Für N. N.
1.
Oberer kommt im oberpfälzischen Städtchen Weiden zur Welt und geht dort Anfang der sechziger Jahre aufs Gymnasium. Seine Eltern sind Kleinbauern; seine Schulnoten machen Eindruck. Das stille, wohlwollende Lächeln des Deutschlehrers begleitet ihn über die Jahre. Beim Abiturball treffen sie ein letztes Mal aufeinander, reichen sich unvermittelt die Hand zum Abschied. Der weiche Händedruck wirkt wie eine Aufforderung.
Oberer studiert Sprachen. Erst an einer der landeseigenen Hochschulen, später an der Universität einer südwestdeutschen Kleinstadt, deren Ruf täglich von der Wirklichkeit dementiert wird, ohne Einbuße zu erleiden. Er promoviert in Romanistik, plagt sich als Hilfslehrer an einer Privatschule und bewirbt sich schließlich an einer neugegründeten Gesamthochschule im Süden um eine Assistentenstelle, von der er aus der Zeitung erfahren hat.
In einem Sportwagen, den er sich sonst bei Freunden zu leihen pflegt, um seine in die Jahre gekommenen Eltern zu besuchen, fährt er zur Vorstellung. Es ist April, die Landschaft regenverhangen. Er fährt schnell. Die verschlissenen Reifen verlangen Konzentration, er liebt das, es lenkt ihn ab. Als er den Stadtrand erreicht, dunkelt es. Der Regen fließt sintflutartig. Er rollt die Flußpromenade entlang, verliert sich ans Spiel der auf den trüben Fluten tanzenden Lichtreflexe und gleitet unvermittelt in die Empfindung hinein, mit diesem Ort verwandt zu sein, komme, was da wolle. Er betritt das Gebäude der Fakultät, ein zwischen barocken Fassaden aufgespanntes Gewächshaus, zwei Studenten, mürrisches Fleisch in Kapuzenmänteln, schlurfen vorbei, er fragt nach dem Weg. Die Antworten sind karg, die Gesichter verständnislos. Die Tür zu dem Raum, in dem er vorsprechen soll, steht offen; niemand erwartet ihn. Oberer mustert die Stiche an den Wänden und tritt wieder auf den Gang hinaus. Ein schmalbrüstiges Männchen mit zögernder Stimme spricht ihn an; es ist der Professor. Seine grüne Krawatte glänzt, als mißbillige sie den Vorgang.
»Kommen Sie«, flüstert er, sein Adamsapfel tanzt. »Die Fakultät wartet schon.« Oberers Blick ausweichend, halb in Trance, fügt er hinzu: »Wir fällen unsere Entscheidungen hier sehr kollegial.«
Oberer passiert die Flügeltüren des Sitzungszimmers, als schöbe man ihn in einen Operationssaal. Ein älterer Mann mit Glatze – »unser Dekan«, murmelt der Dicke zur Rechten herüber und blinkt den Kandidaten aufmunternd an – erhebt sich federnd und bedeutet ihm förmlich, er möge sich den Anwesenden doch ohne Scheu bekanntmachen: »Wer Sie sind, was Sie machen, uns interessiert alles.« Stockend leistet Oberer Folge. Man lauscht stumm. Er erläutert seine Doktorarbeit. Enthält nicht bereits ihr Titel eine Herausforderung? Der Verdacht kommt ihm, während er redet. Er macht Umstände, holt weiter aus, als nötig wäre, verheddert sich, rechtfertigt mehrfach die These. (Welche? Gibt es eine?) Ihm ist, als greife er in Watte. Sein nächstes Projekt? Er fabelt; die Studentenvertreterin fällt ihm ins Wort. Dunkel begreift er, worum es ihr geht. Lindgrüne Bluse, schwarzer Rock. Mit kontrolliertem Ungestüm schnellt der Dekan vom Sitz, reibt sich das Handgelenk. Er danke, danke dem jungen Kollegen für die anregenden Ausführungen, die sie alle genossen hätten und die gewiß in näherer Zukunft ausgiebiger Diskussion bedürften. Vorderhand jedoch möchte er dem jungen Kollegen eine gute Heimfahrt wünschen und ihn bitten, den Raum jetzt zu verlassen, es sei an der Zeit, zur internen Beratung überzugehen. Man habe einen anstrengenden Sitzungstag hinter sich... Im Hinausgehen notiert Oberer das geronnene Lächeln des Professors, der, halb aufgesprungen, als wolle er ihm nacheilen, in der Pose erstarrt ist, während der Dekan dringlich auf ihn einredet und ringsum geschäftsmäßiges Stühlerücken beginnt.
Er ist verblüfft, als die Wahl auf ihn fällt. In etwa entspricht die Atmosphäre am Institut seinen Erwartungen. Die Studenten mögen ihn, er versteht sich darauf, die Lacher auf seine Seite zu ziehen. Eine Studentin steckt ihm, er könne ungemein anregend selbst über einen Schuhkarton reden; er nimmt es als Kompliment. Er liebt den täglichen Weg ins Seminar, der ein Stück weit am Fluß entlangführt. Nach einem Jahr heiratet er und bekommt Kinder, eine Tochter zuerst, dann einen Sohn.
Der Professor bittet ihn zu sich. Der Vertrag läuft aus, er wird verlängert. Ein halbes Jahr geht dahin; Oberer lebt wieder allein. Ein frisch eingetroffener Gastdozent aus Marseille, einschlägig bekannt durch ein zweibändiges Standardwerk über europäische Trinksitten am Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts und Besitzer einer renovierungsbedürftigen Villa in der Nähe von Arles, hat den Appetit seiner stillen Frau erregt. Begegnungen der drei sind, alles in allem, schwer zu vermeiden: Wo immer Oberer auf das Pärchen trifft, kreist ihr Gespräch um spezielle Hintergründe des antifaschistischen Widerstandes in der Camargue. Mit dem Thema zerrinnt die Beziehung; irgendwann, noch immer mit Oberer verheiratet, verliert sich die mager und unstet Gewordene in einer Frauengruppe, die in der Nähe von Tübingen einen Bauernhof betreibt und sich unter meditativem Gesang von biologisch vollwertigem Kohl ernährt. Die Kinder kommen zu Verwandten, und Oberer gewöhnt sich an, zweimal im Jahr, Ostern und Weihnachten, mit ihnen nach Venedig zu fahren. Die Stadt behagt ihm.
Eine Studentin zieht bei ihm ein – dieselbe, die ihn mit dem Schuhkarton in Verbindung gebracht hat. Es dauert nicht lange, bis er merkt, daß er ihr aus dem Weg geht. Er gerät in Panik, nimmt sich ein Zimmer. Zwei Wochen später treibt es ihn in die leere Wohnung zurück. Der Schreibtisch wirkt ungewohnt, die Manuskripte, unfertig allesamt, verworren. Freunde vermitteln ein Jagdhaus in den Bergen, nahe der Grenze. Er packt Bücher, Schreibmaschine und Manuskripte in den Laderaum seines Kombis, überläßt Nachbarn den Briefkastenschlüssel und macht sich auf den Weg. Es ist Sommer.
Für vier Wochen hat er die Hütte gemietet. Nach vier Tagen ist er zurück. Er stellt den Motor ab, steigt aus dem Wagen und begegnet dem Blick einer Ratte, die sich hurtig umwendet und aus der dämmrigen Garage ins Freie stiebt. Zuhause, lang ist es her, hatte er sich mit einer Ratte im Keller eingeschlossen. Für den Zwölfjährigen war es eine Mutprobe gewesen, sie oder er. Er hatte sie im Kreis herumgetrieben, das vom Jagdfieber grundierte Bild ersteht vor seinen Augen, wie sie verzweifelt versucht, sich durch den bröckelnden Putz einen Weg nach draußen zu bahnen. Unerwartet macht sie kehrt und kommt auf ihn zu. Sie starren sich an. Von Brechreiz geschüttelt, hebt er den Knüppel und schlägt sie tot. Benommen schließt er die Wohnung auf und stellt den Koffer aufs Bett. An diesem Abend telefoniert er mit einem verschollenen Studienfreund aus den Jahren in der südwestdeutschen Kleinstadt, an die er gelegentlich zurückdenkt, als enthalte sie etwas, das ihm abhanden gekommen ist. Der Freund, jetzt Dozent für Forstwirtschaft, scheint, wie die Telefonnummer, ganz der alte zu sein.
Er wohnt seit Jahren allein. Das Haus ist kalt und feucht. Im strömenden Regen laufen sie, gestikulierend wie früher, über die Wiesen. Vom Schreibtisch aus sieht Oberer den grauen Himmel, das fallende Wasser, das an der Fassade des gegenüberstehenden Hauses herunterläuft. Er nimmt mehrere Grogs und wickelt sich in Decken, die der andere ihm bereitwillig hinschiebt. Das Licht der Zimmerlampe zieht seinen Blick an. Provan l’altra vertú, quella che n’cende, denkt er und hat den Vers schon vergessen. Aus den Lautsprechern dringt, ungezügelt, Jazz der frühen Jahre. Der Freund hat sich halb vom Stuhl erhoben und imitiert Miles Davis. Sein rechter Fuß schlägt den Takt. Oberer betrachtet ihn: das gedunsene Gesicht mit den zuckenden Lippen, die gekrümmte, formlose Leibesfülle, die im Rhythmus vergeblicher Strangulierungsversuche an einer imaginären Trompete flatternden Hände, und versteht.
Es wird Morgen; hell wird es nicht. Er steht an der Kasse des winzigen Supermarkts, als er bemerkt, wie zwei Polizisten den Freund zu ihrem diskret geparkten Wagen führen und mit ihm davonfahren. Den erregten Reden der Verkäuferin entnimmt er: Es geht um eine Flasche Whisky. Er verstaut seine Habe und fährt nach Hause.
Der Professor spricht ihn an. Die Anstellung verfällt. Eine Verlängerung gilt, schon aus juristischen Gründen, als ausgeschlossen. Ersatz ist nicht in Sicht. Der Staat spart. Beiläufig berührt man den Stand seiner Arbeit. Sie sitzen in Oberers Zimmer und schütteln sich zum Abschied die Hände.
Fünf Monate später reicht Oberer seine Habilitationsschrift ein. Die Gutachter sind angetan. Die Schrift trägt den Titel: »Zur Syntax der Negativität. Der Gebrauch des Passé simple in der Prosa des Fin de siècle«. Zum Kolloquium erscheint er im offenen Hemd. Er argumentiert souverän, ohne Anzeichen von Nervosität. Die Glückwünsche der älteren Professoren nimmt er mit einem breiten Lächeln entgegen. Man spricht von Kürzungen im kommenden Etat und zerstreut sich.
Das Semester, sein letztes, steht vor dem Abschluß. Er schreibt einen kurzen Brief an den Vater und faltet ihn gedankenverloren. Dann läßt er ihn mit dem Institutsstempel versehen und bestellt ein Taxi.
2.
Oberer war ein kräftiger Mann, breitschultrig, muskulös, mit schwarzem Kraushaar. Er stand vor dem Spiegel und rasierte sich in zeremoniöser Umständlichkeit. Bedächtig rieb er sich das Gesicht ab und betrachtete nachdenklich das linke, etwas hängende Augenlid. Ein Familienmal, eine Laune der Natur. Sein Blick begegnete sich, und eine Erinnerung rührte sich an der Schwelle seines Bewußtseins, ohne sie zu überschreiten. Mit dem Finger fuhr er über eine winzige Schnittwunde unterhalb des linken Ohrläppchens und spürte das leichte Brennen. Wieder traf sich sein Blick im Spiegel. Er sah in die aufgerissenen, starr auf ihn gerichteten Augen der Ratte, die langsam auf ihn zukam. Wir hatten denselben Blick und wußten es nicht, dachte er, eine Benommenheit unterdrückend, und schloß das Badezimmer.
Angekleidet lag er auf dem Sofa, rauchte und starrte an die Decke. Ein Insekt kreiste im Bann seines saugenden Blicks. Nachlässig griff er zur Zeitung und schlug den Kulturteil auf. Eine heftige, von der Redaktion sorgfältig austarierte Fehde für und wider das Subventionstheater erregte flüchtig seine Aufmerksamkeit. Wann war er das letzte Mal im Theater gewesen? Er schloß die Augen und massierte die Schläfen.
Das leise Klappern des Briefkastens schreckte ihn auf. Zwei Briefe in der Hand, trat er ins Arbeitszimmer. Er streifte die Absender, öffnete ein Kuvert und las. Der Brief war kurz, eilig hingeschrieben. Er kam von einem befreundeten Privatdozenten der Philosophie, dem er seit Wochen aus dem Weg ging.
»Lieber Hermann«, stand da, »Schweigen ehrt bekanntlich, doch da ein gelegentliches Lebenszeichen nicht schaden kann, in Kürze dieses. Seit gestern dreiundzwanzig Uhr sechsundvierzig bin ich der Vater eines gesunden und kräftigen Jungen. Nähere Angaben später. Vaterstolz ist das Bewußtsein der Misere, aber positiv. Herzlich etc.«
Oberer riß den zweiten Umschlag auf und setzte sich an den Schreibtisch. Er enthielt den Vertrag über die Publikation seines Buches. Sorgsam entfaltete er ihn, überflog ihn, unterschrieb, überflog ihn abermals und legte ihn zur Seite. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach elf.
Gegen halb zwölf klingelte der Paketbote, ein bärbeißiger Mann, dessen Schritt im Treppenhaus hallte. Er brachte ein längliches, mehrfach verschnürtes und verknotetes Paket. Oberer legte es auf den Schreibtisch und betrachtete es eingehend. Es war an den Enden etwas eingedrückt, unverkennbar, wenn auch ein wenig zittrig, stand die väterliche Schrift auf dem hellbraunen Packpapier. Oberer braute sich einen starken Kaffee, klemmte das Paket unter den Arm und verließ das Haus.
Er parkte den Wagen vor dem Seminareingang. Auf der Treppe begegnete ihm der Professor, ganz vertieft in ein Gespräch mit dem neuen Gast aus den Staaten, der Oberer angestrengt zublinzelte und ein schüchternes Lächeln wagte. Versonnen blickte die Sekretärin hoch, als er eintrat, und erwiderte seinen leutseligen Gruß mit einem kurzen Nicken, ohne den Telefonhörer vom Ohr zu nehmen. Ihre Augen verengten sich, als sie das Paket erblickte, doch da hatte er sich bereits seitlich zur Tür gewandt und ließ sie sachte ins Schloß fallen.
Es war drei Uhr nachmittags. Die Sekretärin trocknete das Kaffeegeschirr und stellte es in den Schrank zurück, warf einen Blick in den Spiegel und klopfte, eine Mappe unter dem Arm, an Oberers Tür. Sie drückte die Klinke nieder und stand im Dunkeln. Reflexhaft griff sie nach dem nächsten Lichtschalter. Der Raum blieb dunkel. Mit energischen Schritten durchquerte sie ihn und zog die Vorhänge auseinander, bevor sie sich umdrehte.
In der Mitte des Raumes kniete, den Kopf leicht angewinkelt und die Hände gespreizt, Oberer und sah sie ruhig aus großen Augen an. Von der Decke hing, an zwei Schnüren befestigt, das Blatt einer Sense. Waagrecht, mit aufgerichteter Schneide, verharrte es im Raum, etwas mehr als einen Meter über dem Boden schwebend. Oberer hatte die Deckenlampe abgenommen, der kräftige, frei sichtbare Haken trug das Arrangement mit Leichtigkeit. Die hier und da etwas brüchig wirkende Schneide zeichnete die schwach gekrümmte Grundlinie eines gleichschenkeligen Dreiecks, dessen Schenkel von den straff gespannten Schnüren gebildet wurden. Oberers Kopf ruhte auf der Schneide, sein mit klaffender Deutlichkeit aufgetrennter Hals unterbrach ihre Kurve im Schwerpunkt der Apparatur, ein wenig neben der Mitte, dort, wo das Eisen am breitesten glänzte. Der Körper abwärts wirkte verbogen, als stünde er unter einer grundlos gewordenen Spannung. Das Blut war an ihm heruntergelaufen, hatte die Kleidung durchtränkt und färbte den Teppich. Im einfallenden Sonnenlicht schimmerte es träge.
Die Sekretärin preßte die Hand auf den Mund, als sich der Schrei in ihr formte. Aus den unteren Stockwerken strömten die Studenten ins Freie, sichtbar, ohne Hast.