1.

Ohne weiter auf das an sich ungewöhnliche Faktum zu achten, den Zutritt zum Berg durch ein von bewaffneten Posten beschirmtes Gate reguliert zu finden, haben sich die Mitglieder der Gruppe mit Passnummer und Berufsbezeichnung in das ausliegende Gästebuch eingetragen. Angerührt von der Resolutheit, mit der die Geschäftsführerin des Hotels, die sie heraufbegleitet hat, im Hintergrund die weiteren Formalitäten erledigt, saugen sie die tropische Luft ein, die noch morgenkühl und bereits ein wenig klebrig die Nasenflügel durchzittert. Der eine und andere probiert mit ungläubig zuckenden Fingern den langen, unten spitz zulaufenden und blechbeschlagenen Stock aus, mit dem die Geschäftsführerin jeden von ihnen versehen hat. Fast als sei es die ihre, genießen sie die Leichtigkeit, mit der die einheimischen Träger Taschen und Säcke auf Köpfe und Schultern heben. Noch durchgerüttelt von der kurzen Anfahrt, ist jeder begierig wie ein junger Hund, den Weg unter die Füße zu nehmen.

Die Führer – Casper, Melchior, Athanasios – treten den Kies, posieren leutselig lächelnd vor Kameraaugen und erwecken durch leichte Kleidung und nachlässiges Schuhwerk den Eindruck von Sonntagsausflüglern, die dem Unternehmen noch nicht den gebührenden Ernst abgewinnen können.

»Das ist es.« Dieter hat die Stollenlandschaft seines rechten Bergschuhs erforscht; nahezu umsichtig setzt er ihn in den Sand.

Die anderen »verstehen«, auch wenn die Wendung rätselhaft bleibt.

Die Tatsache, dass man sich hier befindet, dass der Weg dort hinauf führt und sich bald angemessen verengen wird, dass die Träger bezahlt sind und sich bereits in Bewegung gesetzt haben, so dass man gezwungen ist, ihnen zu folgen, schon, um seine Habe nicht allein und sinnlos zwischen den Bäumen verschwinden zu sehen – das alles lässt keinen anderen Schluss zu als den, dass jetzt den schwachbrüstigen Bildern die Stunde geschlagen hat, mit deren Hilfe die Phantasie seit Tagen und Wochen gegen den horror vacui ankämpft, der sich bei jedem anders, aber im großen und ganzen vergleichbar von einem Moment zum anderen im nach und nach zerfasernden Alltag eingenistet hatte.

 

2.

Gleich nach der Ankunft auf dem windigen International Airport hatten die Bilder Farbe bekommen: Auswurf des Landes, das sie im Landrover durchbrausten, Tönungen, welche die Scheinwerfer aus der Nacht hervorzogen, um sie ebenso rasch zu verwerfen; allen voran ein stumpfes Grau, das allenthalben bereit schien, in ein verwittertes Braun überzuwechseln, bevor es rasch und willig hinter ihnen versank.

Das Weiß der Polizeiuniform an der Straßensperre, das wie ein Zeiger in die von flachen Häusern und gelegentlichen Baumgruppen portionierte Skala hineinstach, gehörte ebenso dazu wie die Schwärze der lackierten Fingernägel, die ihnen die Geschäftsführerin des Summit-Hotels ein wenig höher als üblich entgegenstreckte, als habe sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass einmal sich ein Gast zum Handkuss verstehen werde.

Dafür war es zu spät, Mitternacht lag hinter ihnen, die kleine Zeitverschiebung hatte zu wirken begonnen.

Lustlos kreuzte und verwob sich die gespannte Erwartung der Ankömmlinge mit der enttäuschten Erwartung der Frau, die sich einen Tick zu willig an die Theke heftete und dem stumm hantierenden Barmann befahl, zum Willkommen ihnen allen einen südafrikanischen Premier Cru aus dem Pappkanister einzufüllen.

 

3.

Aus der Tiefe des Office auftauchend, winkt sie mit einem Stück Papier. Aufbruch. Der Fahrer kippt die Mütze ins Genick und entfernt sich in Richtung Parkplatz. Die Gruppe löst sich vom Geländer. Von den Führern umkreist, steuert sie auf den Waldweg hinaus und schwenkt bergwärts. In Edwards Kopf setzt ein gewaltiges Brausen ein.

Vogelstimmen schrieen, pfiffen, keckerten und gurrten über- und durcheinander. Beiderseits des Weges, unter den hochaufragenden Baumkronen, raschelte und knackte es im Gehölz.

Das hier ist Afrika, dachte er. Africa is great.

Sicherheitshalber tastete er nach den Tablettenvorräten, von Baripur bis Reptozen, die griffbereit in den Hosentaschen und einer gewissen Ausbuchtung des Rucksacks auf einen unbestimmten Einsatz warten.

Ein dunkler Punkt: die Malariaprophylaxe. Im Augenblick mag er nicht daran denken.

 

4.

 »Ksst!« Stefan, der vorausgestapft ist, breitet die Arme aus und drückt die Handflächen nach unten.

Sachte, sachte, soll das wohl heißen.

Er reckt sich, tänzelt, lässt einmal den rechten, einmal den linken Bergschuh über dem Boden kreisen und hält beharrlich auf einen Busch zu, der im Gegenlicht ruhig vor sich hindorrt. Eine knappe Handvoll Gefieder wippt dort, Flügel zucken, hektisch fährt ein Hälschen hin und her. Das winzige glitzernde Greisenauge späht nach dem Tänzer.

»Webervogel. Ploceidae. Weitläufig mit unserm Sperling verwandt.«

Der Vogelfreund schnalzt mit der Zunge und lacht.

Ein klagender Laut steht in der Luft. Der Weber schwirrt auf und davon.

Bureaucratic, feixt eine Gehirnwindung. Krächzvogel, gehört zur Familie der Rabenartigen.

 

5.

Der Weg gabelt sich.

Athanasios, Entschiedenheit in der Stimme, weist rechts hinauf. Über den anderen Weg, der gemächlicher ansteigt, schweigt er.

Melchior hält sich im Hintergrund.

Casper lässt sich nirgendwo blicken.

 

6.

Ein Weg zur Linken fällt rasch ab und verliert sich im Gebüsch.

»Waterfall« steht auf dem verwaschenen Schild.

»No rain, no water«, klagt Athanasios und richtet den Blick nach oben.

Das ist Geplauder. Man spürt die beim ersten Schritt bergwärts angesprungene Aufmerksamkeit der Guides, die jetzt leer läuft. Eine Höflichkeit liegt darin, die nicht den Kunden, sondern dem Berg gilt.

Fragt sich, auf welche Weise er sie erwidert.

 

7.

Sie sind zu sechst: sechs Männer mit einer Abmachung.

Abmachung? Hoho. Ein Scherz unter Männern.

Zwar... genau weiß das keiner.

Voneinander wissen sie gerade einmal die Vornamen: Dieter, Bernhard, Edward, Stefan, Werner, Wolfgang.

Noch reden sie einander mit »Herr« an. Die Aufgabe des Duzens werden sie am Nachmittag meistern.

Jeder hat einen in die Gruppe gebracht – mit Ausnahme von Edward, der als letzter dazustieß.

Keiner redet über das Papier, genauso wie keiner darüber geredet hat, als es bei Gesù herumgereicht wurde. »Da Gesù«: so hieß das Lokal, in dem sie sich das erste und einzige Mal vor der Abreise trafen.

Sie speisten Seeteufel am einzigen erleuchteten Tisch in einem verlassenen Saal.

Die Abmachung las sich ebenso lachhaft wie unmissverständlich: Wer nicht hochkommt, geht nicht zurück. Alle würden zusammenlegen, um dem, der zurückbleibt, ein zweites Leben zu ermöglichen, wo auch immer.

Schön schön, denkt Edward, das Geld wäre schon recht.

Er ist erstaunt darüber, dass er nicht kräftiger schwitzt.

Der Stock in der Hand wird ihm lästig, am liebsten würde er ihn unauffällig am Wegrand vergessen. Aber Melchior, aufmerksam, ist zur Stelle und weiß es zu verhindern.

 

8.

Elsa Melstroem im Gespräch.

»Wie lange führen Sie das Hotel?«

»Seit sieben Jahren.«

»Woher kommen Sie?«

»Aus Äthiopien... Ich bin dort geboren. Ich bin Afrikanerin.«

»Fahren Sie manchmal nach Europa?«

»Ein- bis zweimal im Jahr. It’s horrible. It’s terrific. Ich bin jedesmal froh, wenn ich wieder hier bin.«

»Warum?«

»Der Lärm, die Enge: ich könnte das nicht ertragen. Africa is great.

Und die Armut?«

»Wieso Armut? Denen geht’s hier doch prächtig.«

 

9.

Erste Rast. Ein Holztisch, zwei Bänke, alles massiv, daneben ein Pfad ins Abseits.

Die Träger sind bereits da. Ein paar Schritte entfernt sitzen sie auf dem Boden, die Koffer, Seesäcke, Taschen liegen um sie her verstreut.

Im Lunchpaket, einer verknoteten Plastiktüte, baumelt neben zwei belegten Broten ein braunes Ei, dessen Schale bereits zu bröckeln beginnt, ferner eine grüne Frucht, die alle in stillem Einvernehmen zurücklegen. Wie sie schmeckt, werden sie daher erst am nächsten Tag erfahren: Dann hocken sie, gegen einen Regenschauer in bunte Plastikumhänge gehüllt, auf einem Felsbrocken in der kahl gewordenen Landschaft.

Gegenwärtig, durchsonnt, im zweideutigen Schutz des Regenwaldes, regt sich das zivilisatorische Begehren noch unverstellt. Eine Runde Schokoriegel, von Wolfgang gönnerhaft unters Volk gebracht, verschwindet im Handumdrehen.

Edward, vom Bedürfnis seitwärts gelenkt, folgt dem Pfad ins Abseits. Nach ein paar Schritten stoppt er vor einem Abhang, an dessen oberer Kante, durch eine freistehende Wand gegen fernere Blicke abgeschirmt, der Abtritt klebt. Das Gemäuer trägt einen hellen, freundlichen Gelbton; ein wenig Verfall, ein wenig Wildnis spielen beiher, Schmetterlinge schaukeln vor den schwarzen Öffnungen. Er wählt die linke, tritt ein, dreht sich einmal um seine Achse und geht wieder hinaus.

Die Luft brodelt, einige Schritte entfernt spielen zwei Schmetterlinge um eine Staude Fangen, ein weißer und ein roter. Baumwipfel stechen weit in den aufgerissenen Himmel hinein, der sich sachte dreht. Mechanisch setzt Edward die Schritte, trampelt Gräser nieder, hetzt Käferkolonien auf und davon, durchschneidet eine Mückenspirale, verwickelt sich in Spinnweben wie in überkandidelte Haftfolien, entgeht nur knapp dem Attentat eines Zweiges, der an seiner Schläfe vorbeischwingt, und findet, noch immer vibrierend, die anderen im Aufbruch.

Keiner redet.

 

10.

Die schwarz lackierten Fingernägel der Managerin entdeckte er zuerst im hinter der Rezeption gelegenen Büro auf dem abgewetzten, durch Schleif- und Tintenspuren gereiften Schreibtisch.

Aufmerksam verfolgte er ihre Wege inmitten gelber und roter Formulare, zwischen Gästebuch, Notizbuch und Ablage, die kleinen Sprünge, die sie vollführten, von federnden Gelenken emporgewirbelt und behutsam nachlässig abgesetzt, die plötzlichen Richtungswechsel, das fortgesetzte Zucken und Wegwollen, das da und dort übergangslos ein apart aufblitzendes Hier-bin-ich-wieder-Lächeln gebar. Stumm durchrieselte ihn der Marsch der glänzenden, rhythmisch sich hebenden und senkenden Kuppen durch das schwierige Gelände stornierter Buchungen und unbezahlter Rechnungen, der dem Gast unbeirrbar erschien, bis der Gang der Dinge ihn eines Besseren belehrte.

Der Rest der Person war dazu angetan, den Besucher zu ernüchtern: eine Mittfünfzigerin mit leicht strähnigem, müde fallendem Haar, das dringend nach fachkundigen Händen verlangte. Sie erspähten den weißgestrichenen Schuppen mit der Aufschrift »Hilda Hair Salon« oberhalb der Primary School am folgenden Morgen bei der Auffahrt zum Gate, aber Elsa Melstroem zog, wie sie anmerkte, den Coiffeur im eine Flugstunde entfernten Nairobi vor, bei dem sie vorbeisah, wenn sie ihre Einkäufe erledigte.

»Africa is great«, sagte sie, das Kinn leicht gefältelt. Wo sonst könne eine Frau leben wie ein Mann? Wo in aller Welt verfügte sie sonst über einen Staff, der geräuschlos den Haushalt für sie erledigt, vorausgesetzt natürlich, auch sie erledigte ihren Job? Kein leichter Job, weiß Gott – sie rieb sich die Nasenwurzel –, fünfzehn Stunden pro Tag, das müsse eins erst einmal durchstehen.

Wann sie denn aufstehen wollten? Sie empfehle ihnen, früh am Gate zu sein, dann bräuchten sie mittags nicht um die Hüttenplätze zu rangeln.

Mit letzteren verbindet Edward eher unklare Vorstellungen. Etwas wie Beklemmung legt sich beim Gedanken an die kommende Nacht auf den Brustkorb. Doch lässt es sich vielleicht bereits unter die Wirkungen des Malariamittels rechnen, das er ohne rechte Überzeugung vor dem Schlafengehen ein letztes Mal zu sich genommen hat.

»Never«, hatte Elsa doziert, »never take it, while you climb up.«Er misstraute zwar ihrem Englisch, aber die Warnung ließ sich schwer überhören.

Im übrigen glaubt er, auf seine Weise im Plan zu sein, denn auf der zweiten Hütte werden sie einen Ruhetag einlegen.

 

Notizen für den schweigenden Leser

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.