Einen Staat von der durchkalkulierten Größe und Agilität, die heute in der EU die Regel sind, auszudenken, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung im Altenheim sitzt oder in Kliniken verdämmert, während der Rest zur Hälfte aus sogenannten ›Bürgern‹ und zur anderen Hälfte aus ›Ausländern‹ besteht, Menschen mit minderen Partizipationsrechten, unter der Kuratel von Wohlverhaltens- und Abschiebegesetzen lebend, weniger ausgebildet, weniger wohlhabend, von Arbeitslosigkeit bedrängt, geschlagen mit der dreifachen Geißel vormundschaftlicher Sprecherverbände, mafiöser Strukturen und gewaltbereiter Jugendbanden, galt bisher als Zweig der Phantastischen Literatur. Heute, da die Konturen eines solchen Staates sich hinter den Fassaden existierender Städte, rapide ihre Struktur wandelnder Landstriche und bereits getroffener administrativer Vorsorge abzuzeichnen beginnen, begnügt sich eine ›existent‹ zu nennende Bildungsschicht, dergleichen Zukunftsbildern mit einem kumpelhaften »Was soll's?« zu begegnen. Gewiss, das ist auch der mühsam erworbenen Resistenz gegenüber Prognosen geschuldet, die dem jeweils nächsten Weltuntergang eine Frist von fünfzig Jahren setzen – lang genug, um den heutigen Geldgebern für die nächsten Forschungsprojekte einen ruhigen Lebensabend zu garantieren und die Jungen ›zu verunsichern‹. Es setzt ferner als Faustregel voraus, dass immer etwas geschieht, das auch künftigen Erforschern von Weltuntergängen eine Chance gibt, ihre Projekte zu verwirklichen. Und wenn nicht – die Welt wird schon nicht untergehen, wenn, wie es spöttisch heißt, ›die Deutschen aussterben‹. Gut illustriert das Wort von der ›Abwärtsspirale‹ die kollektive Trotzhaltung: es verleiht dem Trend eine spezifische Note und eine quasi-experimentell abgesicherte kulturelle, wenn nicht biologische Zwangsläufigkeit. Die Weichen sind gestellt, die Züge rollen, wehe dem Stellwärter, der hier und da ein Signal missversteht.
Ein solcher Staat hat, folgt man den Eingebungen der politischen Phantasie, mit dem liberalen Staat heutiger Prägung nichts gemein. Sofern man aus kosmetischen Gründen die demokratischen Institutionen beibehielt, hat sich ihre politische Bedeutung vollständig gewandelt. Wahlen dienen dazu, einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ›unter Kuratel‹ zu halten, das heißt, dafür zu sorgen, dass er unter Gesetzen und Lebensbedingungen existiert, die nicht seinem Herkommen und kulturellen Selbstverständnis entsprechen, er also weiterhin ›in der Fremde‹ lebt, der ›Diaspora‹ oder wie die Bezeichnungen noch lauten werden. Sobald die Mobilisierung der Alten an ihr natürliches Ende gelangt, ist auch dieses Herrschaftssystem obsolet und die Zeit reif für ein verschärftes Sicherheitsregiment, auf das sich die Repräsentanten des Staates und seiner in die Minderheit geratenen ›Bürger‹ mit Vertretern der ›anderen Seite‹ verständigen müssten. Hobbes hätte das verstanden. Gut verstehen dürften es auch die zur ›anderen Seite‹ zählenden exilierten Bürger von Staaten, die bereits heute so funktionieren, wenn man davon absieht, dass dort nicht Bürger und Ausländer, sondern Mehrheits- und Minderheits-›Ethnien‹ in jenem zähen, niemals endenden Kampf um die Macht stehen, der die Staaten brutalisiert und ihre Effizienz gering hält. Die Anmutung hat wenig zu tun mit Rassendiskriminierung alter Schule, mit Apartheid und ethnischer Säuberung, der versteckten oder offenen Schande des Nationalstaats. In einem solchen Staat sind alle Gründungsversprechen gebrochen, auf denen die Legitimität der heutigen Staaten beruht:
– das Freiheitsversprechen. Frei wird in einem solchen Staat sein, wer sich mit den geltenden Bestimmungen im voraus abgefunden hat und seinen Lebensentwurf darauf beschränkt, ›das Beste‹ daraus zu machen. Das verfehlt nicht nur den politischen Freiheitsbegriff, es widerspricht ihm in praxi et verbo;
– das Versprechen der Chancengleichheit. Gewiss steht es auch unter einem verschärften Sicherheitsregiment jedem frei, auf die privilegierte Seite zu wechseln, sei es mittels Einbürgerungsantrag – das Entréebillet, mit Heines bewährtem Ausdruck –, sei es durch andere Akte der ›Subjugation‹. Wenn aber die Mehrheit der Zugewanderten diese Möglichkeit ausschlägt, dann besitzt das Argument keinen höheren Wert als die Versicherung, jeder habe, vorausgesetzt, er stellt sich rechtzeitig und entschieden genug auf das Ziel ein, das Zeug zum Hochleistungssportler. Man muss ein Ziel erst haben, um es anzustreben. Chancengleichheit aber ist dann gegeben, wenn alle relevanten Bevölkerungsgruppen faktisch integriert sind und nicht bereits, weil sie als Objekte ›verstärkter Anstrengungen‹ gelten, schon gar nicht dann, wenn diese Anstrengungen erkennbar Illusionen schaffen und auf Illusionen beruhen;
– das Versprechen der Nicht-Diskriminierung. Kein Anti-Diskriminierungsgesetz kann den Umstand aus der Welt schaffen, dass der moderne Staat Diskriminierungen schafft. Das beginnt bereits mit der für ihn konstitutiven Unterscheidung von Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen, von ›Bürgern‹ und ›Ausländern‹. Sie wertneutral zu gestalten hieße, den Staat aufzugeben. Ein Staat kann sensu strictu nur seinen Bürgern ›Bürgerrechte‹ gewähren, will er nicht die nützliche, mit Blut erkaufte Fiktion beenden, dass er ihr Werk und deshalb nur solange legitim ist, wie er die von ihnen gewollte Lebensform organisiert und repräsentiert.
Partizipationsrechte, die aufgrund supranationaler Verpflichtungen oder zwischenstaatlich vereinbarter Abkommen oder aus bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen ›gewährt‹ werden, sind Mittel, die Härte dieser Unterscheidung zu mildern und Ungerechtigkeiten des Alltags zu bekämpfen – aus der Welt schaffen sie sie nicht. Auch der Begriff des ›Sicherheitsrisikos‹ erzeugt Diskriminierung. Das Sicherheitsversprechen des Staates, das sich nicht nur auf seine Bürger erstreckt, sondern auf jeden, der sich auf seinem Territorium bzw. im Geltungsbereich seiner Gesetze bewegt, zwingt ihn, Zonen verminderter Sicherheit, ›Risikogruppen‹ etc. auszuweisen, hinter denen sich stets, rhetorisch vernebelt, problematische Bevölkerungsteile ›verbergen‹: genau dieser Umstand, die Tatsache, dass der Staat, während die mit den Ermittlungen betrauten Organe ihrer Arbeit nachgehen, seine Bevölkerungsteile vor sich verbirgt, erlaubt es, ›die Gesellschaft‹ unter den Dauerverdacht zu stellen, sie diskriminiere – gezielt oder nicht – ›ihre‹ Mitmenschen. Was ›der Gesetzgeber‹ will und was er bewirkt, fällt vielleicht nirgendwo so offenkundig auseinander wie auf diesem Gebiet. Es wirkt lächerlich und bedrohlich, wenn sich der Staat auf dem Verordnungswege dadurch ein ›sauberes‹ Ansehen zulegt, dass er seine Untertanen anschwärzt und bei ihnen unter Strafe stellt, was Teil seiner eigenen ›Raison‹ ist. In einer Gesellschaft, in der, gleichgültig, unter welchem Gesichtspunkt man sie ansieht, jeweils die Hälfte der Glieder diskriminiert ist und selbst diskriminiert, mutiert der Diskriminiertenstatus zu einem begehrten, das Fortkommen, vielleicht sogar das Überleben sichernden Gut – mit allen entsprechenden Folgen für das Zusammenleben der Menschen;
– das Prosperitätsversprechen. Glanz und Elend der westlichen Gesellschaften spiegeln sich in diesem Versprechen wie in einem Brennglas: die ›Abstimmung mit den Füßen‹, die ihnen schmeichelte, solange sie von Ost nach West verlief, und heute, da sie schwerer assimilierbare Glaubensbekenntnisse und Lebensarten nach Europa trägt, als ›problematisch‹ betrachtet wird, obwohl gerade sie die demographischen Zukunftslinien weniger anstößig erscheinen lässt, folgt ihm ohne Rücksicht auf die in der Einwanderungsgesellschaft vorgefundene ungleiche Verteilung der Chancen. Das geschieht aber, was gern übersehen wird, nicht unbedingt. Solange das Herkunftsgefälle das aktuelle Elend ›irgendwie‹ attraktiv erscheinen lässt, bietet die Rückkehr- oder Generationenperspektive das nötige Regulativ; das Schema lautet ›Erwartungserfüllung durch Erwartungsenttäuschung‹. Das geht, solange es geht: sobald sich herumgesprochen hat, dass der erreichbare Status niemals ›stimmen‹ wird, ändert sich das Bild. Dann verkehrt sich sogar der – relative – ökonomische Erfolg in Misserfolg, der, wie immer, kompensiert werden muss, und die Neu- und Überbetonung kultureller Muster wird zum Identitätsspender. Sinkt die Prosperität im Ganzen, zerfällt die Gesellschaft.