Wie arm ist doch der Mensch! dachte er in seinem Herzen, wie hässlich, wie röchelnd, wie voll verborgener Scham!
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra

 

1. Das anthropologische Dilemma

Der verschleierte Blick: das Votum der Sinne

Der verschleierte Blick fokussiert nicht, er zerstreut.

Der verschleierte Blick zerstreut, d.h. er ist aktiv. Er ist nicht das passive Resultat einer mentalen Zerstreutheit oder Abwesenheit. Er ist gerichtet und präzise. Er schafft ›Undeutlichkeit‹ (mangelnde Deutlichkeit oder Deutsamkeit).

Der verschleierte Blick erzeugt disiecta membra anstelle der klar erkennbaren Sache.

 

Sehen und Gesehenwerden: Sprechende Gesten

Was der andere nicht sehen soll, das verhüllt man.

Was man selbst nicht sehen will, das schafft man sich ›aus dem Auge‹.

Was man selbst nicht sehen soll, das zerstreut man.

Aufklärung assoziiert Nacktheit mit Trieberfüllung (›Lust‹), Verhüllung mit Triebverzicht (›Abstinenz‹).

Der zerstreuende Blick schafft ›unschuldige‹ Zeichen, deren Ausdeutung anderen überlassen bleibt.

Der zerstreuende Blick verwischt die Grenze zwischen dem Nackten und dem Verhüllten.

Der zerstreuende Blick sakralisiert (›schlägt das Zeichen des Kreuzes‹).

Die Ethnologie hat den Nachweis zu führen versucht, dass das sehende Nichtsehen, also der verschleierte Blick, als Begleiter und Ausdruck von Scham zu den anthropologischen Konstanten zählt.

Scham wäre demnach: sehendes Nichtsehen.

 

Die verlorene und die wiedergefundene Sprache

Scham spricht nicht. Sie beschweigt. Aus diesem Beschweigen entspringt der Doppelsinn ethischer Rede. Wer urteilt, verletzt die Scham und vollstreckt sie.

 Die besprochene Scham ist nicht die empfundene. Darin besteht das Dilemma.

Scham bedeutet: ich schließe mich aus.

›Ich schäme mich‹ bedeutet: ich kehre zurück in die Gemeinschaft der Schamlosen.

Soll heißen: Scham ist ein sprechender Widerspruch.

Was heißt: ›Scham bedeutet‹? Was bedeutet sie mir (dem, der sich schämt)?

Sie bedeutet mir viel, fast alles. Ich will, dass sie ›weggeht‹. Wie geht Scham weg? Sie geht weg, wie ein Schmerz weggeht, organisch.

›Ich vergehe vor Scham‹ heißt: Ich kann zusammen mit meiner Scham nicht bestehen. Ich bestehe aber, so wie sie ›besteht‹. Was folgt daraus? Scham ist ein Ich-Indikator. Was da vergehen möchte, es meldet sich.

Scham ›beweist nichts‹. Sie gilt jedoch als Beweis.

Wer sich schämt, fühlt sich schuldig. Aber: Ist es Schuld, die sich im Gefühl der Schuld meldet?

Die archaische Deutung sagt: In der Scham meldet sich die Schuld. Die Schuld verrät den Schuldigen.

Scham ist kein Schuldbeweis.

Wer nicht spricht, kann nicht widersprechen. Sein Schweigen ›zeugt gegen ihn‹.

Man schämt sich für … etwas, das geschehen ist. Ist das, was geschehen ist, eine Tat? Die Tat dessen, der sich schämt? Nicht unbedingt, jedenfalls nicht zwangsläufig. Vielleicht handelt es sich um die Tat eines anderen, der mir nahesteht. Ich schäme mich für den anderen. Warum? Hätte ich ihn an der Tat hindern müssen? Vielleicht. Aber: Ist es eine realistische Option? Mag sein, mag nicht sein. Wenn nicht: wäre nicht auch das ein Auslöser von Scham? Dass ich es nicht verhindern konnte?

Wer sich schämt, fühlt sich nackt. Sich nackt fühlen, was ist das? Eine Metapher? Offensichtlich nicht. Was hat ein Gefühl, das auf die Schaustellung des Geschlechts geht, mit Schuld zu schaffen?

 

2. Das ethische Dilemma

Der Begriff der Schande

Schande ist ein Wahrheitsgefühl, basierend auf dem ›Erkannt-Sein‹.

Jemand empfindet Schande, wie er Scham empfindet. Was ist gleich, was anders?
Die Scham ist ›in mir‹, die Schande ist ›in der Welt‹. Ich empfinde Schande als etwas Externes, sie ist bei den Anderen.

Was bedeutet das praktisch? Scham isoliert, Schande separiert. Das Wort ›Scham‹ bezeichnet eine Schwelle (das Vergehen vor Scham vergeht, es lässt sich nicht festhalten), ›Schande‹ einen End-Zustand.

»Die Wahrheit bezahlt nicht.« (Paul Mersmann)

Das Zutagetreten der Wahrheit begleicht keine Schuld.

Schande ist das Zutagetreten der Wahrheit als Schuld.

Das Zutagetreten der Wahrheit in der Schande ist kein Beweis, sondern eine soziale Tatsache. Schande ist ein Gemeinschaftsreflex.

Ihr dingliches Gegenstück ist der Pranger.

Ausdruck: ›Schande über sich bringen, über die Seinen, über die Gemeinschaft‹.

Über die Gemeinschaft hinaus existiert Schande nicht. Daraus folgt: Schande ist ein Gemeinschafts-Indikator.

Die Gemeinschaft selbst ist scham-los.

Schande muss ›gesühnt‹ werden. Sie kann oder darf aber nicht gesühnt werden, darin liegt das Problem. In der Schande wartet das Opfer.

 

Sekundäre Schuld

  1. Sekundäre Schuld ist die Schuld, ›es‹ nicht verhindert zu haben (Schuld durch Unterlassung).
  2. Sekundäre Schuld ist die Schuld, ›es‹ nicht verhindert zu haben, obwohl man es hätte verhindern können.
  3. Sekundäre Schuld ist die Schuld, ›es‹ nicht verhindert zu haben, auch wenn man es nicht hätte verhindern können.
  4. Sekundäre Schuld ist die Schuld, ›es‹ nicht verhindert zu haben, auch wenn es nicht in den eigenen Lebenszusammenhang fällt.
  5. Zu unterscheiden ist zwischen rechtlicher, moralischer, moralisch-ästhetischer (kultureller) Schuld.

 

Der ethische Zirkel: Schuld ohne Scham, Scham ohne Schuld

Scham ist ein transitorisches Gefühl. Eine Verpflichtung, Scham zu empfinden oder gar auf Dauer zu stellen, kann es daher, streng genommen, nicht geben. Es gibt aber Schamerwartung.

 

Schamerwartung

  1. Scham kann gedeutet werden als Naivitätszeichen.
  2. Scham kann gedeutet werden als Charakterzeichen.
  3. Scham kann gedeutet werden als Schuldzeichen.

 

Direkte vs. indirekte Schambekundung

Scham ›zeigt sich‹, d.h. sie ist an Symptomen ablesbar. Diese Art der Schambekundung ist spontan und subjektiv zweck-los. Sie gilt ›grundsätzlich‹ – d.h. soweit kein übergeordnetes Wahrnehmungsmuster interveniert – als authentisch.

Die verbale Bekundung von Scham hingegen ist arbiträr und subjektiv zweckbestimmt. Sie gilt ›grundsätzlich‹ als bezweifelbar (siehe oben).

 

Schamfallen

Falle 1

A ist schuld.
B und C erinnern ihn daran.
A fühlt sich schuldig.
B und C sind zufrieden.

 

Falle 2

A ist sich keiner Schuld bewusst.
B und C mokieren sich über ihn.
A empfindet Scham.
B und C sind zufrieden.

 

Falle 3

A empfindet Scham.
B und C zweifeln dies an.
A empfindet Wut.
B und C zeigen ihre Unzufriedenheit.
A fühlt sich ausgegrenzt.

 

Falle 4

A, B und C empfinden Scham.
A und B bringen ihre Scham zum Ausdruck.
C äußert sich zufrieden.
A und B fühlen sich gedemütigt.

 

Falle 5

A, B und C empfinden Scham.
B und C bringen ihre Scham zum Ausdruck.
A bezweifelt Echtheit.
B und C verbergen ihre Scham.
A triumphiert.

 

Falle 6

A, B und C empfinden keine Scham.
A verlangt, dass B und C Scham bekunden.
B bekundet Scham.
C greift A an.
A und B verlangen Maßnahmen gegen C.

 

Erpressbarkeit, Selbsterpressung und gute Führung

Man sieht: es gibt einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Erpressbarkeit, Selbsterpressung und guter Führung. Hergestellt wird dieser Zusammenhang durch die Ambivalenz der ›Zeichen‹ zwischen Expressivität und Verbalität. Als authentisch gilt der unwillkürliche, als beliebig bis heuchlerisch der verbale Ausdruck von Scham. Doch lässt sich diese Wertigkeit entsprechend der jeweiligen Interessenlage umkehren, und zwar nach Belieben (›wie es beliebt‹).

Weiterhin: alles, was als unwillkürlicher Ausdruck von Scham gilt, kann auch anders gedeutet werden bzw. andere Ursachen haben. So wird, wer seine Scham gründlich zu verbergen weiß, leicht für schamlos gehalten, während nichts dagegen spräche, dasselbe Verhalten als Anzeichen für die Stärke der Emotion zu deuten – vorausgesetzt, man wüsste auf anderen Wegen von ihr und wäre redlich genug, dies so zu bekunden.

Die Beispiele zeigen: Scham lässt sich induzieren. Die an den Einzelnen ergehende soziale Forderung, Scham zu empfinden, obwohl die Gründe dafür unklar bleiben oder nicht zu eruieren sind, kann Schamempfindungen auslösen, die, eine zynische Einstellung der Umgebung vorausgesetzt, sich nach Belieben ausbeuten lassen. Dort, wo kein individueller Schuldzusammenhang besteht, wirkt die Schamforderung als Schulderpressung: die Schuld verliert ihren ethischen Charakter und wird zur disponiblen sozialen Größe. Dabei werden Dynamiken in Gang gesetzt, die schwer beherrschbar sind, weil das Spiel mit der Scham nicht nur polyvalent, sondern auch induktiv ist, soll heißen, seine Opfer auf allen Seiten fordert.

 

3. Das soziale Dilemma

Selbstausschluss und Wiederannäherung

Wer sich schämt, schließt sich aus. Scham umschließt den Einzelnen, sie verschließt ihn. Der Selbstausschluss wirkt spontan als Vereinzelung oder ›Alleinstellung‹ des Einzelnen durch sich selbst: man lässt ihn besser allein, wie es heißt. Das bedeutet, die Abwesenheit des oder der Anderen wird, und zwar von beiden Seiten, spontan als Erleichterung empfunden. Diese Erleichterung wiederum ist ebenso transitorisch wie das Gefühl der Scham selbst. Genauer gesagt: sie ist eine Episode innerhalb des Verlaufs der Scham. Die reale Abwesenheit des Anderen erzeugt die Gegenwart eines Dritten als schamfordernder Instanz: Selbst, Gott, Gemeinschaft.

In dieser Konstellation ist Scham unausdenkbar. Sie verliert sich in sich selbst, soll heißen, sie ist ganz und gar dieser psychische Prozess, eine Art stiller Raserei, die sich ihren Gegenstand – den Gegenstand der Scham – gewissermaßen erschämt. Wer Barockromane kennt, kennt auch die Topologie der Vorhaltungen, die den Gegenstand der Scham im Einzelnen hervorbringen. Die individuelle Schuldfrage, sollte sie sich je gestellt haben, ist jetzt obsolet. An ihre Stelle tritt ›Schamarbeit‹ – die Erarbeitung des Gegenstands der Scham, das heißt des Vorstellungskomplexes, mittels dessen sie sich perpetuiert, man kann auch sagen: literarisiert, sofern der Betroffene, in guter autobiographischer Tradition, sich schreibend mit seiner Situation ›auseinandersetzt‹.

Es liegt auf der Hand, dass diese Auseinandersetzung keinesfalls als Selbstrechtfertigung gedeutet werden darf. Jede Spur von entdeckter Selbstrechtfertigung entwertet die bereits geleistete Auseinandersetzung und zwingt zum erneuten Durchlaufen des Zyklus. Wie die ›rein‹ eingesehene Schuld den Täter mit der Strafe versöhnt, so versöhnt der ›rein‹ reproduzierte Schamgegenstand den Beschämten mit der Konstellation der Scham: er sieht ein, dass er sich schämen muss. Damit stellt er eine – zunächst imaginäre – neue Gemeinschaft mit der Gruppe her, vor der sich zu schämen er nie aufgehört hat. Natürlich genügt diese neue Gemeinschaft sich nicht selbst, sie möchte erprobt, erlebt, im sozialen Umgang erfahren werden. Die Wiederannäherung an die Gruppe geschieht also auf der Grundlage der Scham. Das Schambekenntnis gehört ebenso zu ihr wie die kommunikative Schaustellung des Schamgegenstandes.

 

Wie funktionieren Stigmata?

Die Wiederannäherung des Beschämten verschafft der Gruppe einen zweifachen Vorteil: sie kann wieder bzw. weiterhin auf ihn als einen der ihren zählen und sie kann nach Belieben auf seinen Makel zurückkommen, um ihn dadurch etwa zu Sonderleistungen zu veranlassen oder aus bestimmten Bereichen des Gruppenlebens auszuschließen. Das gelingt deshalb, weil die geleistete Scham als Grundlage der Wiederannäherung vom Beschämten ebenso wenig in Abrede gestellt wie für beendet erklärt werden darf. Eine solche Deklaration wäre ein Akt der Schamlosigkeit und würde unmittelbar den gesamten Zyklus aufs Neue auslösen, woran keiner Seite gelegen sein kann. Sollte also der Beschämte einseitig ein Ende der Scham verkünden, so würde er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Gruppe spalten – in die Mehrheitsposition derer, die nichts gehört haben, und die Minderheitsposition derer, die empört auf seinen erneuten Ausschluss dringen. Aber natürlich kann auch die allgemeine Empörung über ihm zusammenschlagen – mit absehbaren Folgen.

Umgekehrt behält die Gruppe sich vor, auf die Schamforderung zurückzukommen, sooft es ihr beliebt oder sie sich einen Vorteil davon verspricht. Gegenüber der Schamforderung des Kollektivs bedeutet die geleistete Scham keinerlei Schutz. Nicht nur, dass sie jederzeit in Abrede gestellt werden kann (s.o. ›Direkte vs. indirekte Schambekundung‹) – der Erfolg der Schamarbeit misst sich gerade daran, dass der Schamgegenstand vom Beschämten jederzeit ›rein‹, das heißt ohne Widerstand reproduziert werden kann. Der Beschämte trägt also einen Makel, der von der Gemeinschaft nach Belieben jederzeit zum Verschwinden und wieder zum Vorschein gebracht werden kann.

 

Inklusion durch Exklusion: Gezeichnete

Bleiben wir beim Makel. Betrachtet man zum Beispiel Familien als Zweckverbünde, dann liegen die Vorteile einer gesellschaftlichen Stigmatisierung auf der Hand. Sie ermöglicht es, Kontrolle über solche Verbünde zu erlangen, das heißt eine gewisse asymmetrische Disponibilität von Leistungen und Gegenleistungen zu erreichen. Dazu bedarf es nur einer Voraussetzung: der Makel muss übertragbar, also sozial disponibel sein. Der Mechanismus der Scham arbeitet dem Makel vor: nichts gelingt leichter, als sich eines Angehörigen oder allgemein einer Person zu schämen, zu der ein emotionales Nahverhältnis besteht. Das trifft nicht nur auf den familiären Bereich zu, sondern, mit unterschiedlicher Intensität, generell auf Träger gesellschaftlicher Identitäten, z. B. Firmen. Auch Staat und Nation sind geeignete Kandidaten.

Deutlicher als am Einzelnen lässt sich an juristischen und symbolischen Personen erkennen, dass der durch den Makel bewirkte Ausschluss eine besondere Form des Einschlusses darstellt und keineswegs eine definitive Verstoßung. Nur der Aufwand, mit dem man zu gleichen Ergebnissen kommt, erhöht sich signifikant. Bei Firmen mag das im schlichtesten Fall zur Erhöhung des Werbeetats führen, bei Nationen zu einem regen Kulturleben, bei Staaten zu einem ungewöhnlichen Ringen um Anerkennung, das sich etwa in erhöhten Sportausgaben oder bestimmten humanitären Engagements niederschlägt. Aber es kann auch an vielen anderen Stellen sichtbar werden. Das betreffende Kollektivsubjekt wird dadurch im besten Fall für die Gesellschaft oder die Weltgemeinschaft nützlicher, d.h. wertvoller, vorausgesetzt, der Makel verschwindet nicht, sondern wird sorgsam gepflegt und kommuniziert. Dass dies auch ein enormes Potential für Fehlsteuerungen birgt, liegt auf der Hand.

Scham über abstrakte Entitäten wie Familie, Firma, Nation zu transportieren erscheint deshalb so verlockend, weil das personale Band zwischen Schamanlass und Schambereitschaft in diesem Fall nicht oder nur in Ausnahmefällen existiert. Wie der Alltag lehrt, kann bereits eine sogenannte ›falsche Äußerung‹ eines Einzelnen dazu führen, dass der dem Stigma unterliegende Personenkreis, also etwa die Angehörigen einer Firma oder einer Partei, das Stigmatisierungsverhältnis intern reproduziert: aus dem Mit-Leidenden wird auf diese Weise im Handumdrehen ein sekundärer ›Täter‹, also jemand, dem in Ermangelung einer schamwerten Tat vorgeworfen wird, die Glaubwürdigkeit der Firma ›verletzt‹ und damit gegen die Regeln der Schambewirtschaftung verstoßen zu haben. Daraus können wiederum innerhalb der Gruppe Ächtungen hervorgehen, falls der Einzelne nicht etwa in die Schamgemeinschaft zurückkehrt, sondern Verbündete um sich schart.

 

Lesarten der Opfer-Täter-Relation

Man darf nicht vergessen, dass abstrakte Entitäten wie ›die Firma‹ oder ›die Nation‹ weder Bewusstsein noch Schamgefühl entfalten können. Das Empfinden von Scham setzt in jedem Fall die komplexe Relation von Gemeinschaft, Individuum und Gemeinschaftssymbol (oder -name) voraus. Der Einzelne trägt für den guten Namen der Gemeinschaft ›Verantwortung‹ – auch und gerade dann, wenn an diesem Namen ein Makel haftet. Sofern dieser Makel auf einem Fehlhandeln der Gemeinschaft in der Vergangenheit beruht, trägt der Gemeinschaftsangehörige also Verantwortung für vergangenes Gemeinschaftshandeln. Genauer: er muss sich seiner Verantwortung für die Gemeinschaft in Beziehung auf ihr vergangenes Fehlhandeln stellen – zum Beispiel durch die Herstellung von Sonderbeziehungen zu den Opfern jenes vergangenen Fehlhandelns oder durch symbolisches Reden und Handeln, das einen dauerhaften Bezug zu ihm (und den Opfern) herstellt.

Zwei Sachverhalte fallen dabei ins Auge.

1. ›Gemeinschaft‹ ist, wie fest auch immer die Bindungen der Gemeinschaftsglieder an die jeweilige soziale Entität sein mögen, eine bestimmte Interpretation der Relation von Gruppe und Gruppenmitglied und nicht diese Relation selbst. Gemeinschaft konstituiert sich durch symbolische Akte der Einschwörung, die bei einzelnen Gruppenmitgliedern durchaus auf Ablehnung und Widerstand stoßen können. Ob die ›Firma‹ oder die ›Nation‹ vom Einzelnen als Gemeinschaft interpretiert wird, ob sie überhaupt als Gemeinschaft interpretiert werden kann, darf mit Gründen bezweifelt werden. ›Gemeinschaft‹ ist eine Krisenvokabel, die Einschwörung auf sie dient in der Regel der Abwehr einer kollektiven Notlage.

2. Innerhalb der Gemeinschaft verschwimmt die Opfer-Täter-Relation. Wer Verantwortung übernimmt, übernimmt damit einen Teil der Schuld, er reiht sich in die Gruppe der Täter ein und identifiziert sich selbst damit als Täter. Gleichzeitig zwingt er die Gruppe, ihre Täterschaft anzuerkennen, das heißt, er erzeugt durch sein Bekenntnis ein Kollektiv von Tätern, und zwar unabhängig davon, wer die ›wirklichen Täter‹ sind oder waren. Er vertritt daher innerhalb der Gruppe die Opferperspektive, auf die Gefahr hin, von Mitgliedern der Gruppe angefeindet und auf dem Weg von Gruppensanktionen selbst zum Opfer gemacht zu werden. Dieser Aspekt ist bemerkenswert, denn er bedeutet, dass der Täter-Opfer-Zyklus durch Schambekenntnisse außerhalb individuell feststellbarer Schuldverhältnisse beliebig perpetuiert werden kann, wobei selbst die Generation keine absolute Grenze darstellt.

 

Multidimensionalität und Tabu

In gewisser Weise tritt der stellvertretend Bekennende auch gegenüber der eigenen Gruppe als Täter in Erscheinung. Der kollektive Tatvorwurf erfährt durch ihn eine Bestätigung von innen. Eine solche Bestätigung wird nicht ohne Grund gefürchtet. Sie wirkt nach außen als Authentisierung des Stigmas. Physische Stigmata werden von außen, soziale Stigmata werden von innen beglaubigt. Der Bekenner verändert daher sowohl die Außen- wie die Binnenrelationen der Gruppe. Er verändert aber auch die eigene Position durch Polarisierung. Je nach Betrachtungsweise figuriert er künftig als Verräter und Held, ohne dass die jeweilige Perspektive eindeutig der Innen- bzw. Außenwahrnehmung zugeschlagen werden könnte.

Angesichts der Taten eines Ganovenkleeblatts, einer verbrecherischen Finanz- oder Herrschaftsclique kann dergleichen als unvermeidliche Begleiterscheinung von Aufklärung verstanden werden. Eine andere Dimension wird erreicht, sobald ›natürliche‹ oder ausgedehnte Aggregationen wie Familienverbünde, Ethnien, ökonomische Großverbände oder Nationen ins Visier geraten, deren Gemeinschaftscharakter über Symbole bzw. symbolische Erzählungen konstituiert wird. Kollektive Täterschaft lässt sich nur schwer seriös konstatieren, wenn der entsprechende Handlungstypus im Bewusstsein der Menschen nicht existiert oder als ›herbeikonstruiert‹ gilt. An dieser Stelle stellt sich das Goldhagen-Paradox ein: bei extremen Großverbrechen kann zwar die Existenz einer großen Zahl von Täter-Individuen im Verbund mit einer bestimmten, kulturell begrenzt wirksamen Motivmatrix die Gemeinschaft als solche mit dem Täter-Bann belegen, also auch die entsprechenden Scham-Reaktionen heraufbeschören, dennoch verbietet sich eine kollektive Tatverrechnung, weil sie ohne die sachlich unbegründbare und ethisch verwerfliche Opfermarkierung nicht zu haben ist.

Gerade natürliche, also verwandtschaftliche Bande eignen sich vorzüglich als Auslöser von Scham. Unter ihnen lassen sich anschauliche Beispiele dafür finden, wie Scham über Generationen hinweg transportiert werden kann, um bei sich bietender Gelegenheit in neue Gewaltkonstellationen zu münden. Dabei ist Scham grundsätzlich ambivalent: sie kann ebenso der dem eigenen Clan zugerechneten Tat wie dem Nichthandeln des geschädigten, beleidigten, als Opfer stigmatisierten Clans entspringen, das nach Sühnung und Rache verlangt. In solchen Konstellationen wird die Affinität der Scham zu archaischen Rechtsvorstellungen offenkundig, die wiederum auch nicht überbewertet werden darf, weil sich Scham ebenfalls, wenngleich offenbar in weit geringerem Maße, für die religiös oder rechtsstaatlich motivierte Abkehr von solchen Vorstellungen mobilisieren lässt.

Scham ist, vorsichtig charakterisiert, ein kulturelles Universale, d.h. sie wird von Kultur zu Kultur anders interpretiert und bleibt dennoch erkennbar das Eine: die, neben dem materiellen Interesse vielleicht mächtigste Triebfeder, die den Einzelnen an die Gruppe bindet. Diese Bindung ist, wie gesehen, keine einfache Einbindung, sondern eine Bindung, die nach dem Schema ›Einschluss durch Ausschluss‹ fungiert. der Einzelne läuft durch sie bzw. die bloße Möglichkeit ihres Auftretens Gefahr, jederzeit auf sich zurückgeworfen zu werden. Die körperliche, an der physischen Nacktheit orientierte Scham gibt hier das Muster:

  1. der Beschämte stirbt den sozialen Tod,
  2. er unterwirft sich bedingungslos unter Aufgabe der Person,
  3. er lernt, sich zweckmäßig zu bedecken bzw. sich ›bedeckt zu halten‹, d.h. er interpretiert sein Verhältnis zu sich selbst und, darüber vermittelt, zur Gruppe als Distanzverhältnis – soll heißen, er lernt, Distanz als Bedingung des Glied-Seins in der Gemeinschaft zu praktizieren.

Man sieht: allein das Distanzverhältnis erlaubt es dem Einzelnen, eine Position im Schnittpunkt unterschiedlicher Gemeinschaften einzunehmen und dadurch die Maßstäbe der einzelnen Gemeinschaft zu relativieren. Letztlich ist dies der Weg, ›Gemeinschaft‹ überhaupt zu relativieren und im Verein mit gleich Geprägten eine an neutralen Verkehrsformen zwischen Individuen orientierte ›zivile‹ Existenz zu führen.

Ist die Scham unter Erwachsenen also ein archaischer Reflex, der in der modernen Gesellschaft dysfunktional wurde und, streng genommen, in ihr nichts zu suchen hat? Ist Gesellschaft, die sich nicht als Gemeinschaft konstituiert, demnach schamlos im Sinne von Schamverfehlung? Um dies zu entscheiden, hilft es, den Begriff des Tabus einzubeziehen, der in der Selbstcharakterisierung moderner ›westlicher‹ Gesellschaften einen zentralen Ort einnimmt. Eingeführt wurde er, um die ›religiös‹ interpretierte Kohärenz sogenannter ›primitiver‹, vorzivilisatorischer Gemeinschaften zu erklären. Ironischerweise ist diese Bedeutung außerhalb bestimmter, meist wissenschaftshistorisch ausgerichteter Fachdiskurse praktisch vergessen. Geblieben ist seine Funktion im Rahmen der Selbstbeschreibung von moderner Gesellschaft: auf der primären Ebene als Aufforderung, Tabus zu brechen beziehungsweise, wie im aktuellen Fall der russischen Punkband Pussy Riot, den vollzogenen Tabubruch als gesellschaftliche Purgationsmaßnahme zu akzeptieren und bei Gemeinsamkeit der gesellschaftspolitischen Ziele auch gutzuheißen.

Auf der sekundären Beschreibungsebene dient der Begriff des Tabus gelegentlich dazu, den Grad an ›Repressivität‹ beziehungsweise ›Aufgeklärtheit‹ einer Gesellschaft zu taxieren, er kann aber natürlich auch in einem technischen Sinn dazu benützt werden, Methoden der Aufmerksamkeitserzeugung und -steuerung in der medialen Gesellschaft zu beschreiben.

Unter dem Gesichtspunkt der Schamerzeugung und -verarbeitung leistet diese Verwendung, so diffus sie auch sein mag, zweierlei: sie deutet auf die Möglichkeit der Selbstdistanzierung, die sich im Schamvorgang selbst eröffnet, und sie beleuchtet den illusorischen Charakter der Idee einer schamfreien Gesellschaft, die ihren Gemeinschaftscharakter vollständig abgestreift hätte. Die Gesellschaft, in der, wie es gern heißt, ›alle Tabus gebrochen‹ sind oder ›keine Tabus mehr existieren‹, ist eine Gesellschaft, in der alle Tabus virulent sind, soll heißen, in der Scham als eine von beliebiger Seite ausbeutbare Ressource bereitliegt, ohne dass dies ihre personkonstitutive Leistung zum Verschwinden brächte.

Gesinnungsgemeinschaften, gleichgültig, ob straff organisiert oder bloß medial abrufbar, erinnern daran, dass der fragile Friede, den der schambegabte Einzelne mit der Gemeinschaft findet, auf Kompensationen beruht. Am Beispiel nationalistischer Gruppierungen ist das immer wieder durchgespielt worden. Hier steht die Gruppe kompensatorisch für das ausbleibende Gemeinschaftserlebnis der Nation. In dem Maß, in dem die an zivilgesellschaftlichen Normen orientierte Gesellschaft dem Einzelnen dieses Erlebnis verweigert, wird sie zum Gegenstand eines doppelten Schamverhältnisses: die einfache Anhänglichkeit an die Nation als Schicksalsgemeinschaft und kulturell-politischen Orientierungsraum, die im gesellschaftlichen Leben keinen Anker findet, wird beschämt durch eine Art Nacktheits- oder Naivitätserfahrung im gesellschaftlichen Raum, in dem jene ›nichts gilt‹. Diese Erfahrung wiederum wird kompensiert durch Scham oder, vorsichtiger gesprochen, eine Art Scham über den ›falschen‹ Zustand der Gesellschaft, die durch die Gesinnungsgemeinschaft gesteigert und ideologisch gedeutet wird.

Das Problem, das solche Gruppierungen aufwerfen, ist grundsätzlich und unbehebbar. Tatsächlich handelt es sich bei der Nation nicht um eine bloße Fiktion. Sie existiert realiter – wenngleich nicht vollständig – in ihren Institutionen, insbesondere natürlich im Staat, gleichgültig darum, welche Ideologie zu welchem Zeitpunkt als staatstragend angesehen wird. Um das einzusehen, genügt ein Blick auf die Sorge um das Ganze, die den Regierenden durch die Verfassung aufgetragen ist. Im staatlichen Handeln wird die Nation zwar auch für den Einzelnen erlebbar, allerdings nur auf zwei Ebenen, die das Bedürfnis des Einzelnen nach Repräsentanz von Gemeinschaft verfehlen: auf der materiell-juristischen und auf der medialen Ebene – das heißt, insofern sich der Einzelne dem medialen Spektakel ausliefert, mit dessen Hilfe sich Gesellschaft inszeniert. Zwischen dem Nationalstaat und den ihn nationalistisch überhöhenden Gesinnungsgemeinschaften herrscht demnach ein Spannungsverhältnis besonderer Art – als Parteigänger des Staates, seines inerten Machtpotentials und seiner symbolischen Repräsentanz sind sie staatsaffin (was in der traditionell unterstellten Sympathie eines bestimmten Anteils sich betont konservativ verstehender Mitglieder des Staatsapparats Ausdruck findet), als unstillbar Enttäuschte sind sie seine erbitterten Kritiker und, bei entsprechender Militanz, Feinde – mit allen Möglichkeiten stiller Funktionalisierung, die sich aus dieser Konstellation ergeben.

 

4. Die Schamlosigkeit der Geschichte

Geschichtsverbrechen

Das vielleicht sonderbarste Mittel, solche Gruppierungen auf Distanz zu halten und sie dabei mit einer Bedeutung auszustatten, die ihr reales Gewicht potenziert, ist die Erzeugung staatsaffiner Scham. Bezeichnet sei damit (a) das Spektrum an rituellen Schambezeugungen bzw. -handlungen, die zum offiziellen Repertoire eines Staates und seiner Gliederungen gehören, (b) die individuell empfundene, öffentlich kommunizierte Scham, die Individuen für bestimmte, selektiv verwaltete Staatsverbrechen in der Vergangenheit empfinden, soweit sie durch staatliche Schampolitik und/oder die medial inszenierte gesellschaftliche Schamkultur eingefordert wird. Während (a) in den Bereich staatlicher Repräsentation gehört und, streng genommen, die Empfindung von Scham nicht tangiert, wirft (b) eine Reihe von Fragen auf, die separat betrachtet werden müssen.

Ohne Zweifel schließt bei gegebenem Anlass das Bewusstsein, Bürger eines Staates und damit Angehöriger einer politischen Nation zu sein, auch Schamempfindungen und -äußerungen von Individuen ein, die nicht durch Ritual und Spektakel hervorgerufen werden, sondern in individuellen Erfahrungs- und Bildungsprozessen ihren Ursprung und ihren bleibenden Ort besitzen. Schambekundungen dieses Typus, nicht selten von Anekdoten umrankt, gehören zum prägenden Bestand historischer Überlieferung. Sie können mit Gefahr verbunden sein, wenn in ihnen eine Widersetzlichkeit zum Ausdruck kommt, vielleicht sogar explizit zum Ausdruck gebracht werden soll wie z. B. bei den Aktionen der Weißen Rose 1942/43. Das Zustimmungsheischende solcher Aktionen unterscheidet sie vom einfachen Affektausdruck, gleichgültig, ob ihm eine ethische Einstellung zu Grunde liegt oder ein in individuellen Selbstwertprozessen verhaftetes Schamempfinden. Sie wollen Scham wecken – nicht hier und da, sondern generell ›beim Mitbürger‹. Dabei verfügen die Akteure weder über die Mittel noch über die Absicht, Scham zu dekretieren. Im Gegenteil: es ist die subversive Wirksamkeit des Affekts, auf den sich die Hoffnung gründet, im sozialen Raum etwas auszurichten.

 

Zwei Fragen

1. Ist es möglich, Scham im sozialen bzw. im politischen Raum durch authentische Schambekundung zu induzieren?

2. Falls ja, zu welchem Zweck?

Die Antwort auf die zweite Frage scheint auf der Hand zu liegen. Wer seine Mitmenschen zu beschämen beschließt, wünscht – falls sein Handeln nicht allein von Eitelkeit diktiert wird –, ›dass sich etwas ändert‹, und zwar zunächst ›in den Köpfen‹, also in Gedanken und Einstellungen, aber natürlich auch im Handeln. Das in Frage kommende Spektrum ist breit: es reicht von einer ethisch motivierten Praxis bis zur Menschenjagd, vom Protest gegen politische, rechtliche und soziale Missstände bis zum Gesinnungsterror und damit einhergehenden fatalen Weichenstellungen in Politik, Gesellschaft, Kultur. Beschämung, Beschämtsein sind, für sich genommen, keine besonders wertvollen ethischen oder sozialen Markierungen. Im Gegenteil: die erhoffte Wirkung gut gemeinter Scham-Appelle (der soziale ›Clou‹) besteht nicht selten in der Umkehr, sprich: Re-Motivierung vorhandener Schamgefühle bei Menschen, die, von Propaganda eingelullt, unter dem Drohdiktat des sozialen Ausschlusses agieren.

Unsicher bleibt die Antwort auf die erste Frage. Die Ambivalenz von Schambekundungen, vor allem im öffentlichen Raum, lässt es praktisch ausgeschlossen erscheinen, Scham auf performativem Wege zu übertragen. Eher dürfte der gegenteilige Effekt eintreten. Der Grund liegt im Mechanismus der Scham selbst. Die authentisch wirkende Bekundung von Scham isoliert den Einzelnen in der Gruppe, sie zeigt den anderen, dass er ›ein Problem hat‹. Die primäre Reaktion darauf ist, jedenfalls bei Unbeteiligten, Scheu. Auch ihre soziale Funktion ist ambivalent. Zwar bietet sie dem Ausgegrenzten einen recht prekären, auf den Moment beschränkten Schutz vor Verfolgung, doch dieser Schutz kann jederzeit kollabieren. Der Anblick des sich Schämenden stärkt den Zusammenhalt des angesprochenen Kollektivs eher als dass er ihn schwächt. Dagegen bleibt die proselytenmachende Kraft, die Fähigkeit, Einzelne aus dem Kollektiv herauszulösen, gering. Nur nachher haben es alle besser gewusst.

Auf der anderen Seite steht außer Frage, dass kollektive Scham systematisch und schamlos erzeugt, ›induziert‹ werden kann. Dafür gibt es ausreichend historische Beispiele. Ausdrucksformen kollektiver Scham sind die Unduldsamkeit, die problemlos in Aggression umschlagende Angst vor Tabuverletzungen und -verletzern, die Bereitschaft zur Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender, die ›Mauer aus Schweigen‹ oder, auf der Gegenseite des Spektrums, das verbale Niederreiten von Positionen, deren – eventueller – argumentativer Stellenwert mehr oder weniger sorgfältig ausgespart bleibt. Das führt auf die Regel: Je authentischer der öffentliche Ausdruck von Scham, desto geringer, je rhetorischer die öffentliche Schambekundung, desto größer ist die Aussicht, Scham zu induzieren.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang ›rhetorisch‹? Ein schlichter Indikator für das Gemeinte ist das ›Wir‹, also die Sprache der Stellvertretung in der öffentlichen Schambekundung. In ihr wird eine Haftungsgemeinschaft geltend gemacht. Sie mag im rechtlichen oder moralischen Sinn existieren oder auch nicht – es macht für diesen Typus der Schamrede keinen Unterschied. Der Grund dafür liegt in ihrer ethischen Indifferenz. Wenn ein antiker Feldherr seine Truppen in den Tod schickt und den verbliebenen Rest mittels des rhetorischen ›Wir‹ zur kollektiven Scham verdammt, dann liegt darin womöglich der Triumph eines archaischen Gruppenethos (das immer Bewunderer findet). Vor allem aber steckt darin eine Überwälzung von Schuld (im verantwortungsethischen Sinn), die einem differenzierten modernen Betrachter wenig Respekt abnötigt. Ein ähnlicher Übergang vollzieht sich dort, wo die dürre, aber korrekte Formel der Anerkennung historischer Schuld von Repräsentanten des Staates (›Verbrechen, begangen im Namen des Volkes‹) durch die scheinbar aufgeklärtere Formel vom ›Tätervolk‹ ersetzt wird, die unterschiedslos Scham über die Angehörigen des regierten Volkes verhängt, gleichgültig, ob es sich um Täter, Nichttäter oder um die Nachkommen beider handelt. Gerade das Spezifische der Formel, die den Unterschied ausspart, lässt ihre übliche verantwortungsethische Begründung dubios erscheinen. Ethisch verantwortetes Handeln gründet auf der Unabdingbarkeit ethischer Kategorien bei der Beurteilung anderer und fremder Handlungen. Das analoge Argument gilt für den rechtlichen Raum.

 

5 Thesen

1. Kollektive Scham ist an Gemeinschaftserfahrungen gebunden. Der weltanschaulich neutrale, säkulare Staat eignet sich nicht besonders gut dafür, Schamempfindungen bei seinen Bürgern hervorzurufen – es sei denn bei bestimmten Randgruppen, die sich damit einer Opferselektion anbieten, deren Funktion darin besteht, das existierende Staatsmodell streitbar zu sichern.

2. Anders steht es um den Weltanschauungsstaat, der explizit die Formung einer ›Volksgemeinschaft‹ zum Staatsziel erhebt und dafür die Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung fand. Ein solcher an einen vorstaatlichen Ehrenkodex appellierender Staat kann im Falle ethischen Versagens sehr wohl ein brennendes Gefühl der Scham erzeugen – vor allem bei Menschen, die an ihn ›geglaubt‹ haben und sich nachträglich von ihm in ihrem Glauben getäuscht, in die Irre geführt und missbraucht fühlen. In diesem Sinn wäre das Programm staatlicher bzw. staatsnaher Schamerzeugung und -bewahrung ein Bekehrungsprogramm (›zweite Entnazifizierung‹), das an seine Grenzen stößt, sobald keine kritische Bekehrungsmasse mehr zur Verfügung steht.

3. Der liberale, verfassungspatriotische, pluralistische Nachfolgestaat vergewissert sich der Kontinuität der Nachfolge und der Loyalität seines Staatsvolkes über die verfassungsmäßigen Grenzen hinaus im Negativerlebnis der kollektiven Scham.

4. Logisch gesehen erzeugt das Programm staatsaffiner Schamerzeugung ein Paradox: einerseits wird der Weltanschauungsstaat als politisch falsch und ethisch desavouiert verworfen, andererseits wird – fatalerweise, wie man unter Auspizien der Aufgeklärtheit konstatieren muss – die verworfene und im Ansatz pädagogisch zu unterlaufende Bindung des Bürgers an den Weltanschauungsstaat mit Hilfe des funktional bewirtschafteten Schamreflexes aufrechterhalten.

5. Scham ist kein guter Schuld-Indikator. In der Kollektiv-Scham verschwimmt die Opfer-Täter-Zuordnung im rechtlichen wie im moralischen Sinn. Die Substitution der unhaltbaren Konstruktion einer Kollektiv-Schuld durch eine Kollektiv-Scham leistet demnach zweierlei: sie verwischt Schuld und Unschuld zu exkulpatorischen wie zu denunziatorischen Zwecken. Es bleibt die Frage nach der Leistungsbilanz: wem dient eine solche Konstruktion, wem legt sie Lasten auf, die sich in bestimmten Fällen bis zu persönlichen Irrläufen steigern können?

 

Aufarbeitung als Sinnstiftung

Die Verbrechen, die der aggressive Weltanschauungsstaat dem liberalen Staat zur Aufarbeitung vermacht, besitzen keinen hinreichenden Erklärungsgrund. Es sind Verbrechen ohne Sinn. Der vergangene ›Sinn‹ (die pseudowissenschaftliche, schimärische oder nur zynische, in jedem Fall propagandistische ›Rechtfertigungsgrundlage‹) ist zusammen mit der Realität jenes Staates diffundiert und von Beteiligten wie Unbeteiligten nur noch als ›Spuk‹, als verbrecherischer oder ›teuflischer‹ Wahn etc. zitierbar. Wem dieser Umschlag missfällt, sei es, weil er der Überzeugung ist, dass die Erlebnisgeneration der Nachwelt eine Erklärung schuldet, sei es, weil er einfachen Vorzeichenwechseln im Bereich der Gesinnungen aus ethischen und intellektuellen Gründen generell misstraut, der findet sich leicht auf einer der zirkulierenden Listen ideologisch Verdächtiger wieder. Offenbar fällt es selbst irregeleiteten Sympathisanten des untergegangenen Systems leichter, das Geschehene zu leugnen, als es zu erklären. Jede Erklärung ist hier eine Erklärung zuviel. Das Erbe des NS-Staates bietet dafür schlagende Beispiele. Die programmatisch betriebene ›Vernichtung unwerten Lebens‹, die Drangsalierung und Ermordung bestimmter Volksgruppen, der Massenmord an Kriegsgefangenen, vor allem aber die verbal verdinglichte Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden (›Endlösung‹, ›Holocaust‹) sind für die Nachkriegsdeutschen Ereignisse ohne Sinn, ›unsäglich‹ und ›unglaublich‹ in jenem zweideutigen Sinn, der alsbald Leugnern Auftrieb gibt, aber auch den Konstrukteuren des ›metaphysischen‹ Verbrechens, das in der gemeinen Verbrechenstopologie a priori keinen Platz finden darf. In diesem ideologisch dichten Feld geht es um Scham, Schande und Wiedergutmachung von etwas, was der Sache nach nicht wieder gutzumachen ist. Und natürlich geht es auch um Verrat, Lüge, Niedertracht in den Gebetsmühlen der ›Unbelehrbaren‹, die um der Unantastbarkeit der Nation willen die Augen vor dem Geschehenen verschließen, falls sie nicht persönliche oder korporative Gründe haben, anderen Sand in die Augen zu streuen.

Die Augenmetapher, überhaupt die Metaphorik des Sehens, des Gesehen- oder Nichtgesehen-Habens, des Hinsehens und des Nicht-Sehen-Wollens verdient in diesem Zusammenhang ein besonderes Augenmerk. In Verbindung mit Zeugenschaft besitzt sie einen klaren, juristisch ausweisbaren Sinn. Im weiteren Sinn deutet sie auf den ebenso differenzierten wie opaken Schamkontext, der sich, sobald Schuld Kollektivcharakter annimmt, an Stelle kontrovers diskutierbarer historischer Entscheidungen und Verläufe auftut. Der Grund liegt im von ihr transportierten Modell der verweigerten oder suspendierten Zeugenschaft, die sich stellvertretend für jede nicht oder nicht mehr nachweisbare oder erst in der Zukunft nachzuweisende Täter- oder Komplizenschaft zwischen Täter und Nichttäter, Schuldige und Unschuldige, schließlich zwischen Täter und Opfer einfügt. Gerade der Unbescholtene erweist sich als kontaminiert: sei es, dass er gesehen hat, sei es, dass er es vorzog, nicht zu sehen, sei es, dass wir sehen, was er nicht zu sehen vermochte. Diese Praxis entindividualisierter Schuldzuweisungen breitet sich aus, sobald die Denunziation kommunikativen Gewinn abzuwerfen verspricht – in Form von Prestige, Rechtfertigungen, falschen Fährten und Ablenkungen von aktuellen Geschehnissen, allgemein durch die Fabrikation von Feindbildern im öffentlichen Raum, von ›Stoffen‹ der Unterhaltungsbranche, von Blickfang-Thesen im wissenschaftlichen Feld –, abgesehen von handfesteren Vorteilen, über die gerne geschwiegen wird. Erfolgreich kann sie aber nur dann sein, wenn – in Bezug auf den Gegenstand der Bezichtigung – ein öffentliches Sinnvakuum besteht. Die Produktion kollektiver Schuldbilder unterscheidet sich darin nicht von der Modellierung individueller Sündenböcke. Das Unerklärliche fordert seinen Tribut. Wenn die Ursachenforschung zu keinem befriedigenden Ende kommt, teils, weil der Komplex zu groß, teils, weil das Missverhältnis von Grund und Folge in den Augen des einfachen Zeitgenossen jeden Erklärungsversuch zu Makulatur werden lässt, verfestigt sich das kollektive Stigma leicht zu einer ebenso umfassenden wie irrealen Verrechnungsgebärde.

Wenn ein wirklicher oder angenommener Zeitzeuge öffentlich oder im privaten Kreis bekundet, ›alle‹ hätten seinerzeit ›etwas‹ gewusst, so behauptet er damit in der Regel keineswegs, auch er habe gewusst, da schließlich alle wussten: er lässt vielmehr das Urteil darüber in der Schwebe und ersetzt es durch eine Erzählung, in der er nur als Beobachter zweiter Ordnung auftritt – als einer, der gesehen oder gehört oder gelesen oder sich anderweitig zusammengereimt hat, dass andere ›etwas gesehen hatten‹, aber ›nicht hinsehen wollten‹. Der Zwischenschritt, der aus diesen anderen alle macht, kassiert zwar die Differenz zwischen den anderen und dem Selbst, aber nur, um das Selbst als beglaubigende Instanz hinzuzufügen und es im gleichen Zug wieder herauszuziehen, da es als Meta-Erzähler auf einer anderen Ebene fungiert. Das schuldige Kollektiv schließt also den Einzelnen ein, ohne ihn zu enthalten. Stets legt der Augenzeuge von der Schande der anderen Zeugnis ab. Besteht die Schande der anderen in der verweigerten Zeugenschaft, dann ist die allgemeine Zeugenschaft, die die verweigerte Zeugenschaft der anderen zu ihrem Inhalt macht, kaum mehr als eine selbstexkulpatorische Gebärde, die aus der zweifellos vorhandenen Scham einen sozialen Vorteil zu ziehen wünscht. Zweifellos ist diese Art von nachträglicher Zeugenschaft ohne Risiko nicht vergleichbar mit Zeugenschaft in der Situation selbst, die post factum von allen gefordert und im gegebenen Fall vom Selbst in der Regel gerade verweigert wurde. Es handelt sich um den Fall eines metakommunikativen Konstrukts: Anklage, Selbstrechtfertigung und Schamtransformation fallen in ihm ineins. Die Selbstblendung des Ödipus führt zusammen, woran sein Leben sonst zerbräche – die Verweigerung des Blicks und die Selbstfixierung auf das, worauf dieser Blick nach allem, was er nun weiß, unweigerlich fiele.

Was der Blick des (Nicht-)Dabeigewesenen für das Sinnbedürfnis in toto bezeugt (auch wenn er tatsächlich nur einen winzigen Ausschnitt des Geschehenen umfasst), das bezeugt die Arbeit des Historikers, der demselben Bedürfnis zuarbeitet, in extenso. Die historische Aufarbeitung übernimmt dort, wo sie in gesellschaftliche Aufarbeitung übergeht, die Funktion von Sinnstiftung. Das klingt vernünftig, weil historische Ursachenforschung aus rein methodischen Gründen auf künftige Zuwächse angelegt ist. Es schadet dem historischen Wissen nicht, dass es angesichts der Überlieferungsfülle und ihrer Leerräume per se unterbestimmt bleibt. Entsprechend sollte es für eine aufgeklärte Gesellschaft verkraftbar sein, mit der Differenz des Wissbaren und Gewussten auf Dauer zu leben. Dass dies ein schöner (Forscher-)Traum bleibt, hat verschiedene Ursachen. Die prinzipiellste davon ist, dass gesellschaftliche und wissenschaftliche Kommunikation in wichtigen Punkten differieren.

1. Was man ›gesellschaftliches Bewusstsein‹ nennt, lebt von der Differenz zwischen allgemein akzeptierten ›Tatsachen‹ und ›Annahmen‹ oder ›Auffassungen‹, die in bestimmten Kreisen zirkulieren: während ›Tatsachen‹ den ›objektiven‹, folglich unbezweifelbaren oder nur um den Preis persönlicher Erfolgsminderung anzuzweifelnden Bestand dessen bilden, wovon auszugehen hat, wer mitreden und vor allem mithandeln will, fallen ›bloße‹ Annahmen in den Bereich des subjektiven Meinens, gehören also zu dem Instrumentarium, mit dessen Hilfe sich der Einzelne die Welt, insbesondere die eigene Umgebung zurecht denkt, um in ihr die ihm angemessen dünkende Rolle zu spielen. Eine wissenschaftliche Hypothese, auf den gesellschaftlichen Markt gebracht, gilt daher fallweise als unumstößliches Faktum oder als persönliche Auffassung eines Wissenschaftlers, der sich damit unter die ideologischen und politischen Kämpfer wagt und entsprechend angegangen wird.

2. Wissenschaftliche Kommunikation stützt sich auf Abbreviaturen, hinter denen (idealiter) abrufbare Theoriekomplexe stehen. Gesellschaftliche Kommunikation hingegen stützt sich auf Wertigkeiten: das gängige Vokabular, die jederzeit aufrufbaren Namen, Daten, Fakten, also all das, was bestimmte Theorien das kommunikative Gedächtnis einer Gesellschaft nennen, trägt einen Wertindex, hinter dem keine Theorien, sondern Sanktionen lauern: ein ›falsches‹ Wort, ein ›falscher‹, die soziale Wertigkeit außer Acht lassender Datenaufruf genügen im Ernstfall, um einen Diskurs kippen zu lassen und in einen anderen einzutreten, der möglicherweise von keiner beteiligten Seite gewollt ist. Das Missverständnis zwischen Gesellschaft und Wissenschaft ist daher programmiert, wann immer sich Wissenschaft deutend, warnend, wegweisend in die Arena begibt.

3. Natürlich findet Wissenschaft nicht im luftleeren Raum statt. Dem gesellschaftlichen Bedarf an affirmativen wissenschaftlichen Zeugnissen entspricht ein Legitimationsbedürfnis gegenüber der Gesellschaft im wissenschaftlichen Feld, das idealiter den Gang der Forschung nicht behindert, aber die deutende Kommunikation ihrer Ergebnisse an kurrenten Wertigkeiten ausrichtet. Die Unterstützung, die gesellschaftliche Positionen von Seiten der Wissenschaft erfahren, verdankt sich daher in der Regel einem Circulus vitiosus, bei dem selbst Eingeweihten selten klar wird, wie weit Liebedienerei und Karrieredenken, Konformismus und die Lektüre der Morgenzeitung, nicht zuletzt das wenig trennscharf gehandhabte gesellschaftliche Engagement der Beteiligten für das Produkt verantwortlich sind. In einer liberalen Gesellschaft mit einem offenen Meinungsspektrum bleibt das für alle Seiten verkraftbar, es trägt cum grano salis zur Dynamik gesellschaftlicher Prozesse bei, aber niemand sollte sich Illusionen darüber hingeben, wie Mehrheitsmeinungen stabilisiert und Denkschulen inthronisiert werden, sobald ein übergreifendes Interesse im Spiel ist.

›Scham‹ lautet das Schlüsselwort, mittels dessen das übergreifende Interesse als das Interesse aller ins Interessenspektrum jedes Einzelnen einrückt. Ein Wissenschaftler, der registrieren durfte, wie in seinem Bereich mehr oder weniger banale Forschungsansätze von rezensierenden Kollegen ›mit Bestürzung registriert‹, von aufmerksam gewordenen Journalisten mit einem ›geht‹/›geht nicht‹-Index versehen, von publicity-bedürftigen Hinterbänklern mit dem Ruf nach Sanktionen beantwortet oder von gesichtslosen Bloggern dem Lager des Bösen zugeordnet werden, hat seine Lektion in der Regel gelernt. Er hat die Schamgrenze in sich aufgerichtet, die ihn veranlasst, wissenschaftliche Arbeit nicht etwa der Gesellschaft gegenüber zu verantworten, sondern unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit zu betrachten und auszuführen. Er ist, in der Terminologie Alexander Sinowjews, der solche Strukturen in der sowjetischen Gesellschaft erforschte, zu einem ›B-Wissenschaftler‹ geworden, der ›weiß‹ und ›vertritt‹, wo andere durch Disziplin und Forschungsstand zur begrenzten Hypothesenbildung und -überprüfung genötigt werden. Oder er hat gelernt, sich bedeckt zu halten, auf weniger konfliktträchtigen Feldern zu arbeiten und den verbleibenden Rest mit politisch korrekten Standardfloskeln abzudecken, die ihn als loyalen Zeitgenossen ausweisen und keinen Zweifel an seiner Person aufkommen lassen. Das Feld hingegen gehört den Virtuosen der Scham, den, nach Max Webers Ausdruck, scham-musikalischen Zeitgenossen, die so geschickt auszuteilen wissen, dass für jeden, selbst den Düpierten, dabei etwas abfällt.

 

Lernprozesse und ihre Nutznießer

Gesellschaftliche Lernprozesse bieten Zeitgenossen, die mit einem etwas offeneren Wahrnehmungsapparat in die Welt eingetreten sind, einen, je nach Blickwinkel und Laune, erheiternden oder verstimmenden Anblick. Ihnen ist, als wohnten sie über weite Strecken der Wiedererfindung des Rades bei und der Versuch, die Zeitgenossen daran zu erinnern, dass es bereits verfügbar ist, ende an einer Mauer aus kollektiver Nichtbefassung, an der ein Zettel mit der Aufschrift klebt: »Darum geht es nicht.« Worum es gerade geht, das verdankt sich der Bewegung des Rades, es geht aus ihr hervor wie Hegels Weltgeschichte aus der Dialektik des Geistes und übel beraten ist, wer den Griff in die Speichen wagt, denn: darum geht es nun wirklich nicht. Die Fülle dessen, worum es ebenfalls gehen könnte, bleibt ausgeblendet, es ist tabu aus dem einzigen Grunde, der zählt: es stört den Prozess. So steckt in der Mündigkeitserklärung einer Gesellschaft die tätige Bereitschaft zur selbstverschuldeten Unmündigkeit, die über weite Strecken auch selbsterzeugt genannt werden kann, weil die Verfahren der Ausgrenzung wohl bekannt sind und ihre Resultate ernsthaft niemanden überraschen.

Kommunikative Prozesse lassen sich per se als Lernprozesse definieren. Dafür spricht der stete Zufluss an Information und die implizite Notwendigkeit, sich mit den Folgen früherer Kommunikationen auseinanderzusetzen. Problematischer ist die Vorstellung, Gesellschaft selbst sei ein kommunikativer Prozess, generiert durch das Zusammenwirken von Teilprozessen mit mehr oder weniger ausgeprägtem Lerneffekt, es genüge also, die progressiven, sprich: lernwilligen gegenüber den weniger lernwilligen, konservativen Elementen zu stärken, um das Tempo der Veränderung zu erhöhen und das Erreichen der nächsten historischen Klassenstufe zu beschleunigen. Zeiten, in denen das Ziel sich verschleiert oder die realen Veränderungen offenbar nicht zum erwarteten Fortschritt beitragen, gelten dann schnell als ›undeutlich‹ oder ›unübersichtlich‹ oder schlicht als ›verlorenes Jahrzehnt‹ – ein Zeitraum, dessen Brisanz sich offenkundig an der menschlichen Lebensspanne bemisst: zwei verlorene Jahrzehnte kann sich kein Mensch leisten, es sei denn, er gibt sich auf.

Die Grenzen des Modells zeigen sich an der systematisch vernachlässigten Differenz zwischen einer modellhaft geforderten resp. vorausgesetzten Praxis und den Praktiken, mittels derer die gesellschaftlichen Akteure auf Besitz- und Vorteilswahrung ausgehen, ohne sich um den Gesamtsinn in einem anderen Sinn zu kümmern als dem der formalen Absicherung, sprich: Legitimation ihres Treibens. Eine Politik der Anreize (›incentives‹), die den Hebel an dieser Stelle ansetzt, um gesellschaftliche Ziele dennoch durchzusetzen, hat das Lernmodell bereits grundlegend modifiziert: sie setzt die Belohnung an die Stelle der Einsicht und bestraft all diejenigen, die sich ihr, vielleicht aus guten Gründen, entziehen, mit dem (in der Regel ökonomischen) Stock. Die Auswirkungen auf das Lernsystem sind beträchtlich: das erwünschte ›Lernen‹ bedeutet Vorteilsannahme ohne Rücksicht auf das eigene – unabhängige – Urteil darüber, ob dieses Verhalten der Zukunft des Gemeinwesens zuträglich ist oder vor einer Lebensperspektive, die andere Parameter als den zugemessenen Vorteil gelten lässt, gerechtfertigt werden kann. Es erfüllt also die Kriterien der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

An diesem Befund kann keiner der beteiligten Parteien gelegen sein. Er ist tabu, allerdings in einem anderen Sinn als dem, der in Gesinnungskollektiven anzutreffen ist. Er ist tabu im Sinne eines Interessenmodells, das von seinen Vertretern gern mit Hilfe der sogenannten ›win-win-Situation‹ beschrieben wird: Verzichte auf deine weitergehenden Überzeugungen/Einsichten/Bedürfnisse und nimm, was sich dir hier und jetzt bietet. Schlägst du das Angebot aus, so wirst du als ›Fundamentalist‹ gebrandmarkt, schlimmstenfalls als jemand, der im Ernstfall auch kleine Kinder tötet, um sein Ziel zu erreichen. Wir werden nicht nachlassen, die Engstirnigkeit und Weltfremdheit anzuprangern, die aus deiner Position spricht, und wir werden dafür sorgen, dass diese Position als solche gar nicht in Erscheinung tritt, sondern an ihrer Stelle ein Popanz aus Behauptungen, die du vielleicht niemals aufstellen würdest, mit denen du dich aber durch deine Weigerung, den dir gebotenen Vorteil anzunehmen, unauflöslich verbunden hast. Sieh also zu, was dir lieber ist: der Ruf des Kinderfressers oder der Ruf von jemandem, der mit sich reden lässt. Versäumst du es aber, angemessen Alarm zu schlagen, dann wirst du gar nicht vorhanden sein. Du wirst für die Gesellschaft ebenso wenig existieren wie die vielen, denen es ebenso geht wie dir. Wir werden nicht zulassen, dass dein Modell von sich reden macht, es sei denn in einem abfälligen Sinn. Bedenke, was du tust, bedenke gut, was du sagst. Denke, was du willst, aber: beschränke dich auf deinen Kreis. Dort wirst du zu finden sein, wenn es Zeit ist, ein Exempel zu statuieren. So spricht das Interesse selbst, ohne weiteres, ohne Büttel, die zu nächtlicher Zeit an Türen schlagen, aber vernehmlich, und es ist sicher, dass seine Stimme Gehör findet.

Der Nutznießer ist der Beschädigte: so könnte man die Kosten des win-win-Prozesses umschreiben. Dabei liegt der Schaden im Aufschub. Dieser gilt, aus der Sicht der Akteure, für die Dauer des sozial aktiven Lebens – der gesellschaftliche Mensch ist der suspendierte. Er ist der Mensch, der keine Klage führen darf – er hat sich alles selbst zugefügt. Das Tabu zeigt an: aus gutem Grund. Der Mechanismus der Vorteilsnahme sorgt dafür, dass der faktische Grund nicht dazu taugt, als guter Grund benannt zu werden. Jeder Grund ist besser als dieser, wenn es darum geht, ein gelenktes Verhalten als eigenes zu rechtfertigen, weil einem das Lenkungsmittel zupass kommt. Daher steigt in der gelenkten Gesellschaft der Anteil progressiver Zeitgenossen überproportional und man trifft sie über kurz oder lang auf Positionen an, die eine gegenteilige Besetzung nahelegen. Die sogenannte ›Sozialdemokratisierung‹ des konservativen Parteienspektrums und der Verlautbarungspraxis von Wirtschaftsverbänden ist ein frommer Schein, der sich auf eine Interessenlandschaft legt, sobald der gesellschaftliche Lernprozess in praxi nach dem Muster der Zoofütterung abläuft. In diesem Fall gilt: Nutznießer der Reform ist die Reform. Analog ließe sich sagen: Nutznießer des Tabus ist das Tabu.

Es scheint, als sei hier von wirklicher Scham nicht länger die Rede. Auch dieser Schein trügt. Man legt nicht ohne tiefgreifende Folgen die menschlichen Antriebe still, die, wenngleich sie immer wieder von materiellen Interessen ausgehebelt werden, in einem anthropologischen Sinn als primäre gelten können. Unter ihnen steht die Übereinstimmung von Denken und Handeln obenan. Ein Defizit, das nicht einmal nach alter christlicher Manier beklagt werden darf, ohne dass sich der Abgrund gesellschaftlicher Ächtung auftut, nützt Institutionen und Interessenverbänden, aber es nimmt Individuen die Würde und vor allem die innere Sicherheit, die, in welchen Grenzen auch immer, eine persönliche – und persönlich verantwortete – Lebensführung erst ermöglicht. Der Konsumismus als traditioneller Lückenfüller und Sinnersatz darf in diesem Sinn als schambesetzt gelten. Die gestutzten Akteure halten ihr verbliebenes Freiheitspathos in Anschlag, um das Markengehege als ›Gesellschaft 2.0‹ frenetisch gegen jeden Regulierungsversuch zu verteidigen – wohl wissend, dass sie die andere Seite der eingebildeten Barrikade einnehmen müssten, wenn ihnen an ihrer Wahlfreiheit etwas läge. Es ist die Scham, die sie daran hindert, über die Grenze zu gehen. Offensichtlich fällt es leichter, sich in Kollektivbezichtigungen zu ergehen oder durch angeblich ›politische‹ Aktionen seine Mitmenschen über die allgemeine Korruption aufzuklären, als die Verluste in Kauf zu nehmen, die sich aus dem Abschied vom Hochglanzarsenal der verabreichten Gesinnung ergäben.

 

Negative Identität

Ist die Schuld im einen Extrem bezeugt, aber unbeweisbar, so ist sie im anderen das unbezeugt zu Beweisende. Je größer die Schuld, desto klarer die Intention und desto ungewisser die Extension der laufenden Untersuchung, also der Umfang der Ermittlungen. Für einen solchen Imperativ kann es, solange das Bedürfnis nach Sinn ungestillt anhält, ohnehin kein Ende des Verfahrens geben. In dieser Hinsicht sitzen der Konsumismus der unter dem Motto »Stets daran denken, nie davon reden« am Gängelband des schon immer in Anspruch genommenen Vorteils vereinten Guten und das Geschichtsverbrechen der »Vergangenheit, die nicht vergehen will« im selben Boot. Wo Schuld als unerklärliches Schicksal empfunden wird – nichts anderes bildet den Inhalt historischer Scham –, ist sie erst da ganz eigene Schuld, wo auch die eigentliche Schuldfrage nach der Schuld an der Schuld zufriedenstellend geklärt wurde. Auf diesen Punkt zielt der intrikate Begriff der transzendentalen Schuld, der erst in einer vorausgesetzten Welt ohne Transzendenz seine Implikationen voll entfaltet. Wenn die eigene Schuld das Gegebene ist, mit dem ich zurechtkommen muss, ohne die Chance zu besitzen, zu erfahren, wie ich hineingeraten konnte – gesetzt, die tradierten Geschichtsereignisse liegen ebenso wie das Elend der durch ›unseren‹ Konsum geplünderten und mit Hilfe ›unserer‹ Waffenexporte niedergehaltenen Welt außerhalb der Genese meiner Person und außerhalb meines Aktionsradius –, dann verlangt eine Instanz in mir, die sich, koste es, was es wolle, von der Last des Beschämtseins freimachen möchte, nach einem Blitzableiter, einer Instanz oder einer Person, die meinen Zorn abführen kann, ohne dass ich mich selbst bei diesem Vorgang kompromittiere, indem ich die Notwendigkeit der Scham preisgebe – diese Einschränkung ist wichtig, weil sie dafür sorgt, dass die Logik sozialer Ächtung intakt bleibt.

Es mindert nicht die Lebensleistung des deutschen Nachkriegshistorikers Fritz Fischer, wenn sein Kollege Christopher Clark im Jahre 2012 die verspätete und ihrerseits historisch gewordene Antwort des Deutschen auf die Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkriegs in diesem Kontext verortet (The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914). Gleichgültig, wie die von ihm ausgewerteten Quellen von der Zunft heute bewertet werden, bleibt der historische Durchbruch zu einer kritischen Neubewertung der durch ›Versailles‹ in zwei Richtungen tabuisierten Kriegsschuldfrage als erlebnishafte Offenbarung für das Lebensgefühl mindestens einer Generation gleichbedeutend mit der Konstruktion eines Blitzableiters, der überall dort gute Dienste leistet, wo es gilt, einer Geschichtsschreibung die Krücken wegzuschlagen, die man als exkulpatorisch empfindet, solange es ihr nicht – aus welchen Motiven auch immer – gelingt, die Schuld am Erscheinen des Bösen im eigenen Lande zu konzentrieren. Erst der zweifelsfrei verschuldete erste Weltkrieg stellt den verschuldeten zweiten in die passende Perspektive, um den überpersonalen Schuldzusammenhang sicherzustellen, innerhalb dessen es auch für das betroffene Ich keinen Ausweg geben darf. Das Nichtdürfen erklärt den Bedarf. Jene aufgebrachten Patrioten, die sich mit der Fischer-These vom fatalen Griff nach der Weltmacht ›um keinen Preis anfreunden‹ konnten, agierten erkennbar unter demselben Diktat, seitenverkehrt nur insofern, als für sie der sich exponierende Historiker die Rolle des Blitzableiters übernehmen durfte (andere sollten folgen): man hatte die beschädigte Nation zum Einsatz in einem Pingpong-Spiel erklärt, in dem eine Seite zwanghaft zu weit, die andere hingegen nicht weit genug zu gehen bereit war.

Nicht der Staat – und, muss man hinzusetzen, sein vergangenes und gegenwärtiges Handeln –, sondern die Nation ohne Transzendenz ist Auslöser und Adressat dieses Spiels. Der von dem Religionssoziologen Charles Taylor zum neo-durkheimianischen Typus gezählte Nationalstaat rechnet mit der Nation als Trägerin jener ›kulturellen Sendung‹, die sein Handeln legitimiert und sicher auch ein Stück weit steuert. Es ist offenkundig, dass der nach dem nationalsozialistischen Desaster verlorene Glaube an die Kulturnation in den Köpfen aller, die ihm abgeschworen haben, ein spukhaftes Nachleben führt – schon deshalb, weil sie irgendwann feststellen müssen, dass der zweite ›Tod Gottes‹ als ein Stück notwendiger Aufklärung ebensowenig universelle Zustimmung findet wie der erste, er vielmehr in den Staatsfrommen anderer Nationalitäten nur die Überzeugung festigt, über die besseren Götter zu verfügen. So wandelt sich die Niederlage zur Menschheits-Mission, deren Kernbotschaft lautet: auch die besseren Götter sind sterblich. Sie müssen sterben, wenn sich die universelle Wahrheit durchsetzen soll, derer man selbst als Erster teilhaftig wurde. Die Scham über den toten Gott in der eigenen Asservatenkammer gebiert die Botschaft von der fatalen, von Anfang an verbrecherischen Liaison von Staat und Kultur im Bewusstsein der jeweils eigenen Sendung – von Deutsch-Südwest und Verdun bis Chile und Vietnam.

Ein so auffälliger Staatsschauspieler wie der Hohenzollernkaiser Wilhelm II. kommt da wie gerufen, um die Doppelbotschaft vom schuldhaften Anderssein wie von der Schuld aller im endlosen Hin und Her der Parteien an ein Charakterbild anzuschließen, aus dem jeder herauslesen mag, was er will. Wilhelm II. steht vor der Reihe der Kennedy, Nixon, Reagan, Bush jr., mit denen das kritische Geschichtsbewusstsein der Deutschen Himmel und Hölle spielt – mit dem rapide schwindenden Unterschied, dass der von ihm repräsentierte Staat das konträre ›Reich des Bösen‹ räumlich-genealogisch bereits in sich enthält. Und – Wilhelm II. trägt die Stigmata: der verkrüppelte Arm, die gerüchteweise kolportierte Homosexualität verurteilen ihn zwar nicht automatisch, aber sie sind, als Opfermarkierungen, hilfreich: Mal nachsehen, was sich da sonst so tut. Auch im Falle Nixons, des anderen Ur-Bösewichts aller politischen Seifenopern, tut es der Körper, bei dessen telegesteuerter Betrachtung der deutsche Aufklärer sich entspannt zurücklehnt und seine Vorurteilslosigkeit genießt. In diesem Stück besitzen die amerikanische ›Bomberflotte‹ und ihre smarten Nachfolger in Gestalt von Pershings und Predators emblematische Bedeutung.

Ein zeitüberdauerndes Denkmal fand das Intimverhältnis zwischen deutscher Scham und amerikanischer Doppelmoral im von den klagenden Manen der Leinwand-Göttin Marylin Monroe verfolgten Kennedy-Clan. Freiheitsmythos und Cosa Nostra, Liebe, Tod, Verrat, die für einen Moment an den Rand der Vernichtung gestoßene Welt, Hollywood, Glanz, die fatalen Entscheidungen, aus denen eines der großen Massenschlachten des 20. Jahrhunderts hervorgeht, dazu der Satz aller Sätze: »Ich bin ein Berliner«: Wer diesen Stoff der failed history des eigenen Staates hinzufügt, strebt, erkennbar auch um den Preis der Selbstaufgabe, nach moralisch-intellektueller Resurrektion. Die Macht des toten, vielleicht nur scheintoten, mit der Erledigung der Nation an den Clan zurückgefallenen Gottes treibt ihn um. Was er sehen will, ist das Drama von Schuld, Tod und Auferstehung. Alles ist besser als die Dauerbürde eines hingemordeten Gottes. So kommt das Gewesene in die Kinos, als sei es noch immer, als geschehe es, sofern keiner aufpasst, gerade jetzt.

 

Abstürze: Zweifache Scham und halbierte Souveränität

Schuld ist Schuld. Anders die Schuld an der Schuld: sie wandert von Hut zu Hut, von Kopf zu Kopf. An einem bleibt sie hängen und er muss dran glauben. Wehe ihm, wenn er es nicht kann, vor allem, wenn er es nicht kann, obwohl er es will. »Wer die deutsche Hauptverantwortung an zwei Weltkriegen bestreitet, rüstet sich moralisch dazu, die Welt ein drittes Mal in einen Weltkrieg zu stürzen«, schreibt der Historiker und Fischer-Schüler Imanuel Geiss in der Einleitung zu seiner Schrift Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit von 1988. Ein deutscher Streit war der in den Jahren davor ausgetragene sogenannte ›Historikerstreit‹ nur bedingt. Wohl aber zeitigte er im Ergebnis eine handliche Konsolidierung des öffentlichen Geschichtsbewusstseins im Westen des noch geteilten Landes, dem sich der Osten nach der Herstellung der staatlichen Einheit nolens volens anzubequemen hatte. ›Deutsch‹ war daran wohl vor allem die spezifische Streitkultur, deren Verfahrensweisen Geiss in seinem Buch eindringlich beschreibt. Gleich der Titel des Büchleins leistet in dieser Hinsicht Einführungsarbeit. Der Ausdruck ›Habermas-Kontroverse‹ meint keine Kontroverse um den Soziologen Jürgen Habermas, sondern die von letzterem losgetretene Kontroverse um die Historiker Ernst Nolte und Andreas Hillgruber. Die Kontroverse um Habermas, so die Suggestion, bliebe – als Kontroverse um seinen Part – noch zu führen. Das Wörtchen ›deutsch‹ im Titel ist also keineswegs nur deskriptiv gemeint: es deutet, ohne darauf festgelegt werden zu können, auf eine gewisse Perfidie der Verhaltensweisen, deren Ursachen keineswegs nur in privaten Motiven, sondern vor allem in einer Befindlichkeit liegen, für die der Terminus ›deutsche Misere‹ einsteht. Es handelt sich also um ein Buch über deutsche Schuldkultur und damit zwangsläufig über deutsche Scham, die nur begrenzt mit der Scham zusammenfällt, Deutscher zu sein.

Man hat, so Geiss, die Brisanz des Historikerstreits nicht begriffen, solange man ihn als Streit um konkurrierende Geschichtsauslegungen innerhalb der Historikerzunft versteht. Geiss’ Schrift ist eine Parteischrift: ihr Ziel besteht in der vorsichtigen Wiederaufrichtung historischer Fachkompetenz in Schicksalsfragen der Nation gegen die Anwürfe eines Fachfremden. Der zitierte Satz dient dazu, dieses Unternehmen durch Abgrenzung abzusichern. Nemo contra deum nisi deus ipse. Die tendenzielle Heillosigkeit der nationalen Streitkultur ist benannt, das geschichtswissenschaftliche Terrain gesichert, die moralische Integrität der Debatte gewährleistet, sobald sich alle Teilnehmer der Konsequenzen bewusst sind, die ihre Rede birgt. Dass es sich um hochritualisierte Rede handelt, lässt der unmittelbar anschließende Satz noch deutlicher hervortreten: »Wer die Ermordung von rund sechs Millionen Juden (und Slawen, Zigeunern) in den deutschen Vernichtungs-KZ’s leugnet oder auch nur an der Zahl herummäkelt, ermordet sie noch einmal – der Gesinnung nach.«

An der Stelle begreift der Leser: dieser Autor hat Angst. Es ist die klamme Angst dessen, der fürchtet, mit denen dort draußen, die solche schändlichen Handlungen begehen, in einen Topf geworfen zu werden. Die Angst, ausgegrenzt zu werden, lässt ihn seine Darlegungen mit einer Ausgrenzung beginnen. Verbalen Ausdruck findet die Angst im Irrealisieren. ›Niemand‹, möchte der geneigte Leser, die geneigte Leserin dem Autor versichern, ›hat dergleichen Vorwürfe bislang gegen dich erhoben, fahre also ruhig in deinem Text fort.‹ Eine leise Unruhe bleibt: Was mag den Verfasser so verunsichert haben, dass er sich einer Rede bedient, wie man sie, nach einschlägigen Ereignissen, von offiziellen Anlässen her kennt? Erkennbar spricht hier nicht der Historiker (es sei denn als spielendes Kind, das seine Bauklötze für die Säulen der Weltordnung hält). Kein Historiker dieser Welt wäre vermutlich imstande, per Schuldbestreitung oder -relativierung einen Weltkrieg zu entfesseln oder Ermordete ›noch einmal‹ zu ermorden. Hielte nicht der beschworene Gegenstand den Leser in Bann, es gäbe dafür nur ein Wort: ›Blödsinn‹. Umso schwerer wiegt der Hinweis, der im durch die einfache Satzfolge bewirkten Zusammenschluss des historisch Strittigen mit dem historisch Unstrittigen liegt: wer die deutsche ›Hauptschuld‹ am Ausbruch des Ersten Weltkriegs bezweifelt, ermordet am Ende auch Juden – so steht es nicht da, aber so soll es wirken: als Abwehrzauber gegen unreine Geister, die es wagen könnten, das Terrain mit ihrer Anwesenheit zu beschmutzen, auf dem die Auseinandersetzung um Habermas’ Insinuationen stattfinden darf.

Natürlich steht es dem Leser frei so zu tun, als gäbe es das Problem nicht. Der Autor, mag er sich beruhigen, kennt seine Pappenheimer, er ahnt das publizistische Streufeuer, das diese Publikation auf sich ziehen wird, und schirmt sich beizeiten dagegen ab. Im Irrealisieren, so das zugrundeliegende Argument, steckt ein Stück Realismus. Wie groß dieses Stück ist, bleibt ungewiss, es kann und muss ungewiss bleiben, weil genau darin die existenzielle Unsicherheit nistet, die das Verfahren zwar nicht legitimiert, aber menschlich verständlich aussehen lässt. Ebenso verhält es sich mit der Abgrenzung, deren Schroffheit ein Stück Nicht-Abgrenzung erkennen lässt: während es vermutlich wahr ist, dass, wer den Holocaust leugnet, in der Regel auch die deutsche Allein- oder Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestreitet, nagt die entgegengesetzte Stereotype – wer die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg bestreitet, leugnet auch den Holocaust – mächtig am Selbstverständnis eines jeden Historikers, der einigermaßen die Gründe und Gegengründe der Hauptschuld-These überblickt. Geiss wäre kein seriöser Vertreter seiner Zunft, gelänge es ihm, argumentativen Nonsens schnörkellos zu Papier zu bringen.

Es sind gedankliche und sprachliche Verrenkungen, die den kulturwissenschaftlichen Blick auf die zitierten Sätzen lenken. Was im ersten Satz der vage polemische Ausdruck ›moralische Zurüstung‹ leistet, das bewirkt im zweiten die laxe Allerweltsfloskel ›der Gesinnung nach‹: die Vertuschung und Verharmlosung einer ebenso boden- wie maßlosen Übertreibung. Für den ordinary speaker bedeutet der Satz ›A rüstet sich moralisch, B zu ermorden‹ nichts anderes als: ›A bemüht sich, den moralischen Widerstand gegen die Ermordung von B in sich auszuräumen, zu unterdrücken, zum Schweigen zu bringen.‹ Entsprechend bedeutet der Satz ›A rüstet sich moralisch dazu, die Welt in einen dritten Weltkrieg zu stürzen‹: ›A bemüht sich, den moralischen Widerstand gegen die von einem weiteren Weltkrieg zu erwartenden Massenschicksale in Form von Tod, Verstümmelung, Not und Vertreibung in sich zum Schweigen zu bringen, weil er die Absicht besitzt, einen solchen Krieg zu entfesseln.‹ Offensichtlich bedeutet Geiss’ Einschub gerade das nicht. Was in ihm aufgerufen wird, ist die Moral des Krieges, die moralische Aufrüstung, die A-Moralität der Kriegstreiber. Natürlich weiß auch Geiss, dass diese Geste angesichts seines spezifischen Publikums wie seiner Kontrahenten ins Leere geht. Er nimmt sie daher – durch den reflexiven Gebrauch des Verbs – halb und halb zurück, denn wer ›sich rüstet‹, liefert nicht zwangsläufig anderen das Rüstzeug, das nun einmal zur Aufrüstung nötig wäre. Wer sich rüstet, ins kalte Wasser zu springen, versorgt andere selten mit Argumenten, es ihm gleichzutun – von der Schwimmfähigkeit ganz zu schweigen.

Am zweiten Satz verwundert bereits die Parenthese. Worin besteht ihre Funktion? Rechnet der Autor vielleicht die ermordeten ›Slawen, Zigeuner‹ in die soeben fixierte Zahl von sechs Millionen Ermordeten hinein? Oder will er sie, entgegen dem grammatischen Sinn, aber im Einklang mit der für jeden Sachkundigen außer Frage stehenden Bedeutung der Zahl, zu ihr hinzu gezählt haben? Zweifellos erwartet der Autor von seinen Lesern, die Frage für polemisch zu halten, da sie, wie der entsprechende Ausdruck lautet, ›sich von selbst beantwortet‹. Warum lässt er sie dann überhaupt entstehen? Keine der beiden Lesarten ist dem, was da steht, günstig. Die erste setzt den Verfasser dem Vorwurf aus, wenn schon nicht selbst zu ›mäkeln‹, so doch eine unziemliche Affinität zu den Mäklern zur Schau zu stellen, sei es aus leerlaufender beruflicher oder gesellschaftlicher Vorsicht, sei es aus – perfider Verdacht! – vorlaufender Anpassung an Instanzen, deren Aufstieg es gerade zu blockieren gilt. Das mag für abstrus halten, wer will, er kann nicht verhindern, dass jeder einigermaßen sprachkompetente Leser bereits an dieser Stelle stockt, sei es, um dem Autor über die Schwelle zu helfen, sei es, um ihm gegenüber ins Grübeln zu geraten. Cave linguam. Wehret den Anfängen! War das nicht die Botschaft des Textes?

Ebenso wenig geheuer erscheint die zweite, zweifellos korrektere Lesart. Folgt man ihr, so führt die Parenthese sinnfällig vor, was der Satz emphatisch in Abrede zu stellen scheint: eine Hintanstellung bestimmter Opfergruppen, die kulturellen Stereotypen der Opferselektion folgt. Von unter Historikern eher untypischer Unbedachtheit zeugt auch die Rede von der Ermordung der sechs Millionen »in den Vernichtungs-KZ’s«: Unbelehrbaren macht sie den Widerspruch leicht, wenn sie ihn nicht geradezu herausfordert. Gemordet wurde nach damals wie heute gültigem Fachkonsens innerhalb wie außerhalb der »Vernichtungs-KZ’s« sowie bereits vor ihrer Einrichtung. Warum also die Schein-Konkretion, die der Aussage, so wirr sie erscheinen mag, ernsthaften Schaden zufügt? Sie bleibt nicht die einzige: die Bezeichnung ›Zigeuner‹ enthält, nachdem der Sammelausdruck ›Sinti und Roma‹ längst die als diskriminierend empfundene Fremdbezeichnung ›Zigeuner‹ im Bereich reflektierter Rede verdrängt hatte, eine unbegreifliche Anbiederung an die Sprache der Verfolger. Das ist keine quantité négligeable angesichts eines Buches, in dem die Verwendung der Vokabel ›Weltjudentum‹ durch den Kontrahenten (Habermas) genügt, ihn eines unangemessenen Geschichtsverständnisses zu zeihen. Der Verfasser ist sensibilisiert, das heißt: er kennt die Unterstellungsrituale des Schamdiskurses und weiß sich ihrer, wie Habermas selbst, zu seinen Zwecken zu bedienen.

Die öffentlich erhobene Schamforderung, die sich im Verlangen nach ritueller Sprach-Abundanz, nach Bekräftigung stehender Formeln unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, nach Affirmation vorliegender Forschungshypothesen durch neuere Forschungen ohne Ansehen ihrer argumentativen Basis, nach ritueller Abgrenzung gegenüber Gruppen, nach expliziter Ausgrenzung solcher Gruppen über sachlichen Anlass und Verhältnismäßigkeit hinaus und natürlich nach Ergebenheitsadressen und Verwünschungen Dritter bekundet, ist, schon auf Grund der Ambivalenz jeder Schambekundung, unstillbar. Der öffentlich geäußerte Zweifel an der Scham eines Dritten – nichts anderes beinhaltet das System der Unterstellungen, das Geiss in seiner Gegenpolemik an den Debattenbeiträgen von Habermas und Wehler aufdeckt – lässt diese Scham explodieren: als gebremste Wut auf die als als unfair empfundene Herausforderung und die Herausforderer, die sich in ›kalter‹ Analyse niederschlägt, und als ungebremste, irrealisierende Wut auf die Gruppe der ›infamen‹ Schamverweigerer, der man sich – oder die eigene Gruppe – ungerechterweise zugeschlagen sieht. ›Ungerecht‹ ist dabei ein zahmes Wort für den gefürchteten gesellschaftlichen Tod – kein Wunder also, dass die eigene Sprache an dieser Stelle zum verbalen Totschlag tendiert. Nur so werden in Wahrheit unverständliche Sätze wie die zitierten verständlich. Einem Meister der Infamie wären sie schwerlich unterlaufen. Es ist unschwer einzusehen, dass sie nur das Rad der Beschämung und der Schande weiter drehen, insofern sie die wirklichen Gräuel dieser Welt um imaginäre Gräuel bereichern, statt das zugrundeliegende Knäuel an pauschalen Verdächtigungen, falschen Zuordnungen und willkürlichen Begriffsvertauschungen aufzulösen.

Man kann den Historikerstreit als Versuch werten, die Regeln des Schamdiskurses ein für allemal öffentlich zu fixieren. Dass dieser Versuch scheiterte, scheitern musste, war nicht bloß dem folgenden Zerfall des Ostblocks geschuldet, sondern lag in der Sache selbst. Die blinden Flecken in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Kontrahenten und ihrer willigen Nachsprecher luden (und laden noch immer) zum Spott ein. Weder Habermas noch Geiss noch das Gros der zahllosen Mitstreiter und Kommentatoren waren der Umtriebe verdächtig, in deren Nähe sie den jeweiligen Gegner durch schlaue Andeutungen zu bugsieren versuchten, meist unter hohl tönender Versicherung des Gegenteils, so wie alle Beteiligten, vom Urheber der üblen Nachrede bis zum letzten Boten, ganz gut begriffen, dass weder Nolte noch Hillgruber die nationalistischen Bösewichter waren, als die man sie, nicht ohne Folgen für die Personen, verschreien zu müssen glaubte. Wie die Sprache der Political correctness an ihrem eigenen Diskriminierungspotential aufläuft, so scheitert der Schamdiskurs an seiner labyrinthischen Struktur – vor allem dann, wenn er dazu dienen soll, dem Fügsamen – oder Streitbaren – einen Weg ins Freie zu bahnen. Kein Wunder also, dass er zum billigen Denunziationsapparat für jedermann verkommen musste, während Marktautoren wie Henryk M. Broder, in klarer Kenntnis der ausliegenden Schamfallen, sich einen Jux daraus machten, die Galerie der Selbstverhedderer um immer neue Köpfe zu bereichern.

Eine Schambewegung, die unkontrolliert die Gegenstände des eigenen Nachdenkens ergreift und das Eigene daran zu Asche verbrennt, ruft unweigerlich eine zweite hervor: die Scham über die Scham, Scham über das Nicht-Standhalten, das in ihr angelegt ist, über die Fremdsteuerung, sei es durch Körperreaktionen, die sich der Kontrolle entziehen, sei es durch Denk- und Sprachvorgaben, deren überwältigende Potenz keine Widersetzlichkeit duldet, sei es durch soziale Fremdmacht, die sich in den Schamfallen bekundet. Erst diese zweite Scham wird aggressiv – sie bedarf der Blitzableiter und Sündenböcke, denn sie wünscht sich in Szene zu setzen und gleichzeitig von sich abzulenken. Sie ist klug, weil sie weiß, dass ihr jede Art von Sichtbarkeit zum Verhängnis würde. Also gibt sie den Maulwurf und stellt sich blind, sobald Licht in den Tunnel fällt. Zu Recht, denn die blinden Flecken der eigenen Rede sind so beschaffen, dass sie dem schambesetzten Bewusstsein vermutlich selbst dann nicht auffielen, wenn es dem Aufdecker, der sich in der Aufklärer-Rolle gefällt, vertrauen könnte. Das aber ist ausgeschlossen, weil der angeblich ertappte Leugner, Revisionist, Antisemit, Rassist etc. im Zweifel nicht existiert, wohl aber die Scham, die sich zu verbergen weiß, weil sie weiß, dass sie sich verbergen muss. Der letzte, der von seiner zweifachen Scham Kenntnis erhält, ist der sich Schämende selbst, denn er darf – und will – nur von einer Scham wissen: der einfachen, direkten, offenen, moralisch gebotenen Scham über das, was geschehen ist und nie wieder geschehen darf. Schamkultur entsteht durch Kommunikation von Maulwürfen, die, obwohl sie alles voneinander wissen, nichts voneinander wissen dürfen, während die Charaktermasken, mittels derer sie ihre soziale Identität sichern, sich über das Schicksal der Nation oder der Menschheit beugen, als werde es an Fronten entschieden, die weitab von den Bedürfnissen und Erfordernissen der Gegenwart liegen. Aber selbst die virtuoseste Handhabung des Schamkomplexes kann nicht verhindern, dass diese zweifelhafte Waffe ohne Gnade jeden in Mitleidenschaft zieht, der meint, sie ohne Folgen für sich selbst führen zu können. Souveränität ist nicht teilbar: das Eindringen des Anderen über den Schamkomplex führt zu Kippeffekten, die auf Dauer jede Verlässlichkeit zerstören bis auf jene, die im Schamreflex gründet.

 

5. Scham und Grenze. Eine Schlussbetrachtung

Der nationalsozialistische Holocaust, soviel bleibt festzustellen, war und ist für die Lebenden zunächst und vor allem ein Auslöser von Scham. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden konnte und kann beschrieben, erklärt, interpretiert, belegt, bestritten, geahndet, betrauert, aufgearbeitet, befragt, verdrängt, mit Hilfe von Wiedergutmachungsphrasen und Gedenkformeln statuarisiert werden – eines konnte und kann niemand: sie rückwirkend aufhalten oder verhindern oder, denn darauf liefe der Impuls hinaus, sie ungeschehen machen. Ohne diesen mächtig-ohnmächtigen Impuls bliebe vieles an dem, was getan und geschrieben wird, unverständlich. Spürbar wird er in Formeln wie der von der absoluten Sinnlosigkeit dessen, was da geschah, vom totalen Grauen, in theologischen und pseudotheologischen Wortfiguren wie dem ›absolut Bösen‹ und dem ›transzendentalen Menschheitsverbrechen‹, nicht zuletzt an der rituellen Verwendung der Vokabel ›Holocaust‹ selbst, die für eine Entkoppelung der Vernichtungsrealität und der Erinnerung an die von einem schwindenden Kollektiv erlebte Realität des Regimes und seiner Sprache sorgt.

Rituale sind sinnstiftende Handlungen, vor allem im öffentlichen Raum. Speziell für Übergangsrituale gilt, dass sie dabei helfen, Status- und Identitätsprobleme zu meistern, die zwischen zwei gesicherten Zuständen aufzutreten pflegen. Aufarbeitungsritualen, wie man sie im Bereich des Holocaust-Gedenkens, aber natürlich auch andernorts antrifft, scheint, wenn man den öffentlichen Protagonisten folgt, unter anderem die Aufgabe zuzufallen, jeweils neue Generationen auf bestimmte Typen des Gedenkens bzw. der Erinnerung an personal nicht Erinnerbares einzuschwören. Das macht verständlich, dass der Scham, ihrer Stimulation und verbalen Ausgestaltung, dabei eine führende Rolle zufällt. Sie ist die Präge-Instanz, die zwischen dem Kollektivgedächtnis und der Identität der Person vermittelt. Dabei tritt die Schwierigkeit auf, dass Aufarbeitungsrituale per definitionem als Übergangsrituale angelegt sind, während die Logik des Gedenkens sie in die Nähe des Staatskalenders, soll heißen, seiner Feier- und Gedenktage drängt.

Der Schwierigkeit verdankt sich der neo-durkheimianische, sprich kultische Aspekt staatlicher oder staatsaffiner Aufarbeitungsrituale. In vielen Betrachtern nährt er den Verdacht, hier sei eine Zivilreligion mit einem ›negativen Staatsgründungsmythos‹ als Zentrum entstanden, deren Aufgabe es sei, die Bevölkerung zu konditionieren und auf diesem Wege einen bestimmten Politiktypus durchzusetzen. Manche Befürworter einer Politik der Scham mögen es ähnlich sehen. Da sich Schamaffekte zwar benützen, aber nicht festhalten lassen, käme die Negativität vorwiegend in dem Umstand zur Geltung, dass eine so gestrickte Zivilreligion nicht funktioniert: erst der volle Zyklus von Scham und Zerknirschung über das heillose Erbe und wiedergewonnenem Glauben an die Gemeinschaft sowie das in ihr wiedergeborene Selbst könnte das leisten, was hier unterstellt bzw. gefordert wird. Wie die Dinge liegen, fordert der ›Stolz auf das Geleistete‹ in diesem Fall jede Art von Widerspruch, Spott und Ärgeres zwangsläufig heraus. Die Schwierigkeit wächst mit der – grundsätzlich immer bestehenden – Heterogenität der Bevölkerung und dem Vorhandensein kollektiv unterschiedlicher Herkunfts- und Bildungsbiographien z.B. durch Migration. Die diversen Schamfallen, die sich hier auftun, haben mindestens zwei bundesdeutsche Generationen – eine vor, eine nach dem Ende der DDR – bereits in ihrer Schulzeit kennengelernt.

In voller Blüte zeigte sich die Zweideutigkeit des Wunsches, das ›Erbe der Scham‹ stetig zu erneuern, in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als ein junger amerikanischer Historiker (Daniel Goldhagen) mit einer nach den großzügigen Maßstäben der beiderseitigen Gesinnungseliten durchaus ›rassistisch‹ zu nennenden These über das ›Tätervolk‹ einen publizistischen Erfolg einfuhr, mit dem er selbst vermutlich am wenigsten gerechnet hatte. Ganz offensichtlich zielte die sich anschließende rituelle Umarmung des Aufklärers durch die kulturelle Elite des Tätervolks darauf ab, den Geehrten zum Eingeständnis der vollzogenen Konversion zu nötigen und seine Hypothese durch Anerkennung zu ruinieren – was, weitgehend folgenlos, auch gelang. Währenddessen blieb die wissenschaftliche Kritik dort liegen, wohin sie in den Augen der interessierten Öffentlichkeit ohnehin zu gehören scheint – in den Schubfächern der Fachhistoriker. Das statuierte Exempel zeigt: die im Ritus kodifizierte Gestalt der Scham ist das – gesellschaftliche – Tabu.

Goldhagen selbst hat seither das Modell des ›Tätervolks‹ in seinem Buch Worse than War wieder aufgenommen und angesichts neuer Beispiele von Völkermord im früheren Jugoslawien, in Ruanda und im Sudan ›planetarisch‹ erweitert – mit einem subtilen Seitenblick auf die nach wie vor behauptete mörderische Extraklasse der Deutschen. Das beredte Plädoyer für einen präventiven Interventionismus läuft, bei Licht besehen, auf die Forderung nach einer militarisierten Politik der Scham hinaus. Die anthropologische Dimension der Scham erlaubt es, überall und zu jeder Zeit auf sie zurückzugreifen. Die Politik der Scham bedient sich einer Ressource, die das Prädikat ›nachhaltig‹ auf spezielle Weise verdient: Scham wächst nach. Doch wer das Böse durch eine Politik der Scham bekämpft, muss wissen, dass er es mit einem seiner Mittel zu schlagen versucht. Scham ist ambivalent: sie ist jedem zu Willen, der sich ihrer zu bedienen weiß. Sie kann mit einfachen Mitteln hervorgerufen, aber nur schwer gebannt werden. Wer immer es darauf anlegt, öffentlich Scham zu erzeugen und gegen bestimmte Gruppen zu lenken – die Scham, es nicht verhindert zu haben, was auch immer ›es‹ innerhalb des Lebensbereichs des Zuschauers bedeutet –, erweitert die ›Lektion‹ auf einen maximalen Kreis von Betroffenen. Jeder soll am Kampf gegen das Böse teilhaben können, an seinem Platz, mit seinen Mitteln, nach seinen Kräften, gemäß seinem Verständnis von Gut und Böse. Das absolut Böse gebiert und rechtfertigt den universalen und permanenten Kampf für eine bessere Welt – »to make the world a better place«, wie es nach einem Song des Popsängers Michael Jackson 2008 in Barack Obamas Wahlkampf hieß. Wer sich von diesem Kampf ausnimmt, wird durch all diejenigen beschämt, die sich der Menschheitsforderung nicht verschließen. Distanzen in Zeit und Raum werden übersprungen, alles ist gegenwärtig, alles ist gerade im Gang. Der Gang der Ereignisse erlaubt und fordert den Impuls heraus, in ihn einzugreifen, ihn aufzuhalten, die Schauspieler in dem Film, der Information heißt, vor dem Umschlag des Spiels ins Finale zu bewahren, sie wieder nach Hause zu schicken, bevor die im Raum stehenden Gräuel sie vollends ergreifen und verschlingen.

Der Unterschied zwischen psychosomatisch induzierter und öffentlich initiierter Scham liegt auf der Hand: letztere findet in sich keine Grenze. Sie ist sowohl Scham als auch Schamfalle. Beschämt findet sich zum Beispiel, wer keine Scham zu empfinden vermag oder über Gründe verfügt, sich ihr im Einzelfall zu entziehen – zum Beispiel durch Informationen, die ihn in die Lage versetzen, zwischen Aufklärung und Desinformation zu unterscheiden. Nicht wenige Öffentlichkeitsarbeiter bestreiten, dass diese Möglichkeit angesichts der Informationsflut der Medien und der privaten Unmöglichkeit, ihre Quellen zu kontrollieren, überhaupt existiert. Wahr ist demzufolge, was dem Gemeinschaftsgefühl dient. Eine solche Überzeugung, allgemein geworden, verändert die Welt. Wer in ihr gesellschaftlich aktiv werden möchte, steht weitgehend kriterienlos vor der Frage, in welcher Gemeinschaft er die wahren Kämpfer für das Gute zu finden wünscht. Die Blindheit der Wahl überträgt sich nolens volens auf die Entscheidungen der erwählten Gemeinschaft. Sie sind, jedenfalls im kämpferischen Bewusstsein der Parteigänger, von Haus aus auf die metahistorische Sendung geeicht, der der amerikanische Präsident Bill Clinton in seiner Rede zur Eröffnung des Holocaust Memorial Building in Washington am 22. April 1993 als Vertreter einer sendungsbewussten Nation bewegten Ausdruck gab:

So we must stop the fabricators of history and the bullies as well. Left unchallenged, they would still prey upon the powerless; and we must not permit that to happen again.

Was immer dem Sprecher dabei vorgeschwebt haben mag: die seither vergangenen Jahrzehnte haben die Welt einen neuen Schrecken gelehrt. Ein Stück Ratlosigkeit bleibt dem Wunsch, die Menschheit vor sich selbst zu bewahren, inhärent.

 

Notizen für den schweigenden Leser

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.