, eine Sache unbenannt zu lassen, solange sie der Verstand noch nicht ausreichend analysiert hat. Erstaunlich war nicht der Anblick der weißen Wolke, sondern das, was fast unmittelbar auf ihn folgte: das zweifelsfreie Erblicken des Schnees, das durch allerlei nachgeschobene Überlegungen nur gefestigt, aber nicht wirklich begründet wurde.

 

16.

Rasch stellt er fest, dass die Bauminsel ihn ebensowenig den Blicken der Begleiter entzieht wie die toten Stauden, die er instinktiv im Gelände angepeilt hatte und umrundete. Das Gras wächst länger hier draußen. Begütigend legen sich seine Büschel auf den durchscheinenden, pockennarbigen Fels.

Beim vorsichtigen Eindringen zeigt sich: Das Geäst ist sperriger als vermutet. Schwarze Wisch- und Schabmuster bedecken Hose und Hemd. Der Teppich schluckt jedes Geräusch. Nur das Kratzen und Knacken der trockenen Zweige ist hörbar. Edward wirft scheue Blicke um sich. Streifen um Streifen versinkt die Bauminsel jenseits der Kuppe.

Beiläufig schätzt er die Distanzen. Ein Graben, vielleicht zwanzig Meter entfernt, nicht einsehbar, durchschneidet das Gelände. Nach und nach – unbegreiflicher Zwang! – orientiert er sich zu ihm hin.

Drüben, jenseits des Grabens, steigt der Hang rasch über seine Höhe hinaus. Was kommt dahinter? Er hätte es gern gewusst. Doch die Rinne, deren Ränder sein Blickfeld nach oben und unten begrenzen, ist, das fühlt er, terra infirma. Das Gesträuch scheint dort dichter zu stehen, stärker verfilzt und nur mühsam durchquerbar.

Auf seiner Seite wirkt das Gelände offener, es steigt kaum merklich an – sind das dort nicht die Spitzen der Bauminsel? –, doch nur für kurze Zeit, dann neigt es sich, fällt ab, ohne Einblicke in die Struktur des Hügels zu gewähren.

 

17.

Ein wenig bedauert es Stefan, dass er nicht in die Pose Rebmanns schlüpfen und den eigenen, mehr oder weniger trainierten Weltsinn entscheiden lassen kann, was es mit jener strahlenden Weiße auf sich hat. Wäre er gut? Oder würde er sich vor der Nachwelt blamieren?

Rebmann jedenfalls hatte allen Anlass, gut zu sein. Schließlich kam er nicht ohne Grund. Als Lehrer und Hirt besaß er die Pflicht zu einfachen, glatten, klaren und, soweit es um nachprüfbare Dinge ging, leidlich richtigen Urteilen.

Vor allem: Keine Gespenster! Ein von Geistern gereinigtes Land stellte die tabula rasadar, die der Botschaft von dem gleichermaßen unendlich fernen und unendlich nahen Gott als harte, aber plane Unterlage zu dienen vermochte. Da traf es sich gut, dass der eingeborene Führer vor Beginn der Expedition bereits ein paar Leute hinaufgeschickt hatte. Eine ordentliche Entdeckung bedurfte gewisser Vorkehrungen. Der Führer wusste zu berichten, statt des erhofften Silbers sei in den mitgeführten Behältern am Ende nur Wasser gewesen. Allerdings hätten die Geister sie mit Beulen an den Füßen und ähnlichen Übeln traktiert. Einer der Leute sei beinahe gestorben. Aber der Triumph des Europäers ließ sich durch solche Nebenumstände nicht aufhalten.

 Was, so grübelt Stefan, hätte der »Mann Gottes« darum gegeben, in Erfahrung zu bringen, wie sich seine praktische Überzeugungsarbeit mit der Interpretation seines Tuns durch die Weggefährten kreuzte? Vermutlich ebensowenig wie jener fabelhafte Weltumsegler, der sich unbeschadet seiner christlichen Seele auf Hawaii als Gott deklinieren ließ, ohne ein Quentchen Argwohn an den Gedanken zu verschwenden, das schmeichelhafte Ritual könne dem so Geehrten einen tödlichen Abgang bescheren.

Rebmann erblindet und kommt mit dem Leben davon. Andere haben weniger Glück.

 

18.

Die Getränke sind verstaut, die Träger bereits auf dem Pfad, Casper und Melchior wechseln fragende Blicke, Stefan, der mit einer weichen Bewegung das Fernglas aus der Tasche befreit und an die Augen gesetzt hat, lässt es sinken. Niemand zu sehen. Achselzucken.

 

19.

Übergangslos, obgleich im Untergrund vorbereitet, die Empfindung der Fremde: von Unwägbarkeiten umgeben, vom eigenen Aufbruch überholt. Edward führe nicht erschrockener zusammen, höbe sich Stück für Stück der Schädel eines Elefanten schlenkernd über den Rand des Grabens, als in diesem Moment, da die Luft ihm ein tiefes Schweigen zuträgt, das ebensogut Angriff wie Gleichgültigkeit signalisiert. Noch immer nimmt ihm der Hügel jede weitere Aussicht.

Unstet läuft sein Blick den engen, von unglaublicher Bläue überwölbten Horizont ab, bis er wie von ungefähr auf das Stück Erde vor seinen Füßen fällt, auf diesen Dschungel en miniature, erloschenes Blattwerk, das seine Füße deckt.

Wo er steht, hat er offenbar nichts zu befürchten. Es fällt schwer, das zu wissen, und dennoch einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Die Landschaft, oberflächlich gelassen, oberflächlich bereit, ihn gewähren zu lassen, hat sich verwandelt. Er spürt ihre angespannten Muskeln, den geduckten, lauernden Gang, ihr abwartendes Beiseitestehen, manchmal, einen Wimpernschlag lang, flimmert ein gelbliches Fell vor seinen Augen.

Er überschlägt seine Chancen. Sie stehen nicht gut. Einem Angriff hätte er nichts entgegenzusetzen.

Was gäbe er darum, jetzt langsam ein Messer aus dem Stiefelschaft zu holen, es prüfend gegen die Sonne zu halten und mit dem Nagelrücken über die Klinge zu fahren –

Was gäbe er...? Nichts, wie er sich widerstrebend und ein wenig erleichtert eingesteht, da es ihn allenfalls um das bisschen Verstand brächte, das sich augenblicklich in ihm zu regen beginnt.

Es ist der Moment, in dem Stefan, dessen Blicke angestrengt über die Kuppe wandern, erneut das Fernglas hebt. Drüben, jenseits der Senke, hat sein weitsichtiges Auge zwei reglose Punkte erspäht. Er möchte schwören, dass sie eben noch nicht vorhanden waren. Was er dort, stecknadelgroß, unterscheidet, verändert seinen Körperausdruck um eine Nuance. »Hyänen«, bemerkt er trocken, und reicht das Glas, ohne den Kopf zu wenden, an Dieter weiter, der unauffällig neben ihn getreten ist.

 

20.

Zu Rebmanns Zeit raffte die Malaria zusammen mit anderem Ungemach im Schnitt ein Drittel aller Afrikareisenden dahin.

»Afrikareisende«: so hießen die Leute, denen das Kunststück gelang, anderthalb oder zwei Jahre auf diesem Erdteil durchzuhalten. Rascher ließ sich der »Schandcontinent« ohnehin nicht bewältigen. Gebildete Leute alles in allem, ein paar Studienabbrecher darunter, teure Tote. »Was ist uns Afrika nicht alles als Ersatz dafür schuldig?«Kolonialisten-O-Ton. Gute Frage übrigens, bis heute unbeantwortet. Noch der Erstbesteiger des Kibo, den seine Stammesbrüder nicht minder ausgeklügelt feiern sollten als zweihundert Jahre zuvor die polynesischen »Eingeborenen« einen Gast mit bürgerlichem Namen James C., vertut zwei Jahre im Lande, ehe der dritte Versuch ihn auf die eisige Spitze verschlägt. Eine enorme Verschwendung von Zeit und Ressourcen, verglichen mit dem lean climbing, wie man es heute praktiziert.

Mit Blindheit geschlagen: die Bekehrer, Entdecker, Gipfelstürmer und Eroberer der letzten weißen Flecken in den Karten des weißen Mannes.

Und doch... vielleicht wurde weder vorher noch nachher die Erde mit einem so unbefangenen Blick in Besitz genommen. Mancherlei blitzt in ihm auf. Mochten sie sich herausnehmen, was sie wollten, es war legitim: »Der Erwerb von Land ist in Ostafrika sehr leicht. Für ein paar Flinten besorgt man sich ein Papier mit einigen Negerkreuzen.« So notierte es Bismarck, dem das suspekt blieb. Sie vertraten das Heute. Mit ihnen kam das Wissen und natürlich kam die Technik. Sie besaßen die barsche Freundlichkeit, die Schöpfung von dem unerklärlichen Fluch der Indolenz befreien zu wollen, der auf weiten Landstrichen lastete.

Diese Herren in ihrem grotesken Tropen-Outfit waren Erwecker. Was ihr Zauberstab berührte, sollte von Stund’ an ticken: bis die spannungslos gewordene Feder oder ein gähnender Gott in seiner abgründigen Güte dem rastlosen Lauf ein Ende setzte.

 Jeder... jeder von ihnen hätte die Worte aussprechen dürfen, die ein paar Jahre später ein Stubenhocker in den Zusammenbruch der europäischen Vorkriegswelt warf: »Ich bin der Paraklet.«

21.

Seufzend, einem qualvollen Traum entrinnend, richtet sich Stefan an der Gestalt Caspers aus, der auf einem Stein posiert und seinen vorbeidefilierenden Schäfchen der Reihe nach mit blinkendem Goldzahn mutspendend zulächelt. Just als ihre Blicke sich treffen, lässt Melchior eine Bemerkung fallen. Sie klingt spitz, fremd, kühl, beiläufig, beiseitegesprochen, Stefan vermöchte nicht zu sagen, weshalb er sich verletzt fühlt. Im Mittelgrund, der nächsten Kuppe zu, markiert Athanasios eine Stelle im Gelände, dunkel, schweigend, mit verschränkten Armen und reglosem Gesicht, als lausche er auf die Stimmen der Elemente.

Schwarze, rasch zur Sache kommende Wolken quellen über die Kuppe.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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