1.
Wer über Identität, namentlich europäische, nachdenkt, gerät rasch an die Frage, ob dieses Nachdenken nicht an der Herstellung dessen beteiligt ist, was da erfragt werden soll – eine vielleicht müßige Erwägung angesichts des politischen Horizonts, in dem es sich nolens volens im Zuge der europäischen Einigungsroutinen bewegt. Dieses Nachdenken nimmt ›in der Regel‹ eine bestimmte Form an, es gibt sich nüchtern, häufig wissenschaftsförmig, auf jeden Fall ›objektiv‹, dabei hinreichend skeptisch, um zu verhindern, dass das Feststellen selbst die Unumstößlichkeit des Festgestellten einschlösse. Dies gerade nicht, es wäre nicht angemessen, es wäre nicht europäisch. Ein Schelm, wer angesichts dieses Nachdenkens an etwas dächte, etwa an die ›Andersartigkeit‹ Europas, dessen Wortführer es jahrhundertelang als den nicht festgestellten Erdteil betrachteten, von dem die Aufbrüche ins Neue und Unbekannte auszugehen hatten. Erst als das Kolonialzeitalter zu Ende ging und es an der Zeit schien, die ›Bürde des weißen Mannes‹ auf eine größere Anzahl von Schultern zu verteilen, war es diese Eigenschaft, die eine neuere Anthropologie generös ›dem Menschen‹ als dem nicht festgestellten Tier überließ.
Nachkriegseuropa ist reich an vergleichbaren Gesten. Man könnte sie Gesten einer doppelten Integration nennen: der postkoloniale Kontinent integriert sich in die Welt, es legt, anders als die Vereinigten Staaten von Amerika, großen Wert darauf, als nichts Besonderes zu gelten, jedenfalls nicht als ›andersartig‹, und es legt möglicherweise noch größeren Wert darauf, seine Besonderheit, seine ›Identität‹ in der umfassenden Identifikation mit den anderen zu finden. Diese Verbindung, die Abkehr vom Gedanken der europäischen ›Sendung‹– die von den Kolonialmächten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer als nationale Sendung begriffen wurde – und seine Beibehaltung mit Hilfe der Denkfigur der ›Abkehr‹ zeitigt eine Signatur von Identität, die vermutlich deshalb erfolgreich sein kann, weil sie es erlaubt, die Geschichte des Denkens in Europa integrativ zu behandeln: In gewisser Weise wäre ›Denken‹ in Europa seit der Renaissance nicht anders begriffen worden denn als Restitution des Richtigen oder Wahren durch Abkehr von einem – endlich – durchschauten Irrtum oder einer nicht länger hingenommenen Täuschung. In diesem ›Nicht anders‹ liegt der Gedanke einer Identität Europas über alle Zäsuren, auch die des 20. Jahrhunderts, hinaus. Er ist – für sich genommen – nicht besonders neu, er entstammt dem Arsenal progressiv-liberaler Selbstverständigung im 19. Jahrhundert, die ihrerseits auf die – damals bereits ›historisch‹ gewordene – Epoche der Aufklärung Bezug nimmt. Seine integrative Funktion hingegen ist ihm erst langsam zugewachsen – im Gefolge eher der Revolutionen und ›Kulturbrüche‹ des zwanzigsten als der Erfolgsgeschichte des Bürgertums des neunzehnten Jahrhunderts. Auch die durch realen Machtschwund erzwungene ›Abkehr‹ vom Eurozentrismus wirkt sich darin aus: was man nicht ändern kann, dem darf man zumindest einen guten oder tragischen Sinn abgewinnen. Was sich an und selbst gegen Europa vollzieht, folgt am Ende, so will es der Mechanismus der kulturellen Selbstdeutung, einem europäischen Muster.
2.
Integration, die Wiederherstellung eines vorgängigen Ganzen durch Aufnahme neuer Elemente, besitzt anders als Assimilation, also ›Verähnlichung‹, einen guten Klang: das gilt im sozialen, im politischen wie im wissenschaftlichen Bereich. Die aufzunehmenden Elemente sollen nicht verähnlicht werden, sondern das Ganze verändern, damit es sich unter den veränderten Gegebenheiten zu erhalten vermag. Wie Theorien neu erfunden werden, um neuen Fakten zu entsprechen, so erfindet sich das Gemeinwesen in den Grenzen ererbter Kenntlichkeit neu, wenn der ›Zustrom‹ neuer Mitbürger oder auch, etwa im Fall der erweiterten EU, neuer Staaten dies gelegentlich erforderlich macht. Dass Integration dabei eine restriktive Komponente enthält, steht außer Zweifel, dies gehört nicht nur zum Ritual der ›Aufnahme‹, sondern zur Sache selbst. Andernfalls würde sich der aufnehmende ›Club‹ im Verlauf des Rituals auflösen und damit wäre ersichtlich niemandem gedient. Was auf der Ebene sozialer Gebilde eine gewisse Basisplausibilität besitzt, das enthüllt in Bezug auf ›Denken‹, ›Gedanken‹, ›Ideen‹ einen befremdlichen Zug, der überall dort, wo offen Zensur geübt wird – amtlich oder informell –, allen geläufig ist, die es angeht. Zensur, so ließe sich cum grano salis behaupten, ist das Integrationsmittel schlechthin für das Denken, das immer ein Denken unter anderen bleibt und in dieser unausweichlichen Pluralität jede Verbindlichkeit einzubüßen Gefahr liefe, würde es nicht auf die eine oder andere Weise kontrolliert und diszipliniert. Unter den Bedingungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit ist diese disziplinierende Instanz keineswegs verschwunden. Von denen, welche die ›Sache des Denkens‹ vertreten – Wissenschaftler, Literaten, Pädagogen und Publizisten –, wird sie gern als der zwanglose Zwang der Vernunft apostrophiert, jene ›innere Stimme‹, die Beistimmung heischt, ohne sich in äußeren Instanzen wie einer Zensurbehörde zu manifestieren. Der einzelne Schriftsteller, der für sein Schreiben die Stimme der Vernunft wider die Unvernunft der Zensur oder die Tyrannei der öffentlichen Meinung, der ›herrschenden Lehre‹ etc. in Anspruch nimmt, bedient sich eines machtvollen literarischen Topos, der ihm seitens des Publikums selbst dann Zustimmung sichert, wenn die lesenden Einzelnen in seinen Schriften nur wenig Vernunft zu entdecken vermögen. Plausibel wirkt dieser Topos nur deshalb, weil er einen Mythos des Denkens transportiert, von dem man nicht ohne Hintersinn sagen kann, dass er dem Denken seine Resultate sichert, etwa wie wissenschaftliche Resultate immer auch Resultate der Wissenschaft sind. Wie dieser Mythos entstanden ist, lässt sich beschreiben, besser noch erzählen.
Was dabei ›Denken‹ heißt, geht über das ›rationale‹, wissenschaftsförmige Denken hinaus, es umfasst all die ›Eroberungen‹ des Intellekts, die bewirkt haben und bewirken, dass ›wir sind, wer wir sind‹. Der Ausdruck ›Eroberungen‹ deutet es schon an: in dieser Geschichte, bestimmen die Widerstände Verlauf und Ergebnis – Widerstände zunächst rein äußerlicher, ›realer‹ Natur, die aber zunehmend von dem sich an ihnen formenden Denktypus in sich aufgenommen werden. Wenn wir heute vom ›Prozess‹ des Denkens, der Literatur etc. sprechen, dann ist dieser Ausdruck nicht ganz so unverbindlich, wie es zunächst den Anschein hat.
3.
Denken kommt ohne Kontrolle nicht aus; die Frage ist, wer sie ausübt, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln. Inmitten solcher ›Gegebenheiten‹ kommt es erst zu sich und wird kenntlich, soll heißen präzise, bestimmt, folgenreich. Und natürlich liegt darin ein Problem. So wie der Mythos Sokrates ohne den Schierlingsbecher nicht auskommt, so formt sich das europäische Denken in und am nachgelebten Beispiel von Prozessen – viele davon verlaufen rechtsförmig, darunter die berühmtesten – Sokrates, Jesus, Luther, Bruno, Galilei –, andere sind informeller, manche eher schleichender Natur, und was man, in darwinistischer Terminologie, den kulturellen Selektionsprozess nennt, verdankt sich gewiss keinen genetischen Sprüngen, sondern realen Sanktionierungen, Tabus und Friktionen jedweder Art. Nicht ohne Grund. Die Signatur eines prozesshaften oder prozessförmigen Denkens muss erworben werden, ihr ist die Signatur des Verbrechens inhärent – nicht eines und keines bestimmten, sondern des Verbrechens schlechthin: je ungeheuerlicher die Vorwürfe gegen einen Gedanken oder einen ›Denker‹, umso mächtiger erscheint der Gedanke, und zwar nicht nur in seinen Auswirkungen, sondern als Gedanke – gleichsam als einer der Vornehmen unter seinesgleichen. Vielleicht unterscheidet dies die ›schöne‹, die ›leidenschaftliche‹ Literatur von einem bestimmten Zeitraum an, der vermutlich in der frühen Aufklärung zu suchen wäre, von religiösen und wissenschaftlichen Texten, dass sie aus dem bitterernsten Spiel der Umwertungen nicht nur hervorgeht, sondern es auch zur Schau stellt, so dass das, was wir mit einer Art Verlegenheitsfloskel ›literarische Form‹ nennen, in gewisser Hinsicht die Mit-Überlieferung der Regelverletzung bewirkt. Sie so ansehen heißt, sich auf die Spur jener nicht primär literarischen Vorgänge zu begeben, die stärker als jede ›sachliche‹ Aussicht ihre ›Wirksamkeit‹ verbürgen.
Verbrechen entstehen im Kopf, ›in Gedanken‹: sie reifen dort, nehmen Gestalt und Plan an, bevor sie sich in Taten entäußern – nach diesem Muster ist jedes Verbrechen ein ›Denk‹-Verbrechen. Wo das Wissen um das Verwerfliche oder Verbrecherische der Tat fehlt, wirkt dies nicht nur auf die Beurteilung des Täters, sondern auf die Einschätzung der Tat selbst zurück. Ein Verbrechen ist ›unvollständig‹, wenn es nicht als solches gewusst und gewollt wurde, es rückt in die Nähe des Unfalls, des Unglücks, das den Täter zusammen mit dem Opfer trifft. Das erscheint vernünftig, da auch das Recht nur als gewusstes, also er- und bedachtes existiert. Für den König Ödipus kommt derlei Einsicht immer zu spät. Er erscheint uns als ›Opfer‹ eines archaischen Rechtsverständnisses, das sich der Differenz zwischen Absicht und Tat verschließt. Anders der Autofahrer, der den statistisch fälligen Unfalltod oder die Verkrüppelung seines Mitmenschen mit dem Tritt aufs Gaspedal gleichmütig in Kauf nimmt: in seinem ›Kopf‹– was immer das heißen mag – ist eben jene Differenz zum Freibrief und also absolut geworden. Und auch der umgekehrte Fall ist zu erwägen: das perfekt ersonnene Verbrechen, das aus dem Raum des Denkens nicht heraustritt und daher von Gutmeinenden in den Bereich krankhafter Phantasien verwiesen werden kann, obwohl ihm nichts als der Entschluss und die Gelegenheit zur Ausführung oder auch nur letzteres fehlt. Keine Tat, kein Verbrechen. Was also existiert in diesem Kopf, in dem sich Bewusstsein, Plan und Wille verbinden? Beginnt ein Verbrechen, kommt es zum Abschluss? Wann aber wird es dann zum Verbrechen? Mit dem Eintritt der Tat? In Zeit und Raum? Also nicht in Gedanken? Gibt es demnach kein ›Denkverbrechen‹?
4.
Die Gesinnungspolizei einer ›langen‹ Moderne, heiße sie Inquisition, Zensur oder Öffentlichkeit, weiß es besser: der Protestant gilt als Ketzer und Antichrist (und keilt entsprechend zurück), der Dichter Heine untergräbt aus dem fernen Paris die Grundlagen des preußischen Staates, Marx/Engels zeichnen verantwortlich für den Kulakenmord, Friedrich Nietzsche für eine Brut blonder Totschläger, die auszieht, die Welt von der Moral zu befreien – Bezichtigungen, welche die Toten kalt lassen, nicht aber die Lebenden, also auch die Parteigänger und letztlich alle Infizierten, die von bestimmten Lektüren nicht lassen können und je nach Temperament und Grad der Gefährdung das Lächerliche oder das Unerhörte des Vorwurfs herausstellen. Der Vorwurf aber, er bleibt, und die Verwahrung gegen ihn gehört zu seinem Kalkül: hinter den frommen Traktaten, den witzigen Versen, den ökonomischen Pamphleten und den subtilen Schocks des Kulturkritizismus lauert, sorgfältig verborgen vor den Augen der Gut- oder Leichtgläubigen, der Leser und ›Rezipienten‹, das Menschheitsverbrechen, das, nach dem biblischen Wort, sich zuverlässig an seinen Früchten zeigt. Es handelt sich um eine Weise zu denken, eine ›Schule‹, der zufolge das Verbrechen längst erfolgt ist, ehe die sichtbare Katastrophe eintritt – das wahre Verbrechen lauert hinter der Stirn des Denkenden, der nicht im Traum daran denkt, es unumwunden kundzutun. Seine Schüler und Anhänger, so wäre zu folgern, sind entweder Leichtgläubige oder Komplizen, Menschen, die nichts begreifen oder es aus den Zeichen erraten, die der Meister ihnen zuteil werden lässt, und wissend darüber schweigen.
Ist es wahnhaft, so zu denken? Eine offene Frage. Sicherlich hat es die Struktur des Wahns. Im Einzelfall ist es schwer oder spät, zu spät vielleicht, zu widerlegen. Während eine ›liberal‹ zu nennende Denkschule an dem Grundsatz festhält, dass ohne die Voraussetzung einer direkten Kausalität zwischen persönlichem Handeln und Verbrechen Aufklärung zur Hexenjagd mutiert, tragen gleich nebenan die kleinen und großen Arrangeure öffentlicher Gesinnungs-Treibjagden, darunter skrupulöse und namhafte Gelehrte, keinerlei Scheu, dem politischen Gegner oder unbotmäßig gewordenem Personal rituell mit der Verantwortung für Taten den Mund zu versiegeln, die begangen wurden, als es in den Windeln lag oder noch gar nicht geboren war. Dergleichen geschieht, es geschieht zur selben Zeit inmitten der liberalen, auf Meinungs- und Gesinnungsfreiheit gegründeten Gesellschaft neben- und gelegentlich durcheinander und man darf gegründete Zweifel daran hegen, dass die Träger der einschlägigen Überzeugungen sie bei sich selbst immer auseinanderzuhalten imstande wären, geschweige denn für die Redlichkeit ihrer gelegentlich vernichtenden Urteile einstünden.
5.
Das Thema, das sich hier abzeichnet, kann man so formulieren: Trägt derjenige, der denkt, Verantwortung für das von ihm Er- und Gedachte und wie lässt sich das denken? Darüber ist viel nachgedacht oder sagen wir: nachgegrübelt worden. ›Erstaunlich‹ wäre ein Satz zu nennen, läge darin nicht selbst eine Unwahrhaftigkeit verborgen, der sich bei dem Soziologen Karl Mannheim findet und schlaglichtartig die Situation der von ihm begründeten Wissenssoziologie und vielleicht des Denkens selbst beleuchtet: »Jeder Begriff«, heißt es in Ideologie und Utopie, »stellt eine Art Tabu gegen andere mögliche Sinnquellen dar und vereinfacht und vereinheitlicht um des Handelns willen die Mannigfaltigkeit des Lebens.« ›Eine Art Tabu‹– also ein Tabu oder kein Tabu?– Man weiß es nicht und soll es nicht wissen, bereits das ist ›eine Art Tabu‹, die das Denken umgibt. Und was, bitte, sind ›andere mögliche Sinnquellen‹? Doch zunächst einmal Begriffe? Wir zögern aber, wo die Übergänglichkeit der Begriffe, das ›Weiterdenken‹ der Gedanken unter Verdacht oder gar Strafe gestellt wird, von ›Denken‹ zu reden und empfinden es so, dass dort das Denken selbst unter Verdacht und Strafe steht: es mutiert in solchen Systemen zum ›Verbrechen‹. Das Tabu, das der Begriff als solcher darstellt – jeder Begriff, der Begriff als Begriff – steht also in enger Verbindung mit der (am Ende doch nur relativen) Stabilität, die er beansprucht. Im Begriff verlangsamt sich das Denken (um des ›Handelns‹ willen, wenn wir Mannheim folgen), es gewinnt Festigkeit, Stabilität, also Eigenschaften, die es benötigt, um als Handlungsgrundlage zu dienen und wegzuführen von der Unzuverlässigkeit instinkthaften und irrationalen Handelns. Denn das ist die andere Seite der Distinktion: Begriffe wehren nicht nur Begriffe ab, sondern, als ›andere mögliche Sinnquellen‹, Eingebungen der ungewissen Art, in denen Sprache und Denken eine eher nachgeordnete Rolle spielen. Die Antwort auf die gestellte Frage hieße aus dieser Sicht: Selbstverständlich trägt derjenige, der denkt, Verantwortung für das Er- und Gedachte, gleichgültig, ob es von ihm nur ge- oder auch erdacht wurde, denn Denken heißt – sub specie des Handelns – Verantwortung erzeugen und folglich auch übernehmen.
6.
Wer denkt (in welchen Anwandlungen auch immer), steht demnach vor einem schier unauflöslichen Dilemma: nur das rudimentäre, auf Routinen zurückgeworfene Denken erreicht jenen Grad der Verantwortung, der Verlässlichkeit heißt, wenn darunter die strikte Anwendung der immergleichen Regeln und Überlegungen gemeint ist. Das Denken im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, in der Permanenz seiner Überschreitungen, also als intellektueller Prozess, verstößt nicht nur gegen ein gesellschaftliches Tabu, sondern auch gegen eines, das in ihm selbst angelegt ist – jedenfalls dann, wenn man es sub specie des Handelns betrachtet, was am Ende nichts anderes bedeutet als: sub specie der denkenden Person und ihrer Gruppe – und, natürlich, der Mannheimschen Distinktion. Die Geschichte des Denkens – insbesondere im nachmittelalterlichen Europa – ist oft als eine Folge von Tabuverletzungen beschrieben worden, die für ihre Akteure gelegentlich tödlich ausgingen, jedenfalls von Friktionen aller möglichen Art begleitet war. Sigmund Freud hat dem im Gedanken der drei großen Kränkungen, welche das wissenschaftliche Denken in Gestalt der kopernikanischen, der darwinistischen und schließlich der psychoanalytischen Wende der Menschheit zugefügt habe, einen tiefenpsychologischen Unterbau zu verschaffen versucht: nicht diffuse Verstehensschwierigkeiten oder sachliche Einwände, sondern der gekränkte Narzissmus der Menschheit steht der Bereitschaft zur Aufnahme des Neuen entgegen.
Neben solcher Eigen-Apologetik beeindruckt die Genauigkeit im Ungenauen, die Mannheim bei der Formel »eine Art Tabu« stehen bleiben lässt, die wohl ›etwas in der Art eines Tabus‹ besagt und nicht etwa ›eine Sonderform des Tabus‹ meint. Etwas in der Art eines Tabus ist also im Denken wirksam – kein Wunder, da auch das Tabu etwas, wie auch immer, Erdachtes ist. Damit nicht genug: Wendet man sich der geläufigen Formel vom ›intellektuellen‹ oder ›wissenschaftlichen Prozess‹ zu, so lässt der Verdacht sich nicht von der Hand weisen, dass sie ihre Beliebtheit nicht nur dem darin liegenden ›Procedere‹, sondern auch dem juristischen ›Prozess‹ verdankt, der darin anklingt: wie die Formel vom Tabu, so zehrt auch diese von einem ›etwas in der Art‹. Und es kann – im Sinne unserer Eingangs-Überlegungen – gut sein, dass in beiden Fällen regionale Vorkommnisse oder Gegebenheiten in der Geschichte ›des Denkens‹ mit paradigmatischer Bedeutung für den Vorgang im Ganzen ausgezeichnet werden, um ihn überhaupt ›irgendwie‹ zu qualifizieren und auf die eigene Lage zuzuspitzen.
7.
Das angeblich auf dem Wormser Reichstag von 1521 gesprochene, historisch nicht verbürgte Wort Martin Luthers, »Hier stehe ich und kann nicht anders«, ist vermutlich auch sein bekanntestes. Es wäre gut zu erfahren, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen es aufkam. Seine Popularität hängt ›ideenpolitisch‹ mit dem gut hundert Jahre jüngeren Prozess zusammen, der Galilei in Rom gemacht wurde und bekanntlich mit einem Widerruf Galileis endete. Ging es im einen Fall ›letztlich‹ um die Autorität des Bibelwortes, so im Fall Galileis um die des instrumentengestützten Augenscheins, der die von der Kirche zu einem ›bloß hypothetischen‹ Dasein verdammte kopernikanische Lehre rechtfertigen und begründen hilft. Dieses ›letztlich‹ aber enthält bereits Elemente des Mythos: die ›freie‹ Bibel-Auslegung und die ›freie‹ Erforschung der physikalisch-astronomischen Welt sind die gedeuteten Resultate des ›historischen‹ Prozesses, in dem die beiden von der Heiligen Inquisition angestrengten juristischen Verfahren ihren realen und symbolischen Ort besitzen. Erst zusammengenommen umreißen die ›unbeugsame‹ Haltung Luthers und die ›geschmeidige‹ Haltung Galileis die Dimension, in der sich der historische Prozess vollzieht. Letzterer geht über seine Protagonisten hinweg, er ist ›größer‹ als das, was ihnen widerfährt. In Brechts Leben des Galilei wird das Dilemma der beiden entgegengesetzten Haltungen unauflöslich: die Wissenschaft hat Zeit, nicht jedoch das Volk. Aus dieser popularisierenden Fassung ist aber das Problem entwichen, denn natürlich hilft keine Zeit der Welt einer Wissenschaft, die gar nicht erst in Gang kommt. Der Satz, den Luther verbürgtermaßen nach seinem Wormser Auftritt gesprochen hat, »Ich bin hindurch«, könnte hingegen von beiden Protagonisten stammen. Er führt auf die richtigere Spur: erst das Wissen, das ›hindurch‹ ist – dessen Träger den eliminatorischen Kräften erfolgreich getrotzt haben –, wird, unter dem Aspekt der Formierung der auf dynamische Wissenszuwächse gründenden Moderne, wirkliches, berufbares Wissen. Was Luthers und Galileis Auftritt unterscheidet, gerade dies verbindet sie auch miteinander: die Entkräftung der Autoritäten, welche im Falle Galilei die Institution des Eides erreicht – hier ist jene in der Frühaufklärung, bei Hobbes oder Shaftesbury, so stark akzentuierte Trennung des Innen und Außen bereits erfolgreich praktiziert und die Inquisition, so gefährlich sie für den Einzelnen sein mag, gilt faktisch wenig mehr als der Zoll, den es unter dem Gesichtspunkt eines ›privaten‹ Interesses zu überlisten gilt. Diese Entkräftung ist unwiederholbar und sie schreitet voran, aber der Vorgang ist nicht entbehrlich, wie der Fall des Aufklärungsphilosophen Christian Thomasius zeigt, der es zu Beginn des 18. Jahrhunderts wagen kann, dem inquisitorischen Prozesswesen am Beispiel der Hexenprozesse seinerseits den ›Prozess‹ zu machen: in De crimine magiae (1701) verwirft er den Gedanken des Teufelspakts aus Vernunftgründen. Dieser Prozess findet bereits vor dem Richterstuhl der Öffentlichkeit statt und die progressive Philosophie fordert in der Rolle des Anklägers die staatliche und kirchliche Autorität in die Schranken – eine historische Gründungstat ersten Ranges und eine der vehementesten Widerlegungen der kurrenten Behauptung, die Philosophie sei zu nichts nütze.
8.
Der Prozess gegen die Wissenschaft erzeugt die Wissenschaft als Prozess: so lässt sich das Ergebnis einer Reihe frühneuzeitlicher Inquisitionsprozesse zusammenfassen, zu denen man den des Renaissance-Philosophen Giordano Bruno, der 1500 in Rom verbrannt wurde, ebenso hinzuzählen muss wie die Hexenprozesse, deren dämonologische Prämisse schließlich von einer selbstbewusst agierenden Wissenschaft als vernunftfeindlich und daher nicht tolerabel ›entlarvt‹ wird. Vom religiös gebundenen Überzeugungen-Haben (Luther) über Galileis Verweigerung der Märtyrer-Rolle im Dienste der empirischen Wissenschaft bis hin zu Thomasius’ Scheidung des von Anklägern und Opfern geteilten Aberglaubens einerseits und legitimer Anklagepunkte andererseits, auf denen ein modernes, vernunft- und wissenschaftskonformes Verfahren zu beruhen habe, bildet sich das Modell eines Wissens heraus, dessen Elemente im aktiven ›Sich-Überzeugen‹ des Einzelnen, im Vertrauen auf den Fortgang der Wissensakkumulation und der Durchsetzungskraft des jeweils akkumulierten Wissens unabhängig vom Bekennermut des Einzelnen und schließlich im Nicht-Gelten-Lassen ungeprüfter Annahmen und Auffassungen auch und gerade dann, wenn sie die gängige Praxis gesellschaftlicher Institutionen fundieren. Keine dieser Einstellungen bleibt auf ein spezifisches Glaubens- oder Wissensgebiet oder auf ›die Wissenschaft‹ beschränkt: zusammen bilden sie so etwas wie den Kanon der Welterschließung in einer wissenschaftsfundierten Kultur, und es ist nicht zuletzt die als ›schöne Literatur‹ verstandene Dichtung, die sie transportiert und über die jeweiligen Wissens- und Handlungsfelder hinaus universalisiert.
Zwischen dem siebzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert differenziert sich das Modell: nach- und nebeneinander erscheint ›Denken‹ unter dem Rubrum der Fehde, des Duells, der Tabuverletzung und des öffentlich zu verhandelnden ›Falls‹. Nun sind einander ›befehdende‹ Autoren nichts Neues: sie sind, wenn man die Schreibfeder oder das jeweilige Schreibgerät als ›Waffe‹ versteht, überall dort die Regel, wo um Überzeugungen in Schriftform ›gerungen‹ und ›gestritten‹ wird. Wie stark in der Frühaufklärung dieses Moment des literarischen Lebens ausgeprägt ist, davon gibt die Vorrede zu Swifts Battel fought last Friday Between the Antient and the Modern Books in St. James’s Library (1710) auch dem heutigen Leser noch einen lebhaften Eindruck: »Da nun kein Ende der Kontroverse abzusehen war, griffen ... die Bücher in der Königlichen Bibliothek, die sich als die Hauptbeteiligten betrachteten, den Streit auf und trugen unter sich eine entscheidende Schlacht aus; allein da das Manuskript durch Unbill des Schicksals oder des Wetters an mehreren Stellen Schäden aufweist, können wir nicht feststellen, welcher Seite der Sieg zufiel.«
Auch in dieser Schlacht stehen Rechtsansprüche gegeneinander:
Der Streit entbrannte ursprünglich (wie mir jemand versichert hat, der in jener Gegend schon lange ansässig ist) um einen kleinen Flecken Land auf einem der beiden Gipfel des Parnasses, deren größter und höchster offenbar seit unvordenklichen Zeiten das unangefochtene Besitztum gewisser Pächter, der sogenannten Alten, war, während der andere von den Modernen eingenommen wurde. Als diesen aber ihre gegenwärtige Stellung nicht mehr behagte, schickten sie eine Abordnung zu den Alten, um über einen argen Mißstand Klage zu führen, nämlich daß die Höhe jenes Teiles des Parnasses ihnen die Aussicht, besonders nach Osten hin, gänzlich versperre, und zur Vermeidung eines Krieges stellten sie ihnen zwei Wege zur Wahl: Entweder die Alten zogen gefälligst mit ihren Siebensachen auf die tiefer gelegene Kuppe um, welche ihnen die Modernen gnädig abtreten wollten, um an ihre Stelle aufzurücken, oder aber besagte Alte gestatteten den Modernen, mit Hacken und Schaufeln anzurücken und besagten Berg so weit abzutragen, wie es ihnen zweckdienlich dünke. Worauf die Alten zur Antwort gaben, einer solchen Botschaft hätten sie sich von einer Kolonie schwerlich versehen, deren Gründung in so unmittelbarer Nachbarschaft nur ihrem Entgegenkommen zu danken wäre. Was ihren eigenen Wohnsitz anbelange, so sei es ihre Urheimat, und ihnen von Umzug oder Preisgabe zu reden, sei folglich eine Sprache, die sie nicht verständen. Wenn die Höhe des Berges auf ihrer Seite den Modernen die Aussicht einenge, so sei das ein Nachteil, dem sie nicht abhelfen könnten; sie gäben ihnen jedoch zu bedenken, ob dieser Schade (sofern es überhaupt einer sei) nicht reichlich aufgewogen werde durch den Schutz und Schatten, den ihnen ihr Gipfel gewähre. Der Vorschlag, ihn abzutragen oder wegzuschaufeln, stamme entweder aus Torheit oder aus Unkenntnis, je nachdem ob sie wüßten oder nicht wüßten, daß diese Seite des Berges gewachsener Fels sei, an dem ihre Werkzeuge und ihr Mut zerbrechen würden, ohne ihm selber den geringsten Schaden zuzufügen. Sie rieten daher den Modernen, sie möchten doch, anstatt davon zu träumen, den Gipfel der Alten niederzureißen, lieber ihren eigenen erhöhen, wozu sie ihnen nicht nur Erlaubnis, sondern auch tatkräftige Hilfe gewähren würden. All das wurde von den Modernen höchst entrüstet zurückgewiesen, und da sie weiterhin auf einer der beiden Lösungen bestanden, führte dieser Zwist zu einem langen und verbissenen Krieg [...]. Nun muß man dazu wissen, daß Tinte der wirksamste Kampfstoff in allen Schlachten der Gelehrten ist, der vermittels eines ballistischen Geräts, das man Federkiel nennt, ans Ziel gebracht wird, wovon die Recken beider Seiten ungeheure Mengen mit der gleichen Kunst und Kraft gegen den Feind schleudern, als handele es sich um ein Treffen von Stachelschweinen. Diese bösartige Flüssigkeit wurde von ihren Erfinder aus zwei Ingredienzen zusammengesetzt, nämlich aus Galle und aus Vitriol, deren Bitterkeit und Giftigkeit dem Kampfgeist der Streitenden einigermaßen entsprechen und ihn anfachen sollte.
Die unvermindert bis ins achtzehnte Jahrhundert ausgefochtene ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ bietet das Musterbeispiel einer theoretisch fundierten, prozesshaften Auseinandersetzung über die Vorzüge eines auf auctoritas, also das unverrückbare Vorbild der ›Alten‹, gründenden und eines auf Perfektibilität, also die allmähliche Ausbildung und Vervollkommung von Kenntnissen und Fertigkeiten über jedes historische Vorbild hinaus abgestellten Selbstverständnisses. Der ›Rechtstitel‹, um den man streitet, besteht im ›richtigen‹ Verständnis der eigenen Produktion, und der ›Krieg‹, wie Swift ihn nennt, endet mit dem ›Sieg‹ der ›Modernen‹ im Hinblick auf den technisch-zivilisatorischen Prozess auf der einen und der Bestätigung der ästhetischen Superiorität der ›Alten‹, die erst im 19. Jahrhundert erneut in Frage gestellt wird, auf der anderen Seite. Gegen Ende der Auseinandersetzung haben sich beide Positionen verändert, aus dem Prozess gegen das Denken (der anderen Seite) ist ein Prozess des Denkens geworden – was den Streit nicht aufhebt, ihm aber eine andere Dimension verleiht.
9.
Die Literaturfehden des 18. Jahrhunderts finden unter den Augen einer interessierten Lese-Öffentlichkeit statt, die gleichzeitig mit Stoff über die Protagonisten versorgt wird, der suggeriert, dass die wahren Motive der Auseinandersetzung erst hinter den Kulissen sichtbar werden. Der freien Erwägung der Gedanken stehen also scheinbar handfeste Gründe gegenüber, aus denen die Geister aneinander geraten. Dies ist zunächst eine Verunglimpfung, die man dem Gegner zuteil werden lässt und deren Ziel darin besteht, den Gegner moralisch zu diskreditieren, um seinen Argumenten die Spitze zu nehmen. Die universell gewordene Praxis der Unterstellung von ›Machenschaften‹ kommt aber, genau betrachtet, beiden Parteien zugute: sie immunisiert (bei immer noch hohem persönlichem Risiko der Autoren, ihr individuelles Glück, soll heißen: ihre persönliche Existenz zu ›verscherzen‹) den literarischen Streit gegen die Einmischung staatlicher Autoritäten, die kaum noch eine Chance besitzen, glaubwürdig als Sachwalter unantastbarer ›Prinzipien‹ aufzutreten, an deren Spitze nach wie vor die Glaubensartikel der Religion stehen, dicht gefolgt von der sakral gedeuteten Herrscherwürde. Jede Intervention seitens der Staatsgewalt (Zensur, Bücherverbrennung, gerichtliche oder außergerichtliche Verfolgung von Autoren) steht sofort unter dem Verdacht der Intrige: aufmerksam kommentiert man Zeitpunkt, Umstände und Personenkonstellationen, um aus ihnen auf das zu schließen, was ›wirklich‹ vorgeht und durch öffentliche Bekundungen nur vernebelt und vorangetrieben wird. Nur naive Zeitgenossen halten erstere für kontingente Begleitumstände von Verfahren, in denen es in Wahrheit um die in den Anklageschriften formulierten Tatbestände geht – die Publikation verbrecherischer Gedanken.
Just diese offizielle ›Wahrheit‹ wurde rund hundert Jahre vorher aus den Urteilen vertrieben – jedenfalls können sich alle, die an ihr zweifeln, auf eine Autorität stützen, deren Schriften im ›Jahrhundert der Vernunft‹ nicht nur in der Encyclopédie Diderots und D’Alemberts einen starken Nachhall finden. In seiner programmatischen Abhandlung Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften von 1605 rät Francis Bacon, lieber die Kirchengeschichte als die Geschichte der Dogmen zu studieren: »Denn wir halten dafür, daß die Werke eines heiligen Augustins, oder Ambrosius, zur Berufs=Klugheit eines Bischofs oder Theologens nicht so viel beitragen können, als eine mit Fleiß studierte und wohlverdaute Kirchenhistorie.« Für diese wiederum gilt die Regel aller ›bürgerlichen‹ Historie, dass die verdächtigsten, von Neid und Missgunst gezeichneten Darstellungen zugleich die verlässlichsten sind, weil sie »der Wahrheit ... unter den Extremen einen gewißen Weg öffnen und bahnen«. Derselbe Bacon gibt sich davon überzeugt, dass die Satire ein »ächteres Bildniß des menschlichen Lebens« bietet als die Geschichte der öffentlichen Verlautbarungen.
An die Stelle der direkten Auseinandersetzung zwischen den Instanzen der Macht (bzw. der ihr dienstbaren Rechtspflege) und denen des ›Neuen‹ tritt also, jedenfalls tendenziell, die indirekte, in der Literaten mit analogen Ansprüchen auf Originalität der Gedanken, der Gedankenführung oder zumindest der ›Einkleidung‹, der geistvollen Verpackung als Protagonisten verschiedener Lager auf dem Papier gegeneinander antreten, um ›das Publikum‹ für sich einzunehmen, während sich ›die Macht‹, vornehm oder nicht, mehr oder weniger im Hintergrund hält. Wie der Adlige seine Vorrechte aus der Bereitschaft ableitet, für seinen Namen und seinen Ruf jederzeit mit dem Leben einzutreten, so leitet der Literat sein ›Recht‹ auf die Freiheit des gedruckten Wortes aus der nicht nur historisch verbürgten Bereitschaft ab, dafür notfalls ›in die Bastille‹ zu gehen, sich ausweisen oder mit Stockschlägen traktieren zu lassen.
Und nicht nur das: die literarische Satisfaktionsfähigkeit des Schriftstellers gebietet es, einer angetragenen Auseinandersetzung keineswegs auszuweichen, sondern sie nach allen Regeln literarischer Polemik zu führen. Die paradoxe Implikation besteht darin, dass man zwar das Ansehen eines Gegners zu zerstören trachtet, ihm aber im gleichen Zug nach eigener Überzeugung als Gegner zu Ruf und Nachruhm verhilft. Andererseits kann die Wahl eines bereits etablierten und im Urteil der Öffentlichkeit überlegenen Gegners bei einigem Glück das eigene Ansehen nur befördern – nach einer Regel, die noch Nietzsche in Ecce homo (1888) für die erste seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen in Anspruch nimmt: »Niemand hat bisher mit mir Händel gesucht. Man schweigt, man behandelt mich in Deutschland mit einer düstern Vorsicht: ich habe seit Jahren von einer unbedingten Redefreiheit Gebrauch gemacht, zu der Niemand heute, am wenigsten »im Reich«, die Hand frei genug hat. Mein Paradies ist ›unter dem Schatten meines Schwertes‹ ... Im Grunde hatte ich eine Maxime Stendhals prakticirt: er räth an, seinen Eintritt in die Gesellschaft mit einem Duell zu machen. Und wie ich mir meinen Gegner gewählt hatte! Den ersten deutschen Freigeist!«
10.
Nietzsches Gegner hieß David Strauss – seither das Inbild des deutschen Bildungsphilisters. Der prominenteste Gegner Rousseaus hieß Voltaire (der ›erste Freigeist‹ seines Zeitalters!) und überstand die Attacke in wesentlich besserer Verfassung als der Angreifer, der beileibe kein Debütant mehr war, als er den öffentlichen Schlagabtausch suchte. Die öffentlich ausgetragene Feindschaft kann als prototypisch gelten, insofern Voltaire und Rousseau dem gleichen Lager der ›Philosophen‹ (der ›Freigeister‹) angehören – was sie nicht daran hindert, die tiefe Kluft zu markieren, die sie nicht nur zwischen ihren Auffassungen hinsichtlich der Natur des Menschen, sondern auch hinsichtlich der menschlichen Natur ihres Gegenspielers bemerken zu müssen glauben. Der Nietzsche des Ecce homo bedient sich also eines verbürgten Schemas, um seine Ausgangslage zu kommentieren, und sucht dazu den Schulterschluss mit den einschlägigen Protagonisten des 18. Jahrhunderts. Dieser Schulterschluss aber gilt der Rolle, nicht den Inhalten, denn für ihn gilt wie für jene zu ihrer Zeit, dass nur das Neue, als dessen Träger sie sich exponieren, die Rolle rechtfertigt: »In der That, eine ganz neue Art Freigeisterei kam damit zum ersten Ausdruck: bis heute ist mir Nichts fremder und unverwandter als die ganze europäische und amerikanische Species von ›libres penseurs‹. Mit ihnen als unverbesserlichen Flachköpfen und Hanswürsten der ›modernen Ideen‹ befinde ich mich sogar in einem tieferen Zwiespalt als mit Irgendwem von ihren Gegnern.«
Erst der Rekurs auf ein Denken, dem der Prozess gemacht wurde, rechtfertigt das Duell: Verfolger und Verfolgter sind in ihm eins. Wenn Nietzsche den Prozess gegen die ›modernen Ideen‹ (von ihrer Anlage her noch immer die der Aufklärung) wieder aufzunehmen behauptet, dann nicht im Namen der alten Autoritäten – nichts läge ihm ferner. Das Neue ist der Feind des Neuen, das neue Denken erfährt an sich – was nichts anderes heißt als in seiner konkreten Ausgestaltung – die Feindseligkeit eines Denkens, das neu war zu seiner Zeit, und erneuert so im Gewand des zeitgenössischen Duells der Geister die alte Fehde.
In einer – zumindest in ihren aristokratischen Teilen – waffentragenden Gesellschaft hat dies auffällige Intellektuellen-Verhalten weitreichende soziale Implikationen. Das Duell ist eine illegitime Form von Rechtshändeln, die von der Obrigkeit geduldet (sogar versteckt gefördert) und zugleich unterdrückt wird. Im Idealfall der Aufmerksamkeit, die von den Duellgegnern gesucht wird, nimmt die Obrigkeit das Geschehen wahr (und zeichnet den Sieger an unverfänglicher Stelle aus), ohne es zu bemerken, das heißt die – streng genommen – fälligen rechtlichen Konsequenzen zu vollstrecken. Die ›Macht‹ ist der ewige Dritte in den Streitereien der Intellektuellen, dessen Aufmerksamkeit erst die (geborgte) Macht des Geistes verleiht. Die ewig unerreichte Idealform der intellektuellen Auseinandersetzung wäre die, bei der ›die Macht‹ am Ende den Sieger auszeichnet, ohne dass die Waffengleichheit von vornherein durch ihre drohende (und bedrohliche) Mit-Anwesenheit aufgehoben wäre. Heine hat (vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung von ›Nazarenern‹ und ›Epikuräern‹) im Romanzero eine solche Szene in die Form einer mittelalterlichen Disputation zwischen Vertretern der jüdischen und der christlichen Religion gesetzt und ihr einen bedenkenswerten Schluss gegeben:
»›Sagt mir, was ist Eure Meinung?
Wer hat recht von diesen beiden?
Wollt Ihr für den Rabbi Euch
Oder für den Mönch entscheiden?‹
Doña Blanka schaut ihn an,
Und wie sinnend ihre Hände
Mit verschränkten Fingern drückt sie
An die Stirn und spricht am Ende:
›Welcher recht hat, weiß ich nicht –
Doch es will mich schier bedünken,
Daß der Rabbi und der Mönch,
Daß sie alle beide stinken.‹«
Das ist zweifellos ein Modell der Vermittlung von ›Geist‹ und ›Macht‹, obzwar nicht das erfolgreichste. Wenn Voltaire in einen bald freundschaftlichen, bald rivalisierenden Ideen- und Projekte-Austausch mit dem Preußenkönig Friedrich II. eintritt, entsteht jene Ambivalenz von Nähe und Distanz, die nicht nur von den Zeitgenossen als ungewöhnlich bewertet wird: der Herrscher erhebt Anspruch auf den Titel eines ›Philosophen‹ und tritt damit in eines der typischen Konkurrenzverhältnisse ein, in denen sich philosophische resp. wissenschaftliche Konzeptionen zu entwickeln pflegen. Das heißt aber nicht, dass er auf die Vorrechte der Majestät Verzicht leistet. Die Ambivalenz des Verhältnisses sorgt dafür, dass das Spiel für die eine Seite, die des Schriftstellers, der über keine Gendarmen und keine Bataillone verfügt, gefährlich bleibt, sobald sie eine gewisse Distanz unterschreitet, erlegt aber beiden Seiten gewisse Restriktionen auf. Zumindest seinen Ruf kann der König bei krassem Fehlverhalten verlieren. Damit folgt das Verhältnis der Logik der Ausnahme: ›Voltaire verhaftet man nicht.‹ (Friedrich tut’s dennoch.) Diese Weise, das Verhältnis zu stellen, überdauert den Wechsel der Regime und Regierungsformen: man findet sie wieder zwischen Sartre und der französischen Staatsmacht unter de Gaulle oder zwischen Brecht und der ›Partei‹ der DDR – um nur zwei neuere Beispiele zu nennen.
Dass Francis Bacon, Lord-Siegelbewahrer und Ratgeber der englischen Krone, in diesem Punkt nicht als Vorbild für seine gelehrigsten Schüler taugt, liegt auch daran, dass seine politische Karriere die Dynamik intellektueller Abläufe in dem von ihm projektierten Zeitalter der Vermehrung des Wissens und der Wissenschaften nur unvollkommen repräsentiert. Wenn seine Aussage stimmt, dass nicht die Autorität einzelner Schriftsteller, sondern die Zeit als Gebärerin der Wahrheit zu gelten habe, dann ist es ebenso richtig, dass nicht das Verstreichen der Zeit als solcher, sondern der spannungs- und druckreiche Gang wirklicher Auseinandersetzungen in den und um die Wissenschaften die Dynamisierung des Wissens erzeugt, die er im Blick hat. Dass es in niemandes Macht steht, diese Dynamisierung an den Grenzen ›realer‹ Machtverhältnisse stillzustellen, gehört zur Sache. Nach Ancien Régime und Jakobinerherrschaft gelangt in der Person Napoleons ein ›Usurpator‹ zur Herrscherwürde, dessen ›Rechtsanspruch‹ auf die Führung des Staates zwar aus der Macht der Gewehrläufe stammt, aber in seiner Begründung denjenigen ähnelt, mit denen bis dahin Intellektuelle aufwarteten: die Durchsetzung der neuen Herrschaft geschieht unter Berufung auf Ideen, an deren Realisierung seine unmittelbaren Vorgänger gescheitert sind, mit Hilfe eines überlegenen Machtkalküls, innerhalb dessen die Expansion, die stetige Erneuerung des revolutionären ›Rechtsanspruchs‹ an den bereits erreichten Grenzen den selbstzerstörerischen Elan der Radikalisierung, sprich: der permanenten Revision des bereits Erreichten, kanalisiert und nach außen ableitet.
›Äußerer‹ und ›innerer‹ Usurpator stehen sich gegenüber: das Beharren des Intellektuellen gegenüber dem ›Gewaltherrscher‹ auf ›älteren‹ und ›legitimeren‹ Rechten und Prinzipien, das im politischen Katholizismus Chateaubriands eine frühe Ausprägung findet, zieht sich durch die Intellektuellengeschichte des 19. wie des frühen 20. Jahrhunderts: zur legitimsten Erscheinungsform des Intellektuellen in postrevolutionären Zeitläufen gerät die des Lagerbewohners und Emigranten.
11.
Dass ein einzelner Denker ›den Mächten‹ den Krieg erklärt, behält einen metaphorischen Beigeschmack auch dort, wo das Gewicht der Sache, um die ›gekämpft‹ wird, auf keine Weise zu leugnen ist. Wo dieser Beigeschmack fehlt, wird es rasch pathologisch: das ist der ›Fall‹ jener Briefentwürfe, in denen der weithin unbeachtete philosophische Schriftsteller Nietzsche dem Haus Hohenzollern den Krieg erklärt: »Indem ich dich vernichte Hohenzollern, vernichte ich die Lüge«. Wenn diese Fragmente Wahnvorstellungen entfalten – woran nicht zu zweifeln ist –, dann bündelt sich in ihnen auch ein Jahrhundert ›wahnhaften‹ Ich-Sagens, in dem die Intellektuellen-Rolle geformt und kodifiziert wurde für Auseinandersetzungen, die nicht länger nur im Bereich ›des Geistes‹ spielen, sondern mit wachsender Deutlichkeit den Begriff des ›Geistes‹ selbst diskreditieren.
Was daran ›wahnhaft‹, was ›realistisch‹ genannt werden kann, bemisst sich am Einzelfall und, nüchtern betrachtet, am Zufall, der darüber entscheidet, welche ›Stimme‹ gehört wird und welche ungehört verhallt. Das »J’accuse!«, mit welchem der Schriftsteller Zola im Januar 1898, neun Jahre nach den hochverratsverdächtigen Kritzeleien des Turiner Philosophen, den Präsidenten der Französischen Republik auffordert, die Revision des im Dreyfus-Prozess ergangenen Urteils zu betreiben, findet sich als Aufmacher auf der Titelseite einer großen Tageszeitung (L’Aurore vom 13. Januar 1898) – das sichert ihm Aufmerksamkeit, verbürgt aber nicht per se den Erfolg der Aktion. Dantons selbstbezogene und erfolglose Verteidigungsrede vor dem Revolutionstribunal, in Büchners Drama zur Abrechnung des Subjekts mit der Revolution schlechthin gesteigert, Nietzsches vor den Augen der Öffentlichkeit verborgenes, seltsam unsinnig erscheinendes Turiner Treiben und Zolas erfolgreiches Pamphlet, in dem sich wenigstens drei folgende Schriftstellergenerationen wiedererkannten, liegen auf einer Linie und zeigen die Spannbreite eines Entwurfs, der von der Herausforderung durch das Subjekt lebt und vermöge dieser Herausforderung öffentliche Kräfte zu konzentrieren und zu lenken imstande ist – im Ausnahmefall, der jede Art von Nachahmungstätern anregt. Das Überschreiten der Schamgrenze, die den Einzelnen davon abhält, sich als isoliertes Subjekt dem Kollektiv gegenüber in die Position des ›Sehenden‹ und ›Bekennenden‹ zu begeben (mit Rousseau als historischem Vorbild) und damit in gewisser Weise ›Verrat‹ an ihm zu begehen (das Thema des ›Europäers‹ Romain Rolland im ersten Weltkrieg) – aus diesem subjektiven Stoff resultiert die Entdeckung des Ungesagten als nie versiegender Quelle intellektueller Revisionen seitens der Renegaten der ideologischen Massenbewegungen im 20. Jahrhundert.
12.
Es scheint, dass die Inszenierung des Denkens, soll heißen die öffentlichkeits- bzw. medienwirksame Aufbereitung von Erkenntnissen, Überzeugungen und Entwürfen oder ›Visionen‹ in Politik, Wissenschaft, Literatur, Kunst oder anderen Bereichen der Gesellschaft, die ›wir‹– die diffuse Gruppe all derer, die innerhalb der massendemokratischen Gesellschaft in irgendeiner Form durch das Wissenschaftsparadigma ›geprägt‹ sind – als gängig, zeitgenössisch oder ›typisch‹ empfinden, an der Gesamtheit dieser Muster in unterschiedlichen Kombinationen und Mischungsverhältnissen partizipiert. Um den Gedanken zuzuspitzen: es scheint, dass sich das, was wir im konzeptionellen Bereich als originelle, bereichernde, vorwärtsweisende Leistung empfinden, von uns deshalb als solche ›akzeptiert‹ wird, weil es uns über Phraseologien, über Inszenierungen, über Wertungs- und Beurteilungsmechanismen nahegebracht wird, die auf jenen mehr oder weniger phantasiebildenden, durch historische und zeitgenössische Beispiele abgesicherten Mustern beruhen und auf sie, direkt oder indirekt, auch Bezug nehmen. Selbstverständlich werden auch die historischen Figuren immer wieder sub specie dieses zeitgenössischen Amalgams hervorgekramt und aufbereitet, damit man sich das alles richtig vorstellen kann: selbst eine unter geisteskriminologischen Aspekten eher harmlose kulturhistorische Konstellation wie die zwischen den Komponisten Salieri und Mozart mutiert da unverhofft (und mit offenbar nachhaltiger Wirkung) zu Duell, inquisitorischem Treiben, Tabubruch und ›exemplarischem Fall‹, wenn erst einmal die Unterhaltungsliteratur und schließlich ein populäres Medium wie der Film sich ihrer angenommen hat. Wie lagen die Dinge zwischen Goethe und Lenz, wie zwischen Brecht und ›seinen‹ Frauen? Das ist der Stoff, angesichts dessen die ›Nachwelt‹ ins Grübeln kommt. Wenn gelegentlich das Privatleben zeitgenössischer Prominenz aus den sogenannten ›schöpferischen Berufen‹ gnadenlos durch den Kakao gezogen wird, dann vielleicht deshalb, weil in solchen zuviel Prominenz und zuwenig Schöpferisches sich miteinander verbindet und ein Ausweichen aufs lebenspraktische Element erzwingt. Dem sei, wie es wolle: sub specie dieser Mechanismen ist vielleicht Raskolnikow der Prototyp des ersten denkenden Menschen, dessen Publikumserfolg sich weniger dem Schritt aus der Literatur ins Lebens als dem In-Serie-Gehen all der Einstellungen, Überschreitungen und Ernüchterungen verdankt, die Dostojewski schon in so hohem Maß gegenwärtig waren.
13.
Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurden – nicht Intellektuelle, nein, nachdenkliche, differenziert denkende, das menschliche Wissen, ihren Alltag, ihren ästhetischen Sinn bereichernde Menschen inmitten der Gesellschaften, denen sie ihre Existenz verdankten und verpflichtet glaubten, gejagt, gequält, gemordet, wie es in dieser Form und Offenheit vorher nicht vorstellbar erschien. Das hat dem überschreitenden, dem ›schöpferischen‹ Denken einen Nimbus eingetragen, der sich von älteren ›Genie‹-Vorstellungen deutlich unterscheidet. Auschwitz, der Gulag grundieren auch die geistige Tätigkeit und verleihen den Figuren des Emigranten, des Migranten, der Pendler zwischen den Gesellschaften und Kulturen, die sehr reale Existenzen führen und deren Zahlen steigen, einen Nimbus, der danach verlangt, immer wieder abgerufen, das heißt in Form universell applizierbarer gesellschaftlicher Leitbilder verankert zu werden. Demgegenüber behauptet sich in der liberalen Gesellschaft das Verlangen nach Identität, nach gelebter Eigenart, nach – sagen wir es ruhig: Abgrenzung, es behauptet sich nicht gegen jene universalisierende Leitbildkultur, sondern in ihr, es bildet dieses Amalgam aus Naivität, Routine und Täuschung, in dem sich die Wahrnehmung geistiger Tätigkeit und ihrer Resultate nach dem Muster intellektueller Verbrechensbekämpfung vollzieht. Es ist das Feld der öffentlichen Rituale, die den Minuten- oder Tagesruhm erzeugen und zuverlässig ›die da oben‹ des Betriebs von jenen trennen, denen just die gleichen Äußerungen das Genick brechen, mit denen die Helden reüssieren. Ein gutes Beispiel für dieses performativ-mediale Gesamtkunstwerk bietet Martin Walsers vieldiskutierte Rede über die »Auschwitz«-Keule, die angebliche Vernichtung der Erinnerung durch die mediale Allpräsenz eines Gedenkemblems. Es erstaunt noch immer, mit welcher Leichtigkeit der Schriftsteller an einer Stelle Punkte sammeln konnte, an der einige Jahre zuvor ein auch nicht Unbedarfter des Medienspektakels, der damalige Bundestagspräsident Jenninger, politisch und persönlich scheiterte. Das Beispiel ist vielleicht banal, aber nicht beliebig, es zeigt den Graben, der heutige Intellektuellenbilder von denen des 19. und vor allem des beginnenden 20. Jahrhunderts trennt: jene 1945 nicht überall in Europa zum Stillstand gekommene Knochenmühle, die man nicht nur in Deutschland summarisch und keineswegs zudeckend ›die Vergangenheit‹ nennt.
14.
Die napoleonischen und prometheischen Selbstbilder des neunzehnten Jahrhunderts gehen unter in den Revolutionen, denen sie vorangehen. Seltsamerweise zeigt sich am Scharnier Freud, also dort, wo die Ikonologien des Lichtbringers und des Tabubrechers sich kreuzen und ineinander verhaken, bereits etwas vom Prestige- und Kompetenzverlust der Berufsintellektuellen – seltsamerweise, wenn man das weltumspannende Prestige, das Freud und die Psychoanalyse über Jahrzehnte gewinnen konnten, im Blick hat. Freuds Rede von den ›Widerständen‹, die sich der Annahme der psychoanalytischen Theorie in der Öffentlichkeit und bei den Berufskollegen entgegenstellen, mag einer gewissen beruflichen und historischen Ungeduld entspringen, der Griff ins Arsenal der eigenen Theorie naheliegen – die Karriere der Denkfigur hingegen in Zwischen- und Nachkriegszeit lässt zurückschließen auf den prekären Status geistiger Arbeit in Gesellschaften, in denen Gewalt und Gewaltprävention weithin an die Stelle von Sitte und Religion getreten sind. ›Das Undenkbare denken‹ als Beruf ist keine kleine Aufgabe, man darf aber nicht den Fehler begehen, sie für allzu groß zu halten: Wer bereit ist, mit dem bereit liegenden Instrumentarium zu arbeiten und die damit verbundenen Risiken einzugehen, dem werden vermutlich immer wieder entsprechende Erfolge unterlaufen. Wenn man Nobelpreisträger ist und Günter Grass heißt, dann fällt das naturgemäß ein wenig leichter: dann genügt am Ende auch eine simpel gestrickte Story um einen untergegangenen Flüchtlingstransporter des Zweiten Weltkriegs und einen E-Mail-Krieg zwischen ein paar aus dem Ruder gelaufenen Schülerfiguren, um die just zu diesem Zeitpunkt angeblich notwendige öffentliche Debatte um das ›letzte deutsche Tabu-Thema‹, Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs, anzustoßen. – Hingegen verdankt das deutsche Publikum der öffentlichen Inszenierung um Peter Sloterdijks Vortrag Regeln für den Menschenpark die Variante, dass ein Denker sich seines Verbrechens – eine Debatte angestoßen zu haben, an der keiner interessiert war und die auch kaum einer der Beteiligten verstand – nicht nur öffentlich schuldig bekennt, sondern das Verfahren gleich mit beschreibt, in dem es für ihn darauf ankam, den Großdenker (Habermas), der das Vergehen unvorsichtigerweise dem großen Publikum zur Anzeige gebracht hatte, nicht mehr aus der Polemik herauszulassen, um, nun, sagen wir ... seine Popularität auf die eigene Person umzulenken. Nach diesem – eigentlichen – ›Verbrechen‹ wurde es wieder etwas stiller um den herausgeforderten Herausforderer und seine gentechnologischen Visionen. Im modernen Staat sind Denkverbrechen Majestätsdelikte; wo die Majestäten schwinden, mehren sich die Versuche, den verbleibenden etwas anzuhängen, damit man noch etwas davon hat. Das kann auch schiefgehen.