Ich hatte Peter nichts hinterlassen, keinen Zettel, kein Lebewohl. Der ICE, dieses Durcheinander gedämpfter Gerüche und Geräusche, gab ein vertrautes Gefühl. Draußen fielen die Schatten, ich dachte an die Riesenflügel, die die Welt verhüllten, und wartete auf die Klauen. Im Mittelgang lieferten sich Rucksackträger und Kofferzieher stumme Stellungsgefechte. Rempler, dachte ich, und versuchte, Westler und Ostler auseinander zu halten, was misslang. Keine Adresse zurücklassen, das heißt wohl sich losmachen. Leine ziehen. Das Kind in mir ruckte, obwohl ich wusste, das kann nicht sein. Ich war versucht, ein wenig mit ihm zu reden. Reg dich nicht auf oder so, wir kriegen das schon auf die Reihe. Na gut, du wirst nicht in Kreuzberg zur Schule gehen; vielleicht besser so. Zu viel Hochmut, zu viel Ressentiment. Versteck dich, da kommt der Mann, der die Karten prüft. Meine sind nicht besonders gut, aber deine? Du wirst mir doch nicht in den Arm fallen? Lass das, gedulde dich noch ein wenig. Deine Zeit wird schon kommen, schon kommen. Die Nacht zum Beispiel, diese Nacht... Wir werden uns ein Hotelzimmer nehmen, das ist klar, aber morgen müssen wir uns entscheiden. Weißt du, was das heißt? Du hast ja keine Ahnung, was es heißt, sich zu entscheiden. Und das ist gut so. Es verdirbt einen. Andererseits verdirbt man, wenn man sich nicht entscheidet. Ich meine: von innen. Man verfault, hätte dieser Mann gesagt, den sie meinen Vater nannten. Das tat er dann auch. Wir werden uns hüten, nicht wahr, wir zwei, wir werden uns sehr in Acht nehmen, damit uns das nicht passiert. Oder sind wir schon ein wenig angefault? Lass fühlen. Womit fühlt man so etwas? Sind das etwa die weichen Stellen? Sitzen da schon die Maden? Wir sind doch keine reifen Früchte, nicht einmal Früchtchen. Marmelade werde ich kochen, das habe ich noch gesehen, als ich klein war, ich versprech’s dir. Wer bist du überhaupt? Ein Mädchen, das kann ich mir vorstellen. Ein Junge? Du machst mich neugierig. Kind, du machst mich neugierig. Aber erst einmal bleibst du hübsch dort, wo du hingehörst. Tief innen in mir, nicht wahr? Nein, ich will nichts von dir wissen. Das kommt alles früh genug. Du bleibst drin und ich geh meiner Wege. Ich kenne mich aus. Ich kenne mich. Aus. Punkt. Aus.

Ich übte, aber die Übung missfiel mir. Häng dich über die Kloschüssel, dachte ich, kotz dich aus, danach ist dir wohler und es bleibt, wie es ist. Es ist aber so, wie ich dir sagte: du kannst kein Kind brauchen, du hast noch viel vor in deinem Leben, du hast noch viel vor mit deinem Leben, nimm’s in die Hand! Dreh es und halt es dir vors Gesicht! Was siehst du da? Die Fratze einer jungen Frau, die ihr Leben betrachtet. Das Leben liegt vor dir, ein roter Teppich, kaum trittst du drauf, quillt Seife heraus. Bist du bescheuert? Warum, bitte, so ordinär? Dieser Kerl, mit dem du die letzten Wochen zusammengelebt hast, ein Hundeleben. Seins oder meins? Damit geht es los. Egal, wie du losgehst, du triffst diese Köter. Du weißt es und du merkst es nicht. Das kommt daher, dass sie eine Stimme haben. Sie erheben sie, das ist wahr. Aber gut ist das nicht, erhebend schon gar nicht. Aufbruch, Umbruch, du siehst nur Bruch. Wie sie zappeln. Rendite, was ist das? Nie gehört, muss eine von diesen West-Tussis sein, laufen ja genug hier vorbei. Wie sie sich aufbürsten. Oben herum ist alles Frisur, wer weiß, wo das anfängt. Nur nicht nachsehen. Oder doch? Natürlich sehen wir nach, klar doch, wird gemacht. Klobürsten verkaufen! Wer uns das gesagt hätte. Mir schläft der Arm gleich ein, das kommt vom Kuscheln. He, dreh dich mal auf die andere Seite, nimm’s nicht persönlich. Keine Sorge, das wird nicht passieren. Das wäre zuviel des Guten. Einen harten Tag hast du vor dir. Sei kein Weichei.

Lang ist so ein Zug. Im Speisewagen glimmen die Lämpchen. Herrlein mit Gelfrisuren und Krawatten, die aussehen, als verdankten sie sich dem Comic-Strich eines berühmten Künstlers, dessen Name mir gerade nicht einfällt, Fräulein, die nicht mehr so heißen, aber alles genauso machen, der Kellner betrunken, aber nur leicht. Er steigt mir auf den Fuß, mal sehen, was noch kommt. Wenn er sich entschuldigt, gebe ich einen aus. Passiert aber nicht. ›Fete du Mauerpark‹ stand in leuchtend roter Schrift auf dem Plakat, das mich täglich belauerte. Ich fürchte, wäre ich hingegangen, hätte ich bekannte Gesichter gesehen. Natürlich gab es sie, die Jeunesse dorée des Osten, und sicher gehörte ich damals dazu. Hätte es sie nicht gegeben, so hätten wir sie erfunden: Der Spruch passt auch hier. Bescheiden wie unsere Genüsse waren auch unsere Wünsche. Als ich in den Westen fuhr, glaubte ich mich am Ziel, ich glaubte es wirklich. Mein Vater hatte alle Hindernisse beiseite geräumt; so gehörte sich das. Er wusste, dass ich nicht wiederkam. Das war seine Entscheidung. Also doch. Den Hochmut konnte ich brauchen, Blasiertheit wäre besser gewesen, aber dazu konnte ich mich nicht verstehen. Wie hochhackige Schuhe, kommt gleich nach der Behinderung links. Wenn ich heute Gregor auftreten sehe – er heißt jetzt ›Gysi‹, so wie Herr Fischer nur ›Joschka‹ heißt, die Fernsehwelt braucht solche Maskottchen –, dann ist sie wieder da, die Berliner Luft, die wir damals atmeten, er hatte Recht, ich Unrecht, aber ich war jünger und bin es noch. Für eine Frau ist das wichtig. Nicht mein Zug. Aber wahrscheinlich fliegt er.

Der Mann am Tisch gegenüber, Zwinkerauge sei wachsam, ging mir beträchtlich auf den Senkel. Ich stand auf, zog ihm geruhsam die in Pisa erworbene Handtasche durchs Gesicht und verließ das Abteil.

Aufgedreht, das ist es. Ja, ich war aufgedreht und bin es noch heute, wenn ich daran denke. In der Heidelberger Mansarde nimmt das eigene Leben einen anderen Geschmack an als in der Berliner Mansarde, ganz zu schweigen von der Pariser Mansarde, man muss keinen Gott und kein Absolutes bemühen, umso weniger den Nächsten und seine Gebresten. Es war nur der erste Stock einer Neuenheimer Pension, gleich neben dem Markt, in dem ich ein ruhiges Zimmer bewohnte, aber die Erfahrung schien mir ganz dieselbe zu sein. Oder auch nicht! Wer weiß. Wäre mir zufällig in den ersten Tagen Michael über den Weg gelaufen – ich hatte beschlossen, ihn nicht von mir aus aufzusuchen –, dann hätte sich bestimmt das eine oder andere anders entwickelt, denn etwas entwickelt sich immer anders, je nachdem... aber es wäre aufs selbe hinausgekommen. Auch so blieb ich nicht lange allein. Du warst fortgezogen (oder auch nicht), jedenfalls aus meinem Gesichtskreis verschwunden, das Kind in mir rührte sich nicht und das war gut so, ich brauchte eine Arbeit und kellnerte in der Nachbarschaft, an den langen Abenden sah ich Gesichter wieder, so dass ich manchmal zu träumen glaubte, doch dazu bestand, wie immer, kein Anlass. Auch Melitta sah ich wieder, erinnerst du dich an Melitta? Das herbe Gesicht in der zweiten Reihe. Diesmal trug sie ihr Haar straff nach hinten gebürstet, ich nahm an, der Typ an ihrer Seite sei schwul. Weit gefehlt! Als ich am nächsten Tag aufwachte, glaubte ich zu wissen, dass ich eine erbitterte Feindin mehr auf der Welt besaß, es waren aber zwei, die Hauswirtin eingerechnet. Alt-Heidelberg, das vererbt sich. Der junge Mann war lieb, er half meine Sachen tragen und bot mir an, bei ihm zu schlafen, solange seine Eltern nicht Wind von der Sache bekämen. Ich hörte ihn freundlich an, neigte den Kopf wie in einem alten Kinofilm, nickte und versprach, mir die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Vor dem Hotel überlegte ich, ob es angebracht sei, ihn mit einem Trinkgeld zu entlassen, und strich ihm versuchsweise übers Haar. Ich sah, wie die Wut seine Augen verdunkelte. Es war aber mehr Trotz als Wut, deshalb bat ich ihn, im Foyer auf mich zu warten und keine Dummheiten zu begehen. Ich brachte meine Sachen ins Zimmer, duschte (in der Pseudo-Mansarde hatte ich mich mit einem Waschbecken bescheiden müssen) und machte mich zurecht; das gab mir ein gutes Gefühl. Warum gibt es Wohnungen und nicht nur Hotels? Solange ich im Hotel wohne, geht es mir gut, kaum stehe ich zwischen den eigenen vier Wänden, wachsen die Schwierigkeiten.

Der arme Junge! Er musste viel leiden an diesem Morgen, ich hoffe, es kommt seiner Biographie zugute. ›Die Gräfin entstieg dem Fahrstuhl.‹ Naja, jedenfalls fiel sein vom Warten etwas gläsern gewordener Blick gleich auf mich, er zeigte sogar mit dem Finger nach mir, was ich eher ungehörig fand. In seinen Augen stand ehrliche Begeisterung darüber, dass er mich jemandem zeigen konnte, und dieser Jemand drehte sich – sollte ich das ›pflichtschuldigst‹ nennen? – nach mir um, etwas umständlich, damit die Würde keinen Schaden nahm, aber er drehte sich – ein Gesicht wurde sichtbar, ein Augenpaar, erstaunt oder nicht erstaunt, was weiß ich, und dieses Augenpaar erhob sich, getragen von der Statur eines Mannes, den dummen Jungen wie eine Mücke oder irgendein Insekt hinter sich lassend... Warum erzähle ich das? Noch dazu dir? Aber du hast ja kein Gesicht, an etwas muss ich mich halten. Michael – ich erfuhr es nach und nach, als wir im Taxi davon brausten – war hergekommen, um eine Reisende in Empfang zu nehmen, die Dame hatte ihn versetzt, nicht zum ersten Mal, er war also bereit, ich trudelte in ein Paar Arme, die offener nicht sein konnten. Er schüttete sein Herz aus und lachte mich an. Das dauerte, wir zogen von Lokal zu Lokal. Um Mitternacht rannten wir den Schlossweg hinauf und beugten uns über die Balustrade. Da war alles, der Neckar, die Frachtkähne, die Spielzeuglämpchen, die gelben Augen der Nacht. Abrupt richtete er sich auf: »Du gehst nicht zurück ins Hotel.« Ich, ohne zu überlegen, flüsternd: »Das war auch nicht meine Absicht.«

Das war glatt gelogen, natürlich wollte ich zurück ins Hotel, gerade jetzt, gegen mich selbst, gegen die Welt, die, eine dunkle Kugel, stumm und reglos in mir lag und darauf wartete loszubrechen. Das hier wollte ich nicht, es hatte nichts zu bedeuten, aber es setzte sich durch. Derselbe Mann, dieselbe Frau. War ich dieselbe? War ich mehr dieselbe? War ich mehr die Frau, die sich losgemacht hatte oder die Frau davor? Wenn es auf ein Mehr oder Weniger mehr nicht mehr ankam, dann ging es mir gut; das war die Frage.

Warum verfolgen Frauen Männer und Männer Frauen? Dumme Frage, das ist die Crux. All diese Fragen sind dumme Fragen, die Antwort liegt auf der Hand, du bläst sie weg, sie liegt in der Luft, sie erfüllt sie mit Lachen, sie ist zum Lachen, sie ist die unmögliche Antwort, die durchgestrichene Antwort, da liegt die Crux. Lachend gehst du gegen den anderen vor, suchst ihn in seiner Haut auf, dort, wo er sich sicher wähnt. Lachend geht er aus sich heraus. Das Leben ist mehr als der Tod. Die Liebe ist mehr als das Leben. Die Liebe ist das Leben, sie streicht es durch. Das durchgestrichene Leben wächst, wächst heran zur Begierde. Die Begierde nimmt das Spiel auf, sie ist mittendrin. Du kannst sie nicht durchstreichen, das besorgt nur der Tod. Der Tod ist weniger als das Leben, er geht ihm nach. Mit dem Tod kannst du nicht spielen, solche Scherze hebeln dich aus. Das verstimmt!

Wenn ich jetzt mit diesem künftig etwas zur Fülle neigenden Mann ins Hotel ging (hatte ich nicht bereits zugestimmt?) und meinen Koffer abholte, dann hatte ich verspielt. Die Murmel hatte sich verfangen und kreiselte um den tiefsten Punkt – nicht lange und sie würde daliegen, als warte sie auf den nächsten Stoß, der kommt oder nicht kommt, wer kann das sagen. Wenn ich nicht mitging, dann holte ich mir zumindest eines: kalte Füße. Das hört sich nicht überlegen an, aber es ist die Wahrheit. Ich weiß, man darf das nicht sagen, Wahrheitsfragen gehören ihrer Natur nach zur kniffligsten Sorte und wer die Frauen liebt, vergisst sie am besten ganz. Aber das ist der Vorteil der Frauen, dass sie die Frauen nicht lieben, jedenfalls nicht immer, nur zu Zeiten. Was die kalten Füße angeht, so kennen sie sie gut. Natura hoc fecit. Die Furcht vor den kalten Füßen regiert unser Leben, sie gibt die besten Einfälle und verleitet zu den sonderbarsten Exzessen. Es ist die Furcht der Nähe, die frieren macht, die Furcht vor dem ständigen Begleiter, es sei denn, es ist Hochsommer und wir machen uns frei. Dafür war es zu früh im Jahr, viel zu früh, gerade jetzt fühlte ich, in meinen Mantel gewickelt, diese sonderbare Kälte, gegen die nur die ausgesuchtesten Stoffe Schutz boten. Überdies reizte mich die Illusion: dass dieser Mann auf mich gewartet hatte, wider allen Verstand, war ein kleiner Grund, ein Gründchen, ihn unter die Lupe des Verstandes zu nehmen. Das Rechenexempel schien nicht so schwierig, die Summe sprang ins Auge, ohne dass größere Operationen notwendig wurden. Die gesichtslose Frau, die jetzt vielleicht im Hotel saß, die Hand neben dem Hörer, oder die vielleicht schon wieder abgereist war, ich hatte sie nicht vergessen, o nein, meine Anwesenheit stand für sie ein und wenn Michael meine Augen küsste, dann küsste er, ohne es zu wissen, ihre mit, denn ich hatte, ohne viel darüber nachzudenken, ihr in meinem geräumigen Inneren Asyl geboten und sie hatte dankend angenommen.

Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass Michaels Familie Widerstand leisten würde: Widerstand gegen mich, Widerstand gegen diese Verbindung, Widerstand gegen ihn, der sich unter ihren Augen mit einer Frau zusammentat, Widerstand gegen alles, was sich daraus in näherer oder fernerer Zukunft ergeben mochte... Michaels Eltern wohnten in Heidelberg. Sie besuchten uns nicht ein einziges Mal in seiner Altstadtwohnung, die ich schon kennen gelernt hatte und in der ich jetzt auf Strümpfen herum lief. Sie hielten Hof. Der Vater rief ab und zu an, seine Stimme klang brüchig, sie schien aus den Tiefen der Taiga zu kommen oder von den Höhen des Apennin, jedenfalls aus einer Weltgegend, in der man als Fremder nicht so leicht einen Fuß in die Tür bekommt. Herrisch verlangte er nach seinem Sohn, nahm aber nach ein paar abschätzigen Bemerkungen – nicht ungern, wie ich bemerken musste – mit mir vorlieb, so dass wir manchmal ziemlich lange redeten, bis, wann immer es ihm passte, nicht selten mitten im Satz, er das Gespräch beendete, so wie man ein überraschend aufzüngelndes Feuer austritt. Die Mutter telefonierte nicht, sie vertrat Ansichten – mit rot glühendem Gesicht und gepresster Stimme, ehe sie sich wieder am Herd oder sonstwo zu schaffen machte.

Beide hatten nichts gegen mich, sie lehnten mich ab. Ich hatte mich ihres Sohnes bemächtigt, ich war eine Okkupantin. Es war abzusehen, dass ich bald schwanger werden würde (noch hatte ich nichts gesagt), das fanden sie, ›gelinde gesagt‹, eine Unverschämtheit. Es würde die zweifellos viel zu geringe Aufmerksamkeit Ihres Sohnes von ihnen abziehen und sie hatten keineswegs vor, ihr brüchiges Lebensgefühl auf Mallorca aufzubessern. Ein Enkelkind? Katastrophe! Ein Leben lang gearbeitet und dann das! Ich sah bereits vor mir, wie sie auf dem Boden herumkrabbelten und wieder zahnten, um im Geschäft zu bleiben. Wir würden uns um ihre Einschulung kümmern müssen, welch ein Aufwand! Ein Aufwand um nichts, denn bereits heute konnte Michael ihnen nicht genügen, er hatte es nie gekonnt. »Nie ist er da!« erklärte der Alte mit fester, ein Kopfschütteln andeutender Stimme. Der Sohn richtete sich durch Abwesenheit. War er anwesend – was nicht so selten vorkam –, dann änderte das nichts, gab aber Gelegenheit, ihn merken zu lassen, dass er sich an ihnen verging.

Diese Maßlosigkeit, primitiv und direkt, war mir neu. Hätte Michael mir nicht das eine oder andere erklärt, ich hätte den Umgang mit den beiden sofort wieder eingestellt. So fügte ich mich in die Eltern-Sohn-Symbiose, so gut es ging. So gut es ging. Nicht einmal so schlecht, im Nachhinein betrachtet. Ich machte die Mittlerin. In der Rolle konnten Sie mit mir ›etwas anfangen‹. Immerhin. Was sollte ich machen? Die Frage kam mir vertraut vor, aber diesen Gedanken schob ich ganz nach hinten. Wo er gedieh, der Hinterkopf, scheint mir, beherbergt zu Zeiten den geräumigsten Teil des Gehirns. Und ich meine das nicht physiologisch; unter Analphabeten muss auch das gesagt werden.

Sollte ich es ihnen sagen? Sollte ich es denen sagen? Ich hatte mich nicht einmal überwinden können, mit Michael darüber zu reden, eine Grundscheu hielt mich davon ab. Eine Scheu aus dem Grunde. Aus welchem Grund? Grundlos, wie sonst. Aber, so wirst du sagen, das verstehe ich nicht. Gerade darum ging’s doch. Siehst du, das ist er, der Grund. Gerade darum ging’s. Wenn es aber nicht gerade geht, dann stimmt etwas nicht mit dem Grund. Der Grund selbst, er wackelt. Dieses Beben, siehst du, es pflanzt sich fort. Was hätte ich sagen sollen? Mir sagen sollen? Die Richtung stimmt, stimmt nicht? Michael – Michael war die Stetigkeit selbst. Ein Mann in Leideform. Seiner Eltern Kind, ein Kind seiner Mutter, dieser karmesinroten Formation im Kochtopfbezirk, ein Kind seines Vaters. Vor allem aber: Kind seiner Mutter. Er kam nicht von ihr los. So wie ich von dem Ziehen im Bauch, das mich neuerdings Nächte kostete.

Soll ich sagen, sie misstrauten mir? Soll ich sagen, sie rochen den Braten? Teufelsbrut, die in mir heranwuchs. Dafür hatten sie ihn nicht großgezogen. Mit Michael wäre ich glänzend klar gekommen, er machte überhaupt keine Probleme. Überall Haut, an der ich mich reiben konnte, ein sinnliches Vergnügen. Wenn wir redeten, ging es überallhin. Unsere Rede ging ins Gebirge, spazierte in die Täler, floss mit den Flüssen, zerteilte die Lüfte. Über alles hätte ich reden können, er wäre auf meiner Seite gewesen. Er war offen für das. Ich hatte ihn aufgetan, die andere ihn zappeln lassen, er war bereit. Es war die Mutter, die das Schwert zwischen uns legte. Ich konnte mir ausmalen, wie sie redete, wenn sie mit sich allein war. Denken konnte man es nicht nennen, nur Rede, die durch sie hindurch lief, von Generation zu Generation weiter lief, bodenlos, haltlos, wen sie hineinwarfen, der kroch nicht mehr lebend heraus, halbtot vielleicht, gezeichnet für den Rest seiner Tage, ein lebendes Manko. (Ausdrücke gibt es!) Sie brauchte nur den Mund aufzumachen, alles andere besorgte die Rede selbst, davon war ich überzeugt. Diese Frau ist gefährlich, flüsterte diese Rede, sie hat einen Kopf, sie hat einen Willen, was mag sie damit anfangen? Sie hat einen Grund, sich einzuschmeicheln, sie ist zu plötzlich aufgetaucht, sie ist die Falsche. Er sieht es nicht ein, er will es nicht einsehen, sie blendet ihn, das fällt ihr nicht schwer. Könnte ich ihm meine Augen geben, fiele es ihm leichter, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Gern würde ich sie ihm geben, wenn ich ihn im Ausgleich dafür behielte. Man darf so nicht denken, ich weiß, aber Denken ist nicht immer das Beste. Man kommt nicht überall hin damit, man muss sich auch gehen lassen. Eigentlich ist sie nicht übel, aber sie ist nicht die Richtige. Dort, wo sie herkommt, trägt man die Röcke verkehrt herum, alles ist Spiel. Man sieht das jetzt immer mehr. Wo es diese Frauen hinzieht? Neben der Straße läuft der Fluss, wer hineinfällt, der verätzt sich die Lunge. Sie wissen das, aber es zieht sie. Es ist stärker als sie. Sie reden von starken Frauen, doch die Stärke der Frauen kennen sie nicht. Wie sie aussieht, treibt sie auch Sport. Obwohl – so ist sie nicht. Schwach ist sie nicht, auch nicht im Kopf. Ich muss ihn warnen, aber er missversteht mich. Er versteht meine Zeichen nicht. Vielleicht sollte ich sie warnen, Frauen verstehen leicht. Selbst wenn sie nichts verstehen, haben sie schon verstanden. Männer kennen das nicht, darum sind sie lenkbar. Mach dir keine Sorgen, mein Junge, ich werde das schon richten. Nein, das ist nicht gut. Sorglos darf man nicht sein. Ich muss ihn warnen, ganz richtig, ich muss ihn warnen.

Der Lastkahn, bis knapp unter der Bordkante im blickdichten Wasser verschwunden, hat gerade die Schleuse passiert, er schwimmt ruhig, blubbert leise. Bald wird er die Alte Brücke passieren, deren Sandstein im nassen Vormittagslicht zwischen schwachen Rot- und Blautönen schimmert. Die graue Welt ist die farbige; sie lockt die Töne, lässt sie erstehen auf feuchtem Bogen. Die Fährstation: ein Schmutzfleck. Ein Versammlung von Schmutzflecken, worüber sie reden? Ihr Gegenstück drüben, auf der anderen Seite des Flusses: ein elegischer Ort. Die Ufermauer mit ihrem stärkeren Ockerklang, die verwaschene Balustrade, auf der die Autodächer hin- und hergleiten, denn geparkt werden darf dort nicht, sie ziehen den Blick – wohin? Wer dort entlanggeht, ist im Bild, er weiß von nichts, aber er ist im Bild. ›Im Bild sein‹, was ist das? Ich wäre es gern, in der einen oder anderen Weise. Diese Häuser, fast unerreichbar für den mietenden Zeitgeschmack, sie haben etwas Einladendes, das sie auf den zweiten Blick wieder zurücknehmen. Härte, genau: sie sind von einladender Härte, vor der das schweifende Auge erstaunt zusammenzuckt. Max Webers legendärer Gesprächskreis, Jenseitspalaver unter der Guillotine. Die Häuser stehen, der Wind, der von ihnen bleiben wird, schlummert noch im Futur. Manchmal regt er sich, im Gefühl, wo sonst. Beklommenheit nennt man das. Etwas klemmt, will sich frei machen.

Will es das? Und wenn es das will, wo bleibe ich? Beklommenheit angesichts eines Lebens, in dem ich nur noch Relikt sein werde, totes Holz, vergehende und schon vergangene Realitätsforderung, der Mann, um dessen Zustimmung zu diesem Leben es mir heute geht, eine Lachnummer, sinnlose Härte inmitten kleinerer und größerer Unfälle: ›Weißt du noch...?‹ Auch dieses Wissen, das die Älteren fremd berührt (man merkt es an ihren Reaktionen), keinerlei Wissen, ein Waschbrett, über das der Tropfen ›Ich‹ abläuft, Jahr für Jahr, immer dieselbe Strecke – wie es wohl wieder hinaufkommt? Damit einverstanden sein, ohne Not, zum ersten Mal: ohne Not, das kann nicht im Ungefähr stehen bleiben, das muss heraus gearbeitet werden, das muss heraus, und wenn es dabei krepiert.

Etwas rührt sich in mir, regt sich, streckt sich – so kommt es mir vor. Mütterliche Gefühle gibt es mir nicht ein, sie bleiben aufgespart, für später. Für danach. Heute, ich spüre es, fällt eine Entscheidung. Sie fällt – in mich hinein, durch mich hindurch? Wer das weiß? Der Mann neben mir, er weiß nichts. Warum überhaupt? Wenn er das nicht weiß, wie fremd muss ich ihm dann sein. Ihm genügt meine Haut. Nein, nein, kein Protest, ihm genügt meine Haut. Warum auch nicht. Ich selbst fühlte mich wohler, wenn es nur um meine Haut ginge. ›Die eigene Haut retten‹, ungeschoren davonkommen, heißt das nicht: ein Verhältnis beenden, ohne daran kleben zu bleiben? Wieviel bliebe kleben von mir, wenn ich heute ginge? Eine ganze Menge. Eine ganze Menge. Also: ein Teil von mir. Wie kann die Menge ganz sein, wenn sie nur ein Teil ist, ein Teil von mir? Ganz schön ausgefuchst, diese Rede.

Also: ich muss es ihm sagen. Sage ich es, dann verwandelt sich die Szene. Er wird nett zu mir sein, reizend und konsterniert, mit einem Wort: liberal. Das ist er sich schuldig, es ist sein Gesicht. Ein Gesicht aufsetzen, das kann er gut. Betont, abgegrenzt. Dieses Gesicht rechtfertigt ein anderes, viele andere. Sie alle werden zum Vorschein kommen, eins nach dem anderen, ans Licht gezogen von diesem einen: Folgegesichter. Eigentlich kenne ich sie schon alle: Muskelspiele. Mir genügt seine Muskulatur. Ist das wahr? So ein Gesichtsmuskel ist ein Präzisionsinstrument – fragt sich, für wen. Wer sich seiner bedient, hantiert mit Risiken, die weit über das hinausgehen, was er sich, nüchtern betrachtet, leisten kann. Alles, was recht ist. Ihn ausbuchstabieren, das war’s, was ich wollte: bin ich damit schon am Ende? Und wenn, alte Frage, an welchem? Ihm mein Kind zutragen, das ist ein anderes Programm, nicht wahr? Und trotzdem: warum empfinde ich heute so stark, dass es unser Kind ist, nachdem ich es wochenlang einem anderen angetragen hatte – was die Sache nicht ganz trifft, da er es umstandslos als das seine akzeptiert hatte. Was also meine ich, wenn ich ›unser Kind‹ sage oder denke? Bin ich es, die ›mein‹ Kind zu ›unserem‹ Kind macht, per Beschluss? Und wenn das so ist, auf welcher Ebene denke oder rede ich dann? Liegt hinter ›unserem‹ Kind ›mein‹ Kind, das ich beliebig gegenüber dem ›wir‹ reklamieren kann? Wenn nicht, wie oft? Einmal, zweimal? Kann ich es überhaupt oder bin ich schon eine Lügnerin, die nur den Mund nicht aufbekommt, obwohl die Gelegenheit günstig und nahezu unwiderbringlich ist?

Vermutlich war die Gelegenheit günstig, sie ging vorbei, also war sie wohl eher ungünstig, vielleicht auch gar nicht vorhanden. Was soll ich dazu sagen? Was sagt man überhaupt, wenn man sich in diesem Fall befindet? Der Mann ist ein Klotz, er sieht nichts, hört nichts, nimmt als gegeben, was seine Bedeutung noch gar nicht preisgegeben hat, ist das ein Mann? Er will nicht wissen: das war es, was mir langsam, langsam in seinem ganzen Umfang aufging, obwohl ich – irgendwie – es schon von der ersten Nacht her wusste. Die Art, wie er mich in die Arme genommen hatte, ›versiegelnd‹, wenn das hier ein erlaubter Ausdruck ist, hatte es mich gelehrt oder hätte es, wenn ich für diese Art von Belehrung damals offen gewesen wäre. Deshalb – nur deshalb – konnte ich zu Peter ›zurückkehren‹, obwohl nichts zurückgekehrt war außer einer fatalen Vertrautheit, die sich weder mit meiner noch mit seiner gewandelten Person vertrug. Nein, er war nicht der Vater meines Kindes, er wäre es nie gewesen. Warum? Weil nur die Neugier uns wieder zusammengebracht hatte: Was ist aus dir geworden, nachdem ich abtrünnig wurde? Wie konnte überhaupt aus dir etwas werden, nachdem ich mich verabschiedet hatte? Bist du mehr geworden oder weniger? Das war etwas, das offenbar nur im Bett erkundet werden konnte, es war das Thema, das uns verband – ein kurzes Band, nicht besonders reißfest, aber das wusste ich ja bereits.

Nun also: die Gegenwart. Sie trug einen Namen, besaß einen Geruch, sie verbreitete sich, sie kam und ging, sie trug – hin und wieder – sogar getupfte Krawatten: Was will man von einer Gegenwart mehr. Was will man überhaupt von einer Gegenwart? Dass sie vergeht? Dass sie der Zukunft Platz macht? Wenn das der Fall sein sollte, dann war ich eindeutig an den Falschen geraten. Michael war so sehr Gegenwart, dass es mir gelegentlich fast den Atem verschlug. Er personifizierte die Gegenwart, die nicht vergehen will. Ich konnte mir unschwer vorstellen, wie wir in Tausenden von Jahren, umschwirrt von einer verseuchten und degenierten Menschheit, am Frühstückstisch saßen und das Programm des Tages besprachen – langsam, behutsam erkundend, was der andere vorhatte, welche Wege er zu gehen gedacht und welche davon wir zusammen gehen könnten –, aber ich wurde mir nicht schlüssig, ob dies meinen Absichten entsprach oder ob nicht unterwegs etwas verloren gegangen sein würde, was ich jetzt nicht beschreiben konnte, was aber, wenn die Stunde der Wahrheit gekommen sein würde, sich zu einem Schrei formen würde.

Ich trug ihn also bereits in mir, den künftigen Schrei, so wie ein Virus oder eine kleine chemische Anomalie, die den Körper erst nach Jahren oder Jahrzehnten ruiniert, obwohl sie doch immer da war. Vielleicht überfordert uns unsere Art, mit wechselnden Partnern zusammen zu leben – andererseits hätte ich erstaunt reagiert, hätte ein intimer Betrachter meine Verhältnisse auf diesen etwas plumpen Nenner gebracht. Ich hatte – nach anfänglichem Schwanken – eine Entscheidung gefällt und diese Entscheidung war nicht revidierbar. Fragt sich nur, worin sie bestand. In mir dauerte die Emotion jener ersten Nacht. Oft loderte sie hell, grundlos, entfacht durch eine Winzigkeit, die erst nachträglich oder gar nicht in mein Bewusstsein drang. In den Zwischenzeiten verband uns eine Reißleine, auf die ich mich verlassen konnte: Wann immer ich es nötig hatte und an ihr zog, stand ich in Flammen. Kein Zweifel, das Band war fest, biegsam und in hohem Maße alltagstauglich. Michael, nun, er war ›unkompliziert‹, die Stetigkeit selbst. Er konnte erstaunt und ein wenig neugierig blicken, wenn ich Dinge tat, die für ihn ›außerhalb meiner Norm‹ lagen. So nannte er das. Der Ausdruck verwirrte mich. Es ging um Kleinigkeiten – der Gedanke, dass mein Verhalten genormt war und er, im Gegensatz zu mir, die Norm zu kennen glaubte, war im Grunde ebenso seltsam wie der Umstand, dass sie gerade in kleinen Dingen hervortreten sollte. Ich weiß, der Psychologe lächelt. Die Art, wie man das Messer hält, wenn man Brot schneidet, die unterschiedlichen Antworten auf die Frage, wie die Marmelade aufs Brot kommt, zu denen Menschen fähig sind, die Bewegung, mit der man in einen Jackenärmel fährt oder mit dem Schlüsselbund klappert – alles hoch normiert, so dass man einen Menschen dran erkennen kann, wenn man ihn dann noch für einen hält.

Folgte ich Michael, so erstreckte mein Normverhalten sich über Bereiche, in denen ich bisher frei zu haben glaubte. Zum Beispiel wusste er, in welche Buchhandlung ich nicht ging, welche Bücher ich nicht kaufen würde, welche Theater außerhalb meiner Reichweite lagen und welche Ausstellung ich nicht besuchen würde und welche Sendung er gleich abschalten konnte, ohne mich erst zu fragen: soviel Voraussicht war ich nicht gewohnt. Er wurde dabei nicht aufdringlich, ich will kein falsches Bild von ihm zeichnen. Es war seine Art, die Menschen und Dinge zu verstetigen, unauffällig, unablässig, unaufhaltsam, fast hätte ich geschrieben: unabweislich. Solche Charaktere findet man in der Literatur, in psychologischen Handbüchern sowieso, die Ritualforscher versuchen seit Jahr und Tag, öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Untersuchungen zu lenken, aber dergleichen Gedanken lagen mir gegenwärtig – wie soll ich sagen – ferner, sie entbehrten einer gewissen Muße, um in mir Fuß zu fassen. Ich merkte nur, dass ich ungeduldig wurde und dass diese Ungeduld etwas aufzuzehren begann, was ich als den Gewinn dieser gemeinsamen Tage betrachtete und noch immer betrachte.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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