Noch immer. Stehende Wendung. Stehende Zeit. Stehen geblieben. Zeit, sich zu duschen, anzuzie- hen, zu schminken, zu frühstücken, den frisch erworbenen Computer anzuwerfen und Briefe zu schreiben – ich ziehe einen Strich, einen langen, dünnen, einen Rasierklingenstrich. Das ist ein Instrument, das ich nie ohne Grauen ansehen kann, Michael lässt seine offen im Bad herumliegen, eine Unart, wie manches. Über das zu berichten wäre, kein Zweifel, aber wem, warum? Mir nicht, und dir? Wer bist du, hörst du mir zu, liest du, was ich hier schreibe? Bist du das Papier, das der Drucker dort einzieht, walkt und wieder entlässt, als sei nichts geschehen außer dem Wunder der Beschriftung, dem Mirakel der Schrift, das verlässliche, das entsetzlich verlässliche, das alle einfängt, Analphabeten abgerechnet, die ausgesperrt bleiben, auf den Käfig starren, aus dem keiner herauskommt, nicht einmal die alten Leute, denen alles verschwimmt. Schreibe ich auf Papier? Im Moment nicht, der Moment könnte dauern. Was ich sehe, gefällt mir.

Ich möchte nicht berichten, ich möchte schreiben. In den Tasten wühlen, es auf den Anschlagpunkt bringen. Du fehlst mir, darüber gleiten wir weg. Michael? Ein Trottel, ich wusste es. Schlimm? Er ist ein Zeiger, der gleich von einem Anschlag zum andern springt. Er kennt kein Dazwischen, die Skala, er lässt sie aus. Nimmt sie nicht an. Gerade ahnte er nichts, jetzt weiß er alles. Er hat verstehen gelernt, von der Pike. Wo lernt man sowas? Ich kenne die Hermeneuten, ernsthafte Stümper. Hätte ich das hier geahnt, ich hätte Zahnmedizin studiert. Jeden Tag staune ich mehr.

Vielleicht auch weniger. Was ich weiß, fügt sich nicht, das wusste ich längst. ›I am not a demigod, I cannot make it cohere.‹ Er kann, für ihn hängt auch dieser Satz unverrückbar mit anderen zusammen. Denken heißt für ihn schaben, den Schmutz entfernen, ein Präparator. Seine Finger sind flink, stupend, kaum sieht man sie am Werk, ist es auch schon getan. Oder geschehn. Auch um den Gedanken ist es geschehn, den langsamen, der noch kommen wollte, der lieber verzichtet. Der Platz macht. Ihn dem anderen überlässt, der aber die Lücke nicht spürt, raumfordernd, ja, aber durch Anwesenheit. Einfach durch Anwesenheit. Keine Aggression, nicht im geringsten. Nicht um ein Butterbrot oder ein Croissant oder ein Messer, das falsch liegt oder um ein Buch, das verkehrt im Regal steht. Lächelndes Sein. Es ist schwer, das zu beschreiben, ich leide nicht fraulich. Ich leide überhaupt nicht. Ich staune, staune mit offenem Mund, mit offenem Auge, mit offener Wunde. Woher auch immer sie stammt, von ihm nicht. Nichts an mir stammt von ihm. Und von mir kommt nichts in ihn hinein. Sollte man meinen, aber das wäre geraten. So enthalte ich mich.

Das Kind. Nietzsches spielendes Kind. Es macht leiden, aber es leidet nicht. Es macht das Leiden unsichtbar, unhörbar, unmerklich. In seiner Umgebung Leid? Unvorstellbar. Ein helles, klares Köpfchen, so stellt es sich dar. Offen: ja. Geschlossen: ja. Ein Kreislauf. Alles führt man ihm zu: die Welt ist herrlich. Was es ausscheidet, ist ungenießbar, niemand achtet darauf. Gib ihm ein Stichwort: es kräht. Mit sonorer Stimme, aber es kräht. Das Kind fordert alles, denn es fordert nichts. Es verlangt nach allem, aber es trägt nichts, es trägt kein Verlangen. Ein Kind, alterslos. Ein Kind seiner Eltern, elternlos. Der Vater ist ihm peinlich, Mutter hat Schonzeit. Ganzjährig. Das Familiengedächtnis blockiert. Im Neckar schwimmen tote Fische zuhauf. Quecksilbervergiftung und mehr, man könnte die Gräten mit einem Ruck herausziehen. Darauf verzichten wir, dafür sind wir nicht angetreten. Wir sind uns selbst genug. Kreisen lassen, das ist die Kunst. Sich nicht hineinreißen lassen in den Wirbel, den einer macht. Oder eine, das ist egal. Auch Schwachsein stößt ins Leere, man kann es lassen.

Du liebst diese Stimmungen nicht an mir, du fühlst dich ausgesperrt. Wir haben nie darüber gesprochen, ich musste dich nur anschauen. Das amüsiert mich, es gelingt dir nicht, den Kopf wegzudrehen, auch nur deine Augen von mir zu lassen. Wie Saugnäpfe hängen sie an mir, ich bekomme rote Flecken davon. Vielleicht auch vor Wut, vor Ärger, aber Grimm ist nicht darunter, niemals, ich versprechs dir. Grimm kenne ich nicht, man hat vergessen, ihn mir zu injizieren, als dazu Zeit war. Jetzt injiziere ich; ich kenne meine Schwächen. Der Wunsch, mich zu rächen, ist nicht darunter, eher gehe ich weg. Ich laufe nicht weg, ich gehe. Das ist ein Unterschied, es ist der Unterschied, wenn du mich fragst. Wer nur denkt, für den ist alles eins. Wer nie denkt, dem fällt alles auseinander. Auch das ein Gedanke, für Unaufgeweckte. Fortgehen, darin liegt es. Im Fortgang der Geschichte erfahren wir... ja was? Die Geschichte. Sie war nur für dich bestimmt, deshalb erfährt sie auch keiner. Keiner als du, nehme ich an, sieh zu, vielleicht stehst du ja Schlange. Einmal, es war Herbst und die Blätter flogen an meinem Fenster vorbei, sah ich die Fotografie einer japanischen Studentin, die sich dauervögeln ließ, um die weibliche Ausdauer in diesem Punkt zu erforschen, die Reihe der Männer, die einmal drankommen wollten, erinnerte an ein Wahllokal einst im Mai, sie hatten keine Wahl, sie standen in Reih und Glied. Sieh zu, wo du zu stehen kommst, bei mir herrscht immer Andrang. Weniger von draußen, das müsste ich merken, nur manchmal wird’s heftig, aber wenn du fühlen möchtest... deine Fingerkuppen, sie sind doch voll Gefühl, voll Mitgefühl, oder täusche ich mich da?

Der Strich, der Rasiermesserstrich, noch immer steht er quer über dem, was ich schreibe. Er beunruhigt mich nicht, im Gegenteil, ich hätte ihn eher ziehen sollen, so, abgeteilt, beginnt etwas, das man aufziehen könnte, auf Pappe vielleicht. Aufgezogen macht es sich gut, schön straff, eine Augenweide. Nur nicht gehen lassen. Mein Auge hinkt, es geht nach. Gerade las ich: ›Der Geschlechterkrieg ist die Realität unserer Epoche.‹ Das amüsiert mich, man müsste es ausführen. Wie lang so eine Epoche dauert? Bei mir fing das spät an, eigentlich gar nicht, die anderen waren mir um Längen voraus. Falsches Bewusstsein? Davon habe ich, bis an mein Lebensende – genug. Ich bin ein Quell falschen Bewusstseins, es strömt mir zu, es strömt von mir weg, ich könnte es austeilen, aber die Nachfrage scheint gering. Sie haben schon, die guten. Dann gucken sie durch die Ritzen zwischen den Fingern und sehen: Realität. Da kann man schon zusammenfahren, wenn man die sieht. Oder zusammen wegfahren, Studentenliebe, auf den Paukboden, unter Palmen, zum Sich-Messen.

Nur nicht nachgeben. Nachgeben ruiniert alles. Das beginnt beim Tag. Wo es endet? Unabsehbar, es ist der Abfall. Ich bin eine Frau, sie verlangen das von mir: vermindertes Selbstbewusstsein? Woher nehmen? Aus der Zeitung? Fernsehen verdirbt die Augen, den Luxus leiste ich mir. Michael auch, eine Gemeinsamkeit. Was sie wiegt, wer weiß. Sie kommt mir leicht vor, ein Schwebegewicht. Ich fühle mich schwer, vielleicht sollte ich etwas nehmen. Die Einschüchterung wirkt, aber anders als gedacht. Anders als gedacht. Wer das versteht? Ausbrechen aus der Gemeinschaft der Weiber, dem Kollektiv, das gemeinsam singt, lacht und flennt, zwischen vier Wänden, damit es die andere nicht sieht, dem eingebildeten Kollektiv, dem Kollektiv aus Einbildung, fester, tief gegründeter Einbildung, die darauf wartet, freie Bahn zu bekommen. Warten, dass etwas geschieht. Wer mich entbindet, bekommt einen Groschen. Weg da, jetzt komme ich. Nein, das ist nicht richtig, es kommt aus mir, es kommt mir. Wie sich die Ausdrücke gleichen. Einer für drei, vier, alle Gelegenheiten. Einer für alle. Oder zwei. Oder drei. Fingerspiele. So ein Ausdruck, er deckt. Auf und zu, auf und zu. Auch ab, wie die Leute sagen. Also: auf und ab. Oder ab und an.

Ich war nicht gewillt, ich war dagegen. Auch jetzt bin ich nicht dafür, du kannst mich fragen. Meine Finger sind nicht blutig, ich bekomme auch keine roten Flecken im Gesicht oder da, wo es eh keiner sieht. Eher bin ich ein Fleck, einer, der sich ausbreitet. Das sind Unterschiede, die niemanden kümmern, an ihnen entscheidet sichs.

Man hat das gelesen, nehme ich an. Ich sollte nichts aufschreiben. Zurücknehmen, was da steht, es wieder zurücknehmen, an mich nehmen, an mich zurückgeben. Es kam doch von mir, oder? Ich habe es abgesondert, von links nach rechts, wie im wirklichen Leben. Du warst nicht da, ich musste es schreiben. Ich hätte mich herausputzen können stattdessen, eine Form der Erwartung gegen die andere. Wenn ich ins Theater gehe, den Schauspielern zuhöre, erstaunt mich der Ausdruck ihrer Gesichter: sie sind Ergebene, vor allem die Frauen, sie spielen keine Rollen, sie spielen mit ihren Rollen – wie Katzen mit einem Wollknäuel, geht es mir durch den Kopf, wenn Petra summt. Es sind alles Petras, wo stecken die anderen? Wer stellt die ein, wer bildet sie aus? Woher dieser ungeheure Bedarf an Petras? Electra plus Petrifizierung: Frauenmacht, eingebildet, eingebildeter denn je, das macht die Verunsicherung, an der alle teilhaben. Frauen und Männer. Für mich beginnt es bei Michael, über den seine das Zepter schwingt. Die Mutter, wer sonst. Ich bin nicht verunsichert, ich habe teil, stille Teilhaberin, vielleicht, das Geschäft ist ruinös, ich weiß, aber ich kann mir nicht helfen, mein Kapital steckt da drin, ich sehe zu, wie es schmilzt. Sieh zu! Sieh doch zu.

Eine farblose Schicht, wer trug sie auf? Es ist nicht das Ungenügen, das Ungenügen am anderen, auch nicht an sich. Es ist die Schicht, eine Schicht zuviel. Wenn ich mir nicht zu helfen weiß, wer hilft mir dann? Wenn mir der Atem stockt, unvermittelt, was geschieht da? Ich laufe nicht weg, ich gehe herum. Auf meinen Wegen begegnet mir dies und das, es summiert sich nicht, es fällt mich nicht an, es fällt mir nicht einmal auf. Nichts fällt mir auf, das ist auffällig. Lesen hilft nicht, es betoniert. Ich bin entschieden, aber davon habe ich nichts. Entschieden, unentschieden, zwei Wörter für dieselbe Sache. Aber was ist die Sache? Ich sehe den Tunnel, die Verengung, ich gehe nicht hinein. Ich bin schon drin, aber ich gehe nicht hinein. Was ist das, eine Beziehung? In welcher Beziehung? Ich habe mich nicht durchgestrichen, ich wehre nicht ab. Die Abwehr ist außer mir, vielleicht außer sich, denn sie funktioniert nicht. Aber sie schlägt mir entgegen. Es ist nicht Michael, es sind seine Eltern. Es sind nicht seine Eltern, das müsste ich wissen. So einfach geht das Spiel nicht. Es ist das Fluidum, etwas dazwischen, das alle durchdringt. Es ist nicht das Geschlecht, es ist der Widerwille gegen das Morgen. Gegen die Wiederholung im Morgen, gegen die Wiederholung. Nichts soll sich wiederholen, nichts. Wer so denkt, der bekommt nichts, es sei denn, er holt sichs. Und da sind andere vor.

Ein Kind bekommt man so nicht. Wie sollte das gehen, wo alles sich sperrt. Das wunderbar gesalbte, das rosige Kind – Werbung, Hochglanz, wer sollte dem glauben? Wirklich ist die Verengung: die Zeit fließt rascher, man hört sie rauschen, gleich stoßen andere Kanäle dazu, hinter der großen Biegung geht’s in die Tiefe. Ich werde mein Kind in Empfang nehmen, gebrandmarkt für immer. O die Gefühle. Oho. Lass dich nicht ablenken, du bist auf der Spur. Du bist im Märchen, du riechst den Braten. Oder er dich, es versengt dein Gesicht. Dieser leichte Alkoholdunst, der nicht weggeht, wo kommt der her? Der Herr ist guten Willens, etwas zermürbt ihn. Ich seh es ihm an. Aber was? Was, um Himmels willen, zermürbt uns? Ich will nicht die Welt retten, ich will mein Kind. Jetzt ist es heraus. Ein Un-Satz, tausendfach erprobt. Die Welt lässt sich nicht retten, sie greift nach – uns?

Ist es Eifersucht? Ist es Zweifel? Das erste Kind einer Ehe, lese ich, stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem anderen. Das letzte auch. Aber wir sind nicht verheiratet. Michael nicht und ich nicht. Jedenfalls nicht mehr. Die Statistik betrifft uns nicht. Auch ihre Ausdeutung trifft uns nicht: die Frau als Sammlerin, die die besten Gene aus ihrer Umgebung einfängt. Wo leben wir denn? Welche Gehirne denken sich so etwas aus? Gensammlerin, das müsste ich wissen. Gebückt, die Schürze vorgehalten, sucht sie das Feld ab. Oder das Dickicht. Ihr Blick ist klar, er sieht durch die Krume. Durchschaut sie. Ein Griff und das Gen liegt frei. Treffer. Weiter.

Ich habe kein Innen, ich bin ein Innen. Der Unterschied scheint mir wichtig. Ich reibe mich nicht an dem, was mich umgibt, es fällt in mich hinein. Da ist keine Grenze, wozu? Selbstschutz? Das wäre gut, das könnte ich brauchen. So ein Schuss Selbstschutz, jeden Morgen neu injiziert, reicht für den Tag. Darüber denken wir nach, ich versprech’s. Wenn das hier abgeschlossen ist, komme ich zu dir. Ich weiß, ich werde dich finden. Das ist keine Drohung, wenn du das meinst. Ich bin ein Innen, ich werde dich finden.

Und wenn nicht, was wäre verloren? Hänge ich so am Geschlecht, hänge ich so am Anderen? Nicht dass ich wüsste. Schon dass ich mich losreißen kann, ein ums andere Mal, belehrt mich eines Besseren. Vielleicht auch nicht, denn ich blute. Hemmungslos, ungehemmt. Pausenblut. Auch das ist falsch, denn da ist keine Pause. Da ist nur Erschöpfung. Ich bin kein Bluter, und doch, es passiert mir. Mechanik des Übergangs, Leben im Anderen.

Michael, habe ich in ihm gelebt? Schwer zu sagen. Ja, denn es war das Einfache. Nein, denn da war dieses Fluidum. Wäre ich nicht schwanger gewesen, ich hätte es vielleicht nicht bemerkt oder es hätte mir nichts ausgemacht oder ich hätte es selbst ausgestrahlt und alle hätten sich prächtig verstanden. Michael das Kind. Kein junger Mann, der sich weigert, erwachsen zu werden. Bewahre. Er ist das Kind. Entwicklungslos, alterslos. Nicht stecken geblieben in der Entwicklung, du verstehst mich richtig, kein Anflug früher oder später Regression trübt diese Stirn. Er haftet nicht, das ist die Sache. Er haftet nirgends. Er baut ein Gehäuse um dich, gibt dir die Klinke in die Hand und sagt: Deins. Du sagst: Aber die Tür müsste da und da sitzen, könnten wir hier nicht ein Fenster und ziehts nicht von dort. Er sagt: Ja richtig, und macht sich ans Werk. Es zieht weiter, das Fenster sitzt entweder zu hoch oder zu niedrig und die Tür klemmt oder lässt sich nicht schließen, er kratzt sich und sagt: Lass mich überlegen. Er überlegt auch, man sieht es, er hat einen langen Atem. That’s it. Er hat einen langen Atem.

Aber das ist doch nichts Schlimmes. Damit muss man doch leben können. Wir haben den Bock zum Gärtner gemacht, aber wer ist wir? Wer um Himmels willen ist wir? Dieses Wir, man muss es unbedingt groß schreiben, denn es ist weder ich noch er, es kennt ihn und mich gar nicht, wo käme es da hin? Es ist nicht die Gesellschaft, das sollten wir wissen, dagegen kann man sich wehren. Die Gesellschaft leidet, man sieht es ihr an, wer Ohren hat zu hören und vielleicht ein paar Augen, aber besser nicht, denn da sieht er vielleicht schon zu viel, der weiß Bescheid: die Gesellschaft, nein, ist es nicht, sie wirkt schon geschwächt, man möchte ihr die eigenen Tränen leihen, so weit ist es mit ihr gekommen.

Diese hemmungslose Sucht, das eigene Elend zu verallgemeinern. Typen gibt es wie Sand am Meer, Frauen, Männer, lauter Einzelfälle, kaum vergleichbar, dein Elend schwimmt obenauf. Dagegen kommst du nicht an. Nimm den Deckel ab, irgendwo, und es quillt dir entgegen. Es ist nicht irgendein Elend, es ist nicht deines, es ist wohlsortiert, aber es ist das gleiche. Es liegt im Denken. Du versuchst ›richtig‹ zu denken, aber das hier geht nicht allein. Du brauchst den Partner. Nichts leichter als das, er ist schon da, er kommt dir entgegen, ein schönes Gefühl. Entgegenkommen, zusammen geschrieben, wie gut. Wie wahr, die Metapher. Er kommt dir entgegen, auf der Überholspur, wo sonst, du taumelst erschrocken zur Seite, er ist schon vorbei. Mein Gott, das war knapp. Ein heißer Reifen, Junge Junge. Soviel zur Metapher. Eine geht in die Depression, dieses Meer, gleich hebt es sie, gleich wird sie schwimmen, schwimmen oder ertrinken, das Meer umflüstert sie, sie ist nicht allein, es sind die Stimmen von Depressiven, hundertfach, tausendfach, Freundinnen sind es, Bekannte, gute, alte und zufällige, Depressive, wohin es sie trägt, sie ist schon ertrunken, das trägt sie. Ophelia ist kein Mensch, sie ist das Wir.

Habe ich meine Tentakeln ausgestreckt? Habe ich ihn umgarnt, eingewickelt, gefügig gemacht? Seine Depression war sanft, denn er war bei der Mutter. Sanft spielt das Leid zwischen Mutter und Sohn. Oder: leidvoll spielt die Sanftmut, oder: spielerisch leidet... Die roten Flecken, mein Junge, damit lerntest du umgehen. Damit überholte dich Mutter, da lerntest du es: ›umgehen‹, miteinander, mit allem. Psychosomatisch, die sanfte Erpressung. Das Zauberwort. Das war ihre Art, dem Sohn zu sagen: ›Sei ein Mann.‹ Und sie erkannten sich: Mann und Frau. Am Zielpunkt deines Lebens, gib’s zu, wartet sie: Mutter. Es fiel ihr nicht schwer, ich weiß es, sich dorthin zu begeben, denn die Straße war frei. Die Straße war frei.

Etwas Verächtliches. Motherfucker. Der geliebte Mann, ungreifbar in seinen Routinen, in seinen zur Freundlichkeit geronnenen Routinen, die alles umgreifen, und, am Ende der Freundlichkeit: Sex. Die verschobene Leistung. Das verlangt er sich ab. Dafür gibt er dir frei. Er gibt dir frei. Es ist unglaublich, aber es ist der Kern deiner Beziehung: Er gibt dir frei. Du hast dich entschieden und er gibt dir frei. Das hat Witz, es ist ein Witz: dein Kind ist jedermanns Kind, denn du hast frei. Und jedermann drängt sich, du bist ein Balzplatz, du bist die Lichtung, einfühlsam, aber frei. Dieses Kind, das da in mir wächst, ist das Kind vieler Väter, aller Väter, das Kind ihrer Gleichgültigkeit, nicht gegen mich, bewahre, ihrer Gleichgültigkeit gegen etwas, das ich plötzlich nicht mehr ›Zukunft‹ nennen möchte, denn dieses Wort erscheint mir jetzt hohl und schäbig dazu. Darüber muss ich nachdenken.

Noch einmal: Habe ich ihn mir dienstbar gemacht? Das geht nicht, das kann nicht sein, dafür kam ich zu spät. Also kam ich zu spät. In einer auf Güter und Dienstleistungen gestellten Gesellschaft ist entscheidend, was du mitbringst und was du verlangst: soviel zur Gesellschaft. In einer auf Gütertrennung gestellten Beziehung dreht sich alles darum, was du verlangst. Aber was du verlangst, bleibt zweitrangig, es ist nichts, was du dir nicht anderweitig besorgen könntest. Also dreht sich alles darum, dass du verlangst. Damit zeichnest du den anderen aus. ›Sei ein Mann!‹ Aber das ist er doch schon. Er müht sich bereits, wenn du ihn kennenlernst, auch er ein Appell: ›Sei eine Frau!‹ Und wenn ich es wäre? Was geht es ihn an? Hat er Ansprüche? Was du verlangst, das ist der Stoff, aus dem du ihn dir erschaffst – beliebig, belanglos. Und so sieht er aus, über kurz oder lang. Beliebig, belanglos. Ist das ein Vater? Ist das der Vater deines Kindes? Kannst du da sagen: unser Kind? Nein, du kannst es nicht. Du kannst es nicht und du sagst es nicht. Der Mund bleibt zu. Verschlossen. Das ist eine Beziehung: verschlossen. Offen nach außen, verschlossen nach innen. Ich bin innen.

Michael hat Geburtstag. Er geht ins Büro, ich fange ihn an der Haustür ab, umarme ihn zärtlich, flüstere einen Glückwunsch und dass ich ihn erwarte, er macht sich lächelnd los und verschwindet. Am Nachmittag setzen wir uns in den Hof des Kurpfälzischen Museums, trinken Kaffee und essen Kuchen, das Wetter spielt mit, überall Flaneure. Er erzählt, ich höre ihm zu. Belangloses Zeug, wäre es anders, ich müsste es wissen. Er ist stolz auf das, was er tut, ich hab es vergessen. Ich höre auch nicht zu, nicht wirklich, flechte Bemerkungen ein, wie es kommt. Die Sonne wärmt, die erste Sonne seit langem. Das ist meine Temperatur, sie gibt mir den Kick. Ich beobachte die Leute, das kann ich gut. Ich könnte ihm das Leben des alten Mannes erzählen, der hinter ihm sitzt, oder die Gedanken der derangierten Rothaarigen, die er mit Blicken streift, aus denen der schweifende Wille spricht, in eine Umgebung einzudringen, die sich vor ihm nicht wirklich verschließt, sondern eher in unfertiger Bereitschaft verharrt. Ich könnte ihm alles erzählen, was um ihn herum geschieht, woher es kommt und wohin es sich wieder entfernt. Die zwei Studenten dort neben dem Rosenbeet: obwohl nur ein Murmeln herüberdringt, fallen die Worte klar und deutlich in mein Gehör; die Gebärde der jungen Frau, die Art, in der sie ihren Arm winkelt, sind Leihgaben meinerseits, ich bin großzügig heute, bin es noch einmal, zeitversetzt, aber das sind wir alle. Michael auch, dafür hat er Geburtstag. Das hier ist wirklich, ein Innenhof, offen nach allen Seiten. Man trifft sich, geht auseinander, auch das trifft sich. Es naht das Nahende, in diesem Fall die Bedienung, ein hübsches Ding, sie balanciert das Tablett, aber verdreht, eine Studentin, so jung, dass die Blicke der Gäste ihr beispringen, sie trägt nicht, sie wird getragen, das macht sie gut. Sie macht sie gut, ihre Sache, was ist ihre Sache? Die Zeit wird es weisen. Sie muss sich nicht bücken, heute nicht, morgen schon, die Gene fliegen ihr zu, es ist Schneeballwerfen im Mai, sie geht unberührt durch all das hindurch. Übrigens kassiert sie ab, denn sie hat Feierabend. Man schließt hier früh, vor der Ankunft der Schatten, das Produkt ist streng kalkuliert, kein Plastikgestühl im Anblick des tempietto, dafür gibt es den Marktplatz.

Schmallippig stößt es sich vorwärts. Dich, mich, wo liegt der Unterschied? Gewehrläufe zwischen den Rippen. Oder die Pistole im Nacken, bereit. Ich bleibe zurück, aber es stößt mich vorwärts. Ich bin noch nicht bereit, aber das wird sich finden. Die Ungeduld fährt vorbei, sie sitzt im Fonds eines Wagens, der mir bekannt vorkommt, auch der Typ am Steuer kommt mir bekannt vor, ich möchte ihm nicht im Dunkeln begegnen, auch nicht im Hellen, aber sie prescht vorbei und lächelt erhaben, ich falle zurück. Man wird mich erledigen, hier, auf freiem Feld, ich sollte die Füße in die Hand nehmen, da ruhen sie gut, aber die Sache wird dadurch nicht leichter, eher schwieriger. Besser, es geht seinen Gang. Dieser Gang ist nicht gut, er führt in die Gaskammer, eine Phantasie, für die ich nichts kann, eher ein Ausrutscher, ein Lapsus linguae, ich sags auch nicht nochmal. Nein, ich sags nicht nochmal. Eigentlich wollte ich dieses Kind, ich kann es nicht halten, ich kann es nicht. Denkt so eine werdende Mutter? Das ist ein toller Ausdruck: eine Werdende. Daraus wird nichts. Michael hat seine Mutter, er braucht keine zweite. Ich habe keine, so etwas lässt sich nicht ersetzen. Außerdem, wo kämen wir hin? Ich bin kein Ersatz. Mutter-Ersatz, wie sich das anhört. Ersatzmutter, das klingt nur schlimm. Das Kind wird ganz fad, es lächelt mich an. Kind ohne Namen, Kind ohne Gesicht. Das könnte ich sein, ohne Scherz. Wo komme ich her? Ich sollte im Bett sein, da habe ich jedenfalls nichts verloren. Oder doch? Es bückt sich, ganz rasch, ich kann nicht sehen, was es da aufhebt, ich kann nicht sehen, ob es etwas zwischen den Fingern hält, es zeigt nichts her. Nichts zeigt es her. Ein störrisches Kind. Ich weiß, es versteckt seinen Vater, wenn niemand hinschaut, lässt es ihn schnell auf der Handfläche spazieren. Warum versteckt es ihn? Wo hat es ihn her? Der Boden war leer, ich kann es beschwören. Es sieht mich so matt an, aber darauf falle ich nicht herein. Wenn die Gesellschaft ein Kind bekommt, soll sie sich darum kümmern. Ich bin nicht die Gesellschaft, ich bin kein Ersatz. Ich bin auch nicht die Gesellschaft der Gesellschaft, was ist das für eine Clique? Sie sitzen auf hohen Stühlen, wie Barhocker sieht das aus. Sie haben die Beine hochgezogen und lugen auf mich herab. Sie tragen Kapuzen auf ihren Gesichtern, ich könnte sie ihnen entreißen, aber eine Stimme sagt mir, ich soll es lassen. Also lasse ich es, was dann kommt, soll sie nicht wundern. Sie beteuern, so sei es nicht, und ich glaube ihnen. Jetzt reden alle durcheinander, sie haben Mitleid mit mir, ich höre es an ihren Stimmen. Das tut gut, aber es ist falsch. Etwas ist falsch. Die Tür, sie steht offen. Sie reden sie weg, sie wollen nicht, dass ich sie sehe. In Türen kenn ich mich aus. Diese steht offen. Ich spüre sogar den Lufthauch, der von ihr herkommt, überall auf der Haut.

Ich ermüde dich, aber ich kann es nicht ändern. Vielleicht hast du gerade deine dreiundzwanzigste Benn-Phase oder du fackelst dich an einem Thai-Mädchen ab, man muss mit allem rechnen – ich rechne nicht mit dir, sei, wo du bist. Eine Bitte am Rande: sei, der du bist, nur das, ich weiß, es strengt an, es wird nicht honoriert, die einzige Phrase, in der das Ehrgefühl überlebt, in den Boden getreten, wie auch immer, nein, es wird nicht honoriert, es wird gefordert, Plakate plärren dich an: Sei du selbst! Sei plakativ! Also gut. Weg mit dem Selbst, weg mit dem Selbdritt, dem Selbander und dem Allerselbigsten – das klingt ja, als habe man einen Schluckauf, das wollen wir lassen. Ich habe kein Kind, falls dir etwas geschwant haben sollte, schnell oder langsam, ich weiß nicht, von welcher Sorte du bist, wenn es darum geht. Ich habe nicht abgetrieben, auch das nicht, obwohl... ich es vorhatte, irgendwann vorhatte, aber es ergab sich nicht. Es ergab sich nicht, konnte sich nicht ergeben, denn als ich, endlich, einen Arzt aufsuchte, traf ich auf ein wenig ungläubiges Erstaunen, breit genug, um ein Grinsen in seinen Mundwinkel zu zaubern, wo es sicher schon oftmals gestanden hatte, Frauen halt, Frauen, die sich versteifen –

Das war seltsam, das gefiel mir so wenig wie jenes andere, denn es war, ohne Frage, das Durchlebte, also das Wirkliche, wirklich war auch der Test gewesen, das Ausbleiben der Blutungen, die nur ein paar Tage später mit kaum gekanntem Elan wieder einsetzten, kein medizinisches Wunder, nur eine entfernte Möglichkeit, statistisch irrelevant, wie man mir erklärte, aber in meinem Fall zur Stelle, ein seltener... ein seltenes... eine seltene... Stockung, so will ich es nennen, ein Stock im Fluss, im Fließen, ein wenig Schaum produzierend, Blasen, Bewusstseins-Blasen, an den Füßen auch, dort vor allem. An den Füßen. Ich würde sie gern hochlegen jetzt, aber zum Schreiben ist das unbequem. Und schreiben möchte ich doch, frag nicht warum, gerade jetzt.

Statistisch irrelevant, wie gesagt. Ich ging nach Hause und dachte nach, wenn man das nachdenken nennt. Michael habe ich nicht wieder gesehen, vielleicht doch, aber auch dann nicht. Ich hatte immer so eine Tasche, die nahm ich, ging zum Bahnhof, suchte mir einen Zug heraus und dachte: Das bist jetzt also du. Die Rolle hast du, mach dir keine Sorgen, du hast sie. In so einem Film spielt man nur einmal, das Genre ist lächerlich, also denk an die Gage. Die Leute werden dich anstarren, so eine Leinwand ist riesengroß, hoffentlich ist nicht zuviel Nahaufnahme dabei, ich kann das nicht leiden. Ich will aber nicht zurückbleiben, gerade jetzt nicht, ich gehöre doch zu den Leuten. Irgendwie gehöre ich zu ihnen, sie werden das schon noch merken. Wenn nicht, dann werde ich mir etwas ausdenken, aber das kommt später. Das hier ist reell. Eine Fahrkahrte ins Gebirg. Kommt nicht von ungefähr. Mehr über Nacht. Aber das ist egal, jetzt, wo ich sie gelöst habe. Der Zug läuft ein, vitales Kerlchen, etwas lang für so eine Strecke, sein brauner Rücken schmiegt sich unter die Brücke, ich schreite die Treppe hinab, kein Dampf, kein Geschrei, nur Türenklappen, wie immer, kein Wartender hat ein Auge für mich, kein verstohlener Blick, kühles Gedränge, eilige Abschiede: kein billiger Film, wenn man mich fragt, wahrscheinlich existentiell. Gut, dass ich das jetzt weiß, in so ein Team kann ich mich einleben.

Ich habe völlige Freiheit. Ich kann zum Beispiel in den Speisewagen wechseln, die Scheinwerfer sind an, die Kameras laufen, diese Technik ist hypermodern, alles bleibt den Blicken verborgen, dem Spiel kommt das natürlich zugute. Ich gebe mein Bestes, das ist selbstverständlich. Junger Mann, das war ein harter Knuff, haben Sie keine Augen im Kopf? Vielleicht bin ich unsichtbar, das wäre dann doch etwas billig, oder der Regisseur ist noch jung, vielleicht Regisseurin, die denken sich sowas aus. Ich möchte es nur nicht testen, das liegt außerhalb meiner Rolle, ich spüre das. Ich bin eine gute Darstellerin, man merkt es mir an. Die Szene atmet Anerkennung. Das tut gut, mein Fluidum beherrscht den Raum. Dieser Kerl mit der Bierflasche, der den Gang versperrt, er muss mich nicht sehen, mein unsichtbares Kommen räumt ihn zur Seite, nicht anders als die Glastür gleich dahinter, die sich selbsttätig öffnet, aber an Menschen erstaunt es mehr. Wo sonst liegen Erstaunen und Befriedigung so dicht beieinander? Natürlich weiß ich, dass der wirkliche Auftritt mir noch bevorsteht, das weiß doch jede, es hat nichts Erschreckendes, es fühlt sich gut an, es geht dir gut, solang du so denkst. Gleich da vorne ist es soweit, der Gang mündet, rechts der Tresen, die Gerätschaften lauern, blitzblank, das muss so sein, der Reflexe wegen, die müssen sein. Meine sind gut.

 

Notizen für den schweigenden Leser

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.