Den genannten Debatten ist es gemeinsam, dass man auf sie so oder ähnlich, mit mehr oder weniger identischen Resultaten, zur gleichen Zeit in allen westlichen Ländern trifft. Man kann auch sagen: es ist das Besondere an der deutschen Situation, dass sie in ihnen keinen Ausdruck findet. Die Unruhe, die dieser neue Sonderweg verursacht, verfängt am ehesten bei Autoren jenseits der Landesgrenzen, denen die hier drohende neue Instabilität in Europa nicht gleichgültig bleibt. Der Wille zur Normalität ist eine der großen Konstanten der westdeutschen Politik, und in der ›Politik des Volkes‹ 1989 hat sich gezeigt, dass er sich weder auf Westdeutschland noch auf die Schicht seiner Entscheidungsträger beschränken lässt. Seltsamerweise verschiebt der Wunsch, in einem ›ganz normalen Staat‹ zu leben und einer ›ganz normalen Gesellschaft‹ anzugehören, das Wunschziel in einen Bereich, in dem es schlechthin unerreichbar bleibt: gleichgültig, wie ›normal‹ die Kennziffern einer Gesellschaft ausfallen und wie ›normal‹ ihre Fußgängerzonen wirken mögen: der Kern des Problems, die Metamorphose des Wunsches, so zu sein ›wie die anderen‹, hält die Differenz aufrecht und fügt ihr immerfort neue Varianten hinzu.

Man kann die jahrzehntelange öffentliche Weigerung, die reale Differenz der eigenen Geburtenrate im Vergleich mit den Gesellschaften, an denen man sich hierzulande bevorzugt misst, unter anderen als sportlichen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu nehmen, als eine dieser Varianten betrachten. Das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen ist ja kein einfaches Nichtwahrnehmen, sondern die aktive Verschiebung des Wahrgenommenen in den Bereich des Mitanwesenden, der ›Schatten‹, von denen so gern die Rede ist und von denen man hofft, dass sie irgendwann, auf welche wundersame Weise auch immer, vergehen mögen. Die ungewöhnliche Fertilitätskurve des Landes gehört in den Jahrzehnten forcierten Normalitätsdenkens zu den ›Pudenda‹, den Dingen, über welche die öffentliche Rede schamhaft hinweggleitet, um von anderem zu handeln. Das schlägt auf die Wahrnehmung des Phänomens zurück. Während sich andere Spezifika der Gesellschaft von der Verbrechensrate bis zum Anteil rechtsradikaler Gesinnungen am Meinungsspektrum durch den Einsatz ›normaler‹ administrativer Mittel korrigieren lassen, scheitert die unauffällige Korrektur durch staatliche Hilfen regelmäßig an dieser Stelle. Der Verzicht darauf, sich unter den gegebenen Bedingungen eines prosperierenden, mit hohen Zustimmungsraten versehenen, normalen Gemeinwesens angemessen zu reproduzieren, gerät unter den betretenen Blicken der Auguren zum unmanipulierten Ausdruck des Andersseins, von dem man sich in einem historischen, über Jahrzehnte aufrecht erhaltenen Willensakt zu verabschieden gedenkt.

Dieses aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgegrenzte Anderssein ist als Phänomen auffällig genug, um ein wenig bei ihm zu verweilen. Es ist nicht einfach ›gegeben‹, so dass es genügen könnte, es stärker ins allgemeine Bewusstsein zu heben, um den öffentlichen Diskurs in Gang zu setzen, aus dem dann die in Zukunft zu treffenden Entscheidungen hervorgehen könnten. Das schamhaft verschwiegene oder geleugnete Anderssein wird zu einer Art causa sui. Als eine Besonderheit oder Anomalie dieser Gesellschaft könnte es frei beredet und in seinen Konsequenzen bedacht werden, als Ausdruck ihrer Andersheit überantwortet es sie dem genuinen Blick der Anderen. Das schamhaft beschwiegene Anderssein konstituiert sie als Fremdkörper, als Objekt des Befremdens für den ›Rest der Welt‹. Dieser ›Rest‹ ist groß und vielgestaltig genug und mit hinreichender Gleichgültigkeit gegenüber den häuslichen Querelen der Deutschen ausgestattet, um als eine Figur der Selbstthematisierung erkannt zu werden. Im Gefühl der Scham gehen Selbst- und Fremdwahrnehmung ununterscheidbar ineinander über. Das wissen die öffentlichen Verwalter der deutschen Kollektivscham, wenn sie das stetig erneuerte Bekenntnis der historischen Schuld, das in der Sache nichts anderes sein kann als ein Schambekenntnis, als Aktivposten dieser Gesellschaft bzw. ihres Staates auf der Weltbühne verbuchen. Die schamhaft beschwiegene Unfähigkeit, sich ›angemessen‹ zu reproduzieren, und die öffentliche Schambekundung an die Adresse der ›Welt‹ angesichts der Vergangenheit treffen sich im Bewusstsein der eigenen ›unhintergehbaren‹ Alterität.

Man könnte diese Zusammenstellung von zweierlei Scham für willkürlich halten, für unangemessen und sogar ehrenrührig angesichts der extremen Verschiedenheit der angesprochenen Gegenstände. Der Einwand ist wichtig genug, um sorgsam bedacht zu werden. ›Willkürlich‹, ›unangemessen‹, ›ehrenrührig‹ sind Epitheta, die dem Bevölkerungsdiskurs von Haus aus angehängt werden. Die Gründe dafür wurden soeben genannt: sie liegen im Bereich der Rechtfertigung zurückliegender Lebensentscheidungen und dem Wunsch nach Aufrechterhaltung der Konstellation, der sie sich verdankten. So gesehen ist es nichts Besonderes, die Sprache der Vermeidung im Detail erneut anzutreffen. Die ›mörderische Vergangenheit der Deutschen‹ ist aber etwas so grundsätzlich anderes als die bejahte und verteidigte eigene Lebensvergangenheit, dass es unumgänglich wird, an dieser Stelle weitere Gründe zu nennen. Die volle Schärfe der Differenz stellt sich erst dar, wenn man bedenkt, dass sich hier nicht allein zweierlei Vergangenheit, sondern zwei Arten von Vergangenheit gegenüberstehen. Als geschichtliches Faktum liegt in der Mitte des ersten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts die zweite Vergangenheit ›der Deutschen‹ vor der eigenen Lebensvergangenheit der aktiven Bevölkerung und wird allenfalls bei den älteren, der Pensionierungsgrenze zustrebenden Jahrgängen ›irgendwie‹ über Kindheitserinnerungen vermittelt. Als kulturelles Faktum hingegen ist sie aktuell und präsent. Die öffentlich bekundete Kollektivscham ist eine Angelegenheit der Nachgeborenen. In ihr hat das ausgebliebene oder geleistete Schambekenntnis der sogenannten Täter-Generation rituelle Form angenommen. Das Wechselspiel aus Zufriedenheit und Unbehagen, das nicht wenige Zeitgenossen darüber empfinden, korrespondiert der Zweideutigkeit ritueller Schambekundung, die über zwei Gesichter zu verfügen scheint, je nachdem, ob die in ihr wirksame Macht eines kulturellen Symbols oder das Mechanische der Aufführung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Das Ritual verwandelt eine nicht lebbare Intensität des Gedenkens in ein kulturelles ›Gut‹.

Gegenüber dem Ritual bewahrt das schamhafte Verschweigen die lebendige Qualität der Scham in ungleich höherem Maße. Man kann die Verwandlung der kollektiven Scham in eine öffentliche Sache daher genauso gut als den Versuch interpretieren, sich ihrer zu entledigen, wie den, ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Merkwürdigerweise fügt sich das Argument, dies sei kein Gegenstand, dem man ›gerecht‹ werden könne, den rituellen Sprachmustern widerstandslos ein. Es ist die ganz andere kollektive Gegenwart, der gegenüber ›Gerechtigkeit‹ verlangt werden kann und muss. Unschwer lässt sich darin das Funktionsmuster des Reinigungsrituals erkennen, auch wenn man solche Relationen nicht überstrapazieren sollte.

Man hat die Versuche, die symbolische Gegenwart von ›Auschwitz‹ und den mangelnden Fortpflanzungseifer der Deutschen zueinander in Beziehung zu setzen, ›obszön‹ genannt. Dem entspricht ein starker Affekt, in dem etwas von jener primären Scham wieder aufblitzt, die durch das Ritual neutralisiert wird. Das Wort ›obszön‹ deutet an, dass man nicht gewillt ist, sich dieser Scham erneut und an dieser Stelle auszusetzen. Es leuchtet ein, dass eine solche Form der Negation irgendeine Art von Affirmation enthält - fragt sich nur welche. Ihrer Bestimmung kommt man näher, wenn man die zur Wut tendierende Empörung, die durch das Wort ›obszön‹ ausgedrückt wird, neben dem Ritual und dem Schweigen als die dritte Weise, Kollektivscham zu signalisieren, in die Überlegung einbezieht. Die Annahme, dass hier ein Zusammenhang besteht, könnte die Art und Weise nahelegen, auf die der engagierte Teil der Gesellschaft rechtsradikalen Gruppen und Aktivitäten begegnet. ›Wut‹ ist die aktivistische Variante des Unterfangens, mit einer Vergangenheit zu leben, die nicht die eigene ist, aber als solche gedeutet wird, persönliche und kulturelle Identität in Übereinstimmung zu bringen. Wenn der Holocaust das Symbol der kollektiven Unfähigkeit ist, so zu sein wie die anderen, dann ist der relative negative Geburtenstand – die 0,4 bis 0,8 % ›Fertilität‹, die das Land von den Nachbarn trennen, an denen es sich misst – ihr uneingestandener (und uneingestanden bleiben sollender) Ausdruck.

Dass diese Art der Wahrnehmung zwanghafte Züge trägt, bedarf keiner eigenen Überlegung. Ebenso wird man bezweifeln müssen, dass sich die wirklichen Gründe für die signifikanten Elemente der Bevölkerungsstatistik innerhalb des skizzierten Musters finden lassen. Allein die zeitliche Diskrepanz spricht dagegen: eine Entwicklung, die seit den siebziger Jahren zumindest im heutigen Westen des Landes anhält, kann sich schwerlich der gegenwärtigen Konstellation verdanken. Allerdings verfügt dieses Argument auch über eine Kehrseite: gut möglich wäre es, dass die demographischen Fakten und die einschlägigen argumentativen Empfindlichkeiten sich in ein und demselben historischen Prozess herausgebildet haben. Eine Beobachtung könnte in diesem Zusammenhang einschlägig sein. Die allgemein angenommene starke Verbindung zwischen dem Geburtenrückgang und der unter dem Rubrum ›Emanzipation‹ vollzogenen Integration der Frauen in das ökonomische und allgemein berufliche Spektrum der Gesellschaft während des fraglichen Zeitraums dient vielen als Ausweis der gelungenen Modernisierung des Landes im Gleichklang mit den westlichen Gesellschaften und – merkwürdigerweise – als wütend verteidigtes Gut, sobald von den Spezifika der heimischen Statistik die Rede ist. Dass auch die Frauen in der DDR berufstätig waren, wird in diesem Argument nicht bedacht. Offenbar sitzt die Angst tief, das gesellschaftspolitische Rad könne über die ›Kinderfrage‹ zurückgedreht werden – so tief, dass sich der Verdacht einer verschwiegenen Ideenverbindung nur schwer von der Hand weisen lässt.

Die unterschwellig anklingende Behauptung, der ganze Themenkomplex sei hierzulande mit einer besonderen Hypothek belastet, lässt sich wohl nur verstehen, wenn man die Verbindung ernst nimmt, die damit zwischen der Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahrzehnte und der gesellschaftlichen Konstellation der sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hergestellt wird. Zwei selbstgerechte Generationen, hat man gesagt, trennten sich damals in der Bundesrepublik voneinander, um aneinander gefesselt weiter zu existieren: für die Älteren, die mit der Nazi-Vergangenheit geschlagene Aufbau-Generation der Nachkriegsjahre, war ›dies‹ nicht mehr ›ihr‹ Land, für die Jüngeren war es ein Land, das nur im Widerstand gegen ältere Mentalitäten gerettet und behauptet werden konnte. Wenn die Altersstatistik etwas ausweist, dann den Umstand, dass, bei aller Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, dieser gestörte und mit beträchtlicher Sprachlosigkeit geschlagene Dialog der Generationen zu einem lebenslangen Begleiter insbesondere der - damals – Jüngeren wurde. Die Verteidigung der Emanzipation gegen die Statistik mutet wie ein später und wirrer Reflex jener alten Kämpfe an.

 

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