33.

Wie man weiß, ist der Weg ins Nichts mit Hindernissen gepflastert. Kein Schriftsteller, der sich ihrer liebevoller und inständiger angenommen hätte als Cioran: fluchend, nörgelnd, ätzend und vergrätzt, immer aber mit dem Sinn für die großen und kleinen Pointen dieses Hindernislaufes, nach dem man bei der Konkurrenz von der Esoterikerfront vergeblich Ausschau hält und dem man vielleicht bei den Kirchenvätern – einer seiner bevorzugten Lektüren – hin und wieder begegnet. Allerdings fürchte ich, dass nur wenige Leser dieses komische Œuvre begreifen, und auch ich wäre meiner selbst keineswegs sicher, wäre ich nicht während meiner Studentenzeit eines schönen Tages die Stufen zur Wohnung des Verfassers hinaufgestiegen, um seine Bekanntschaft zu machen: ein Entschluss, aus dem eine etwas schmalbrüstige Freundschaft hervorging, deren Reiz für den alten Herrn wohl auch in der Neugier gründete, die er für alles Deutsche an den Tag zu legen pflegte.

 

34.

Dem Niederschlag dieser Neugier begegnet man hier und da in seinen Schriften – es handelt sich um jene Mischung aus Respekt und Geringschätzung, die schon Dostojewski gegenüber den Deutschen bekundete und die das Neben- und Ineinander von Tüchtigkeit und Pedanterie, von gedanklicher Präzision und mentaler Enge, durch das dieses Volk seinen östlichen Nachbarn auffällig war und ist, auf der eigenen Werteskala verrechnet. Man könnte über dergleichen Fremdbilder zur Tagesordnung übergehen, wenn unser Autor damit nicht den weitergehenden Vorwurf verbände, anders als Franzosen oder Engländern sei es den Deutschen im Lauf ihrer Geschichte nicht gelungen, eine eigene Staatsidee zu entwickeln. Ein Versagen, das im nationalsozialistischen Staat finale Züge bekommt: statt die Marxsche Idee als Summe des deutschen Idealismus auch in der Wirklichkeit durchzuführen, habe sich diese ›talentierte Nation‹ einem Tribalismus verschrieben, der weder ihrer noch Europas würdig gewesen sei. Wer daraus auf marxistische Sympathien schließt, geht in die Irre. Eine Idee durchführen: der bloße Gedanke reibt sich heftig am Skeptizismus des aus der Rolle gefallenen Mystikers. Der Vorbehalt, mit dem er Nietzsche begegnet, gilt dem Prediger, der zum Propheten wird. Nietzsche ein Renegat des deutschen Idealismus wie der heilige Paulus ein Renegat des antiken Judentums, aus der Art geschlagen und ihr bis zum Ende verhaftet: diesem Klischee gewinnt Cioran Varianten ab, die allerorten in seinen Schriften Dienst tun. Es war wohl ein Herderscher Gedanke, jedes geschichtliche Volk sei dazu berufen, die ihm eigentümliche Idee in seinem Handeln und in seinen Institutionen zu realisieren, himmelweit unterschieden von jenen ›westlichen‹ Ideen, für die wir heute einzustehen glauben. Ein Gedanke immerhin, der auch in Ost- und Südosteuropa Wirkungen zeitigte und heute hier und da wieder zeitigt. Mit Nietzsche zu sprechen: in diesen Gedankengängen ist viel Balkan-Luft, auch heiße Luft, wie der hier und da unwillig werdende Bewunderer zu konstatieren nicht umhinkommt. Dabei findet man gerade in ihnen die Emigranten-Lektion beherzigt – während er kommenden Barbareien das Wort redet, die den ›realisierten‹ Nationen einen mehr oder weniger schönen Untergang bereiten werden, erklärt er sich in deren Dekadenz heimisch und macht sie zu seiner ureigensten Sache.

 

35.

Es kann verblüffen, wie wenig von der mönchischen Energie, die in seinen Schriften am Werk ist, diesem furor negativus, den Gesprächspartner Cioran auszeichnete: letzterer schien geradezu besessen zu sein von den Machtspielen der internationalen Politik. Für einsichtige Leser liegt es auf der Hand, dass seine Gedankenspiele vor dem Hintergrund der dreißiger und vierziger Jahre Kontur gewinnen. Es ist für ihn die Zeit der Entscheidungen. Als der Stipendiat der Humboldt-Stiftung 1937 in Paris eintrifft, der Endstation einer Reise, welche die klassischen Züge einer intellektuellen Suche trägt, bringt er eine Karte der europäischen Angelegenheiten mit, in die er zwar noch den einen oder anderen Zug einzeichnen wird, die aber im wesentlichen keine Änderungen mehr zulässt. Die eine Option schließt die andere aus; er lässt Deutschland hinter sich, ohne es hassenswert zu finden. Sein Hass ist anderweitig beschäftigt. Nach dem Krieg werden ihm seine deutschen Gesprächspartner im weitesten Sinne zur Belustigung dienen: ihre rituelle Distanzierung vom nationalen Kollektiv sollte ihn wie eine unverhoffte Karikatur seines eigenen ›Denkwegs‹ erheitern und erschrecken.

 

36.

Dieser Denkweg – das Wort sei gebraucht, weil es nicht zum Repertoire des Autors gehört und das Dilemma des statischen Denkers so prachtvoll illustriert –, dieser Fortgang des Denkens ist gezeichnet durch Verwerfungen, durch Druck- und Sogverhältnisse, die sich der Iteration verdanken. Das kann nicht überraschen; wer sich der endlosen Wiederkehr ein und desselben Gedankens verschreibt, der liefert sein Denken unweigerlich an Kontingenzen aus, die er weniger überblickt als durchlebt. Am Ende darf er sich glücklich schätzen, den Auszug des Heilsgedankens aus dem Gelobten Land als einen neuen Exodus betrieben und erfahren zu haben. Der Mystiker endet als Rabulist, nicht weil ein Verhängnis ihn dazu trieb, sondern weil ihm die moderne Medizin das Weiterleben beschert, das über kurz oder lang jedem fixen Gedanken den Prozess macht. Ein Gedanke, nein, ein Ungedanke ritzt seine Kerben in das Gehäuse dieses Geistes, der ihm nach und nach zum Gefängnis wird. »Ich erinnere mich«, schreibt Cioran im Buch der Täuschungen, »mit unbändiger Rührung an die außerordentliche Wirkung, die Georg Simmels Worte auf mich ausübten: ›Es ist erstaunlich, wie wenig von den Schmerzen der Menschheit in ihre Philosophie übergegangen ist.‹« Das Denker-Idol, so soll man diese Aussage lesen, ist identisch mit dem Philosophen, der die Philosophie ad acta legt – weniger aus Müdigkeit als aus der Überzeugung, dass dies ihr angemessener Ort ist, da sie »den Menschen nichts zu sagen hat«. »Wissen und dich Trösten begegnen einander nirgends. Die Philosophen kennen nichts, was ihnen not tut ... Jede Philosophie ist enttäuschte Erwartung.«

 

37.

Und, so ließe sich fragen, wenn es so wäre, was wäre damit entschieden? Ist eine absolute Erwartung nicht von vornherein enttäuschte Erwartung? Wäre es nicht legitim und sogar zwingend, sie zu enttäuschen, soll heißen, die Täuschungen namentlich zu benennen, die sich hinter dem Ideal der auf eine trügerische Dauer gestellten Ekstase verbergen, bevor die schlaflosen Nächte vorsätzlich induzierter Qual sie abzunutzen beginnen? Was hätte die Zermürbungsschlacht, die das Individuum gegen sich selbst zu führen beginnt, sobald es eigenes und fremdes Leiden als Mittel einer Gottwerdung plündert, der ihre krachenden Abstürze von vornherein eingeschrieben sind, einem Denken voraus, das seine Mittel wägt, bevor es die nächstbeste Behauptung über den Zweck des Daseins ›in den Raum‹ oder vielmehr ins Schaufenster stellt? Was würde sie bewirken, das den Tonfall der Überlegenheit in Sätzen wie »Ideen, die nicht ein Schicksal widerspiegeln, sondern andere Ideen, haben überhaupt keinen Wert« rechtfertigen würde? Was könnte diesen einen gegen die simple Umkehrung immunisieren, die da lautet: Schicksale, die nicht eine Idee widerspiegeln, sondern andere Schicksale, haben überhaupt keinen Wert? Was außer der Einsicht, dass es sich beide Male um gehobenen Humbug handelt, den gegeneinander abzuwägen den Aufwand nicht lohnt, weil man sich erst darüber unterhalten müsste, was eigentlich Ideen sind und wie sie fungieren? Das wiederum hieße zu philosophieren, und wie sagt der Autor? »Schmerzlich, aber wahr: ihr könnt so viele Philosophen lesen, wie ihr wollt, aber ihr werdet nie fühlen, dass ihr andere Menschen werdet.« Fühlen also müsst ihr, es sei denn ... es sei denn ... Aber warum stocke ich? Worin liegt die Nötigung seitens eines Gefühls, das sich nicht von selbst einstellen will? Wieviel ist eine künstlich herbeigeführte Unmittelbarkeit wert, wenn der Wert gerade in der Unmittelbarkeit liegen soll, die dem Gefühl im Gegensatz zum Gedanken eigne? Und wer sagt mir eigentlich, Gedanken seien dem Denkenden weniger unmittelbar als Gefühle? Wer schließlich sagt mir, Unmittelbarkeit sei ein Wert und sogar der Wert, ohne den alles nichts wert sei? Solche Fragen drängen sich auf, manche davon sind unabweisbar, unabweisbarer jedenfalls als ein durch mancherlei Seelengymnastik ›errungenes‹ Gefühl. Wer sie aussperrt, den suchen sie durch die Hintertür heim. Dort aber lauert die Angst.

 

38.

Das Buch der Täuschungen ist 1936 in Bukarest erschienen, liegt also vor der Erfahrung, deren lapidarste Fassung lautet: »In Gott bist du einsamer als in einer Pariser Mansarde.« Was zu beweisen wäre, falls irgendeine Art von Beweis denkbar erschiene. Fest steht, dass der Hunger nach Gott, eingesperrt in die Pariser Mansarde, einen anderen Geschmack und eine andere Prägung annimmt, so dass selbst einem, der sich zu rühmen untersteht: »Es würde mich stören, als Anhänger Schopenhauers oder Nietzsches bezeichnet zu werden; doch würde ich meiner Freude Herr werden können, wenn man mich der Heiligen Jünger hieße?« irgendwann zwangsläufig der Gedanke kommen musste, nicht mehr ganz der alte zu sein, so wie dieser Gott auch, der jetzt wechselweise ›das Nichts‹ und ›die Leere‹ heißt, je nachdem, ob sich der Autor mehr westlichen oder östlichen Meditationsformen anzunähern beliebt. Ausgesperrt bleibt bei alledem die Philosophie: dem Denker, der sich usque ad infinitum in den Paradoxien der Existenz herumwirft, scheint die eine unbekannt geblieben zu sei, die da lautet: Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Nicht von ungefähr wurde sie von Heraklit an den Anfang der Philosophie gestellt. Dort steht sie gut.

Es gibt Schriftsteller, die in der Situation Ciorans zum Widerruf neigen. Die Figur des Renegaten hat ihn zu verschiedenen Zeiten beschäftigt, doch als Mittel der Selbstauslegung scheint er sie schließlich verworfen zu haben. Stattdessen erobert sich der zum Intellektuellendasein Entschlossene ein neues Feld: die Kehrseite der Ekstase, die Höllenstürze, die sie unweigerlich im Gefolge hat, die abgewunkenen Aufbrüche, die Leerzeiten des Süchtigen, die Qualen des Entzugs. Man darf bezweifeln, dass die Fülle seiner Beobachtungen, Notate, Zynismen einen wirklich neuen Gedanken enthält. Doch das hat, in der Weise der Groß- wie der Kleinschreibung, nichts zu bedeuten. Ein jedes Nichts kommt gerade recht, wenn der Denker die Qual der Erkenntnis beschreibt, nachdem er die Qual als Mittel der Erkenntnis in Anschlag gebracht hat. Die wahrhaft erschütternde Erfahrung, zu der Cioran in den Jahren gelangt, in denen die künftigen Vorturner des Existentialismus sich für die vor ihnen liegenden Aufgaben präparieren, besteht darin, dass, wie die Qual, sich auch das Nichts abnützt – abnützt durch den Gebrauch, den der Einzelne von ihm macht, abnützt durch eine Wiederholung, die erst das Denken als Wiederholungkenntlich macht, die also in der Erfahrung des Sich-Wiederholens sich als Denkakt und ihren Inhalt als einen Gedanken just der Sorte offenbart, deren Nutzlosigkeit er den Philosophen vorwirft. Die tragische Episode im Leben des E. M. Cioran besteht in der Entdeckung, dass er philosophiert. Von diesem Augenblick an – immer gibt es einen solchen Augenblick, auch wenn keine Erinnerung ihn herbeizuzitieren vermag – ist seine Niederlage besiegelt. Die wohlerwogene Entscheidung, von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr zu schreiben, verdankt sich dem im Laufe der Jahre unüberwindlich werdenden Ekel vor der Wiederholung, der als Selbstekel die Einsicht in die Bedingtheit der eigenen Schreib- und Denkart forciert.

 

39.

In welchem Sinn ist ein solcher Mensch Nietzscheaner? Wie die Stelle über Nietzsche und die Heiligen beiläufig verrät, gehört er zur Klasse der süchtigen Leser, deren es im Europa seiner Zeit mehr als genug gab. In einem ganz anderen Sinn verschwindet das Problem, wenn man sich klarmacht, dass es eine literarische Existenz wie den Cioran der vierziger und fünfziger Jahre in Deutschland nicht hätte geben können. Nicht auf Grund der handgreiflichen Katastrophen der Zeit, sondern weil die veränderte Ausrichtung, zu der die Pariser Mansarde sein Denken nötigt, es im deutschen Sprachbereich unweigerlich hätte schal werden lassen. Ciorans Hinwendung zur französischen Sprache in den vierziger Jahren hängt auch mit der mehr oder weniger klaren Einsicht zusammen, dass die Position, die er einzunehmen gedenkt, in ihr noch frei ist, während er im Deutschen über einen zweitklassigen Nietzsche-Aufguss nicht hinausgelangt wäre. Der Wechsel ins Pariser Milieu ermöglicht nicht nur das ungehemmte Einfließen von Nietzscheanismen in seine Schriften, sondern macht es beinahe zwingend. Erst der skeptisch geimpfte, psychologisch versierte und gegen die Zumutungen einer mit dem Materialismus verbündeten Gesinnungsethik ideenkritisch immunisierte Mystizismus erscheint geeignet, den Anmutungen des Intellektualismus der dreißiger Jahre auch außerhalb bestimmter osteuropäischer Emigrantenkreise standzuhalten. Im Grunde genügt Nietzsches Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, um ein Brevier für Überlebenskünstler seines Schlages zusammenzustellen, und für manchen wird die eine oder andere Nietzsche-Schrift diese Funktion am Ende vermutlich übernommen haben. Man fühlt sich daher ebenso gerührt wie erheitert, in der deutschen Übersetzung der noch auf rumänisch geschriebenen Gedankendämmerung zu lesen: »Ich will in die Geschichte des menschlichen Geistes mit der Brutalität eines mit dem raffiniertesten Diogenismus geschmückten Metzgers eingreifen.« Nur zu! möchte man ermuntern; erwägt man das durch die holprige Übersetzung lose hindurchscheinende Gemeinte, so versteht man, dass hier einer seine eigene Götzen Dämmerung vorbereitet und wild entschlossen ist, zu diesem Zweck mit dem Tranchiermesser zu philosophieren, soll heißen herumzufuchteln. Der bald sich einstellende Ekel vor der Wiederholung ist also doppelt motiviert, und es gereicht Cioran zur Ehre, das Problem erkannt und auf eine nicht unplausible Weise gelöst zu haben.

 

40.

Das Problem der Wiederholung ist ja selbst ein Nietzsche-Problem, und da letzterer als klassischer Philologe seinen Heraklit respektiert, ist er geneigt, es im Goetheschen Sinn anzugehen, also als Steigerung: ›Dekadenz‹ ist in diesem Milieu kein Schimpfwort, sondern eine Vokabel, die Ambivalenzen verbürgt. Selbst der Gedanke der ewigen Wiederkehr verschränkt sich auf eine logisch etwas anrüchige Weise mit dem Gedanken der Steigerung; ohne den einen bliebe vom anderen nur ein leeres Blatt. Hier wäre also eine absichtsvolle Differenz zwischen Cioran und Nietzsche zu konstatieren, ein willkürliches Ausbrechen des Adepten aus eingefahrenen Gleisen der Auslegung kultureller Prozesse, die den Prozess der Selbstwerdung einschließen. Streng genommen gibt es diese Selbstwerdung für Cioran nicht: wenn das Selbst eine biologisch vorgegebene Illusion ist, die es in Richtung auf das Nichts zu überschreiten gilt, dann gibt es daran nichts, was sich steigern ließe. Im Gegenteil, jeder Versuch, das individuelle Dasein zu steigern, ist nur geeignet, jene ›Fresse‹ im Antlitz des Arrivierten hervortreten zu lassen, die mehr als alles andere den Unwert des Erreichten – und Erreichbaren – unterstreicht.

 

41.

Den Gedanken der Abnutzung formuliert Cioran am Beispiel der Todesangst: »Um dich von dem Erbteil des Menschlichen zu läutern, lerne den Tod in dir, den Tod an deinen Kreuzwegen zu ermüden, aufzulösen, zu korrumpieren.« Was als probates Rezept erscheint, um die Angst zu bekämpfen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Versuch, einen fatalen Mechanismus für einen begrenzten Zweck arbeiten zu lassen, der über alle Zwecke hinaus das Leben des Geistes bestimmt: »Der Sterbensdrang muß dich lange ergriffen haben, damit du den Todesüberdruß kennenlernst. Angeödet von der Untergangssucht schlägst du ins Gegenteil der Angst vor Selbstverlöschung um.« Denn: »Obgleich der Tod genauso wie Gott das Ansehen des Unendlichen genießt, gelingt es ihm – wie diesem – auch nicht, die Qual der Übersättigung zu verhindern oder die Bürde des Exzesses und die Gereiztheit langwährender Intimität zu lindern. Wenn uns das Unendliche nicht langweilte, gäbe es dann noch Leben?« Wenn uns der bestimmte Gedanke nicht langweilte, so ließe sich ergänzen, gäbe es dann noch Denken? Denn auch ein mit ›Inbrunst‹ gedachter Gedanke bleibt Gedanke. Allerdings teilt jene mit der Gedankenlosigkeit die fatale Eigenschaft, von einem Extrem ins andere zu fallen und den sinnlosen Wechsel für einen Fortschritt ins Ungewisse zu halten. Im Unendlichen, wie Cioran es versteht, herrscht Kreisverkehr. Dessen endliche Komponente findet er in der Dekadenz; die Angst vor dem Verlust der Vitalität beherrscht das brünstige Denken und nährt sein Grauen vor sich selbst.

 

42.

Cioran, das ist der eingebildete Kranke: mit einem Tritt aus dem Bett zu befördern, wie es bei Kafka heißt. Sein Leiden heißt Dekadenz; nachdem er alle Welt damit infiziert sieht, fällt es ihm leichter, das Übel am eigenen Leib zu diagnostizieren und zu relativieren. ›Am eigenen Leib‹: also an demjenigen Teil der Person, der uns zwingt, jeden Morgen und jeden Abend die Komödie der Auferstehung und der Grablegung aufzuführen, wie die Lehre vom Zerfall das nennt, und dabei der allmählichen Abnahme seiner Kräfte und Fertigkeiten zuzusehen. Vom Geist ist dabei nicht die Rede: weder kompensiert er den Zerfall noch beschleunigt er ihn. Der Geist – oder was dieser Expropriateur nächtlicher Bitternisse dafür hält – ist sein Begleiter, allenfalls sein Agent. Was wäre der schönste Abbau von Kräften, wenn ihm der Geist nicht zuspräche? Darin besteht eines der nicht quantifizierbaren Gesetze der Ökonomie, die stets eine des Leidens ist; ohne Dekadenz gäbe es nur Verschwendung. Das Erste aber bleibt das Blut: »Alle Luzidität ist Ruhepause des Blutes.« Eine Überzeugung, der man erst dann richtig auf die Schliche gekommen ist, wenn man entdeckt hat, dass er Gott einen Bluterguss nennt.

 

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»Skeptische Hoffnungslosigkeit und dogmatischer Trotz«, so heißt es in der Kritik der reinen Vernunft, sind »der Tod einer gesunden Philosophie, wiewohl jener allenfalls noch die Euthanasie der reinen Vernunft genannt werden könnte.« Dem würde Cioran zustimmen, er würde es allenfalls um die Bemerkung ergänzen, ein solcher Satz bringe seine Einwände gegen die Philosophie wie gegen die Gesundheit auf den Punkt. Dekadenz, darauf beharrt er mit einem Eigensinn, der den Liebhaber fixer Ideen anzeigt, ist die praktizierte Unfähigkeit, ohne Gewissensbisse zu morden. Dass die Henker dieser Welt Gründe benötigen, um ihr Handwerk zu verrichten, zeigt das volle Ausmaß der Katastrophe. Das ist zynisch – oder ›diogenetisch‹ – gedacht, aber in Maßen: Gründe hemmen den Lauf des Geschehens, sie strecken das Leben, das gelebt, nicht bedacht sein will. Und was heißt schon ›bedacht‹? ›Äußerste Verbrauchtheit‹ zeigt sich bereits im Wort – nicht in diesem, nicht in jenem, sondern im Wort schlechthin: »Es gibt etwas, das an Schmutzigkeit, Abgenütztheit und Zerrüttung selbst der gesunkensten aller Dirnen nicht nachsteht – ein den Zorn Reizendes und zugleich Irremachendes, einen allaugenblicklichen Gipfelpunkt unserer Wut: das Wort, jedes Wort, oder, genauer gesagt, das Wort, dessen man sich gerade bedient. Ich sage Baum, Haus, ich herrlich, dumm; was ich auch sagen mag, jedesmal träume ich dabei von einem Mörder, der endlich mit diesen Haupt- und Beiwörtern, mit all diesem ehrwürdigen Gerülpse aufräumte.« Aber dazu, jedermann weiß es, bedarf es keines Täters: der Tod, der unweigerlich mit den Wörtern ›aufräumt‹, ist der Mörder des Geistes, der Körper erschlägt den Geist, der schon lange von diesem Augenblick träumte.

 

44.

Wer ›Leben‹ sagt, der vergeht sich an ihm. Leben lebt. Genuiner Ausdruck dieses Sachverhalts ist der Totschlag am Anderen. Jeder Mord, den sich einer versagt, ist ein Stück Zerrüttung, er vergiftet den Körper, er bezeugt jenen Abfall vom Absoluten, den Cioran – nicht sehr originell – ›Zersetzung‹ nennt. Mit diesem Bekenntnis reiht er sich in die intellektuelle Narrenzunft jener Jahrzehnte ein: der Liberalismus, das Geltenlassen ist für ihn das Stadium der Agonie im Leben des Einzelnen wie der Kulturen. Nur die Weise, auf die er es tut, macht ihn verdächtig: der Mord als schöne, als politische, als kranke Tat, sie alle haben ihre Rechtfertigung erhalten und wieder entzogen bekommen, je nachdem, wie sich das allgemeine ›Klima‹ gestaltete, in dem ›Denken denkt‹, falls dies kein Euphemismus sein sollte. Der Nachdruck, mit dem Cioran bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf die Mordlust als das primum mobile der Gattung zurückkommt, enthält eine Beigabe von Hohn, wenn nicht von Satire.

Hohn worüber? Die Frage ruft mir eine Bemerkung ins Gedächtnis, die sich auch in den Erinnerungen weiterer Gesprächspartner finden dürfte. Jean-Paul Sartre, versicherte er, musste erst gestorben sein, damit er – Cioran – da sein konnte. Damals bezog ich diesen Satz auf die jahrzehntelange Dominanz des Marxismus im intellektuellen Frankreich. Inzwischen bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Sartre, das war für ihn – bei aller denkerischen Eleganz – unter den Zeitgenossen der Moraltrompeter von Säckingen, den er noch aus den skeptischen Tiraden des bewunderten mittleren Nietzsche herauszuhören gelernt hatte und dessen Fanfaren ihn den Zarathustra für ein törichtes Buch halten ließen. Damit aber war jener, wenn schon nicht der Feind, so doch das ideale Objekt jenes Hasses, den er so oft beschreibt und den er im Selbsthass zu erlösen gedachte – auf Kosten eines Selbst, an dem ihm – wiederum idealiter oder eher virtualiter – nichts lag.

 

45.

Nicht selten hat es den Anschein, als gebe er Nietzsche in seinen Büchern noch einmal, mit allen Peinlichkeiten, die ein solches Unterfangen bereithält. Der Eindruck beschränkt sich nicht auf die aphoristische Form und den persönlichen Schreibduktus: hier bleibt er seltsam oberflächlich. Weder Ciorans Stil noch seine Denkweise sind ›nietzschesch‹, jedenfalls dann nicht, wenn man vertretbare philologische Maßstäbe anlegt. Dafür wimmelt es von Nietzscheanismen selbst dort, wo er dessen Auffassungen mit Fleiß widerspricht. Die Diffusion dessen, was man seinerzeit ›nietzscheanisches Gedankengut‹ nannte, unter den Schriftstellern seiner wie bereits der vorangegangenen Generation lässt seine Reflexionen als eine Art Fokus erscheinen, der das Zerstreute bündelt und bei dieser Gelegenheit die Spuren fremder Behandlungen, nicht selten Misshandlungen an den Tag bringt. Cioran, der Lumpensammler des reaktionären Nietzscheanismus – man könnte an diesem Bild Gefallen finden, wenn es nicht, wie gesagt, den Satiriker unterschlüge, der Meinungen absondert, um sie auszusondern und ihrer Absonderlichkeit preiszugeben. Eine Atmosphäre des Ausverkaufs herrscht spürbar in den späteren Schriften. Was immer sie berühren, sie verramschen es zu Preisen, die deutlich unter den Herstellungskosten liegen. Die Leidenschaft des Aphoristikers passt sich der Leidenschaft des Verkäufers an. Logik, Psychologie, Sprache – die Herkunft eines Gedankens wiegt gleich viel, gleich wenig: es läuft stets auf dasselbe hinaus; das Eingeständnis des Besitzers, ihn sich nicht mehr leisten zu können, also fort!

 

46.

Man denke sich Cioran als einen entfernten Nachfahren Nietzsches: Le petit Monsieur N., wohnhaft Paris, Rue de l’Odéon. Das war nicht immer so, der Balkan – am Ende beinahe ebensosehr ein Produkt der Einbildungskraft wie Nietzsches Florenz – bleibt als Quellgebiet jener traurigen Mordlust, die Leben heißt, allgegenwärtig. Dazu zählt das vergangene eigene wie das künftige Leben des Erdteils, das er nicht mehr kennen wird, weil er sich früh entschieden hat: für das Exil, für die Dekadenz, für den Teil Europas, der etwas pauschalisierend der Westen genannt wurde und die amerikanische Option noch ausschloss. In gewisser Weise beendet das jüngste amerikanische ›Eingreifen‹ auf dem Balkan die Geistesepoche, in der ein Cioran seinen Platz fand; ich versuche mir vorzustellen, was er dazu gesagt hätte, und verzichte. Man darf davon ausgehen, dass einer wie er kaum mehr als die Funktion des Pausenclowns erfüllt. Da erscheint es nur gerecht, dass jede Art neuer Ordnung seinesgleichen automatisch ausschließt. Der Lektüre tut es ohnehin keinen Abbruch.