1.

Die graue Gebäudesilhouette glich der eines riesigen Unterseebootes. Ein schmales Kiesband markierte die Wasserlinie. Ausgedehnte Rasenflächen schlossen sich an. Gepflasterte Wege sortierten das blasse Grün nach einfachen geometrischen Mustern. Betonierte Zufahrtsstraßen senkten sich unter efeubewachsenes Erdreich. Vereinzelt sah man Entlüftungsrohre in Grüppchen zusammenstehen wie Poller an einem Hafenbecken.

»Willkommen an Bord«, sagte der Mann mit auffallend leiser, etwas spöttischer Stimme. Der Gast ergriff die ausgestreckte Hand und blickte benommen in die Tiefe, der er gerade entronnen war. Sie standen auf einer eisernen Plattform in der Nähe des Bugs. Eine Wendeltreppe schraubte sich herauf, ihr Fuß verlor sich im Ungewissen. Der Gast, sich aufrichtend, stieß leicht gegen die Stäbe des Käfigs, der beide umschloss, und atmete kräftig im Wind. Schon hatte der andere mit raschem Griff die Tür hinter sich geöffnet und zog den Ankömmling rückwärts über die Schwelle. Eine Art Dunkelkammer nahm sie auf, nur für einen Moment, dann traten sie auf einen weitläufigen Gang hinaus, der sich in der Ferne verzweigte.

»Gut, dass Sie gekommen sind«, sagte die weiche, eine Spur zu hoch modulierende Stimme. Der Ankömmling glaubte die Andeutung einer Verschwörermiene in den freundlich entspannten Gesichtszügen seines Gegenübers zu lesen. Durch die fortlaufende Fensterreihe zur Rechten sah man den Himmel, er wirkte weit trüber als draußen. Die Deckenbeleuchtung lullte den Gast in eine taumelnde, weithin leere Erwartung.

»Es ist nicht einfach, etwas über Sie hier in Erfahrung zu bringen«, erwiderte er leicht. »Ich muss gestehen, dass mich nach Ihrem Anruf, Herr...«

»Spengler, bitte sehr!«

»Herr Spengler, die Neugier befallen hat, doch leider ergebnislos.«

Eine der in gleichmäßigen Abständen angebrachten Türen auf der linken Seite des Ganges öffnete sich, eine junge Frau schob, gebückt die Tür haltend, ein mit Büchern beladenes Wägelchen vor sich her. Die Bücher schimmerten wie Reliquien, und lautlos entfernte sich die Frau mit ihnen auf einem in den Boden eingelassenen Laufband, das der Gast bisher noch nicht registriert hatte. Spengler winkte ihm zu folgen. Gemeinsam betraten sie ein zweites, parallel verlaufendes Band, das sie in die entgegengesetzte Richtung entführte. Hinter den Brillengläsern funkelte Spenglers Blick, und seine Lippen kräuselten sich, während er sprach. »Unsere Öffentlichkeitsarbeit hat in der Tat ihre Eigenheiten. Früher war das anders, doch seit dem Fall Morosi« – er hielt einen Moment inne – »bewegt sich praktisch nichts mehr.«

»Der Fall Morosi?«

»Das war wohl vor Ihrer Zeit«, entgegnete rasch, wie beiläufig, der kleine, fast schmächtige Mann, wippte auf seinen Zehenspitzen und drückte die Schultern heraus. »Da entlang«, sagte er und hob die Hand. Sie glitten vom Band. Ein schmaler, halbdunkler Gang tat sich auf. »Wieviel Zeit haben Sie?« Der Gast machte eine unbestimmte Geste, und Spengler fuhr fort: »Es ist nicht so, dass sich unsere Mitarbeiter in der Öffentlichkeit nicht zu Wort melden. Doch sie tun es unter fremden Namen und achten sorgfältig darauf, jeden Hinweis auf ihre Identität und ihren Status zu unterdrücken. Von den Kontaktleuten, die Bescheid wissen, verlangt man vor allem Diskretion. Hier im Hause ist es verpönt, dergleichen Dinge bekannt werden zu lassen.«

»Warum das?« forschte der Gast.

Spengler, lächelnd, zuckte ein wenig zusammen. »Fragen Sie mich etwas anderes«, antwortete er mit geschürzten Lippen. Der Gast registrierte, dass sie sich in vollkommener Lautlosigkeit bewegten. Vor ihnen fiel Licht auf den Gang. Sie bogen um eine Ecke und befanden sich hoch über einem lichtdurchfluteten Raum auf einer geländerbewehrten Brücke, die sich zu einer Öffnung in der gegenüberliegenden Wand hinüberschwang. Breite Treppen führten auf beiden Seiten in die Halle hinunter. Linkerhand, in einiger Entfernung, wiederholte sich die Architektur spiegelbildlich. Der weite Raum war an den Stirnseiten vollständig verglast, die Stege zwischen den Scheiben schimmerten wie alles übrige in makellosem Weiß. Über das Geländer gebeugt, blickte der Gast auf ein Gewirr von Schreibtischen nieder, das zwischen langen Regalreihen durchbrochene Kreise, Rechtecke und Sterne formte. Auf jedem Tisch stand ein Bildgerät mit angeschlossener Tastatur. Lange Papierfahnen quollen aus ruckartig tätigen Geräten und falteten sich in die Hände aufmerksamer Betrachter hinein, die abwechselnd von einem Fuß auf den anderen traten. Eine Vielzahl von Personen bewegte sich dort unten oder schien gerade in der Bewegung erstarrt zu sein. Die meisten saßen, eingerahmt von mächtigen Bücherstapeln, vornübergebeugt an ihren Schreibtischen und sprachen in kleine schwarze Mikrofone hinein, die sie förmlich über ihre Lippen gestülpt hatten. Andere hatten sich weit zurückgelehnt, ihre flachen Gesichter schwammen inmitten der allgemeinen Betriebsamkeit wie Fettaugen auf der Suppe, bis ein unsichtbares Signal sie in die Wirklichkeit ihrer Apparate zurückholte. Meist trugen sie weiße Arbeitskittel oder graue Flanellanzüge, die roten und grünen Krawatten gingen choreographisch miteinander um. Der Fremde hob den Blick. Sein in braunen Kord gehüllter Begleiter war ebenfalls an das Geländer getreten und rückte langsam, mit vornübergebeugten Schultern, näher, die Hände vorsichtig aufstützend. »Bewegen Sie sich nicht!« zischte er unvermittelt. Der Fremde schlug die Augen nieder, doch schon entspannte sich Spengler, sein linker Arm schob sich über die Brüstung, während die rechte Hand den Kinnbart an den Seiten nach hinten strich.

»Was Sie da sehen, ist der zentrale Lesesaal der Bibliothek.« Die künstliche Ironie war in seine Stimme zurückgekehrt. »Die Bücher kommen über ein automatisches Fördersystem aus den Magazinen. Die Rechner nehmen die Bestellungen auf und kontrollieren den Vorgang. Man kann sich die Texte auch direkt auf den Bildschirm holen, aber das geschieht nur ausnahmsweise. Allerdings sind Sie über den Rechner praktisch mit allen Bibliotheken der großen Institute rund um den Erdball verbunden, und da nützt man die Möglichkeiten schon eher.« Mit großer Geste wies der Gast auf das Gewimmel.

»Woran arbeiten diese Leute?«

»An nichts Bestimmtem, wenn Sie das meinen.«

Spenglers Gesicht gab sich knautschig wissend, auch hochmütig. »Es gibt Projekte, Schwerpunkte hier und da. Aber das ist nicht das Wesentliche. Institutionen wie diese sind das kulturelle Gedächtnis der Menschheit. Diese Leute« – er reckte andeutend das Kinn – »sind Verwahrungsspezialisten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie verwahren das Wissen, das die Gattung im überschaubaren Gang ihrer Evolution über sich selbst gesammelt hat.«

Überraschend mitfühlend fragte der Gast: »Kommt denn keines mehr hinzu?«

Spengler lachte. »Eine gute Frage. Man schätzt, dass es sich alle zwei Jahre verdoppelt.«

Der Gast schwieg. Spengler rückte vertraulich heran, er formulierte bedächtig. »Ein Gedanke ist nur in der Welt, solange er gedacht wird. Nicht Bücher halten das einmal Gedachte fest, sondern Gehirne, die es immer wieder neu durchdenken.«

»Diese Leute verwahren also das Wissen«, der Fremde sprach mehr zu sich selbst, »man könnte sagen, sie verwalten es, denn jede Verwaltung ist schließlich ein Gewirr sich scheinbar endlos wiederholender Vorgänge wie Registrieren, Bündeln, Ablegen und neuerliches Aufbereiten, das Ablegen selbst ist nur als Teil des Systems zu betrachten, isoliert ist es ganz sinn‑ und funktionslos.«

»Ich sehe, Sie verstehen.« In Spenglers Stimme schwang schmerzlicher Spott.

Gedankenverloren lehnte er am Geländer. Zum ersten Mal sah der Fremde durch die gläserne Wand hinaus auf den sturmzerklüfteten Himmel über einer schwarz sich wegkrümmenden, an einigen Stellen fleckig aufgehellten Landschaft. Eine einzelne Möwe ließ sich von den Luftmassen tragen und stand einen Flügelschlag lang vor dem erleuchteten Fenster still. Zwei junge Männer in weißen Overalls standen in der Nähe einer Regalwand zusammen, gestikulierten und drehten abwechselnd ihre Gesichter herüber. Der Fremde fühlte sich unbehaglich.

»Was Sie da sagen, heißt, das Denken hat keine Vergangenheit. Alles muss jetzt gedacht sein, also ist alles jetzt.«

Er hatte leise gesprochen, und leise, von der Brüstung zurücktretend, blieb auch Spengler.

»Sie können es auch anders wenden: Wir behandeln das Denken wie etwas Vergangenes; also ist es vergangen –«

Die letzten Worte kamen gepresst, mühsam kaschierte er eine ihn unversehens durchpulsende Hast. Er riss den Gast an sich und zog ihn, die offene Brüstung meidend, über die Brücke in den gegenüberliegenden Gang hinein.

Fast katzenartig bewegte sich dieser Spengler, befand der Fremde, dessen Atem schneller ging. Die beiden sportlich wirkenden Männer in Overalls hafteten in seinem Gedächtnis: Ihm war, als seien sie nach einem letzten prüfenden Blick zur Brücke förmlich auseinandergespritzt. Der Gang erweiterte sich, wurde heller, die Türen zu beiden Seiten, ohne weitere Kennzeichen, erschienen ihm breiter als die vorigen. Vor einer standen zwei Herren, die Stirn gelichtet der eine, der sich jetzt herumdrehte und dabei wie absichtslos eine Mappe schwenkte. Sein Gesicht wirkte rund, glatt, die Augen auffällig überlappt, zu pfiffig entrückten Schlitzen verengt. Er gestikulierte weich, von unten herauf, tadellos verdeckte ein taubenblauer, gänzlich ungeknitterter Anzug den Bauchansatz seiner zu runderen Formen tendierenden Figur. Der Mund wurde zum Strich und öffnete sich leicht, die Augen schwammen feucht schimmernd unter den schweren Lidern, als Spengler, seinen Gast ohne weiteres hinter sich lassend, mit ausgestreckter Hand, nickend, guttural formulierend, hinzutrat und die Gruppe schloss. Die Herren unterhielten sich angeregt. Der Gast, mit seinen Gedanken allein, wandte sich zur Seite und hätte um ein Haar nicht bemerkt, wie sich die Tür hinter den Herren schloss.

 

2.

»Immer in der Trommel, die Herrchen, enormes Lauftraining –«: Die Stimme, singend, weiches Metall, erklang dicht über seinem Kragen; beinah wäre er mit dem Mann zusammengestoßen, der, auf federnden Sohlen mit müder Grazie das Gleichgewicht haltend, ihm über die Schulter blickte. Aus einem bleichen Gesicht maßen ihn zwei überwache, hinter der starken Brille fast stechend wirkende Augen. Kräftiger, schwarzer, dabei schütterer Bartwuchs umwölkte das hagere Kinn, und eine radikale Stirnglatze drängte den steilen Schädel hinauf, ein Paar wulstiger Lippen sprang ungebremst auf und ab.

»Pfeiffer mein Name, Tag –«

Er streckte dem Fremden die Rechte entgegen, der sie zögernd ergriff.

»Diese leidigen Besprechungen, ein unendliches Thema. Eine Tür geht auf, Hände berühren sich, alles flüchtig, keine Versprechen, nur ein kleines, undeutbares Einverständnis in den Augenwinkeln. Stimmen senken sich, wenn jemand vorbeikommt, dessen flackernder Blick sich insgeheim mit dem eines der Geheimnisvollen trifft – man wird später sehen, was er bedeutet, wenn überhaupt.«

Er räusperte sich, seine Hände fuhren an beiden Seiten des mageren Körpers auf und ab.

»Beachten Sie bitte das Zeremoniell des Sich-Zurückziehens. Einer der Herren gibt das Signal. Er beugt den Oberkörper, lässt ihn sachte pendeln, flicht wölbende, greifende Handbewegungen in seine Rede, blickt auf die Uhr. Die Herren, zunächst unbeteiligt, halten sich zögerlich, ohne Eile versichern sie den Lockenden ihrer Hast. Das Gespräch greift auf die Arbeitsbedingungen über, die Gutachten, Protokolle und Sitzungen, die sie erwarten – nebenbei, wie wär’s mit einem Kaffee? Kommen Sie hier lang, es ist nicht weit.«

Der Fremde folgte. Gemessen bogen sie um eine – die wievielte? – Ecke, die Dämmerung des engen Ganges erweiterte sich zu einem quadratischen, bunkerartigen Gelass mit winzigen, unter die Decke gesetzten Fensterausschnitten, trübe erhellt von künstlichem Licht, das über den sporadisch verteilten Tischen Schlieren zu bilden schien. Ohne System verstreute Zeitungsteile, dazwischen überquellende Aschenbecher vervollständigten den Raum. Ein Kaffeeautomat an der Wand gab Zischlaute von sich. Pfeiffer hantierte geläufig an seinen Knöpfen und setzte Plastikbecher zwischen abgestandene Kaffeereste. Das Zischen wich dem hohlen Geräusch, mit dem die schwarze Flüssigkeit in die vorgesehenen Behälter fiel. »Stets zu Ihren Diensten!« Pfeiffers Rechte formte den Ansatz zu einer großräumigen Verbeugung. Der Kaffee schwappte gefährlich, der Fremde übernahm seinen Becher mit spitzen Fingern. Sie setzten sich. Pfeiffer stellte den zweiten Becher ab und rührte bedächtig in ihm herum.

»Sie kennen Weininger? Nein? Der Rundkopf, unser Chinese. Kein übler Bursche alles in allem, leise Sohle, geht seinen Gang. Geistreich, aber eng, kommt öfter vor, als man denkt.«

Mit überraschendem Knick-Knack beulte sich der Becher unter dem Griff des Fremden und sandte einen Teil der Flüssigkeit in den Raum.

Eilige Trippelschritte tönten im Gang. Gerüche schienen der Dunkelheit zu entströmen. Ein khakigefasstes Wesen warf im Vorbeigehen seine kastanienbraune Mähne zurück und wandte sich in kühler Anmut dem Kaffeeautomaten zu. Verhalten musterte der Fremde die Taille der jungen Frau. Der Blick auf die sich dunkel unter der durchbrochenen Bluse hebenden Brustwarzen kam ihm, obwohl unvermeidlich, indiskret vor. Das kupferne, ruhige, sorgsam geglättete, entfernt an Miniaturmalerei erinnernde Gesicht der Frau, das von Zeit zu Zeit in wirbelnde Bewegung geriet, ihre unbestimmt abwesende Miene, ihr nervöser Stöckeltanz um den Kaffeeautomaten, der mit maschinenhaftem Gleichmaß seine Arbeit verrichtete, dies alles weckte in ihm eine schwebende Heiterkeit; vorsichtig lehnte er sich zurück. Pfeiffers Wulstmund stand halb geöffnet. Die Frau hob ihren Becher und entschwand. Pfeiffer schien wie von Sinnen, langsam wandte er sich dem Fremden zu; plötzlich, übergangslos, stand ein Lächeln auf seinem Gesicht, gleichzeitig senkte er seine Blicke in die des Fremden, als gelte es, mit ihnen Unzucht zu treiben.

Es war Spengler, der, ein wenig zögernd, aus dem Dunkel näher kam. Das Kinnbärtchen erhoben, in langen Abständen vorsichtig abschätzende Blicke werfend, erkannte er sie erst, als er beinahe vor ihnen stand. »Ich sehe, Sie kennen sich bereits«, bemerkte er trocken und nickte Pfeiffer beifällig zu. Pfeiffer wies auf den nächststehenden Stuhl. Spengler schien ganz in sich zu ruhen. Der Fremde bemerkte ein feines Leuchten in seinen Augen, doch das Licht spiegelte auf den Brillengläsern.

»Darf ich die Herren zu einem kleinen Imbiss einladen?« Spenglers Stimme hatte jetzt einen besorgten Beiklang. Der Fremde sah ihn forschend an, doch er reagierte nicht. Die Herren erhoben sich.

»Das Pamphlet ist fertig. Morgen geht es zur Post.« Pfeiffer, ausschreitend, sprach über den Kopf des Fremden hinweg. »Ich habe jeden Punkt zehnmal geprüft: ein wasserdichter Skandal.«

Mit knapper Handbewegung deutete Spengler auf den Fremden.

»Erzählen Sie!«

»Aber gern doch!« Pfeiffer entblößte die Zähne, Gold blinkte, Nervosität wurde sichtbar. »Imaginieren Sie folgende Situation: Ein junger Kollege, Anfang Dreißig, bewirbt sich im Hause – nichts Bedeutendes, eine Stelle auf der mittleren Denkebene. Solche Entscheidungen dauern, doch am Ende bekommt er den Vertrag. Er erhält seine Unterlagen zurück, darunter ein fast fertiges Buchmanuskript, das er (neben seiner Arbeitszeit, wohlgemerkt!) nach und nach druckfertig macht und veröffentlicht – ohne Resonanz, wie üblich. Ein Jahr später lässt einer der Herren« – mit schweifender Geste deutete er auf eine der breiteren Türen, die der Fremde schon kannte (diese hier, stellte er im Vorbeigehen fest, hatte keinen Griff) –, »ein sehr angesehener Kollege, wenn Sie wissen, was ich meine, sein neuestes Werk erscheinen, es gilt als großer Wurf« – um Spenglers Mundwinkel zuckte Ironie –, »jeder zitiert es. Warum auch nicht? Er hat den Erfolg, alle Achtung, niemand missgönnt es ihm...«

»Herr Pfeiffer will sagen, der bedeutende Kollege hat abgeschrieben, ohne seine Arbeit – denn um die handelt es sich – zu erwähnen«, griff Spengler lächelnd ein. »Sie geraten hier in ein kleines Komplott, ohne dass ich Namen nennen möchte. Herr Pfeiffer« – Spengler legte die Hand auf seinen Arm – »hat gerade (unter fremdem Namen, versteht sich) eine Besprechung beider Werke verfasst, die das Plagiat Punkt für Punkt nachweist, und ich helfe ihm ein wenig, sie in einem der hiesigen Organe unterzubringen. Das ist zwar gegen den Kodex, doch in diesem Fall handelt es sich um eine Art Notwehr, da sich niemand bereit fand, die Sache aufzugreifen.«

Er strahlte.

»Niemand?« fragte der Fremde zerstreut.

»Ich sagte es«, entgegnete Spengler unwirsch, als verscheuche er eine Fliege, »der Kollege ist sehr bedeutend.«

Der Fremde wiegte den Kopf. »Ich verstehe nicht ganz. Sie dienen doch alle dem Wissen, wie Sie sagen. Warum ist es dann so entscheidend, wer den oder jenen Gedanken vor oder nach diesem oder jenem in Umlauf gebracht hat?«

Pfeiffer entfärbte sich. »Mit dieser Einstellung werden Sie hier offene Türen finden. Ich rate Ihnen nur, sie nie laut werden zu lassen, unter gar keinen Umständen.«

Spengler mischte sich ein. »Unsere Kollegen bleiben nach außen anonym. Um so wichtiger ist es für sie natürlich, sich innerhalb der Institution einen Namen zu machen.«

»Aber Sie kennen sich doch«, rief der Fremde erstaunt. »Kennen Sie sich nicht?«

»Viel zu gut«, murmelte Spengler und drehte sein Gesicht ein wenig ins Dunkel. »Sie rühren an das Selbstverständnis der Angehörigen dieses Hauses. Die Menschen, die Sie vorhin in der Bibliothek gesehen haben, diese Menschen tun doch nichts anderes, als sich von morgens bis abends gegenseitig zu zitieren, es ist die Arbeit, der nachzugehen sie sich glücklich schätzen, es ist ihr Leben.«

»Das erklärt manches, obwohl es auch ein wenig befremdet«, wandte der Fremde vorsichtig ein, »die Frage ist aber, ob sie es bewusstlos tun, aus irgendeinem dunklen Zwang, dessen Gründe einem Außenstehenden naturgemäß verschlossen sein müssen, oder ob ihnen das Wissen selbst diese Gründe auferlegt.«

»Sagen wir doch: Es sind die Regeln des Zusammenlebens zwischen Menschen, von denen keiner ohne den anderen auskommt. Selbst die Toten nehmen daran teil. Sie sind ebenso gegenwärtig wie die anderen.« Spengler lächelte wieder.

»Dann handelt es sich also um ein Gesellschaftsspiel«, schloss der Fremde, »nicht das Wissen gilt, sondern die Art und Weise, auf die es erworben und weitergegeben wird.«

»So kann man es sehen –« Mühsam spreizte Pfeiffer die Hände.

Der Fremde sah ihn aufmerksam an. »Wovon handelt eigentlich Ihr Buch?«

Pfeiffer antwortete nicht, sein Mund zuckte. Mit wenigen hastigen Schritten war er bei einer nahegelegenen Tür, stieß sie auf und verschwand türenschlagend im Innern.

»Magengeschichten«, begütigte Spengler, trat unruhig von einem Bein auf das andere und warf dabei forschende Blicke in verschiedene Richtungen. Auch der Fremde wurde aufmerksam. Ein Geräusch, diffus, hohl, vielfüßig anwachsend, erfüllte ihre Umgebung, ohne die Richtung zu verraten, aus der es kam. Mit Spengler ging eine Verwandlung vor. Schien er zunächst, mit vibrierenden Nasenflügeln, zu wittern, in welche Richtung ein Entweichen noch möglich sei, so ließ er auf einmal von diesem Vorhaben ab, warf statt dessen nacheinander hilflose, entsetzte und befremdend vertrauliche Blicke auf den Fremden und zog sich vorsichtig gegen die Wand zurück, so den Weg freigebend für das, was nun geschah.

Nichts geschah. Eine Gruppe drang in den Gang ein, an ihrer Spitze daherstürmend ein hochgewachsener Mann mit wehendem Weißhaar, dessen greisenhafte Züge mit einer energischen Gangart kontrastierten, obwohl er gebückt lief und den Kopf starr zur Seite neigte, auf diese Weise sein Ohr dem beflissen ernst dreinblickenden jungen Mann darreichend, der, einen Schritt zurück, neben ihm ausschritt und unablässig auf ihn einsprach. Das Greisengesicht, ebenso starr wie die Neigung des Kopfes, vereinte den Ausdruck konzentrierten, ja versunkenen Zuhörens mit dem einer gespannten Aufmerksamkeit auf seine Umgebung. Urplötzlich fühlte sich der Fremde von dieser Aufmerksamkeit erfasst, geradewegs aufgespießt, während der Pulk bedrohlich herannahte. Er wollte zur Seite treten, da er fürchtete, umgerannt zu werden, als der Alte, keine zwei Schritte von ihm entfernt, im Lauf innehaltend die Hand hob.

Kein Zweifel, er war gemeint. Wie durch einen Schleier vernahm er die unstet, gleichwohl äußerst bestimmt artikulierende Stimme des Greisenhaften: »So trifft man Sie! Bemerkenswert, ganz bemerkenswert. Wir sind von Ihrer Anwesenheit unterrichtet, wie Sie sehen. Ich denke, wir beide sollten nicht zu spät miteinander sprechen. Suchen Sie mich auf, Sie werden wissen, wo ich zu finden bin!« Ein flüchtiges Heben des Kinns entließ ihn, ein kaum merkliches Stirnrunzeln galt, wie der Fremde zu bemerken glaubte, Spengler, der zusammen mit dem gerade aus der Toilettentür tretenden Pfeiffer an seine Seite zurückkehrte, während der Pulk sich entfernte.

»Das war Geußen«, sagte Spengler, seine Schuhspitzen betrachtend. »Sie werden ihn aufsuchen müssen.«

 

3.

Was geschieht hier eigentlich, dachte der Fremde. Diese Räume, sie erwecken den Eindruck, als geschehe nichts in ihnen, und sollte einmal ernsthaft etwas geschehen, so erführe selbst jemand, der sein Leben hier zubringt, erst spät und durch einen nie auszuschließenden Zufall davon. Und doch ist dieser Spengler unzweifelhaft von Panik erfüllt, auch wenn sein gelassenes Gebaren gelegentlich darüber hinwegtäuscht. Er hat etwas vor, soviel steht fest. Es scheint, als sei er ein persönliches Risiko eingegangen, als er mich herbestellte. Offenbar hat die Begegnung im Gang alles verändert. Er zieht sich zurück, ohne dass man sagen könnte, er sei vorher aus sich herausgegangen. Es sieht so aus, als habe die Begegnung im Gang ihn veranlasst, auf seine Pläne Verzicht zu leisten. Andererseits hat diese Begegnung vermutlich dazu geführt, dass Dinge auf ihn – und mich – zukommen, die er um jeden Preis vermieden haben wollte. Welche Dinge dies auch sein mögen: Wenn ich sein Vertrauen jemals hatte, so habe ich es jetzt jedenfalls nicht mehr. Meine Gegenwart ist für ihn nutzlos, wenn man davon absieht, dass er sich in ihr bespiegelt. Nun also dieses Gespräch unter Männern. Sie führen es meinetwegen, aber sie führen es so, als sei ich nicht vorhanden, oder, besser vielleicht, als gelte es, meine Gegenwart vor mir, dem Fremden, zu vertuschen.

Spengler lenkte aus erhobenen Handgelenken mittels Druck und Zug beherrschte Kraft auf ein Fleischstück, etwas Rosenkohl beiher stipulierend, und lachte verhalten.

»Und sie hat Ihnen wirklich gesagt, sie sei seit einer Woche verheiratet? Unglaublich, ganz unglaublich. Sie hat den Mann keinen Monat gekannt.«

Sie saßen, sehr aufrecht, erhöht wie auf einer Bühne, und blickten gleich ihren Mitspielern beim leisen Klappern der Gabeln auf eine lange, hell erleuchtete Theke nieder, hinter der aus brodelnden Behältern abgemessene Portionen auf gleichmäßig weitergleitende Teller niederfielen, während sich weißbeschürztes Bedienungspersonal vor- und zurückbeugte.

»Ich kenne ihn« – Pfeiffers durchdringender, etwas flackernder Blick wirkte keineswegs apathisch –, »ein Muskelmann, vollkommen durchtrainiert, sie hat ihn sich vom Tennisplatz weggeholt.« Es war von der jungen Frau im Kaffeeraum die Rede.

»So ein dampfendes Ross« – er blinzelte dem Fremden zu – »passt hier natürlich überhaupt nicht herein. Doch warten wir’s ab. Sie ist schnell durch mit den Typen.«

»Ist das wahr?«

»Und jedesmal wird geheiratet. Was allein die Scheidungen kosten, von den Umzügen ganz zu schweigen. Das pralle Leben. Unsereins könnte sich das nicht leisten.«

Spengler führte die Gabel zum Mund.

»Dafür leistet das Leben sich uns.«

»Was halten Sie von der Schönheit?« Leise kam die Frage des Fremden, die beiden anderen blickten erstaunt herüber. Eine junge Frau, Mitte zwanzig, strohblond, sonnengebräunt, trat an den Tisch. Ihr Teller dampfte. Spenglers Bärtchen wippte zufrieden, er gurrte. Frau Sorge, Spenglers Assistentin (als welche er sie vorstellte, während ihr Blick sich verschleierte), ließ sich geräuschlos zu seiner Linken nieder, nahm die Brille ab und klappte die Bügel mit einer weichen Bewegung zusammen. Hinter den überdimensionierten Gläsern hatten ihre Augen überwältigend gegenwärtig geschienen. Jetzt wirkten sie ebenso lebhaft wie übermüdet; der Fremde konnte sich an keinen vergleichbaren Eindruck erinnern. »Come va professore Ambigiani?« Spengler, leicht vorgebeugt, rieb die Hände sanft aneinander.

»Elisabeth – Frau Sorge – kommt gerade von einem Studienaufenthalt in der Toskana zurück...«

»Nicht ganz«, unterbrach sie ihn lächelnd. »Professor Ambigiani hat ein Haus an der Riviera.«

»Sie waren dort?«

»Drei Wochen.«

»Nicht möglich. – Sie müssen wissen«, wandte sich Spengler an den Fremden, »dieser Ambigiani ist ein Fossil. Zwischen ihm und uns gibt es keine Verbindung. Kein Institut der Welt arbeitet mit ihm zusammen. Wir ignorieren seine Ergebnisse – offiziell, versteht sich. Niemand von uns kann außerhalb der Institute arbeiten. Er kann. Ein erstaunlicher Mensch.«

»Warum ist er draußen?«

Spenglers und Pfeiffers Blicke trafen sich. »Das ist schwer zu sagen. Sie erinnern sich an die Affäre Morosi?«

»Ich erinnere mich.« Der Fremde dehnte die Worte, er hatte das Gefühl, es sei an der Zeit aufzustehen. Ein Blick aus übermüdeten Augen huschte über sein Gesicht. »Und wie lebt dieser Ambigiani?«

Pfeiffer starrte über seine mit Soßenresten verschmierte Gabel ins Leere und spitzte die Lippen. Aufrecht, leicht bebend, gab Frau Sorge Auskunft. Ambigiani hauste, wie sie sich in nahezu kindlicher Versonnenheit ausdrückte, »über der Bucht«, vom Schreibtisch ging sein Blick durch ein Panoramafenster aufs Meer hinaus, und sie erzählte, etwas unterkühlt, von abendlichen Segelfahrten, auf denen er ihr, seinen geröteten Bauch in den Fahrtwind schiebend, lange Geschichten über den Untergang der Wissenschaften erzählt hatte. Er war ein Kauz mit abstehenden Ohren und Stoppelbart und einer Vorliebe für skurrile alte Damen der oberen Einkommensklassen, die bei ihm ein- und ausgingen und nicht müde wurden, ihr die Wangen zu tätscheln (hier errötete Frau Sorge flüchtig, während die Männer nickten) und sich mit ihr über die Romanciers der letzten vierzig Jahre zu unterhalten.

»Können Sie erzählen, wo der Mann seine Informationen herbekommt?« unterbrach Spengler, seine Finger knetend, ihren Redefluss.

Hier liegt der Schlüssel, sinnierte der Fremde, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte. Aber ich begreife es nicht. Er ist interessiert, brennend interessiert, die Hände verraten ihn. Doch er ist nicht ernsthaft interessiert, er wird nichts daraus machen, was immer er erfährt. Vielleicht täusche ich mich auch.

Frau Sorge erzählte andächtig von der Bibliothek, die Ambigianis Villa vom Keller bis unter das Dach anfüllte, doch plötzlich, unter dem prüfend gelangweilten Blick Spenglers, lachte sie leise auf, warf den Kopf ein wenig zurück und kicherte: »Er ist ein Hacker, verstehen Sie?«

Spengler und Pfeiffer stießen habichtartig nach vorn: »Wie meinen Sie das?«

»Er hat mich nicht eingeweiht, wenn Sie das denken. Aber er holt sich seine Informationen aus unseren Datensystemen, ohne viel zu fragen, da bin ich sicher.«

»Stark«, murmelte Pfeiffer.

Der Fremde wog seine Worte. »Dieser Ambigiani – was treibt dieser Mensch, ich meine, wonach forscht einer, mit dem kein Institut zusammenarbeiten will?«

»Forscht über«, sagte Pfeiffer.

»Wie bitte?«

»Es heißt: forscht über.«

»Jemand forscht über einen Gegenstand«, schaltete sich Spengler ein, »das heißt, er vergrößert die Forschung, die zu diesem Gegenstand existiert.«

»Nun gut, aber wenn einer die Forschung vergrößert, ohne gefragt zu sein, was treibt ihn?«

»Was treibt Ambigiani? Wenn wir das wüssten. Keiner weiß es, der Mann ist ein fremder Planet.«

»Für ihn stellt sich die Frage andersherum.« Frau Sorges Stimme vibrierte. »Für ihn ist das, was in den Instituten geschieht, einfach pervers.«

»Redet er so?« fragte Spengler seltsam bewegt.

»Nein«, errötete Frau Sorge. »Seine Sprache ist etwas militant sozusagen. Er sagt, Wissenschaft sei Kampf. Die Arbeit in den Instituten bezeichnet er als Kartenspielen über offenen Gräbern.«

»Wie meint er das?«

»Es ist eine seiner stehenden Redensarten. Er hat sie mir nie erläutert.«

»Seien Sie vorsichtig«, riet Spengler mit belegter Stimme.

»War das nicht Ambigiani, der damals den großen Streik organisiert hat?« wandte sich Pfeiffer an ihn.

»Organisiert sicher nicht.« Spengler blickte diskret um sich. »Er war immer ein Einzelgänger. Aber ich werde nie vergessen, wie er im Großen Hörsaal ans Mikrofon ging (damals gab es noch Studenten wie mich, die in Hörsälen herumsaßen und sich gelangweilt Notizen machten oder weiblicherseits riesige Schals und Pullover strickten). Er hatte eine dunkle, kräftige Stimme, etwas alkoholisiert war er wohl auch, oder er hatte Rauschgift genommen. Es war wie im Karneval, die Studenten sprangen auf die Bänke, und Ambigiani lachte unentwegt, er sprach so brillant, dass uns später beim Nachlesen der Rede die Tränen in den Augen standen.«

»Wissenschaft als Aktionsfeld für gesellschaftliche Spontaneität«, zitierte Pfeiffer aus unklarer Erinnerung, »wie vergangen das alles ist.«

»Stimmt. Wie lange geht Ihr Vertrag noch?«

»Bis nächstes Frühjahr.«

»Verlängerung?«

»Ungewiss. Ich habe noch Hoffnung.«

»Denken Sie manchmal an unser Projekt? Ende des Jahres muss das Manuskript stehen.« Spengler blickte auf seine Uhr.

Der Fremde spürte ein leises Rumoren, sanft schien der Raum zu vibrieren, für einen flüchtigen Augenblick blitzte in ihm der Gedanke auf, als beginne irgendwo weit unter ihnen ein mächtiges Aggregat sich zu drehen und als nehme langsam, ganz langsam das Boot Fahrt auf und steuere hinaus, Tiefen entgegen, von denen er sich keine rechte Vorstellung machen konnte.

 

4.

Die Aufzugtür schloss sich, er stand im Finstern. In einiger Entfernung glomm ein Lichtschalter, doch der Fremde schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er hüllte sich in die Dunkelheit, als bedürfe er ihres Schutzes. Ein diffuser Lichtschein spielte vor ihm, im Näherkommen stieß er auf eine kahle Wand, vor der einige mit Papier beladene Rollwagen abgestellt waren. Seitlich fiel Licht durch eine halboffene Tür. Der Fremde, nähertretend, drückte sie sachte auf. Ein kreisrunder Schalter nahm die Mitte des Raumes ein. Kein Mensch war zu sehen. Der Fremde trat ein, angezogen von den flimmernden Bildschirmen, die das Schalterrund bedeckten. Die Ellbogen zwischen Stapeln von Broschüren aufgestützt, ließ er den Blick wandern. Eine Bewegung hielt ihn fest. Ihm gegenüber, auf der anderen Schalterseite, erschien auf einem der Monitore, plastisch gegenwärtig, das Innere eines Toilettenvorraums. Die Kamera, wohl automatisch gesteuert, glitt über die lange Spiegelfront mit den in Reihe angebrachten Waschbecken weg auf eine Tür zu, die sich langsam öffnete. Zwei Schemen, undeutlich gegen den milchblauen Grund, huschten ins Bild, Sportschuhe blitzten auf. Im Augenblick hatte sich die Kamera auf sie eingestellt und folgte ihren Bewegungen mit geschmeidiger Präzision. Der Fremde erkannte die beiden Männer in Overalls aus dem Bibliothekssaal, er fühlte sich widerwillig gebannt durch den Anblick der trainierten Bewegungen, mit denen sie den Raum durchmaßen, Türen aufstießen und unter die Waschbecken griffen, bis sie hinter einem Spiegel fündig geworden zu sein schienen. Jedenfalls krümmten sie sich über etwas, das aussah wie ein Manuskriptbündel, und schlenderten dann dem Ausgang zu, von dem sich einer zurückwandte und, rasch den Kopf hebend, einen Augenblick lang – dem Fremden stockte der Herzschlag – seinen verborgenen Betrachter fixierte, während Zeige- und Mittelfinger sich zu einem V spreizten.

Er war auf dem Gang zurück, und schon nach wenigen Schritten schien es ihm, als habe er die richtige Tür gefunden; verhalten klopfte er und drückte, auf ein Geräusch unklarer Herkunft hin, zögernd die Klinke nieder, als die Tür unvermittelt aufflog. Im Rahmen stand Geußen, den Kopf geneigt, das Weißhaar mit nerviger Geste nach hinten streichend und mit knapper, unmissverständlicher Geste ihn hereinbittend. Das Licht einer Schreibtischlampe erhellte spärlich den Raum, die dichten, weinroten Vorhänge waren zugezogen und ließen keinen Schimmer des Tageslichts herein. Geußen, seinen Besucher auf einen Sessel nötigend, versank mit ausgebreiteten Armen in einem Sofa, wobei sich seine Jacke öffnete und auf grauer Wollweste eine weiße Nelke zutage treten ließ.

»Sie sind erstaunt«, murmelte er zerstreut, seine Augen querten schnüffelnd den Schreibtisch. »Sie sind in eine Welt geraten, die Sie nicht kannten, die niemand kennt, wohlgemerkt, und ich nehme an, dass Sie aus Versehen hierher geraten sind. Dabei dürften Versehen und Absicht in diesem Fall zwei Seiten einer Medaille sein. Sei’s drum« – er blickte auf und hob die Arme –, »Sie sind hier. Reden wir demnach von dieser Welt. Doch Sie müssen entschuldigen« – die Stimme, stockend, kräuselte sich um einen Tatbestand, den seine Rechte mit einer vagen Bewegung gegen die geschlossenen Vorhänge hin umriss –, »dass ich Ihnen für die Dauer unseres Gesprächs keine bessere Beleuchtung bieten kann. Die hier schont meine Augen, und sie sind dankbar dafür.«

Etwas unvermittelt in das entstehende Schweigen hinein nahm der Fremde das Wort: »Dieser Fall Morosi – worum ging es da eigentlich?«

Geußens Züge strafften sich. »Ich merke, Sie wissen Bescheid. Unser Spengler liebt es, sich zu exponieren. Sie verstehen sich mit ihm? Wo haben Sie ihn kennengelernt? Aber ich möchte Sie nicht ausfragen. Sie hätten natürlich niemals hierher kommen dürfen. Es gibt keinen Fall Morosi, es gab keinen Fall Morosi. Es gibt die entzündete Einbildungskraft einiger Mitarbeiter, denen es nicht gegeben ist, schweigend in den aseptischen Räumen des Wissens ihrem Beruf nachzugehen.«

»Mir scheint, dass es einer ungewöhnlichen Motivation bedarf, diesen Beruf auszuüben.«

»Das scheint nur so. Der Entschluss, einmal gefasst, genügt, für alles andere ist gesorgt. Man geht nicht vom Wissen nach Hause und hat Feierabend: Es kommt mit. Der, von dem es Besitz ergreift, ist schon ein anderer, er bewohnt eine andere Welt, diese Welt, ohne weiteres Verdienst, ohne sein Zutun.«

»Und die, wie Sie sagen, erhitzte Phantasie gewisser Mitarbeiter?«

»Entspringt dem Wissen, nicht diesem oder jenem, sondern ihm selbst oder der Form, wenn Sie so wollen, die es sich gibt. Verzeihen Sie, wenn ich etwas aushole, ich halte Sie für einen Laien, berichtigen Sie mich – das Wissen ist nicht dies und das, was man eben weiß oder zu wissen glaubt, es ist ein Ganzes, das sich an seinen Gegenständen auslegt, es ist als Ganzes in diesen Auslegungen gegenwärtig und wandelt sich mit ihnen. Wir wissen nicht nur mehr, nicht nur anderes als unsere Vorgänger, sondern wir wissen anders, verstehen Sie? Ich werde es Ihnen an keinem Beispiel erklären, denn es gibt kein Beispiel für diesen Sachverhalt. Kein Wissen hat ein anderes parat, denn sonst wäre es das andere. Diese Dinge kommen Ihnen sicher merkwürdig vor, doch Sie sind an einem merkwürdigen Ort, wie Sie bemerken. Die Welt, die Sie unbedachterweise betreten haben, ist das Universum des gegenwärtigen Wissens« – die Stimme, unstet, tentakelnd, trug ihn empor über das schweigende Mobiliar –, »sie folgt seinen Gesetzen, sie existiert, weil es in ihr existiert und sonst nirgends. Aber« – die Stimme verdunkelte sich – »es gab Zeiten – lange Zeiten, um genau zu sein –, da haftete das Denken an äußeren Situationen, es wurde von praktischen Zielen bestimmt und in handfesten Auseinandersetzungen geprägt. Wir haben dem Denken den Humus des Leidens und Kämpfens, des Wollens und der existentiellen Parteinahme entzogen, wir haben es entrückt in den Bereich freier Kombinatorik, den erstaunliche einzelne in früheren Jahrhunderten gelegentlich erträumten. Was Sie hier sehen, gibt Ihnen einen geringfügigen Einblick in die organisatorischen Voraussetzungen, die erfüllt werden mussten, bevor das Denken in dieses Stadium eintreten konnte. Nicht wir haben sie geschaffen, o nein, wir sind nur ausführende Organe. Sie wurden auch nicht etwa uns zuliebe geschaffen. Sie fielen uns zu – als Nebenresultate von Prozessen ganz anderer Größenordnung. Mit ein wenig Nachhilfe, nun gut. Wir führen ein Dasein an der Peripherie. Doch Peripherie, Zentrum, das sind Kategorien von gestern.« Er faltete ein Taschentuch auf und schneuzte sich ausführlich. »Wir haben die stetige, gleichförmige, immerwährende Form der Produktivität des Geistes entdeckt. Ich muss mich korrigieren: Wir haben sie nicht eigentlich entdeckt, sie ist uns zugefallen in dem Grad, in dem die Institutionen zu ihrer Organisation fanden. Alles, was hier geschieht, geschieht aus der Kenntnis einfacher, jedoch im Einzelfall höchst differenziert angewandter Techniken der Verknüpfung von allem mit allem. Die Organisation legt über einen elementaren Bestand spielerisch gehandhabter Annahmen ein kontinuierlich wucherndes Geflecht von Bezügen. Dieses Geflecht ist zu jedem Zeitpunkt ebenso fertig wie unfertig, universell und rudimentär. Bezüge erzeugen Bezüge und gehen in ihnen unter. Nichts entsteht, doch alles geht vor. Aber« – er fuhr sich durchs Haar – »ich spreche vom Denken im allgemeinen. Um auf unseren Gegenstand zurückzukommen: Die Frage ist, wie findet der einzelne in das System hinein? Versetzen Sie sich in die Lage des angehenden Forschers. In ihm erwacht das Denken gleichsam neu, wird wieder kämpferisch. Die meisten begreifen rasch, andere bleiben zurück. Vereinzelte Hohlköpfe und Wichtigtuer begreifen nie. Ich gebe zu, dass wir die Originelleren unter ihnen als Studienobjekte behalten. Sie sind für die Kenntnis älterer Wissensformationen ähnlich kostbar wie der Archäopteryx für die Fauna des Mesozoikums. Ewig wittern sie Verschwörungen gegen die Wahrheit, gegen ihre Wahrheit, wohlgemerkt, die sie natürlich nicht rund aussprechen können, da es sonst nicht mehr ihre wäre. Sie ahnen, immer und überall ahnen sie, Trübes natürlich, was sonst. Sie verachten das allen zugängliche Wissen, weil es ihnen verschlossen bleibt. Sie können nicht begreifen, dass nur ihre eigene mangelhafte Denkfähigkeit zwischen ihnen und dem Wissen steht. Wie sollten sie auch? Also knüpfen sie Kontakte, immer auf der Suche nach Gleichgesinnten. Unterderhand werden sie sich selbst so geheimnisvoll, dass sie der Wahn befällt, jeden Schritt, den sie tun, als konspirative Aktion planen und abschirmen zu müssen. Das ist bedauerlich, aber natürlich sind wir stets im Bild. Die Aura, in die sie sich hüllen, existiert nur in ihren eigenen Köpfen. Ich denke, Sie verstehen.«

Seine Züge signalisierten leichte Erschöpfung, während er zurücksank.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihren Ausführungen immer folgen konnte«, sagte der Fremde, »aber Sie sprachen von spielerischen Annahmen, von denen Ihre Wissenschaft ausgeht. Um welche Annahmen handelt es sich dabei?«

»Es sind Annahmen, die früheren Wissensgebäuden zugrunde lagen. Um im Bild zu bleiben: Die Architektur ist verfallen, aber die Grundmauern sind erhalten geblieben. Dadurch, dass sich das Denken dieser Grundlagen immer wieder bemächtigt, bekräftigt es seine Identität inmitten des unaufhörlichen Wandels, in dem es sich präsentiert. Aber natürlich hat sich ihr Stellenwert völlig verändert. Jede von ihnen steht jederzeit zur Disposition, ohne dass eine jemals endgültig eliminiert würde. Darin besteht eben das Spiel. Was unentwegt wechselt, sind Auslegungen und Wertschätzungen.«

Behutsam verlagerte der Fremde sein Gewicht im Sessel. »Das leuchtet ein. Solange die älteren Wissensgebäude, wie Sie sagen, intakt waren, hat man ihre Grundlagen vermutlich nicht in Frage gestellt.«

»So ist es. Man war gar nicht fähig, sie in Frage zu stellen. Sie ließen sich allenfalls in Bausch und Bogen verwerfen.« Geußens Augen blitzten. »Sie waren der komprimierte Ausdruck einer Weltsicht, die man um jeden Preis verteidigte oder verdammte.«

Sorgsam ertastete der Fremde die ungewohnten Gedankengänge: »Dann ist das neue Wissen, von dem Sie sprechen, die vollendete Skepsis.«

»Aber keineswegs. Der Skeptizismus ist eine vergangene Weltsicht wie alle anderen auch.«

Mit einem Mal wirkte Geußen eingefallen und müde. »Ich habe Ihnen schon gesagt, das Denken ist ein anderes geworden, es verhält sich, wenn Sie so wollen, absolut gleichgültig gegenüber den ererbten Positionen. Sie gelten ihm alle gleich viel oder gleich wenig. Aber lassen wir das. Sprechen wir von Ihnen. Ich gebe zu, ich habe Sie aus einem gewissen Wohlwollen heraus zu mir gebeten. Sie befinden sich sozusagen im Auge des Zyklons, falls Sie mir folgen möchten. Sie wissen nicht, was sich hinter dieser« – er hob beiläufig die Hand – »oder irgendeiner anderen Tür gerade verbirgt. Das mag im Augenblick nicht wichtig sein. Es gehört zum Charakter dieser...« – er suchte nach dem richtigen Wort, und der Fremde, der ihm mit angehaltenem Atem gefolgt war, warf ein: »Versuchskaninchen?« – »o nein, nicht Kaninchen«, fuhr Geußen lächelnd fort, »es sind Mitarbeiter, die wir nicht missen möchten – aber es gehört nun einmal zum Charakter dieser Leute, Dinge, die sie anfangen, nicht zu Ende zu denken. Und da beginnt das Problem.«

»Ich glaube nicht, dass das Denken größere Probleme durch mich zu gewärtigen hat«, sagte der Fremde bescheiden. »Ich glaube nicht einmal, dass es mich sonderlich bemerkt haben sollte. Sicher wäre es das beste, mich einfach zu vergessen. Doch – ich habe noch eine Frage. Sie betrifft...« Er unterbrach sich, denn Geußen lachte. Meckernd, übergangslos nahm das Gelächter von ihm Besitz, ergriff ihn im Nacken und beutelte ihn, ein forciertes Gelächter, das die Augen unberührt ließ und ein Netz zuckender Falten über das Gesicht warf. Mit reglosem Entsetzen verfolgte der Fremde, wie der Alte nach und nach jede Gewalt über sich verlor, von immer neuen Eruptionen geschüttelt und zwischendurch sich in Hustenanfällen verlierend. Die Nelke löste sich, glitt sachte abwärts, wurde auf den Tisch geschleudert und blieb etwas zerzaust liegen.

»Sie müssen verzeihen, aber was Sie da gesagt haben, das ist umwerfend, das ist umwerfend«, wiederholte, nachzitternd, Geußen, eine Brille aus dem Jackett nestelnd.

»Ich möchte Sie noch etwas fragen«, beharrte der Fremde.

»Fragen Sie.«

»Das Wissen hat sich also völlig aus jener anderen in Ihre Welt – die ich, wie Sie sagen, auf keinen Fall hätte betreten dürfen – zurückgezogen. Ich verstehe nur nicht, wie dann ein Professor Ambigiani...«

»Ambigiani? Ambigiani? Sie kennen Ambigiani? Schickt er Sie?« Die Reste seines Gelächters augenblicklich gleichsam austretend, hatte sich Geußen erhoben; hager, gebeugt, Hände in den Taschen, starrte er auf den Fremden nieder, der beharrlich den angefangenen Satz wieder aufnahm: »Sie täuschen sich. Ich frage mich nur, wie kann dann einer wie Ambigiani – «

»Dieser Mann ist ein Märchenerzähler.« Die Antwort kam grob, das Wort abschneidend. Geußen blickte auf seine Uhr.

»Warum?«

»Auf diese Frage werden Sie keine Antwort bekommen. Sie haben nach Tenochtitlán gefunden, ich kann Ihnen nicht helfen, es wieder zu verlassen. Aber ich wünsche Ihnen Glück.«

 

5.

Aus Versehen hatte er (in dem Gewirr der Gänge, Aufzüge, toten Winkel) eine Tür geöffnet, hinter der, an einem von milchigem Licht umspülten Schreibtisch, ein junger Mann saß, das Profil dem unbefugten Betrachter zugewandt und mit der Linken den lindgrünen Umschlag eines vor ihm liegenden Schriftstücks aufhaltend, während der Stift in seiner Rechten mit raschen Zügen das Papier bedeckte. Der junge Mann hob den Kopf und sah ihn wortlos an: Der Ausdruck seiner Augen, die langsam unter den müden Lidern heraufstiegen, flüchtig berührt von einem fernen Glanz, ließ den Fremden eilig und eine Spur zu heftig die Tür wieder schließen. Er hastete weiter; um ein Haar wäre er an einer Klinke hängengeblieben, die neben ihm in den Gang gestoßen wurde. Er hörte Stöckelschritte, die sich entfernten, sie hallten in seinem Gedächtnis, und im Begriff, ihnen nachzulauschen, traf ein gedämpfter Wortwechsel an sein Ohr, in dem er deutlich die Stimme Spenglers unterschied.

Er schob die nur angelehnte Tür sachte auf und sah sich von drei angehaltenen Augenpaaren fixiert, deren Träger sich im Mittelgrund um einen Schreibtisch gruppierten. Weininger, mit beiden Händen sich ans taubenblaue Revers fassend, hatte sich aufgesetzt, sein rechter Schenkel ruhte auf der Schreibfläche, das linke Bein war leicht angewinkelt. Rechts von ihm stand Spengler mit hochgezogenen Schultern, um seine Lippen lag jenes höhnische, dabei abstrakte Lächeln. Zwischen beiden saß, die Finger der linken Hand leicht, als könnten sie jeden Moment aufflattern, neben einer Schreibtastatur ausgestreckt, mit der rechten Hand über eine Buchseite streichend, Frau Sorge.

»Wir sprechen darüber noch in der Kommission«, gurrte Weininger, lächelte dem Fremden aus den Augenwinkeln zu und verließ den Raum.

»Wo haben Sie gesteckt?« erkundigte sich Spengler. Seine Augen verrieten Unruhe.

Der Fremde lehnte an der Tür. Er stützte sich mit den Handflächen ab. »Es gibt keinen Fall Morosi«, keuchte er.

»Ich weiß«, sagte Spengler lächelnd, sanftmütig, als spräche er zu einem Kind. »Es gibt keinen Fall Morosi. Das ist uns bekannt.«

»Warum haben Sie mich herbestellt?«

»Was meinen Sie denn?« Spengler hielt einen Augenblick inne. »Sie versuchen mit Ihren Fragen hinter irgendein Geheimnis zu kommen. Das ist Ihr gutes Recht, gewiss. Aber sind Sie auch sicher, dass es dieses Geheimnis, nach dem es Sie verlangt, überhaupt gibt? Sie hören zufällig von einem Fall Morosi, und auf der Stelle benehmen Sie sich wie jemand, den man eigens gerufen hat, um diesen Fall (wenn es sich um einen solchen handelt) aufzuklären. Das ist absurd.« Sein linkes Augenlid zuckte, er drehte sich um, schlenderte zum Fenster und schwieg.

Der Fremde rührte sich nicht.

»Angenommen, es gibt ein Geheimnis« – langsam kamen die Worte vom Fenster –, »können Sie glauben, es wäre noch dasselbe Geheimnis, das Sie unbedingt zu enthüllen wünschen, wenn man es so einfach erfragen könnte? Ehrlich gesagt, ich bin erstaunt über Sie.«

»Warum?«

»Weil Sie wahrscheinlich seit Jahrzehnten der erste Mensch sind, der diese Räume betreten durfte, ohne dazuzugehören – Sie verstehen inzwischen, was das bedeutet. Mit größerem Recht könnte ich fragen, warum Sie hergekommen sind.«

»Das können Sie«, sagte der Fremde leise. »Aber vielleicht beantworten Sie mir eine andere Frage.«

»Fragen Sie.«

»Ich habe die Leute in der Bibliothek gesehen, junge Leute großenteils. Sie verstehen, was ich meine.«

»Nein.« Spengler fuhr herum. Fragend, neugierig starrte er den Fremden an. »Fahren Sie fort.«

»Warum? Außer Geußen habe ich in diesem Haus noch keinen Menschen entdeckt, der älter als, sagen wir, vierzig Jahre alt war.«

»Was schließen Sie daraus?«

»Nichts. Aber ich erinnere mich nicht, draußen jemals einen von Ihnen getroffen zu haben.«

Er löste sich von der Tür und kam auf Spengler zu.

»Was immer Sie denken mögen –« Spengler brach ab.

Zögernd rückte der Fremde näher. »Sie gehen auf die Vierzig zu, nicht wahr?«

Spengler gab keine Antwort. Er zog einen Stuhl an den Schreibtisch, setzte sich und stützte den Kopf auf die Hand. Die freie Hand griff in die Luft, dann sank sie, dem verwinkelten Spiel der Armmuskulatur nachgebend, langsam abwärts. Spengler drehte den Kopf in der Handfläche und sah den Fremden von unten an. »Ich weiß nicht, was Sie argwöhnen«, sagte er mühsam, Wort für Wort betonend, »aber so ist es nicht, so ist es nicht. Die Wahrheit ist – sie haben es nicht nötig.«

»Sie meinen, es gibt keine Leichen?«

»Leichen? Ich bitte Sie. Wie kommen Sie auf Leichen?« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Sie haben recht: Tote, die gibt es in der Tat. Wissen Sie, wer immer hier gelebt und gearbeitet hat, der ist unfähig geworden, ein Leben da draußen zu führen. Es ist, als seien alle mit einem Gift gespritzt, das binnen weniger Monate tödlich wirkt, sobald sie nicht mehr die Luft dieser Räume zum Atmen haben. Sie gehen, um zu verenden – still, verbittert, doch das Merkwürdigste ist, sie gehen ohne Gedächtnis für das, was sie hier waren und was hier geleistet wird.«

»Sie sind sehr beschlagen.«

»Das will ich meinen. Ich hatte einen ausgezeichneten Vordenker.«

»Morosi?«

»Ich dachte mir, dass Sie auf den Namen verfallen würden. Aber warum Versteck spielen? Es stimmt. Dieser Morosi hat jahrelang Material zusammengetragen – ein sehr akribischer Mensch, wenn Sie mich fragen. Er hat bei den Entlassenen recherchiert, bei Freunden, bei Hinterbliebenen. Irgendwann glaubte er, seiner Sache sicher zu sein, und wandte sich an eine der großen Zeitungen draußen.«

»Was geschah?«

»Das kann man nur vermuten. Auf jeden Fall flog die Sache auf. Das Material wurde vernichtet.«

»Und Morosi?«

»Aber ich bitte Sie! Es gibt keinen Fall Morosi, wie wir alle wissen.«

»Haben Sie ihn gekannt?«

»Persönlich – nein.«

»Wie kommen Sie an das vernichtete Material?«

»Wissen Sie, Rechner sind merkwürdige Geräte. Sie können Daten löschen, aber Sie können Eingaben nicht im nachhinein ungeschehen machen. Das heißt, alle Speicher- oder Löschvorgänge hinterlassen Spuren im Rechner – Spuren, aus denen man im Ernstfall beinahe jede Information rekonstruieren kann.«

»Und Sie konnten?«

Spengler lächelte blass.

»Sagen Sie, Herr Spengler« – der Fremde, inzwischen ebenfalls sitzend, wippte gedankenverloren mit der Fußspitze –, »woher kommt es, dass einer wie Sie (einer, der Bescheid weiß) nicht die fällige Konsequenz aus seinem Wissen zieht? Worauf warten Sie? Wollen Sie die Prozedur am eigenen Leib erleben? Oder hoffen Sie, Morosis Nachforschungen zu übertreffen, indem Sie die Drahtzieher ausfindig machen?«

Spengler rieb sich die Schläfe. »Ich verfolge eine Hypothese. Diese Prozedur, wie Sie es nennen, die gibt es meiner Ansicht nach überhaupt nicht. Es sickert ein, verstehen Sie? Es liegt in der Luft, es dringt durch die Poren, täglich, lautlos, unmerklich, Gift und Antigift in einem, ein Stoff, der erst dann tödlich wirkt, wenn man ihn absetzt. Nicht die Luft hier – die Luft draußen bewirkt das Ende. Natürlich ist das eine Frage der Dosierung. Anfangs gibt es noch Hoffnung, doch mit jedem Jahr, das man hier verbringt, schwindet die Fähigkeit, draußen zu überleben. Ihre Sorge schmeichelt mir, aber ich bin längst jenseits der Grenze.«

Er sieht aus wie ein Priester, dachte der Fremde. Er weiß, dass er zum Opfer bestimmt ist, das Opfer der anderen betrachtet er unter technischen Gesichtspunkten.

Laut sagte er: »Sie sagen es selbst: Das ist nur eine Hypothese. Seit wann verfügen Sie schon über das Material?«

»Sie vermuten ganz recht. Ich hätte mich womöglich retten können, wenn ich mich rechtzeitig entschlossen hätte zu gehen. Doch diese Einsicht ist unnütz. Es ist nicht möglich zu gehen. Sie werden sicher wieder fragen, warum das so ist, und Sie haben recht, Sie müssen so fragen, weil Sie so fragen können. Doch glauben Sie mir: Sie werden hier niemanden finden, der diese Frage nicht für gänzlich unangemessen hielte. Es ist nicht möglich zu gehen. Vermutlich würde die Institution keinen Tag überleben, wenn sie etwas anderes wäre als diese gelebte Unmöglichkeit zu gehen. Und das ist nur logisch. Das Denken ist stärker als der einzelne, der sich ihm verschreibt. Man kann sich ihm nähern, aber man kann sich ihm nicht entziehen. Es ergreift den einzelnen, es gibt ihm Identität, und wenn es ihn loslässt, dann heißt das, es stößt ihn hinaus in irgendeine Beliebigkeit, in der er fortexistieren kann, wenn er es kann.

Aber niemand, verstehen Sie: Niemand kann aus freien Stücken die eigene Identität aufgeben oder vernichten. Es ist logisch unmöglich.«

»Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln« – nachdenklich wog der Fremde seine Worte –, »aber mir scheint, dass Sie Ihrer Gifthypothese damit selbst die Glaubwürdigkeit entziehen.«

Spengler schnellte hoch. »Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, wenn es, wie Sie behaupten, nur eine Bewegung zum Denken hin und keine von ihm weg gibt, dann bedarf es keiner weiteren Erklärung für die rätselhaften Zusammenbrüche, von denen Sie berichtet haben. Das Individuum, das sich als Teil des Denkens begreift, zerfällt, wenn es vom Denken entlassen wird. Warum suchen Sie nach einer Erklärung, wenn sie doch in der Natur der Sache liegt?«

Spengler kräuselte die Lippen und blickte ins Leere. Mehrmals schien er zu einer Antwort anzusetzen, schwieg jedoch. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als das Telefon klingelte und er – eine Spur zu hastig – den Hörer ans Ohr hob. »Ja«, sagte er, »ja – warten Sie«, sprang auf und zog die Schnur am Apparat hinter sich her. Der Fremde sah zu Frau Sorge hinüber, die ganz in das vor ihr liegende Buch vertieft schien, doch war ihm, als habe ihn soeben, wie der Schatten eines in großer Höhe die Szene überquerenden Vogels, ein Blick aus ihren großen, übermüdeten Augen gestreift. Noch den Hörer in der Hand (ihn achtlos auflegend, während er bereits sprach), begann Spengler auf ihn einzureden. Unfähig, den Sinn der drängenden, zugleich ausweichenden Worte aufzunehmen, war der Fremde sogleich aufgesprungen: Angst stand in Spenglers Augen und jenes feine, dem Fremden mit einem Mal vertraut erscheinende Leuchten. Unbekümmert um Spenglers Wortschwall beugte der Fremde sich vor und blickte auf Frau Sorge hinab, seine Daumen drückten sich in die Tischplatte, und seine eigene, jetzt unvermittelt einsetzende Stimme hatte einen flehenden Klang, der ihm ganz unerklärlich vorkam, doch fand er keine Gelegenheit, der Empfindung weiter nachzuhängen. Er hatte begriffen, dass er in höchster Gefahr war, er sah die Häscher in den Gang einbiegen, ihre Overalls blitzten in geschmeidigen Bewegungen auf, doch über allem war ihm, als müsse er auf der Stelle Frau Sorge herausreißen aus dieser Umgebung, in die sie sich so passend einfügte auf ihrem Drehstuhl, mit der Hand das Haar ordnend und zugleich erschrocken zu ihm aufblickend.

»Kommen Sie mit, ich beschwöre Sie, Sie dürfen hier nicht bleiben«, bat er und registrierte, wie ihr Entsetzen (in dem er ein Moment schreckhaften Einverständnisses ausgemacht hatte) in spiegelndes Befremden überging, ein zunächst gespieltes, im Spiel sich verfestigendes Befremden. »Sie müssen gehen, gehen Sie«, drängte ihn von der anderen Seite her Spengler. Doch in der gleichen Sekunde entdeckte der Fremde auch schon eine neue Verwandlung im Gesicht der umworbenen Frau, die an ihm vorbei zur Tür starrte, den Mund halb geöffnet. Da waren sie also, geräuschlos traten sie hinter ihn, der Gedanke überkam ihn wie eine Erleichterung. Während er sich auf die Vorgänge in seinem Rücken zu konzentrieren versuchte, entdeckte er, fast durch Zufall, die Kuppe eines weißen Sportschuhs neben seinem braunen, der ihm jetzt ein wenig schäbig vorkam.