Es bleibt der Anblick einer Generation, der ›es‹ passiert ist. Wer so fragt, muss weiter fragen, welchen Teilen der Generation was passiert ist, er muss schließlich nach der Zusammensetzung dieser ›Generation‹ fragen, von der da die Rede ist. Denn dass der studentische Protest nur von einem winzigen Teil der entsprechenden Altersklassen getragen wurde, liegt auf der Hand, dass Mitläufertum und Zuschauerstatus verblüffende Modifikationen des ›Bewusstseins‹ hervorbringen, bedarf nur geringer Überlegung, dass die mediale Aufbereitung des Geschehens den nicht akademischen Teilen der Bevölkerung andere Bilder und Selbstbilder suggeriert und, wenn überhaupt, in anderer Weise in ihre Lebensläufe eingreift als in die der Träger des Geschehens, gehört zu den banaleren Fakten der Sozialgeschichte. Dass ’68 eine Projektion darstellt, ein Mantra oder einen Fetisch für Angehörige ›vermittelnder‹ Berufe, also Journalisten, Öffentlichkeitsarbeiter, Schriftsteller, Lehrer, Hochschullehrer der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, lässt im Bereich persönlicher Entscheidungen, die nicht auf diese gesellschaftliche Minderheit beschränkt bleiben, nach Handlungsmotiven suchen, die außerhalb des rückblickend summarisch ›emanzipatorisch‹ genannten Motivbereichs liegen.

Was bewegt eine statistisch relevante Zahl von Angehörigen der unterschiedlichsten Berufs- und Gesellschaftsschichten, den Pfad der Reproduktion zu verlassen und, ohne dass besondere persönliche Gründe vorliegen, das Modell der ›Kernfamilie‹ gegen Lebensverhältnisse einzutauschen, die, bei allem finanziellen Reiz, eine Generation früher als ›Ersatz‹, ›Kompensation‹ oder bloß bedauernswertes ›Schicksal‹ gegolten hätten? Die Frage ist tausendfach gestellt und von den Betroffenen höchst unterschiedlich beantwortet worden. Offenkundig hilft Fragen in diesen Bereichen wenig. Das verbale Bezeugen gängiger Wertmuster (›Mobilität‹, ›Freizeit‹, ›Beruf‹, ›Geld‹) vertritt die Stelle der biologischen Reproduktion, ›es‹ passiert den Befragten, so wie ›es‹ den Generationen vor der Pille zu passieren pflegte. Bezeichnenderweise bleibt es einem eher geringen Personenkreis vorbehalten, die ökonomischen Modellrechnungen, nach denen Kinder unter den Bedingungen der gegenwärtigen Rechts- und Sozialordnung aus der Sicht der Einzelnen zu den Fehlinvestitionen zählen, als respektablen Grund für die eigene Lebensentscheidung zu nennen. Auch das bedeutet, für sich genommen, wenig, wenn man der Annahme zuneigt, dass Leute ihre Handlungsmotive vor anderen und sich zu verschleiern pflegen. Das finanzielle Argument gilt als Provokation und wird meist auch in dieser Funktion verwendet: dass es sich ›wieder‹ lohnen muss, Kinder in die Welt zu setzen, ist ein jedem Angehörigen der Gesellschaft bekannter konservativer Topos.

Die Erfindung der ›Pille‹ hat mit der Trennung von Sex und Fortpflanzung auch die Trennung von sozialem und ökonomischem Kapital im Bereich von Partnerwahl und familiärer Bindung lebbar gemacht. Während die Partnerwahl ökonomisch folgenlos bleibt (sieht man von den realen Trennungskosten ab, die in der Phase der Wahl ausgeblendet bleiben), aber einen Prestigegewinn bedeutet, verhält es sich bei der Kindeswahl umgekehrt. Die ökonomischen Kosten sind beträchtlich und halbwegs kalkulierbar, während der Prestigegewinn ungewiss bleibt und im Ernstfall ganz entfällt. Der Zusammenhang beider Seiten ist evident. Das ausschließlich auf symbolischen Tausch fokussierte Beziehungsspiel zerbricht, sobald die Ankunft eines oder mehrerer Kinder die Beziehung ökonomisiert. Entsprechend verfliegt oder relativiert sich das traditionell verbürgte Prestige, das Kinder verleihen, angesichts der Verwandlung der frei eingegangenen und jederzeit frei auflösbaren Beziehung in einen ökonomischen Zweckverband, dessen Auflösung die eingegangenen Verpflichtungen nicht annulliert, sondern nur schwerer realisier- und tragbar macht. Das gesellschaftliche Muster ›Beziehung mit Kind‹ ist somit geeignet, massenhaft unglückliches Bewusstsein zu erzeugen – das Gefühl, ›im falschen Film‹ aufgewacht zu sein, das in therapeutisch begleiteten Trennungsgesprächen wie in Lebensberichten eine bekannte Größe darstellt.

Eine statistische Arabeske ist geeignet, ein wenig Licht auf diesen Sachverhalt zu werfen. Es scheint, dass Frauen in der ›Beziehung‹ mehrheitlich dazu neigen, das eigene Einkommen als ihres zu betrachten, während Männer in der Mehrzahl das von ihnen erarbeitete Einkommen als gemeinsames ansehen. Gut möglich, dass sich hier ein älteres und ein neueres Modell des Zusammenlebens überlagern, möglich auch, dass die Differenz der Gesinnungen eine noch immer reale Differenz der Positionen und Gehälter reflektiert, schließlich, dass sich hier eine stabile Sicht auf das anbietet, was ebenso allgemein wie hintersinnig ›Beziehung‹ genannt wird. Vordergründig bezeichnet der Ausdruck die komplexe Gesamtheit der realen und differenzierten Weisen des geschlechtlich motivierten Zusammenlebens zwischen ›natürlichen‹ Personen. Unter der Hand jedoch verwandelt er sie in etwas anderes, insofern er eine Interpretation anbietet, die sie alle umfasst und in einem eigenen Licht erscheinen lässt. Die homogenisierende Tendenz des Begriffs zeigt sich in einfachen Sätzen wie: ›Die Tatsache einer Beziehung sagt nichts über ihre Qualität aus‹. Qualitas und Wert werden hier nach bekanntem Muster ineins gefasst – mit der Folge, dass die Deutungshoheit über die einschlägigen Weisen des Zusammenlebens an die wirkungsvolle Handhabung des Begriffs ›Beziehung‹ geknüpft wird. Beziehungskompetenz erscheint gebunden an die Beherrschung einschlägiger soziopsychologischer Begriffe und Theorien. Auch die klassifikatorische Korrektheit des Begriffs geht in diese Alltagsverschiebung im Bereich des Redens über Sexualität, Intimität, Treue, Zeugungsmoral und Geschlechterdifferenz im allgemeinen und im speziellen Fall ein: die Unterschiede, über die er hinweggeht, werden nicht nur zu sekundären Unterschieden im Bewusstsein derer, die ›in Beziehungen‹ leben, sondern zu unsichtbaren Unterschieden, deren Nennung etwas leise Ungehöriges anhaftet, als begehe man damit eine Unkorrektheit oder zeige sich nicht auf der Höhe des geforderten Bewusstseins. Kraft dieses Automatismus substituiert das Minimalmodell der Beziehung differenziertere Modelle in der Wirklichkeit und wird zur sozialen Norm, der gegenüber alle anderen unter Rechtfertigungszwang geraten.

Der Konformismus der Gesellschaft lässt keine neutralen Bezeichnungen zu; dominant verwendete Begriffe haben strategische Bedeutung und verändern das Feld, das sie beschreiben. Zu den Verlierern der strategischen Verschiebung, die der gesellschaftliche Gebrauch des Wortes ›Beziehung‹ anzeigt, gehören die Kinder: sie sind im Minimalmodell nicht enthalten und daher ebenfalls unsichtbar. Von ihnen reden heißt nicht nur, von etwas anderem als ›der‹ Beziehung reden, es heißt auch, eine Komplikation ins Spiel zu bringen und sich dadurch ein Stück weit aus ihm zu entfernen, sofern man die Entschiedenheit dazu aufbringt und nicht schamhaft über diesen gefühlten Punkt hinweggleitet. Frauen, die sich in der Beziehung oder in wechselnden Beziehungen als ›Alleinerziehende‹ konzipieren und an dieser Deutung unbeirrt festhalten, wie immer sich die persönlichen Verhältnisse gestalten, haben das genauso verstanden wie jene anderen, die ›gelernt‹ haben, ihren Kinderwunsch als Ausdruck von etwas anderem zu begreifen. Was sie nicht sehen oder sehen wollen, ist der Konformismus, der ihr Denken und Handeln deformiert, indem er Zonen der Verschwiegenheit und des ›ungehörigen‹ Verlangens einrichtet, die auch deshalb so schwer zu erkennen sind, weil er sich der Rhetorik der problembezogenen Offenheit und des sexuell konnotierten Begehrens bedient. Analoges gilt für Männer, die als Väter der Vaterrolle teils deklamatorisch, teils real ›entsagen‹ oder die Umkehr der Geschlechterrollen ›genießen‹, ›weil es an der Zeit ist, dass die Frauen einmal nicht an die Kinder denken, sondern an sich‹, wobei dieses ›sich‹ verblüffende Ähnlichkeit mit dem eigenen, ›sich‹ entlastenden Ich zeigt. Dass solche Reden gezinkt sind, ist Grundlage ihrer Zirkulation und Anzeige eines Unbehagens, das zurückstellt, was nicht an der Zeit ist, obwohl es an der Zeit wäre, wenn einen nicht die Zeit daran hinderte, in den Demütigungen zu lesen, mit denen man seine Zeitgenossenschaft erkauft.

Die statistische Differenz, von der oben die Rede war, zeigt auf der ökonomischen Seite Frauen, die scheinbar ›zuerst‹ an sich selbst denken, und Männer, die bereit sind, ihr Geld in das Unternehmen ›Beziehung‹ zu stecken. Auf der Ebene symbolischen Sprechens kehrt sich diese Relation um: hier erscheinen, folgt man den Stereotypen, die Frauen als der ›investierende‹ und die Männer als der ›egoistische‹ Teil. Daraus folgt aber keine Symmetrie in Bezug auf den Kinderwunsch als den unsichtbaren Dritten in der Beziehung: da seine Erfüllung die ökonomische Investitionsbereitschaft zwingend voraussetzt, kann man annehmen, dass eine Mehrzahl der Männer ihn in der jeweiligen Beziehung zu realisieren sucht, während ein signifikanter Anteil der Frauen zwischen der Beziehungspflege und der Realisierung des Kinderwunsches mehr oder weniger sorgfältig trennt. In der durch das Kind auferlegten Langzeitperspektive, in der die ökonomischen Risiken mitbedacht werden müssen, steht die Beziehungsskepsis obenan und das Motiv der eigenen finanziellen Absicherung dominiert. Unterstellt man eine gewisse, wenngleich begrenzte Lernfähigkeit auf Seiten der Männer, dann kann es sich nur um einen dynamischen Sachverhalt handeln und die Attraktivität des zum Minimalismus tendierenden Beziehungsmodells sinkt sub specie des Kinderwunsches. Und zwar auf beiden Seiten: die Botschaft, dass eine über Adoleszenz und Erwachsenenalter ausgedehnte Mutter-Kind-Symbiose weder für das ›Kind‹ noch für die Mutter besonders erstrebenswert ist, gehört mittlerweile zum kleinen gesellschaftlichen Einmaleins. Entsprechend wächst, jedenfalls prozentual, die Zahl der Beziehungen, in denen keine Seite finanziell zu ›investieren‹ bereit ist, in denen daher der Kindeswunsch von vornherein nicht existiert oder so stark maskiert erscheint, dass eine Aussicht auf Nachwuchs praktisch nicht besteht.

 

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