Sagte ich es? Ich war schwanger. Damals, in den Tagen, die auf unsere Fahrt folgten, wusste ich es noch nicht, ich wusste es noch eine ganze Weile nicht, aber als ich Berlin über hatte, als ich mich nach dem Westen, nach Heidelberg absetzen wollte, als ich dir endlich hätte folgen können, da, naja, da ... erfuhr ich es.

Erste Empfindung: Stillstand. Dann der Blitz des Entsetzens, alle Gefühle durchkreuzend, alle Bilder aufrufend, sie durchschneidend. Ich bin schwanger, bin schwanger, bin schwanger. Kann nicht sein, und: Dann habe ich es gewusst, all die Tage gewusst. Aber wenn ich es gewusst habe, warum, zum Teufel, hat mir keiner etwas gesagt? Warum hat es mir keine Stimme aus dem Inneren zugeraunt? Das kann doch nicht wahr sein. Nichts habe ich gewusst, gar nichts. Kann der Körper schwanger sein und der Mensch weiß nichts davon? Er kann. Aber wenn das so ist, dann reden diese Schwangeren, denen du dauernd begegnest, irre.

Seit wann? Von wem? Wundersame Fragen. Doch doch, ich wusste es. Wusste es genau. Ich war es, die Peter nicht die Demütigung zufügen wollte, die es ›irgendwie‹ unpassend fand, sich ihm zu verweigern, nachdem ich ihn aufgesucht hatte in dem schwarzen Bau, in dessen dunklem, tunnelartigem Flur sein Rotschopf aufleuchtete, als ich ihn in jener Nacht – es ging gegen drei – herausklingelte: Er hat eine Frau, dachte ich, eine Frau und zwei Kinder, Wahnsinn, was treibst du, da wickelte er mich schon in seine Umarmung, wischte ein paar Schneeflocken von meiner Stirn und zog mich ins Warme. Es gab keine Frau, keine Kinder, es gab uns, in dieser Nacht, am folgenden Tag und in den darauffolgenden Nächten. Er besaß nur ein Bett – unser altes –, das er tagsüber als Sofa benützte. Anfangs sperrte ich mich gegen seine Handgreiflichkeiten, wenn er energischer wurde, wickelte mich in meine Decke und drückte mich gegen die Wand. Er mochte es auslegen, wie er wollte. Ich sah, dass er darunter litt, dass er rätselte, woran es lag, und brachte es nicht über mich, ihm die Lage zu erklären. Was hätte ich sagen sollen? Dass ich nicht hätte kommen sollen? Dass ich zu spät gekommen war? Oder gerade rechtzeitig, um ihm den Laufpass zu geben, nachdem wir vier Jahre getrennt gelebt hatten? Sollte ich ihm sagen, dass wir uns fremd geworden waren, dass uns nichts mehr zusammenhielt, und dass ich nicht zögern würde, immer und immer wieder in ferne Hauptstädte zu reisen, um ihm diese Botschaft zuzustellen? Wie stand ich da? Mit welchem Recht stahl ich seine Tage, von den Nächten zu schweigen? Wem stahl ich sie überhaupt? Ihm? Mir? Michael?

Du schweigst. Du hast schon damals geschwiegen, ich erinnere mich. Also muss ich dich eingeweiht haben, als wir uns kurz im Café trafen, um die Rückfahrt zu besprechen. Du warst im Bilde ... Warum schweigst du? Hast du mir etwas vorzuwerfen? Könntest du mir etwas vorwerfen? Ja, es war ein windiger Nachmittag; als ich die Tür aufdrückte, überfiel mich dein abschätziger, mit etwas Trauer unterlegter Blick. Du rücktest zur Seite, das Gesicht abgewandt, spieltest, während ich redete, mit dem Tischtuch. Ich redete ununterbrochen, ich musste erklären, was nicht zu erklären war, du brauchtest nicht zu wissen warum. Hatte ich nicht recht? Du wusstest doch alles schon, dieses oder jenes Element wirkte möglicherweise unverständlich, doch dein Gehirn würde das Rätsel schon lösen. Warum sollte ich mich also zurückhalten? Niemals würdest du in etwas eingeweiht werden, das entfernt einem Geheimnis glich, denn du würdest es nicht erkennen. Für dich wäre es einfach der Lauf der Dinge... Sollten die Dinge also ihren Lauf nehmen, so warst du der letzte, den ich damit schockieren konnte. An diesem Nachmittag beschloss ich, die dünne Barriere, die ich zwischen Peter und mir errichtet hatte, fortzuräumen. Sie erschien mir allzu zerbrechlich. Obwohl es kein Entschluss war, mehr ein Gedankenspiel. Obwohl...

Der Kellner brachte Himbeereis mit Schokoladensauce, am Nebentisch steckten ein paar überflüssige Zeitzeugen die Köpfe zusammen, die dämmrige Öde verwandelte sich in einen blitzenden Schuppen, ich sah deine Mundwinkel zucken, als du dich, halb versöhnt, zu mir umdrehtest und mir anbotest, einen Tag früher zurückzufahren. Du wolltest wieder an deinen Schreibtisch, das war nicht zu übersehen.

Peter lümmelte im Lehnstuhl, verspannt, voller Eifersucht, kaum imstande, mein Hallo zu erwidern, mürber denn je. Ich machte mich leicht, beschwatzte ihn, den Termin mit dem Klobürstenlieferanten (oder war es Unterwäsche? Egal!) platzen zu lassen und mit mir ins Kino zu gehen. Die Luft war hell und weich geworden, wir spazierten zum Brandenburger Tor. Im Gewühl erstand ich ein silbernes Döschen, schlank, oval, mit einer Einlage aus Horn und einer pummelig wirkenden Sonne in der Mitte, deren Strahlen wie die Blätter einer Sonnenblume von ihr abstanden. »Die Mauer ist immer da«, sagte die Händlerin, die es in Zeitungspapier wickelte und mir mit einem spöttischen Lächeln in die Hand schob, »wenn wir mit dem Bus über die Grenze fahren, gibt es diesen Ruck – die aus dem Westen merken nichts, aber wir sehen uns an und wissen Bescheid.« Sie sagte es ein wenig über mich weg, mit angehobenem Kinn, an einer Antwort schien ihr nichts zu liegen.

Das Gesicht dieser Frau stand wieder vor mir, als Peter seine düsteren Klimmzüge unterbrach, um sich auf dem bröckelnden Balkon eine Zigarette anzustecken, und ich wie tot auf dem Bett lag – wir liebten uns inzwischen mit der Routine jener erloschenen Jahre. Ihre gebogenen Mundwinkel, die künstlich zusammengekniffenen Augenlider, der fleckige Teint, alles redete auf mich ein, über mich weg, durch mich hindurch. Warum spricht sie nicht mit mir, dachte ich, das ist unfair, wir hätten uns viel zu erzählen. Ich bemerkte, dass ihr Mund sich verzerrte und etwas wie ein höhnisches Lachen sich auf ihm vorbereitete. Ich kann dich verstehen, aber versteh auch mich, murmelte ich, vielleicht wirklich, vielleicht im Traum. (Peter behauptete, ich hätte geschlafen ›wie ein Murmeltier‹, als er vom Balkon zurückkehrte. Doch in der Erinnerung bin ich hellwach.)

Im Kino hatte es, zum Gaudium der Honecker-Enterbten, Das große Fressen von Ferreri gegeben, diesen Schlemmerstreifen mit Marcello Mastroianni und Michel Piccoli aus den wohlfeilen Siebzigern, als im Westen sich links noch alles zu enträtseln hatte. Zweifellos mochte sich der Verleih etwas dabei gedacht haben. Die Bourgeoisie lud zum letzten Gericht (oder so ähnlich). Mit Mühe fanden wir ein Restaurant, das unseren Finanzen und meinen Erwartungen entsprach. Wir saßen auf roten Stühlen und tranken uns zu. Peters Augen blitzten; er hatte eine Krawatte angelegt, die ihm nicht stand. Er verschluckte sich, als mein Blick daran hängenblieb. »Der Film war klasse«, setzte er beherzt über das Hemmnis hinweg. »Ich verstehe nicht, was die Leute wollen. Das ist eine reinrassige Parabel: sich einschließen und die Vorräte verprassen, bis zum bitteren Ende. Ehrlich, so war’s doch, oder?« Ein wenig tolpatschig griff er über den Tisch hinweg nach meiner Hand. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir damals geprasst hätten«, lächelte ich und entzog sie ihm. »Ach, du willst mich nicht verstehen. Wie auch? Das Leben im Überfluss hat dein Gedächtnis eingeschläfert. Sei nicht gleich eingeschnappt. Du begreifst nicht, weil dir hier oben« – er strich sich mit der Daumenkuppe über die Stirn – »etwas fehlt. Entweder man hat die Erfahrung oder man improvisiert. Wir improvisieren hier alle, gelernt ist gelernt, aber wir haben die Erfahrung, die euch abgeht.«

Den Blick kannte ich schon. Ich versuchte abzuwiegeln. »Ich habe studiert, wenn du das meinst. Überfluss? Davon war keine Rede. Im Moment suche ich einen Job. Vielleicht kannst du mir sogar dabei helfen. Bei deinen Beziehungen –«

Ich bereute die Geschmacklosigkeit, noch während ich sprach. Er stocherte mit der Gabel in seinem Gericht, fand aber nicht, was er suchte. Dann ging ein Ruck durch ihn: »Ich habe Beziehungen, du hast Beziehungen, er sie es hat Beziehungen, wir haben Beziehungen. Und was für welche. Das wolltest du doch damit sagen, oder? Nein, lass mich raten: nichts wolltest du damit sagen, es ist dir nur herausgerutscht, du hast dir nichts dabei gedacht. Einfach nichts dabei gedacht. Aber die Zeitungen denken es für dich, die Typen am Nebentisch – sie sollen ruhig hersehen, die Zeiten sind vorbei –, sie denken ja alle das gleiche. Und egal, was du meinst, es denkt in dir – das gleiche. Unter uns: warum seid ihr überhaupt gekommen? Jawohl, wir haben gelebt, auch ohne euch, ein fluchwürdiges Verbrechen muss das gewesen sein, leider begreifen wir es erst langsam, wir sind so begriffsstutzig, verstehst du? Immer ein wenig unterbelichtet, das kommt von der Mangelwirtschaft, vielleicht noch Kriegsfolgen, der Iwan soll hier ja schrecklich gehaust haben. Wahnsinn. Wenn das so weitergeht, wandere ich aus. Leider wollen das auch schon wieder alle. Was für ein Volk. Irre. Ihr solltet uns alle einsperren. Einsperren: das wäre das beste. Aber das hatten wir ja schon.« Auf seiner Nasenwurzel zitterte ein Schweißtropfen, die Stimme bebte.

Du bist gegangen, danach, vielleicht, weil du dieses Stück mit täglich offenerem Ausgang nicht mehr ertragen konntest. Dabei stand ich erst am Anfang. Vermutlich hattest du recht, wenn du gingst. Du sahst keinen Grund zu bleiben. Es ist immer gut, wenn man gehen kann. Ich sah es dir nach, jedenfalls beredete ich mich, dass ich es tat. Das stimmte und stimmte nicht. Im Grunde wollte ich dir alles erzählen. Du warst klüger als ich, du verstandest, dass dies ›Alles‹ die Zukunft mit einbegriff und es besser war, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Also schreibe ich dir, schreibe dir aus dem Abstand, den die Zeit erzeugt, ohne dass wir gefragt würden. Unter uns: Welche Antwort sollten wir geben? ›Nicht jetzt‹? Aber nichts geschieht jetzt, alles ist gerade geschehen oder bereitet sich vor. Jetzt ist der Moment, in dem ich aussetze, um zu schreien, und schon hallt der Nachklang an mein Ohr. Und auch das ist nur eine Metapher.

Immer kam mir das Schreiben wichtiger vor als das Leben. Niemals hatte ich den Eindruck, ihm etwas von mir zu opfern. Manchmal kam es mir paradox vor, warten zu müssen, um schreiben zu können, weil die Gegenwart derer, die ich in meinem Text wiederzufinden hoffte, mir die Gelegenheit nahm, mit ihnen ins Reine zu kommen. Das ist ein seltsamer Ausdruck für eine seltsame Sache: das Reinlichkeitsbedürfnis der Schreibenden. Ins Reine schreiben, ins Reine kommen, während man ins Unreine lebt und empfindet und denkt, selbst denkt – wäre es anders, so schrieben wir unsere Gedanken ebenso wenig auf wie Knieschmerz und Magendrücken.

Denk nicht, ich spiele mit dir, weil ich dir schreibe. Ich schreibe dir, weil ich das Gespräch, aus dem du davongegangen bist, zu Ende führen will. Du kannst einwenden, das sei kein Gespräch gewesen, sondern ein Monolog. Na und? Wo liegt der Unterschied? Wenn du geschwiegen hast, dann deshalb, weil du keinen Anlass sahst, mich zu unterbrechen. O natürlich, du sahst mehr, du sahst, dass du mich nicht unterbrechen konntest, ohne unser Gespräch zu beenden. Also lag dir doch daran, mich reden zu lassen. Ist das nicht mehr wahr, nur weil die Zeiten sich geändert haben? Tun sie das nicht immer? Dass du fortgingst, hat nichts an deinem Bedürfnis geändert, mich reden zu hören. Alsdann: Hier bin ich. Hier und da und dort. Papier ist geduldig, geduldiger jedenfalls als ich, obwohl ich nicht weiß, ob du diese Zeilen in einem oder in zehn Jahren oder vielleicht gar nicht zu lesen bekommst. Nein, nicht darauf bezieht sich meine Ungeduld. In meinem Verhältnis zu dir ist alles ganz durchsichtig, ganz ohne... Bedauern, wenn du verstehen willst, was ich meine. Du und ich, wir verstehen einander ganz gut. Die Frage ist, ob wir uns verstehen wollen.

Ich frage dich nicht. Erstens, weil ich weiß, was du antworten würdest, zweitens, weil dies ein Abschied ist: der Abschied von der Illusion, wir stünden einander so nah, dass einer von uns nur die Hand ausstrecken müsste, um den anderen an sich zu ziehen. So ist es nicht. Dass ich dich kein Mal angerufen habe, seit du mich in meiner Redseligkeit sitzen ließest, hat mir gezeigt, dass wir uns – ›auf dem Grunde unseres Herzens‹ – gegenseitig für Wesen halten, die nicht wirklich existieren. Ich weiß, du hältst mich für einen Pappengel, dessen Kämpfe nicht zählen, weil du ihr Ergebnis schon im voraus zu kennen glaubst. Und ich... Aber das geht dich nichts an.

Es ging dich schon damals nichts an. Der beste Beweis dafür ist, dass ich keine Sekunde lang auf die Idee kam, dir zu verraten, an wen das Kuvert adressiert war, mit dem ich vor deiner Nase herumwedelte. Selbst wenn dir eingefallen wäre, den Empfänger zu entziffern, es hätte dir nichts genützt. Heute macht es mir nichts mehr aus: It makes no difference. Der Brief war für Michael bestimmt. Ich zerriss ihn in kleine Fetzen, nachdem du aus der Tür warst.

Doch, ich habe danach einen zweiten geschrieben, ganz kurz, ohne Schnörkel – an Peter. Wenn du dies liest, denk daran, dass dein Kommentar nicht gefragt war, nicht damals, nicht heute. Ich kann ihn mir ohnehin denken. Oder auch nicht - ich denk ihn mir bloß, ich stelle ihn nur einen Moment lang lauter. Das geht so einfach, weil er damals ununterbrochen in meinem Kopf kreiste, so dass mir schließlich nichts anderes übrig blieb als ihn zu bitten, das Haus zu verlassen. Er tat es widerspruchslos, entfernte sich, wurde leiser und leiser, verschwand aus meinem Bewusstsein. Doch, ich besaß das: Be-wusst-Sein. Vielleicht war es sogar das einzige, was ich damals besaß: Be-wusst-Sein. Ich saß davor, unterhielt mich mit ihm, manchmal schlüpfte ich auch hinein, wenn es mir an der Zeit schien, Ordnung zu schaffen, oder aus Laune, einfach so. Dann sah ich mich darin um, leise, rasch, mit scharfem Blick, berührte dieses und jenes, nahm es auch in die Hand, wenn mir danach war, aber, wie gesagt, rasch, wie jemand, der sich beobachtet fühlt, mit einem kleinen Unbehagen dabei.

Im übrigen hatte ich Peter. Ich habe diese Zeit genossen. Mir wurde schnell übel, aber nicht allzusehr. Ich war seine Frau, mehr als früher. Peter verkaufte keine Klobürsten mehr wie am Anfang, er war jetzt selbständig. Er beklebte Plakatwände, sein Revier lag so etwa zwischen Prenzlauer Berg und Pankow. Zum Einkaufen wechselten wir unter dem Bahnstrang hindurch nach Wedding. Wir hatten eine Wohnung gefunden, die uns passend erschien. Ein kleiner Flur öffnete sich nach rechts in die Küche. An ihrer rückwärtigen Wand, neben dem Fenster, grunzte die Plaste-Duschkabine den halben Vormittag vor sich hin und sog schmatzend, als handle es sich um unbeschreibliche Genüsse, nach den letzten auch die allerletzten Wassertropfen in ihren Schlund. Linkerhand lag das Wohnzimmer: ein dunkler Schreibtisch, in milchiges Hinterhoflicht getaucht, ein paar Sessel im Stil der fünfziger Jahre, ein aufragender chamoisfarbener Kachelofen, der sich erst gegen Mittag erwärmte, wenn wir ihn aus Versehen am Vorabend ausgehen ließen, und darüber breit, auf schmächtige schwarze Stelzen gestemmt, das Hochbett. Wir wussten, das konnte nicht lange gutgehen. Umso näher rückten wir einander –

Wenn wir aus dem Haus traten, konnten wir sie sehen: die Mauer, die hier noch stand, bevor sie wenig später einem dubiosen ›Mauerpark‹ weichen musste. Früher hatte mir ihr Anblick nichts ausgemacht. Ich hatte sie nur selten wahrgenommen, fast immer aus ziemlicher Entfernung, zwischen zwei Hauswänden auftauchend und verschwindend. Kam ich hin und wieder in ihre Nähe, dann war es, als höre meine Welt exakt dort auf, wo die ihre begann. Das war in einem gewissen Sinn richtig, aber es bedeutete auch, dass ich sie übersah, so wie man auf der Straße einen Hund übersieht, wenn man auf Menschen erpicht ist. Sie stand dort, ein immaterielles Gebilde, ein Abstractum wie das Ende der Welt oder die klassenlose Gesellschaft oder die Pforten des Paradieses. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich weniger über den Anblick eines Wächterengels in Erstaunen geraten wäre als über das, was ich jetzt, jeden Tag ein wenig mehr, mit meinen Blicken buchstabierte – die körnigen, inzwischen schief stehenden und gegeneinander verschobenen Platten mit dem aufgesetzten, mich sprachlos machenden Wulst, den eine irrwitzige Terminologie als ›Kranz‹ oder ›Krone‹ bezeichnet: ›der lichte Abstand vom Fuß bis zur Krone beträgt...‹ Wieviel eigentlich? Ich wusste es nicht und werde es wohl nie wissen.

Nicht dass ich eine Küchenexistenz führte. Eine Zeitlang ging ich putzen, dann ergatterte ich eine Stelle als Aushilfe in einem Kindergarten, natürlich im Westen, wo man mich anscheinend für vorzeigbar hielt, obwohl ich alles tat, um diesen Eindruck zu zerstreuen. Einfach ging das nicht, die Vorurteile der Menschen sind ebenso leicht zu durchschauen wie unergründlich. Haben wir uns jemals über diese Dinge unterhalten? Nein? Das ist schade, ich habe in der Zeit viel gelernt. Andere vermutlich auch. Die Mütter, die ihre Kinder abgaben und nach ein paar Stunden wieder abholten, vermittelten nicht den Eindruck, sie unserer Obhut zu überlassen. Sie machten uns kurzerhand selbst zu einem Teil ihres Betreuungssystems, das sie über alles ausdehnten, was sich innerhalb ihrer Reichweite befand: Haushalt, Kinder, Tiere, Männer, auch der Arbeitsplatz musste, wenn man sie reden hörte, dran glauben. Manchmal fragte ich mich nach einer dieser erschöpfen den Rundum-Besprechungen, bei denen alles zur Sprache kam, was nicht zur Sache gehörte, wieviele Betriebe wohl an ihrer Überfürsorge ersticken und eingehen mochten. Auf sie selbst hatte das offensichtlich keine weiteren Auswirkungen, es sei denn, dass sie sich bei solchen Gelegenheiten neu entdeckten, soll heißen, auf einem Gefühl durchs Leben schwebten, das sie als aufregend neu und prickelnd empfanden und ihnen einen Aufgabenbereich zuwies, den sie bisher, wie sie behaupteten, ›irgendwie‹ vernachlässigt hatten. Allerdings strotzten die Beschreibungen, die sie diesem Lebensgefühl widmeten, von Klischees, die mir vertraut waren, seit ich zuhören konnte, so dass mir das Neue daran, so sehr ich mich zu verstehen bemühte, reichlich unerfindlich blieb.

Ich musste aufpassen: so sehr sie meine Person ›schätzten‹, so sensibel reagierten sie, sobald die geschätzte Person Ansichten kundgab oder Ratschläge anbrachte, um die sie vorher ausdrücklich gebeten worden war. Dann wurde es einen Moment lang ruhig, ich meine richtig ruhig, und ich wusste – jedenfalls nachdem ich so meine Erfahrungen gesammelt hatte –, dass die Kindergartenleiterin einmal mehr den Tipp erhalten würde, etwas genauer auf meine seltsamen Anschauungen zu achten und mich bei sich bietender Gelegenheit doch um Zurückhaltung ›wenigstens vor den Kindern‹ zu ersuchen. Nein, du irrst, das waren keine Muttis, denen man ein paar Mark in die Hand drückte, damit sie einem das Klo putzten und die Wäsche bügelten, sie hätten dich seltsam angesehen, wenn du sie gefragt hättest, ob sie ihre Arbeit nicht eintönig fänden und es sich vorstellen könnten, auch einmal etwas anderes zu machen als an der Kasse zu stehen oder ihre zarten Finger am Fließband zu ruinieren. Für solche Mütter war dieser Kindergarten nicht ›konzipiert‹, sie hätten sich auch anders ausgedrückt. Verlief sich einmal eine hierher, dann verschwand sie bald ebenso kommentarlos, wie sie aufgenommen worden war.

Frage nicht, mit welchen Anschauungen ich Anstoß erregte! Ich könnte es dir nicht sagen. Am Ende nahmen sie meine geschätzte Person aufs Korn, nachdem diese ihnen zuerst einige positive Empfindungen und sogar, wer weiß, ein wenig Bewunderung eingeflößt hatte. Schließlich verkörperte ich das Ideal der praktischen, selbstbewussten und intellektuellen Frau, das in allen Schaufenstern glänzte. Mag sein, ich verkörperte es zu sehr, in Körperdingen kennen Frauen keinen Pardon. Vielleicht entdeckten sie mit ihrem untrüglichen Gespür auch bald, wie es um mein Selbstbewusstsein bestellt war. Sicher gab ihnen das Auftrieb. Unter uns: Weit kann es mit ihm nicht her gewesen sein. Wenn ich daran denke, wie automatenhaft ich diesem zwischen Duschküche und dem Geschrei der Kinder anderer Leute vergehenden Leben meine Tage zutrug, einen nach dem anderen, tick tack, tick tack – daran hatte gewiss nicht nur die Schwangerschaft Schuld, die unbestimmte, von Tag zu Tag anders beschäftigte Erwartung, die sie in dieses Leben einschleppte. Ich war keine ›Schwangere‹, keine von diesen Frauen, die ihre Schwangerschaft bis oben hin ausfüllt, als wären sie Säcke oder Karaffen. Ich war schwanger, das genügte. Genauso wie ich beschlossen hatte, dass Peter der Vater dieses Kindes war, so beschloss ich, das Leben, das ich da führte, als den einzig gangbaren Weg anzusehen. Den einzig gangbaren Weg. Für wen? Für mich. Ich war rege, ich war wach, hellwach sogar, meinen Augen entging so gut wie nichts. Daneben gab es die Empfindung einer Person, die mit geschlossenen Augen durch dieses Leben ging – ihre Witterung, fürchte ich, hatten die Mütter aufgenommen und prompt Anstoß genommen.

Praktisch jeden Tag brachte Peter jetzt den Mann mit nach Hause, mit dem gemeinsam er seine kuriose Plakatklebe-Firma betrieb. Rundliche, um nicht zu sagen feiste Statur, Mandelaugen, ein weicher Mund, Bartstoppeln am Kinn. »Au fein«, feixte er, wenn er mich sah, oder »Au weia«, je nachdem, wie er meinen Gesichtsausdruck glaubte deuten zu müssen – einer von den Leuten, die den Türrahmen schon durchquert haben, bevor man Gelegenheit hatte, sie hereinzubitten.

Ich kann nicht sagen, ob er mich jemals belästigte; ein solcher Mann ist eine Belästigung. Die plumpe Vertraulichkeit beginnt beim Wort, bei der Art, wie sich einer zwischen die Partner stellt, mit ihnen und über sie redet, bei der Selbstverständlichkeit, mit der er mitredet, wo es für ihn nichts mitzureden gibt, bei der Selbstverständlichkeit, mit der einer nicht geht, wenn es selbstverständlich wäre zu gehen, bei der Selbstverständlichkeit, mit der er in die Rituale des kleinen Alltags hinein redet und hinein regiert, bis man am Ende da steht und sich fragt, was man mit dem angefangenen Abend oder dem freien Tag beginnen soll, wenn er auf einmal ›keine Zeit hat‹ und sich ebenso selbstverständlich verabschiedet wie er ansonsten nicht zu gehen gedenkt, obwohl die Tür sperrangelweit offen steht und jeder andere das Signal längst empfangen hätte. Irgendwann lässt die Kraft, zu widerstehen und den eigenen Bereich gegen den Eindringling abzugrenzen, spürbar nach, aber nicht zum Guten: die Resignation, die seinem Einzug vorausgeht und ihn begleitet, gibt nicht frei, sondern preis. Peter schien das nicht so zu sehen, er schien mir – je länger sich die Dinge entwickelten, umso mehr – von Anfang an auf seiner Seite, sie kamen zu zweit und zu zweit drangen sie in meinen Raum ein, der eigentlich unserer war. Davon konnte zu Zeiten gar keine Rede sein.

Neuerdings stand ich bereits im Flur, wenn die beiden die Treppe heraufkamen – vorneweg Peters leichter, umstandsloser Tritt ohne Nachhall, gleich dahinter das dumpfe, arhythmische Stampfen, das seine Wellen doppelt und dreifach durchs Haus schickte –, ich stand da, innerlich leicht verbogen, und versuchte meine neue Freundin in Richtung Tür zu verschieben: keine einfache Übung, da wir in der Enge des Flurs nur mit knapper Not die Plätze tauschen konnten und ich gewöhnlich näher zur Tür stand, von der sie sich so weit wie irgend möglich entfernt hielt. Sie war beim gemeinsamen Aufräumen im Kindergarten an mir hängengeblieben, ein dünnes, seufzendes Wesen mit einer zweijährigen Tochter im Gepäck. Bei niemandem sonst habe ich einen derart schwarzen Blick angetroffen, es sah aus, als versprühe sie schwarze Tinte, wenn sie einen von unten herauf anblickte, jedenfalls kam ich mir immer leicht lackiert vor. Den Kopf hielt sie ein wenig gesenkt wie Menschen, die vermeiden wollen, dass man ihnen ins Gesicht sieht. Am meisten beschäftigte ihre Stimme: klagend, kurzatmig, ein endloser lispelnder, erlöschender und wieder aufgenommener Sprechgesang, der mich auf meine Mutterrolle vorbereitete wie den Luxusreisenden das stündliche Anlegen der Schwimmweste auf seine Ankunft in Portbout. Dieser Singsang hüllte mich wie ein Mückenschwarm ein und war die Ursache dafür, dass ich den schweren, bedrohlichen Schritt auf der Treppe als eine Art Befreiung empfand, da ich mich nicht aus eigener Kraft dem Bann entziehen konnte. So wartete ich, bis sich Peters Schlüssel im Schloss drehte, um dann vorsichtig die Tür in meinem Rücken zu öffnen und hinter sie zu schlüpfen –

»Nein«, lispelte meine neue Freundin an dieser Stelle, »so einfach kommt er mir nicht davon, ich will auch gar nicht wissen, in welchen Schwierigkeiten er wieder steckt, ich habe den Kopf voll mit meinen eigenen Schwierigkeiten. Soll er doch sehen, wie er zurecht kommt.«

»Das seh ich auch so«, sagte ich, leicht nervös, mit bereits gesenkter Stimme, »am besten reden wir darüber das nächste Mal, wenn wir ungestört sind.«

»Die Männer kommen immer ungelegen, da kann man nichts machen. Am besten, man ignoriert sie. Meiner zum Beispiel hat ein Talent, immer dann aufzutauchen, wenn ich mich gerade unsichtbar machen möchte. Fragen kann der stellen – am laufenden Band. Stellt deiner auch so viel Fragen?«

»Frage nicht. Unsichtbar machen, das möchte ich mich auch manchmal. Aber das erklärst du mir am besten, wenn wir wieder –«

»Du könntest mir noch dein Fahrrad leihen, das wäre ganz praktisch, denn...«

»Ich geb dir den Schlüssel.«

»Aber du brauchst es nicht? Ehrlich? Ich meine, wenn du es heute nachmittag brauchst, dann gehe ich besser bei meiner Schwester vorbei... Die redet mir zwar die Ohren voll, aber in solchen Dingen ist sie ganz praktisch. Sie hat nächste Woche Geburtstag, fällt mir ein, da muss ich noch was besorgen...«

»Tachchen, die Damen. Sie wollen doch nicht etwa gehen?« Die Stimme des Fragers, sonor, gehörte nicht Peter, sondern seinem Kompagnon, seinem ›Kollegen‹, wie er ihn nannte. Peter schubste ihn leicht, um an uns vorbeizukommen. Der Hausfreund baute sich vor uns auf und betrachtete meine Freundin mit ›unverhohlenem Wohlwollen‹. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es sie störte. Im Gegenteil, die Art, wie sie ihre Unterlippe vorschob und sich ins Haar griff, ließ mich auf schnelle Abhilfe sinnen. Das war ein Fehler, denn von diesem Tag datierte eine Veränderung zwischen den beiden, die mich erst nachdenklich, dann wütend stimmte. Ganz ohne Zweifel betrachteten sie unsere Wohnung als den legitimen Ort ihrer Zusammenkünfte. Da aber beide die klassische Figur des Dritten repräsentierten, potenzierten sich ihre vereinigten Kräfte: über kurz oder lang übten sie zusammen ein derart tyrannisches Regiment über unseren Haushalt aus, dass mir der Atem stockte, als ich sah, dass Peter... zu genießen begann. Du liest richtig, jaja: er begann die Situation zu genießen. Alles andere hatte ich erwartet, aber nicht das.

Wenn ich in diesen Wochen die eine oder andere liegengebliebene Lektüre aus der Studienzeit wieder aufnahm, dann nicht, um mein Wissen zu vervollständigen oder um ›nicht zu verblöden‹, wie das die Frauen in meiner neuen Umgebung ungeniert nannten (ob sie mit der Strategie Erfolg hatten, ließ sich während ihrer kurzen Auftritte nicht ergründen), sondern weil ich neuerdings anfing, mich dafür zu interessieren, was Frauen über Frauen schrieben. Bisher hatten mich die Evangelien- und Bekenntnisbücher aus dieser Richtung nur in einer spontanen Überlegenheitshaltung bestärkt, deren Ursprünge sicher in meiner DDR-Zeit zu suchen waren: Frauen-Emanzipation, das konnte nur ein Thema aus grauer Vorzeit sein, nichts, womit sich eine junge Frau, der die Möglichkeiten offen standen, ernsthaft zu befassen hatte. Im Gegenteil – der Sog, der von den meisten dieser Lektüren ausging, schien mir auf Schwächung hinauszulaufen: hinter allen Klagen, Beteuerungen und Utopismen stand das Weiber-Los mit ausgebreiteten Armen, bereit, schwesterlich jede zu empfangen und aufzunehmen, die ihnen neugierig oder fahrlässig das Ohr bot.

Mir gefiel das nicht, ich hatte Besseres zu tun und zu bedenken. Die Kirche der Frauen mit ihren Hohepriesterinnen, blinden Sängerinnen, abgebrühten Selbstdarstellerinnen und Klageweibern, ihren zahllosen Untersekten und bürokratischen Vollstrecker/innen, darunter nicht wenige Männer, die sich in ihren feministischen Gesinnungen von keiner Frau übertreffen lassen, diese weltweite Gemeinschaft von ›irgendwie‹ Überzeugten besaß für mich den Fehler, dass ihre Anliegen zwar auf den ersten Blick einleuchteten, ihre Summierung jedoch wenig glaubhaft erschien und bei näherem Hinsehen in lauter Widersprüchliches zerfaserte. Zweifellos waren die somalischen Frauen Frauen, doch dass sie als ›Frauen wie wir‹ mit den gleichen Problemen haderten wie meine Umgebung, das leuchtete mir ungefähr so ein wie die Solidarität der Arbeiterklasse im Mai – aber natürlich hat fast jede, mit der man spricht oder deren Hochglanzrede die Gemeinde entzückt, ihre Erfahrungen in einem Land ihrer Wahl gesammelt und kennt sich darin aus. Dafür sorgt, neben den TV-Programmen, schon der Tourismus, der turbinengleich das tägliche Gefasel einsaugt und in Kondensstreifen zerlegt über die Kontinente verteilt.

Ich hatte die Beauvoir gelesen und ihre obsessive Art bestaunt, private Ressentiments mit Lektüren ihrer Wahl zu füttern und das Ergebnis als Theorie zu verkaufen, doch das hier war anders. Seit damals – also eigentlich vor meiner Zeit – hat das seltsame Einvernehmen über das ›andere‹ Geschlecht zweifellos eine andere Dimension erlangt. Ein Kontinent, wenn man mich fragt – man kann darin Dschungelreisen buchen, Sightseeing- und Shoppingreisen unternehmen, es gibt Jobs in Fülle, allerdings auch ein gewaltiges Heer von Aspirantinnen, riesige Wüsten lassen sich mit einigen Einkaufstüten als Gepäck bequem durchmessen, man handelt mit Aufstiegen und Abgründen, Schluchzen und Jubilieren, Klamm oder Furt, doch fassen... fassen lässt er sich nicht. Ich weiß, ich weiß! Nein, eigentlich weiß ich es nicht, ich bin überzeugt, seit diese lila Pest sich ungehemmt ausbreitet, habe ich kein aufrichtiges Wort mehr von einem Mann zu hören bekommen. Sie ducken sich in voreilendem Gehorsam, sie streuen Asche auf ihr Haupt oder wechseln mit einem faden Lächeln das Thema. Was sie untereinander herauslassen, das brauche ich nicht zu hören, ich kenne es, ich habe die Honecker-Witze noch nicht vergessen, denen die Ulbricht- und Göring-Witze vorausgingen. Frauen-Witze! Weiß Gott, wir sind auf dem Vormarsch.

Wenn ich diese Lektüren wieder aufnahm – mit einem längeren Atem, als ich ihn vorher besessen hatte –, dann nicht deshalb, weil ich mich jetzt zugehörig fühlte. Ich wusste nicht, ob ich etwas versäumt hatte, und wenn ja, was. Die Frauen, die ich jetzt kennenlernte, trugen alle ›Bewusstsein‹, so etwas kannte ich, aber in dieser Fassung war es mir neu. Sie alle wussten, nicht etwa Bescheid, was ich verstanden hätte, das auch, aber die Hauptsache war es nicht. Sie wussten direkt über dem Herzen, ungefähr da, wo ich mich hätte schwanger fühlen sollen, aber das war es nicht, sie wussten es besser, sie waren jetzt Wissende. Der direkte Ausfluss dieses Wissens bestand darin, dass man streng examiniert wurde, und es passierte einem, dass man aussortiert wurde, ohne zu wissen warum. Darin wiederum... nun, darin kannte ich mich aus.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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