1.

Dieses Buch einen Erstling zu nennen, klingt einfach absurd. Viel eher möchte ich es einen Letztling nennen: Wie der Klappentext des Verlags uns belehrt, hat sich der Autor mit ihm geradewegs von dieser Welt verabschiedet. Man mag das geschmacklos finden, und ich gestehe (»gestehe«? – na gut), dass ich die Einschätzung teile: Kommt er nun oder geht er? Als Rezensent bin ich für klare Verhältnisse. Doch lässt sich der Doppelsinn nicht übersehen, der im Zusammentreffen beider Bewegungen liegt. Erlauben Sie mir, dass ich ungeschützt rede: auch das Buch ist nicht von dieser Welt. Wie ich das meine? Da, allerdings, liegt das Problem. (Sabine! Ist der Kaffee schon fertig?) Ich werde wohl, so schwer es mir fällt, zur Sache reden müssen, immer vorausgesetzt, es gibt sie. Noch verharre ich unschlüssig auf der Schwelle. Warum es leugnen? (Bitte nimm die Windel vom Schreibtisch, wie soll ich mich sonst konzentrieren! Danke Schatz, danke. Nein, ich brauche dich nicht.) Meine Schwierigkeiten beginnen bereits mit dem Titel. Das Original ist unübersetzbar, nun gut. Aber die Lösung, die der Verlag uns auftischt, sie schmerzt. Was also tun? Wenn es dem Kritiker erlaubt ist, Titelvorschläge – schon im voraus verworfene, er weiß es – für ein Erzählwerk nachzuliefern, hier sind sie.

– Die Verwandlung der Geometrie in Zersetzung oder

– Die Verwandlung der Zersetzung in Geometrie

oder, knapper und damit fast schon zutreffender,

– Geometrie der Zersetzung.

(Moment, halt, du gehst? Was wird aus dem Essen? Mein Gott, warte: Alles im Kühlschrank? Wie? Die Kinder? Du scherzst, die Rezension muss unbedingt heute raus. Tut mir wahnsinnig leid... Bist du noch da? He –)

Sie lächeln? Nur zu. Damit sind wir beim Thema. Denn darum genau geht es in diesem Buch: Pas de deux der Zersetzung mit der Geometrie. Lektüre für starke Nerven.

»Erschreckend« – im Original: »shocking« – nennt der fiktive Chronist sein erstes Zusammentreffen mit der Population des imaginären Planeten, auf dem die Erzählung spielt. Der Leser denkt an Kannibalismus, seine untrainierte, aber verdorbene Phantasie malt bereits an primitiven Kulturen draußen in den interstellaren Räumen, die sich ganz bequem im Lehnsessel durchmessen lassen, ohne dass der Cointreau dabei verdirbt. (Apropos Cointreau... nein. Zu früh.) Weit gefehlt: Es sind die Toten, die auf dem schwarzglänzenden Tablett dieser Prosa serviert werden, und das Erschrecken... steht am Beginn einer Lektüre, die in eine langsame, minutiös sich vollziehende Erniedrigung übergeht, falls man es nicht schafft, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Rezensent gesteht, nicht ohne Blessuren davongekommen zu sein, und prophezeit künftigen Lesern, dass sie kaum eine Chance besitzen, besser dazustehen als er selbst. Also, Freunde: Hände weg von dem Buch! Es ist unnütz, und es ist ein Ärgernis, ein unnützes Ärgernis, gespannt und spannend vom ersten bis zum letzten Wort, also: Hände weg. (»hands off«? Etwas poppig vielleicht, vergiss es.)

Die Eingeborenen des Buches, Springflöhe des Planeten Hi-ha-ho – so benannt nach dem Echo, das er seinen Erkundern zurückgibt, eines Diesjenseits, für das hier die Worte fehlen, sofern sie im Buch restlos verbraucht werden –, die Toten kümmert das nicht. Sie sind sich selbst genug – »genung«, wie es, seltsamer Lapsus, in unserer Ausgabe heißt –, unbeeindruckt vom Bedürfnis des Lesegemüts, sich an etwas anzuschließen und zu entfalten. Sind sie vorhanden? Das ist schwer zu beurteilen. (Vorsicht Falle!) Betrachten wir sie: ein Teil schlüpft, ohne eigentlich dazusein, hierhin und dorthin; der andere drängt in akribisch beschriebenen Verrenkungen ans Licht, um gleich wieder zu versickern; bestimmte Exemplare scheint der Planet in qualvollen Eruptionen auszuwerfen und in Umlaufbahnen zu schleudern, die intelligente Botschaften nach draußen simulieren; welche, wird nicht verraten. Alle aber – man beachte das »aber« – erscheinen eingewirkt in eine unsichtbare, geschmacks- und geruchsneutrale Materie, von der nur erhellt, dass sie nicht – so lautet die Fiktion – nicht ist.

 

2.

Nur zu, werden Sie sagen, wo steckt der Clou? Das lockt doch keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Immer mit der Ruhe. Treiben wir ein wenig Theorie. Spannung, Freunde, Spannung ist ein eigen Ding. Was also darf es sein? Aufbruch? Ich bitte Sie. Wohin? Ins All? Ein bisschen Weltall ist immer im Spiel, wenn jemand die Orte wechselt, um dem Unheil zu entrinnen. Jeder geht an die Grenzen seiner Welt, und zwar jederzeit; man behaupte nicht, es gäbe eine andere. Wer sich zurücknimmt, bemüht sich um Grenzkorrekturen – vergeblich. Der Aufbruch ins Grenzenlose verläuft nach den Stereotypen eines Barbesuchs und pflegt ähnlich zu enden. Es tut gut, sich daran zu erinnern, wenn anhaltendes Crescendo uns den Atem benimmt.

Die Not steckt im Detail. Bei Licht besehen, lässt die Fähigkeit unbescholtener Mitbürger, Welten wie Unterwäsche zu wechseln, dem Erzählen keine Chance. In der Ära des Stop-and-go-Verkehrs wird nicht nur mit Projektionen gearbeitet, man zeigt sie auch. Jeder Aufbruch eine Simulation. Schalten wir weiter. Glauben Sie an Geschichten von Leuten, bei denen der Fernseher läuft? Exakt. Aber keiner kann sie aufhalten. Ein Knopfdruck, schon rekeln sich Held und Heldin, eben noch bibbernd unter den rollenden Augen des Bösen und zu jeder Form von intergalaktischer Hingabe bereit, daheim vor ihrem »fuckin’ motherboard« (oder so ähnlich... Nachschlagen?), der Monitor flackert, der »soundblaster« krächzt, alles vom gleichen Hersteller wie beim Leser auf dem Schreibtisch links neben dem Sofa. Plastikbecher mit Eiswürfeln, nostalgisches Relikt, lassen die Schrecken verdauen, die sie soeben noch – draußen, im »Raum«, wo sonst? – mit dem Leser geteilt haben. Geteilt?

Das Unheimliche zittert nach, es teilt sich mit. Dieser Drang, sich mitzuteilen, verstört ein wenig, er macht alles weniger heimlich, als es seiner Unheimlichkeit angemessen wäre. Er macht es, da keiner weiß, wer noch zuhört, allgemein. (»öffentlich«? Hm. Vielleicht... Nein, das trifft es nicht. Also allgemein.) Da ist niemand, der ihm verfallen wäre und den Mund hielte oder seine Erfahrungen dem verschwiegenen Papier anvertraute. Der innere Reporter reist, schrecklich zu sagen, immer mit.

Kunst wäre die Fähigkeit, Auswege ins Unwegsame zu eröffnen und den Leser in Schrecken ohne Wiederkehr zu entführen. In den ihr zufallenden Welten einer unendlich aufgeschobenen Rückkehr erschiene das Normale nicht länger als Ziel, sondern als simple Gegenwart, entstellt durch Übergriffe von Held/innen (Recht so? Gut so? Das stutzt die Kerle doch empfindlich zurück. Sabine!), von deren Bewusstsein der Wahnwitz einer zum Prozess gegen das All mutierten Lektüre Besitz ergriff. Der Wahnwitz hat immer Methode. Kein Wunder: hinter ihm verbirgt sich nichts anderes als das sich frei nehmende methodische Bewusstsein, das man in den Wissenschaftszentren des ausgehenden Jahrhunderts heranzieht. Obendrein, bloody Mary sei Dank, hat er auch Stammbaum. (Wieso er? Ach so.) »Der unausrottbare Mut« – ich zitiere einen allseits bekannten Philosophen –, »der resultiert aus der unvermeidlichen Gegenwendung des Bewusstseins, in der es die natural bestehende Grundangst aufnimmt und bändigt, weil es sie rational stabilisiert, in der es sich beruhigen und diese zum Verschwinden bringen will an geschaffenen Realitäten, die ob ihrer imaginären Genese aber jederzeit zerbrechen können, ist die produktive und aufhebende Energie der theoretischen Freiheit.« Nun ja, man hätte das vielleicht etwas weniger verschlungen ausdrücken können. Doch, unter uns, was wäre damit gewonnen? Auch so versteht man ausgezeichnet: Wir alle, Mitbewohner des als Zivilisation getarnten Kaninchenbaus, der sich täglich aus dem Niederschlag der Angst von Milliarden erneuert, sind Frankensteins Erben. Wir sind es mit heimlichem Schauder. Der Wissenschaftler, nein, der Mann der Wissenschaft auf verbotenen Wegen, vor nichts graut uns verlässlicher. Nebenbei: ein Fall von sexueller Diskriminierung?

Man wird den langen Schatten nicht übersehen, den der Mann von La Mancha über die Szenerie wirft. Gleich ihm könnte der Autor, der sich anschickte, mich zu überzeugen, zu jedem seiner Geschöpfe, wie jener einst zu Sancho Pansa, dem zwiefältigen Erzähler in der Nacht des Schreckens, sagen: »Von deinem Scharfsinn hätte ich mir ja nichts anderes erwarten dürfen, und ich wundere mich auch nicht darüber, denn wahrscheinlich hat dir dieses Stampfen, das kein Ende nehmen will, den Verstand gänzlich verwirrt.« Das Stampfen, dies sei nachgetragen, ist der mechanisierte, unbekümmert um Tag und Nacht abrollende Alltag, auf den sich das methodische Bewusstsein richtet wie ein Zielfernrohr auf die übers Okular spazierende Mücke. Doch gesetzt, er spräche es aus: Was geschähe? Lesen wir. Auf der Stelle, so heißt es, verspürt Sancho Pansa den »Wunsch und Drang« – man beachte die Dopplung –, »zu verrichten, was kein anderer für ihn zu tun vermochte«. Mit anderen Worten: Er lässt seiner Subjektivität freien Lauf.

 

3.

Genug der Theorie. Unser Verfasser geht einen anderen Weg. Es gibt, so scheint er zu denken, nur einen soliden Grund unserer Ängste, unseres Grauens und unserer – noch schlimmeren – Hoffnungen, von dem abzuheben ein Schriftsteller seinen Gestalten nicht gestatten sollte: den einen gemeinsamen Boden des real existierenden Irrealen. Die Aus- und Umgestaltung dieses Bodens – »ground«, sehr hübsch – zu einem Planeten, zu einem suisuffizienten Gebilde, dem entfliehen zu wollen ein nicht sinnvoller Gedanke wäre, da es offenkundig aus nichts anderem als den Fluchtbewegungen seiner Bewohner in jedem Augenblick neu ersteht, ist der Inhalt seines Romans.

Also das Irreale als das Gegebene. Also die beweglichen Objekte der Wünsche, Träume, Hoffnungen, Befürchtungen, Ängste, Drohungen, Flüche, Verwünschungen, in denen das Subjekt sein vagierendes Selbstgefühl auslebt? Das wäre wenig, zu wenig für einen Erzähler, dessen Ehrgeiz sichtlich darin besteht, das Jenseits der Imagination zu bevölkern. Die Gegenwart der Toten beginnt dort, wo das Spiel der Einbildung endet. Die Toten – oder was wir an ihnen besitzen –, das sind die Wesen, vor denen uns graut, weil sie das Grauen hinter sich haben, unsere zutraulichen Antipoden. Ihr Beharren ist unsere Flucht. Das allein gibt ihrem Planeten Konsistenz (»sistieren« – ach was, weiter). Wo wir feststehen, verflüchtigen sie sich. So einfach ist das. Wenn wir uns entgleiten, blicken wir in ihre Gesichter.

 

4.

So einfach ist das. So einfach wäre es, wenn es dabei nicht das eine oder andere zu bedenken gäbe. Naturwissenschaft erfindet Bausteine des Universums und beweist sie aus der Beobachtung ihrer Wirkungen. Sie verstetigt das Flüchtige, indem sie es kontrollierte Verbindungen eingehen lässt. Anders das allgegenwärtige Geschwätz, das seine Substanz an der Auflösung aller Fixierungen hat, am Genuss, der Ideen und ihre Verbindungen als Einfälle traktiert und sie ins Bodenlose entlässt, aus dem sie ihm zufallen. Beide gehören zusammen: Eins rührt ans andere als ans Jenseits der eigenen Imagination. Beide brauchen ihr Jenseits, beide beziehen aus ihm ihre stärksten Effekte: jede Einbildung ist ihre im voraus gewendete Verneinung. Kein Einfall ohne die Toten, keine Hypothese ohne ihre lautlos durchdringende Gegenwart, doch keines, das sie zu Gesicht bekäme, das ihrer ansichtig würde. Nur das Bewusstsein, das vom einen zum anderen fortgeht – obwohl es doch zu etwas hingeht –, passiert den schmalen Spalt der Befremdung, in dem es in sich vergeht, um aus sich herauszutreten in das Gespräch, das bereits in Gang war, und so den Einsatz erst möglich machte, den eigenen Einsatz, zwar nicht den ureigenen, aber der hieße, den Tod zu suchen, um nicht tot zu sein.

Das klingt abstrakt. Das ist abstrakt. Doch in jeder Abstraktion öffnet sich, durch keine Anschauung versehrt, das schlechthin Unbestimmte, das Zwielicht des Ungedankens, aus dem die gedachte Welt als eine mögliche, vorsichtiger ausgedrückt: als eine vielleicht mögliche auftaucht wie – wie? Wie denn auch? Wo die Anschauung schwindet, schwinden die Exempel. Die Reflexion kennt keine Beispiele, jede ernsthafte Reflexion ist beispiellos, agiert abseits von allem, was sich aneinanderschmiegt, zum Vergleich auffordert, und damit abseits des Lebens, das nur in Vorbildern und durch Vorbilder existiert, durch das immer anders Ersehnte, um dessen willen die Wörter miteinander Unzucht treiben. Die Reflexion, das ist das Leben der Toten, ein Huschen zwischen zwei Unbestimmtheiten, die in Wirklichkeit eine sind, ein Segeln nach Gültigkeiten in einem Meer von Gleichgültigkeiten, und damit auch ein Leben. In ihr tummelt sich der Neid der Toten oder er strömt – im geglückten Fall –, als komme nichts gegen ihn an, als sei er in Wahrheit grundlos.

So also nicht. Die Reflexion ist die letzte Maske der Toten – um die Sprache unseres Autors zu sprechen –, die letzte, immerhin. Welches aber wäre die Sprache, die sie als abgewandte zeigt und damit als die, die sie sind? Die Sprache ohne Ehrgeiz? Lesen wir uns ein.

 

5.

»Was uns besonders erstaunte, war die Heiterkeit der Toten, eine tote Heiterkeit, wenn der Ausdruck gestattet ist. Sie lachten wie toll, gebärdeten sich gleich Neugeborenen und wälzten sich in ihren Windeln. Ein spindelbeiniger Alter tat sich besonders hervor, seine Pergamenthaut gab aus tausend Runzeln den prickelnden Anblick des Raumes wider, der sich über ihm spannte, bis sie, nahe der Milz, von ungefähr einriss und Mullbinden aus ihr hervorquollen. Ein Gong ertönte, die Toten formierten sich in einer langen Reihe und bestiegen ein radloses Gefährt, das, für uns deutlich sichtbar, Fahrt aufnahm, während es sich, wie in dem bekannten Kindervers, nicht von der Stelle rührte. Die Toten, ungemein angeregt, wie uns schien, waren jeder mit sich selbst beschäftigt und hielten sich starr aneinander. Manche Gesichter trugen einen abstoßenden Eindruck von Zufriedenheit, der eingeimpft wirkte und wie von leisem Zweifel gewiegt. Doch auch das war im Nu dahin. Entsetzen flammte in ihnen auf, Entsetzen, über das sich ebenso rasch Müdigkeit legte gleich einer schweren Wolldecke, auf deren wechselndem Muster sich alles weitere regte: Gereiztheit, Zorn, Hass, Eifersucht, Gefallsucht, Trotz, ein Reigen unerwiderter Affekte, ein Karussell der nolens volens toten Begierden, ein unangenommenes Dasein, ein Dort- und Fortsein in einem fort. Dabei wanderten die Gesichtszüge nicht, wie man es von Schlafenden kennt, sondern blieben starr, so, als würden sie mit immer rasenderer Geschwindigkeit ausgewechselt; von Zeit zu Zeit, in unregelmäßigen Abständen, zuckten Irrläufer dazwischenhin, für die es kein Gegenstück in der Gefühlswelt gab, es sei denn das Erschrecken des Betrachters, dessen sich ein schier unwiderstehlicher Zwang bemächtigte, sich niederzulegen... Auffallend war die Folgsamkeit, ja Demut der Toten. Kam man ihnen nahe, so neigten sich einem ihre Körper entgegen, obwohl es auch wieder so aussah, als veränderten sie ihre Stellung nicht. Trat man einen Schritt hinter sich, dann war es, als zögen sie sich in eine unbestimmte Ferne zurück. Sobald man sich umdrehte, hüllten sie einen im gleichen Augenblick in einen feinen Leichengeruch, den man wahrnahm, als entströme er dem eigenen Körper. An der Hand gefasst, zeigten sie Regungen der Ungeduld, jedoch ohne sich dem Zugriff zu entziehen. Ließ man sie los...«

 

6.

Ich denke, mit der Passage nichts preiszugeben, was die Gespanntheit des Lesers mindern könnte. Die Schreibart hingegen – soweit sie hier interessiert – liegt offen zutage. Der Text geht von einer paradoxen Vorstellung zur nächsten fort, in einem fort – im Weg der Paradoxie –, ohne anderswo anzukommen als in der nächsten Vorstellung, die, an den beiden Enden des Widerspruchs entfaltet, sich auflöst wie ein leicht gebundenes Tuch. Jeder Satz kommt aus einem Paradox hervor. Ein wenig geziert ließe sich sagen, er schiebt sich aus ihm heraus wie ein Stock, an dem der Autor die weiße Fahne hisst, ohne dass sein Leser die geringste Lust verspürte, der Qual ein Ende zu bereiten. Die Qual ist endlos. Zwischen Leser und Autor liegt sie auf halber Strecke. Da keiner sie aufhebt, bleibt sie niemandes Qual und damit die Qual aller.

Sie ist nicht länger die Nötigung, bei der Sache zu bleiben. Die Sache ist zurückgeglitten; sie war der Vorhang, der die leere Bühne den schläfrigen Blicken des letzten Zuschauers entzog, der nun, aufrecht wie vielleicht niemals zuvor auf seinem Klappstuhl sitzend, den Tanz der Sätze verfolgt, die, kaum den Boden berührend, sich winden, verwerfen – Tanz-Qual der Verwerfung, des Sich-Verwerfens, gesprochene Qual, niemandes Qual. Die letzte Maske gefallen, das letzte Angestrengtsein, das Mitredenwollen der Toten, das Leben des Geistes. Aus der Gedanke, zur Seite gewandert, ins Abseits, ins weltenerfindende Abseits, in dem alles notwendig so und anders und notwendig anders und so ist, obwohl es scheint, als scheine es anders zu sein als es ist, indessen es scheint. Hier scheint nichts, indessen es scheint. Nachrichten über das Innenleben der Toten sind rar, sie sind kaum zu erhalten. Woher auch. Schon dass man sie zu Gesicht bekommt, nimmt wunder.

 

7.

Alles konzentriert sich demnach darauf, wie man sie zu Gesicht bekommt. Die Antwort liegt vor: als Geometrie und Zersetzung. Manchmal hat der Leser den Eindruck, als sei der Erzähler der einzige, der das Buch hindurch gleich unwissend bleibt. Während der Leser nicht anders kann, als von Zeit zu Zeit zu verstehen, das heißt, einen jener Aufschwünge zu nehmen, ohne die er das Buch unausgelesen aus der Hand legen würde, während sich die Toten bald als die Gewitzteren erweisen, die sich ihren Chronisten halten, ihn – wer weiß – am Ende fingieren, bleibt der Chronist derselbe, der er von Anfang an ist, das amphibische Wesen, das, sich fortbewegend, Bewegungen registriert: Effekte, die sich, je länger sie mit immergleicher Akribie beschrieben werden, desto klarer als perspektivische Täuschungen zu erkennen geben, als Erzeugnisse eines umfassenden Perspektivismus ohne Subjekt, denn gerade letzteres ist es, was der Chronist von sich opfert und wohl opfern musste, um den Planeten betreten zu dürfen, auf dem er sich aufhält.

Jeder Schritt reißt eine Flucht in den Raum, geschnitten, durchquert, durchschauert von Kurven, die sich dem Senken eines Fußes, dem Auffahren einer Hand verdanken, verdichtete Zonen und Risse einer unglaublichen Leere schaffend – Durchdringung von Räumen, Seh-, Hör-, Geruchsräumen, in deren Kavernen die Toten sich sammeln, Abfall der Selbstwahrnehmung, Exkrement des Geistes, die ausgeschiedenen Selbste. Dieselben, aus denen der Geist seine Nahrung gezogen hat bis hin zur Ununterscheidbarkeit beider, die sich im nachhinein als drei zu erkennen geben: der Geist, die Nahrung, das Exkrement. Die Scheidung der Stoffe bevölkert die Nichtwelt. Das Ausgeschiedene ist nicht das Unbrauchbare. Es hat seine Brauchbarkeit schon bewiesen, und es beweist sie in einem fort: seine abwesende Anwesenheit, die identisch ist mit unserer, der anderen, anwesenden Abwesenheit, sie unterhält den Sog, den der Geist, unser Geist – wessen sonst? – auf dieses Selbst ausübt. Man mag es Gerechtigkeit nennen oder Hohn oder beides. Es ist das, was geschieht. Sie sind, was wir werden, aber nicht sein werden, und ihre stumme Aufforderung an uns, ihnen zu folgen, der wir willfährig nachgeben, während wir uns noch sträuben, ist voller Augen-Blicke, heimlicher und unheimlicher Momente, in denen wir ein wenig mehr werden, was zu sein man uns – o Sancho! – abschlägt.

 

Das letzte Wort behält der Erzähler. (Briefmarke, rasch; Erbsensuppe – o nein. Ach Sabine.)

 

Notizen für den schweigenden Leser

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