1.
Dem raffenden Leser entspricht der zeilenschindende Autor. Beide messen mit einerlei Zeitmaß, sie bewohnen, wenn schon nicht dieselbe, so doch die gleiche Zeit. Sie kennen einander im voraus, sie belauern sich in ihren Gewohnheiten und sie wissen, sie sind vom gleichen Schlag. ›Lies mich‹, drängt der Verfasser, ›das hier ist guter Stoff, der präzise jeder deiner schlechten Gewohnheiten folgt. Ich verspreche dir, du wirst keine bösen Überraschungen erleben. Wenn du den Buchdeckel schließt, dann im Bewusstsein, deine Zeit verdoppelt und verdreifacht zu haben: durch diese sparsame und gleichzeitig effiziente Art von Lektüre, durch die Überzeugung, etwas kulturell ungemein Wertvolles geleistet zu haben (immerhin, du hast ein Buch gelesen), schließlich durch die beruhigende Erfahrung, damit nichts Besonderes getan zu haben, vielmehr nur in dem fortgefahren zu sein, was dich auch sonst umtreibt. Der Voyeur in dir darf sich schmeicheln, Einblick genommen zu haben: in was auch immer, wie auch immer, das tut nichts zur Sache. Und, gib’s zu: nichts anderes hast du erwartet. Wäre ich dir anders gekommen, hätte ich dich zu einer umständlicheren Form der Lektüre angehalten, dann hättest du das Buch nach den ersten zwei oder zwanzig Seiten aus der Hand gelegt. So sind wir beide zufrieden – ich, weil du mein Buch gekauft hast und deinen Freunden weiter empfehlen wirst, du, weil ich dir bewiesen habe, dass Bücher kein Kopfzerbrechen bereiten müssen, sie vielmehr die natürlichste Sache der Welt sein können.‹
– Dieser Schriftsteller schreibt ja wie ein normaler Mensch. Ich hätte das nicht geglaubt.
– Aber das ist es ja: Zeigen Sie uns einen normalen Menschen, der so schreibt!
›So weit, so gut. Wir, das heißt du, Leserin oder Leser und ich, der Autor, haben uns ein Stück weit kennen gelernt, man könnte fast sagen, aneinander gewöhnt, nun gilt es Abschied nehmen: für mich, weil ich zwar nicht am Ziel meiner Wünsche, wohl aber mit meinem Pensum am Ende bin und wieder anders können möchte, für dich, weil von mir nichts mehr kommt was dich einerseits erleichtert, andererseits enttäuscht. Diese Enttäuschung, diese notwendige Enttäuschung enthält die Quintessenz unserer Beziehung. Ich habe dir, als du das Buch aufschlugst, etwas vorgemacht, du hast dir etwas vormachen lassen, wie gesagt, nichts Besonderes, aber darin liegt das Besondere, denn hinter den Fassaden, den Gebärden, den Aus- und Einlassungen, dem Gerede, das dich hinhält und immer fort geht, liegt bei dem, was ich dir in die Hand gegeben habe, nicht das Andere, Ungesehene, Unkontrollierte und Bedrohliche, sondern ein harmloser Einband, der leicht aufruht. Es ist nichts dahinter: diese im Leben wie in der Kunst beruhigende Feststellung hat dich während des Lesens nie verlassen, selbst an Stellen nicht, an denen du deine Fingernägel zu zerkauen oder dir die Haare zu verdrillen begannst. Natürlich habe ich dir etwas vorgemacht, aber das geschah in unser beider Einverständnis, es war ein Spiel, ein Würfelspiel, bei dem man niemals weiß, wohin der Würfel rollt – du wusstest nicht, womit ich dich eine Seite weiter narren würde, ich, ob du die Seite, die ich da gerade ausheckte, überhaupt lesen, ob du sie nicht vielleicht überblättern, überschlagen oder in einem Zustand völliger Gedanken-, ja Hirnlosigkeit überfliegen oder überlesen würdest oder ob nicht vielleicht im Gegenteil der Fluss deiner Assoziationen just hier so stark, so dicht werden würde, dass das Geschriebene darin wie in einem Nebel zerfließt oder sogar untergeht. Ich weiß es wohl: um solcher Momente willen – unvorhersehbar, unerschreibbar – liebst du meine Bücher, bewahrst du die Erinnerung an sie, auch wenn du die Titel vergessen hast und die Inhalte längst mit denen irgendwelcher Filme und der Spur, die das unentrinnbare Nunc stans des Fernsehens in dir hinterlässt, zusammengeflossen sind. Nicht dass du dich erinnertest – an sie und damit an dich –: dazu sind sie zu diffus, zu wenig eigen und, um ehrlich zu sein, vergessener von Anfang an als jeder andere Erinnerungsstoff. Woran du dich erinnerst, ist das unbestimmte Bewusstsein, unterhalten zu werden, das sich während dieser Lektüren ausgebildet haben muss, und das wollten wir zwei doch, nicht wahr?‹
2.
So redet der zeilenschindende Autor und er weiß sich doppelt im Recht – mit dem, was er ausplaudert und mit dem, was er verschweigt. Denn natürlich könnte man darauf hinweisen, dass die Zeit, die er vertreibt, nicht per se leere Zeit ist, die darauf wartet, vertrieben zu werden, er also ein Dieb, ein Zeitdieb ist – ohne Rücksicht darauf, dass seine Leser mit der Zeit, die die Lektüre seiner Bücher beansprucht, etwas Besseres hätte anfangen können, etwas Besseres als eine Lektüre: darin liegt die Differenz. Gibt es Besseres als eine Lektüre? Kann es Besseres geben als eine Lektüre?
An dieser Frage scheiden sich die Geister, aber nicht wirklich: an ihr sind sie geschieden – von Anfang an. Lassen wir also diejenigen ziehen, für die es Besseres gibt als eine Lektüre. Gerade ihnen tritt, sobald sie sich frei wähnen, der zeilenschindende Autor in den Weg, um den Obolus einzufordern. Denn die Lektüre ist... unausweichlich. Wenn es etwas Besseres oder Schlechteres gibt als eine Lektüre, dann eine Lektüre.
Es gibt die Lektüre und es gibt die bessere Lektüre – so wie es immer etwas Besseres gibt, etwas höher Gestelltes, in dessen Besitz es einen nach den Niederungen gelüstet oder zumindest nach ihren Aufblicken. Die Niederungen der Lektüre sind blicklos, ein geschlossenes Universum mit transportablen Grenzen, unermesslich in seiner Fähigkeit, sich zu erneuern und aktuell zu wirken. Den Lesern ein X für ein U vormachen: darin liegt seine Verführungskraft, die sich bestens gerade an solchen Stellen bewährt, an denen es dem Verfasser bitterernst wird. Der Schalk ist das Genre und das Genre ist das Universum der Redundanzen, das jede Art von Überzeugungen ausbrütet, Über-Zeugungen, Zeugungen jenseits des zu Bezeugenden, Apotheosen des leeren Geredes, Häutungen eines imaginierten Heute, einer Instanz, die niemals war und niemals sein wird, obwohl sie sich als das Bestehende und die Kritik daran aufspielt.
Die Literatur der Niederungen erkennt man am sichersten daran, dass sie Ansprüche stellt. Ein Leser, der nicht bereit ist, ihr in jede Dummheit zu folgen, kann kein idealer Leser sein. Im Ernst, man muss ihn verfolgen – womit? Mit Ansprüchen, womit denn sonst. ›Das ist anspruchslose Kost‹, verrät die Schöne ungefragt, sobald das Leser-Auge wohlgefällig auf dem glänzenden Einband der Konkurrenz verweilt, ›was ich dir biete, geht weit darüber hinaus, aber natürlich setzt meine Lektüre voraus, dass du nicht zu den ersten besten gehörst, sondern dich zu orientieren verstehst‹. Gerade das heißt ›im Bilde sein‹ – wer nicht im Bilde ist, ließe sich folgern, gehört auch nicht hinein, er weiß gar nicht, wovon die Rede ist, er ist kein Leser, sondern ein Barbar in einem Garten, einer, dem das Buch nichts sagt, vielleicht ja nur, weil er seinen nichtssagenden Charakter ganz richtig erkannt hat.
Was nicht automatisch heißt, dass er, bekäme er erst das richtige Lese-Futter vorgesetzt, ein richtiger Leser wäre. Der richtige Leser ist, wie der falsche, ein Trugbild. Der abgerichtete Leser, der dressierte Leser, der müde, der unaufmerksame, der blasierte Leser, der Leser ohne Lektüre, der unentwegt die Seiten eines Inneren umwendet, die vielleicht die seinigen sind oder von ihm handeln, der scharfe, gebannte, übernächtigte, der gesättigte, hypernervöse und verletzte Leser, sie alle fließen zusammen in dem einen, dem wirklichen Leser – pardon, der Leserin –, der oder die als Person nicht existiert und auch nicht zu existieren braucht, weil es unmenschlich und wahrhaft ›kontraproduktiv‹ wäre, als Leser zu existieren. Nun, in den Niederungen der Literatur wird der Leser vorausgesetzt und alle stürzen auf ihn zu, ohne ihn erreichen zu können. Die Rede vom Leser ist die blanke Waffe, die der Autor auf die Kritik, der Lektor auf den Autor, die Kritik auf Autor und Publikum richtet, eine Weise, in Abwesenheit einer Autorität zu reden, die, wäre sie vorhanden, unbedingt die eigene wäre.
Was die bessere Lektüre von der schlechteren unterscheidet, entscheidet sich zwischen den Zeilen, dort, wo sie zu Hause ist: nie ganz Buch, nie ganz das passive Tätigsein, das man ›Lesen‹ nennt, nie ganz abhängig vom Gelesenen oder Gelesenwerden, nie ganz unabhängig davon, niemals ganz ›Stoff‹ und niemals ganz ›Vollzug‹. Es entscheidet sich in den ausgedehnten Momenten, in denen der Leser sich teils innerlich, teils äußerlich entfernt, sei es, dass ein Bedürfnis ihn heimsucht – der Auslöser sind viele –, sei es, dass er sich nicht gefordert oder – dass er sich gefordert sieht.
In solchen Zwischenzeiten entschwebt die ›Fiktion‹, diese permanente Aufforderung an den Leser, sich etwas vorzustellen. Was davon noch in der Luft liegt, ist keineswegs ›die Sache selbst‹. Von dem, was nun in den Vordergrund tritt, weiß man nicht, ob man es besser den Unterschied nennen sollte oder das Ununterscheidbare – je nachdem, ob man den Akzent auf die Unmerklichkeit des Übergangs oder auf die Heftigkeit des Phänomens legt. Im Ununterscheidbaren liegt der Unterschied.
In solchen Momenten wird die Zeit nicht mehr vertrieben. Sie bleibt und sie gruppiert sich neu. Die nie ganz zu rechtfertigende Abschweifung des Lesens findet ins Ziel. Kein eingebildeter Leser mit seinen Gelüsten und seinem erschreckenden Bedürfnis nach ›Unterhaltung‹ schiebt sich mehr zwischen das Buch und den, der liest.
Der letzte Reiz der Lektüre liegt nicht im effektiv verschwenderischen Umgang mit der verfügbaren Lebenszeit. Er liegt in ihrer rigorosen Verwandlung und, was auf dasselbe hinausläuft, der ›unwiderruflichen‹ Formung dessen, der ihr erliegt. Bücher sind Anordnungen zur Verwandlung von Bewusstsein in Bewusstsein. Es gibt Bücher, die schmecken leicht, fast ein wenig leer, sie gleichen Zeigern.
3.
Die besseren Bücher, also diejenigen, die dem gesammelten Ernst des Lesens standhalten und genügend Anreize bieten, um in erneuter Lektüre zu ihnen zurückzukehren, bedienen eher das Spektrum der Auffassungen, zu denen die Menschen im Lauf ihres Lebens neigen, als dass sie ihnen wirklich Neues zu sagen hätten. Wirklich neue Gedanken treten zu selten ins Blickfeld, als dass sie den Reiz des Lesens begründen könnten. Dazu kommt, dass sich das Neue daran, weit davon entfernt, den Leser unmittelbar anzuspringen, erst in mühsamen Prozessen immer erneuten Überlesens und Überdenkens herausschält. Das Neue, was immer es sei, tritt dem Leser nicht als Neuheit entgegen, sondern als das Neue einer Vergangenheit, die nicht vergangen genug ist, um nicht zur Erklärung oder Begründung von etwas Gegenwärtigem herangezogen zu werden. ›Das war damals ein bahnbrechender Gedanke‹ heißt fast immer: ›Auf dieser Bahn bewegen wir uns noch heute‹ oder, falls gerade nicht: ›Heute wissen wir es besser‹. In diesem Besser-Wissen steckt die vergangene Auffassung, sie ist in das ›bessere‹ Wissen eingegangen und nur um den Preis des Nichtverstehens aus ihm zu entfernen. Soll heißen: wer sagt, etwas sei neu oder dann und dann neu gewesen, glaubt damit etwas zu verstehen – und nicht etwa nur zu wissen. Was wir verstehen, das ist der Gedanke, der uns aufgeht, der in uns aufgeht und den wir deshalb ›neu‹ nennen. Das gilt für Gedanken, aber es gilt auch für Gegenstände: eine Erfindung würdigen – und sei es die des Rades – heißt, eine anfängliche Welt entwerfen, in der gerade dieser ›Einfall‹ (sic!) das Momentum repräsentiert, den nicht weiter qualifizierbaren Sprung zwischen dem, was bis dahin galt und sich nun unwiderruflich zurückzieht, weil seine verfügende Kraft gebrochen ist, und dem, was sich spontan oder in langen Prozessen zu einer ›neuen Welt‹ zusammenschließt, in der die Grenze zwischen dem Wirklichen, dem Möglichen und dem Unmöglichen anders, aber ähnlich eindeutig verläuft. Das scheint übertrieben, aber dem scheint nur so, weil die Verwechslung von Sache und Deutung Teil der Deutung und damit unhintergehbar ist. Das unbedeutende Neue, die kleine Findung, die kleine Erfindung – das klingt bereits nach Captatio benevolentiae, nach dem Eingeständnis der Unsicherheit, ob es auch erlaubt sei, das Deutungsschema des ›Neuen‹ dort anzuwenden, wo man es gerade versucht. ›Versuchen wir’s doch mal!‹ – dieser älteste Habitus, den vielleicht zuerst die Philosophie in die Praxis der Weltdeutung hineingebracht hat, während er vorher der Welt des Schmeckens und Tastens und ihrem spezifischen Wagemut zugehörte, ist aus der Annoncierung des Neuen aber nicht wegzudenken, und gerade die ›Größe‹ der Neuheit, der Versuch, an dieser Stelle die Spreu vom Weizen zu sondern, ist wenig mehr – nämlich nichts – als eine Waffe im Streit der Deutungen, in der Konkurrenz der Genealogien und, nicht zuletzt sei es gesagt, der Archäologien.
4.
Die Archäologie des Wissens, dieser seltsame Foucaultsche Topos, lebt von einer profilsüchtigen Umkehrung – ›Dokumente zu Monumenten‹ –, für die ein Preis zu entrichten ist. Das Zurückbetten der Quellen in die Anonymität der Diskurse honoriert die Unempfindlichkeit der wissenschaftlichen Plebs gegen die eminente Einzelleistung und versiegelt das Gedächtnis lebendiger kultureller Einheiten. Damit schärft es die Dichotomie von ›totem Wissensstoff‹ – den unverdaulichen Wissenssteinen, die der moderne Mensch Nietzsche zufolge mit sich herumträgt – und ›lebendigem Wissen‹ um eine weitere Komponente an.
Demgegenüber gewinnt das praktische Ergänzungsverhältnis, in das die reale Grabungstätigkeit zum Zeugnis der schriftlichen Quellen eintritt, seinen Charme nicht so sehr durch Misstrauen gegenüber den Quellen, sondern durch den Glauben an ihre wörtliche und keineswegs sprichwörtliche Zuverlässigkeit. Verständlicherweise tritt dieser Glaube weniger dort in Erscheinung, wo in normalwissenschaftlicher Routine Formation um Formation erschlossen, soll heißen fleiß- und detailgerecht registriert und gesichert wird. Mehr davon findet sich in den freibeuterischen Zugriffen Einzelner, die selten wirklich Einzelne sind – obwohl der ewige Schliemann in allen Köpfen spukt –, vielmehr entdeckungshungrige Rudel, die allerdings durch einen Riss in der Wahrnehmung Einzelner auf den Weg gebracht werden.
Hans Peter Duerr, der Ethnologe der Traumzeit, gibt in dem Buch Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt eine plastische Beschreibung dieses Vorgangs und der heiklen Konstellation, in die ein Wissenschaftler geraten kann, der sich auf einen solchen Weg begibt. Der Riss, der die offenbar notwendige Distanz zur Disziplin, zur Arbeitsumgebung und den landläufigen Interpretationen von Quellen und Befunden herstellt, lässt den freibeuterischen Zugriff als etwas erscheinen, das er wahrscheinlich in hohem Maße auch ist, aber anders, als es die Unterstellung will. Die Sucht, das Neue in der profanen Wiedergewinnung des mittels autoritativer Deutungen sakralisierten Alten zu suchen, enthält das Motiv der Ich-Sucht oder Ich-Suche auch und gerade dort, wo sie sich darauf nicht reduzieren lässt. Das anspruchsvolle Freibeuter-Ich weiß sich durch primitive Schatzsuche, der das Abenteuer und der glitzernde Reichtum als Abschluss und Belohnung genügt, stets überholt, es weiß die Orte, die es aufsucht, im voraus geplündert, aber eben geplündert, das heißt ohne Sinn und Verstand, unter Hinterlassung weiterer identifizierbarer Spuren, um ihren vordergründigen materiellen Wert gebracht, zu dem sich der wissenschaftliche nur zu leicht hinzugesellt.
Die Zeit, in der das Neue im Dienste der Wissenschaft entdeckt, rubriziert und präpariert in den Schautruhen des allgemeinen Bewusstseins abgelegt wurde, neigt sich erkennbar dem Ende zu. Das hat weniger damit zu tun, dass Entdecken insgesamt eine mühsamere und seltener vom Erfolg gekrönte Tätigkeit geworden ist, als dies dem durchschnittlichen Wissenschaftler-Ego zuzumuten wäre (denn auch das Gegenteil, die unglaubhafte Leichtigkeit des Entdeckens im Bann gezielter Förderung, scheint der Fall zu sein), als damit, dass es mit der Dienstbarkeit in der Wissenschaft wie anderswo eine andere Richtung genommen hat als dies die klassischen Texte, etwa Max Webers obligater und obstinater Vortrag Wissenschaft als Beruf, ungefragt versichern. Ob sich die Zahl der Erkenntnisse, also des ›verfügbaren Wissens‹, in zwei, vier oder zehn Jahren verdoppelt, ob seine Halbwertzeit dabei rapide gegen Null tendiert oder nicht, ist vielleicht nicht so wichtig wie die unübersehbare Tatsache, dass es vor allem da zutage gefördert wird, wo es, nun, wo es gefördert und nachgerade gefordert wird:
»Das Umschreiben eines Forschungsantrages als Resultat des Besuches eines Wissenschaftlers bei den entsprechenden Stellen in Washington beinhaltet meist mehr als ein Umändern des Titels. Es heißt, dass eine Neukonzeptualisierung wesentlicher Teile des Inhaltes der geplanten Forschung vorgenommen werden muss. Ein Wissenschaftler, der seine Verfahrensweisen umstellt, um so der Orientierung des Vorstands eines Institutes zu entsprechen, an dem er sich um eine Position beworben hat, ändert damit auch die zukünftigen Ergebnisse dieser Forschung. Und Untersuchungen, die je nach der perzipierten Reaktion der Industrie, mit der man einen Forschungskontrakt hat, verfolgt oder aufgegeben werden, können ein ganzes Forschungsprogramm in die eine oder andere Richtung steuern.«1
Das ›geforderte‹ Wissen aber – ist es das neue, das klein oder sogar groß geschriebene Neue? Gähnend wendet sich die cupitidas rerum novarum vom industriell gestützten Wissensprozess ab und verlangt umgehend nach dem Neuen. Der industrielle Freibeuter, der Mittel und Wege findet, eine nur wenigen zahlungskräftigen und systemstarken Kunden vorbehaltene Technologie quasi über Nacht einer Massenkundschaft zu erschließen, und darüber nicht nur unermesslich reich, sondern zur planetarischen Kult- und Hassfigur wird, der wissenschaftliche Freibeuter, der unbekümmert auf Reichtum und Ruhm aus ist und, gleich ob es sich um die Entschlüsselung der DNA, um Klima- oder Gehirnforschung handelt, entschlossen eines der Traumprojekte der Menschheit so zurechtdefiniert, dass seine Erfüllung ›kontingenterweise‹, wie es sich gehört, mit dem erfolgreichen Abschluss des eigenen drittmittelgeförderten Forschungszyklus zusammenfällt – sie beide handeln weder im Dienst der Menschheit noch in dem der Erkenntnis, sprich: der Wissenschaft. Sie handeln aus einem intuitiven Wissen darum, dass das Subjekt, anders als avancierte Theorien vom Neukantianismus über den logischen Positivismus bis zum Poststrukturalismus und darüber hinaus immer wieder suggerieren, nicht im ›gesicherten Gang der Wissenschaft‹, im unermesslichen, aber nicht unendlichen Vorrat ›sinnvoller Sätze‹ oder in der umschließenden ›Episteme‹ historischer Kommunikationsgemeinschaften aufgeht, sondern in der ebenso flüchtigen, ›peripheren‹ wie stabilen Berührung des Einzelnen mit dem Neuen seinen Ort hat.
5.
Es gibt das Neue, kein Zweifel. Oder: ein Narr, wer daran zweifelt. An derlei Narren leidet die Welt keinen Mangel, sie bilden den Chor, der den Weltprozess begleitet. Wer annimmt, dass in ihm die Enttäuschten das Wort führen, wird wohl nicht ganz falsch liegen. Daraus zu schließen, dass Enttäuschung als Ritual mit dem Zweifel an der Neuheit des Neuen im Bunde steht, liegt nahe. So konnte es geschehen, dass auch das ›schlechthin Neue‹, das Erlösungswerk des Gekreuzigten, von dem her sich Weltgeschichte als Heilsgeschichte konstruieren ließ, den Glauben der Menschen verließ und unter seinen professionellen Hütern ins deutbare Irgendwie diffundierte. ›Wir wurden getäuscht‹ – dieser Satz gilt (unter den Bedingungen des Aufbruchs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, die in der Kritik von Anfang an als fremdverschuldete erscheint) immer und nirgends, denn der Weg der Enttäuschung, des Sich-Enttäuschens im Sinne des Sich-Entschlagens steht jedermann überall frei - was den Glauben ans Neue und den Glauben ans Wunderbare oder an das Wunder in enge Nachbarschaft rückt. Ein Wunder ist es, wenn sich der erste Mensch in die Lüfte erhebt, ein Wunder ist es, wenn die erste menschliche Stimme über den Atlantik dringt, ein Wunder ist es, obzwar ein fürchterliches, wenn der Knopfdruck eines Menschen Städte vernichtet und Landstriche verwüstet, ein Wunder ist es, wenn der erste Krebspatient von seiner Krankheit genest – es ist aber kein Wunder, es ist das banale Gewusst-Wie, dem die dichte, nicht abzustellende Reihe von Versuch und Irrtum vorausgeht und folgt. Kein Wunder also, dass fast jede ›bedeutende‹ Erfindung zu verschiedenen Zeiten oder wenigstens an verschiedenen Orten für unterschiedliche ›Erfinder‹ reklamiert wird. Der Status der Neuheit, so paradox das klingt, setzt Deutungshoheit voraus.
Das wahrhaft Neue fällt (oder ›steigt‹) vom Himmel – was die Frage aufwirft, wie es dort hinaufgelangt ist. Gerade diese Frage stellt man an Wunder, es ist vielleicht der Kern des Sich-Wunderns. ›Das wäre doch etwas Neues – etwas ganz Neues‹, sagt die Empfindung, ›sehen wir einmal nach, was dahinter steckt.‹ Dass das Neue im Gewand des ›ganz Neuen‹ daherkommt und als solches sich die Entzauberung gefallen lassen muss, ist nicht so selten und eher das Gegebene. Denkbar wäre, immerhin, dass die Entzauberung nicht gelingt. Aber alle, die sich professionell mit diesen Dingen befassen, wissen, dass das Spiel so nicht läuft. ›Es ist nicht zu fassen‹, sagt der gemeine Verstand, und der auf diese Dinge trainierte antwortet ihm gut mephistophelisch: Zu fassen ist es wohl, allein es fehlt die Neuheit. Die Neuheit des Neuen findet sich an der Grenze zwischen ertüftelter Möglichkeit und Ereignis – wenn sie sich denn findet, was die Frage war. Nicht das Ereignis selbst ist neu – sonst wäre, da Ereignisse Singularitäten sind, alles neu, was geschieht –, sondern das, was mit ihm eintritt: die nunmehr verbürgte Aussicht, dass das, was sich da ereignet, immer und immer wieder geschieht oder zu geschehen vermag. Es kann gar nicht anders sein, wenn das Neue einen alternativen Weltzustand anzeigt, in dem es kenntlich wird, während es in einem anderen als ›bloße‹ Singularität vielleicht vorhanden, aber nicht als solches erkennbar ist. Nicht jedes Neue tritt mit der welthistorischen Prägnanz ins Dasein, an die sich ›die Welt‹ – ein medial erzeugtes und vermitteltes Ganzes – spätestens seit den ersten Atombombenabwürfen gewöhnt hat. Schon die Erfindung des Schießpulvers verliert sich in den zeitlichen Tiefen eines unspektakulären – Militärs würden vielleicht sagen: inadäquaten – Gebrauchs, in dem sich ihre weltverändernde Potenz nicht ohne weiteres zu erkennen gibt.
Falls dem so ist, falls, im einfachsten Fall, das Vorhandensein einer Klasse von Gegenständen oder Geschehnissen von einem bestimmten Zeitpunkt an als das gilt, was man als ›neu‹ bezeichnet, so erhebt sich die weitergehende Frage, ob es denn so etwas wie neue Gedanken gibt und geben kann. Wenn es etwas gibt, dessen Vorhandensein in der Welt schlechterdings nicht kontrollierbar ist, dann sind es Gedanken – jedenfalls solange sie bloß als Gedanken und nicht in Form von ›Konzepten‹existieren, deren bindende Kraft institutionell erprobt und genützt wird. Ein solches Konzept ist, wie bekannt, die Religion, und wenn langfristige Bindewirkung einen ihrer Hauptvorzüge darstellt und deshalb ruhig als Teil des Konzepts angesehen werden kann, so darf doch angesichts der Geschichte der Religionen, ihrer Schismen und Ketzereien nicht ausgeschlossen werden, dass auch im Horizont dieses Konzepts sich hin und wieder Neues zu Wort meldet – angesichts allfälliger Sanktionen in der Regel wohl mit – wenigstens unmittelbar – eher negativen Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Gemeinschaft, in deren Mitte es Gehör findet. Was ›die Menschen‹ sich bei alledem denken, insbesondere in den durchritualisierten Perioden, aus denen ›nichts Neues‹ zu berichten ist, bleibt nicht erst dann außer Betracht, wenn die ›reservatio mentalis‹, die ›private Überzeugung‹, die niemanden etwas angeht, selbst explizit zu einem Teil des Konzepts wurde. Dass zur Gedankenfreiheit die Publikationsfreiheit hinzutreten muss, um die Abweichung sichtbar zu machen, ist ein aufklärerisches Konzept, das den Gedanken der – nunmehr positiv vermerkten – Neuheit eines Gedankens mit dem existentiellen Einsatz der Person im Namen des Neuen verbindet. ›Denker‹ ist, wer es unternimmt, die ›Geltung‹ eines Gedankens im Kampf um Anerkennung zu ›erstreiten‹: in der ›Wissenschaft‹ erhält die Wechselbeziehung zwischen dem ›iterativen‹ Denken, in dem der Gedanke in der ›Wiederholung‹ eines Gedachten besteht, und dem ›innovativen‹ Denken eine feste Form, insofern die Innovation sich durchsetzen muss, um als solche zu gelten.
Der Ausdruck ›Konzept‹ wurde mit Bedacht gewählt, weil er einer von denen ist, die zwischen den ›Disziplinen‹ – oder ›Thematisierungshinsichten‹ – stehen und eigentlich ein Konstrukt von Konstrukten meint, und zugleich in einer Art fließenden und schroffen Übergangs einen Anspruch und eine Aufforderung an den Einzelnen beinhaltet, der ›sich‹ einmischt oder ›einbringt‹ – sei es in wissenschaftlichen, sei es in politischen, technischen oder ökonomischen Angelegenheiten. Worterklärungen, die zwischen ›Begriff‹, ›Entwurf‹, ›Plan‹, ›Idee‹ und anderen Substituten schwanken, vermeiden in der Regel die Auseinandersetzung mit der Dynamik, die neueren Verwendungsweisen innewohnt. Wer eine Schneise in den Dschungel möglicher Vorgehensweisen schlagen, einen Antrag stellen, ›seine Richtung‹ markieren, ›seine Vorstellungen erläutern‹, ›präzisieren‹, ›ausbauen‹ soll, sieht sich in einer anderen Lage als jemand, der ein ›Gebiet‹ bearbeitet, auf dem auch andere tätig sein können, und damit einen ›Beitrag‹ zu was auch immer leistet: er wählt eine Art der Kartierung (oder wird dazu genötigt), die den gegenwärtigen ›Aufenthaltsort‹ als Ausgangspunkt eines Unternehmens verabsolutiert, das in Angriff genommen werden und gemäß einer zu explizierenden Kosten-Nutzen-Rechnung bewältigbar sein oder scheinen muss. ›Ein Konzept haben‹ kann ebenso fatale Folgen zeitigen wie das Gegenteil, es bleibt aber der ›Schlüssel zum Erfolg‹, um im Bereich der banalen Redensarten zu bleiben, die ebenfalls Schlüsselfunktion besitzen. Dass ein Konzept ›sich durchsetzt‹, ist die gängige, die aktuelle Vorstellung des Neuen, der die Rede von den ›neuen Herausforderungen‹ zur Seite geht, denen man – selbstredend – mit neuen Konzepten zu begegnen hat. Ein solches – erbrütetes, ertüfteltes – Konzept muss aber, wie jedermann weiß oder zu wissen glaubt, ›umgesetzt‹ werden, um sich durchsetzen zu können – eine eigentümliche Vokabel, ebenso geeignet, das Mysterium des Neuen zu beherbergen, wie der Stall von Bethlehem, in dem zweifellos auch ›etwas umgesetzt‹ wurde. Man sollte, wie angedeutet, die Funktion der christlichen Erfolgsstory, die, nachdem das Dogma in den Hintergrund getreten ist, weiterhin Wissenschaftler- wie Schauspieler-Viten prägt, nicht geringschätzen. Das Neue ist das Neue, solange der Symbolismus des Novum Testamentum nicht aus der Welt verbannt ist.
Unter dem primären Eindruck der nationalsozialistischen Judenvernichtung und der ›Unglaublichkeit‹ der Berichte angesichts dessen, was da zu berichten war, hat Hannah Arendt einen paradoxen Sachverhalt formuliert: je singulärer ein Geschehen ist, je entschiedener es die Maßstäbe dessen sprengt, was jederzeit geschieht oder wovon bereits andernorts oder zu einer anderen Zeit die Rede war, desto eher steht der Bericht davon unter dem Verdacht der Lüge und desto mehr wird die persönliche Glaubwürdigkeit des Bezeugenden zu einer handlungsleitenden Größe. In einer Situation, in der Wahrheit und Lüge für die sinnigerweise ›außenstehend‹ Genannten prinzipiell nicht zu unterscheiden sind, verschmilzt das, was die ›Wahrheit‹ der Tatsachen heißt, mit der Faktizität des Bezeugens. Jean-François Lyotard geht einen Schritt weiter, wenn er das Dilemma wie folgt beschreibt: »›Tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen‹ zu haben wäre die Bedingung für die Autorität, ihre Existenz zu behaupten und den Ungläubigen zu belehren. Zudem muss man beweisen, dass sie in dem Augenblick todbringend war, als man sie sah. Der einzig annehmbare Beweis für ihre tödliche Wirkung besteht darin, dass man tot ist. Als Toter aber kann man nicht bezeugen, dass man in einer Gaskammer umgekommen ist.« Dem steht allerdings der alltägliche und historische Begriff von Zeugenschaft klar entgegen: Zeuge ist, wer von einem Vorgefallenen aufgrund eigener ›Wahrnehmung‹ berichten kann, nicht nur, wer selbst in das Vorgefallene involviert ist. Arendts Überlegungen sind genauer als die Lyotards – absolute Zuverlässigkeit besäße, wie jedes andere, nicht einmal das Zeugnis des Getöteten. Der reale Gang der historischen Forschung, so ließe sich anfügen, kann zwar die Paradoxa der Gewissheit nirgends außer Kraft setzen, wohl aber den Zweifel an dem, was geschehen ist, begründungspflichtig machen und damit zerstreuen.
Aus der radikalen Notwendigkeit des Bezeugens hat sich eine Gedenkkultur entwickelt, deren eigene Paradoxa heute für jeden Einsichtigen auf der Hand liegen. Das meint nicht das spezifisch jüdische Gedenken, sondern jene besondere Präsentationsform des Novum Novum Testamentum, das die ›faktische‹, aber natürlich in Deutungen präsente Zurücknahme des christlich oder utopisch bestimmten Erlösungswerks durch das Geschehene postuliert: die willkürliche und inhumane Duplizierung der Vernichtungsmaschinerie, als die sich die Geschichte dem von keinerlei transzendenten Motiven getrübten naturalistischen Blick auf die ›Gegebenheiten‹ darstellt, im Zentrum und mit den Mitteln der ›Kultur‹. Für sie wird – was im Kontext dieser Kultur ›Sinn macht‹ – der Status des Neuen, des Niedagewesenen reklamiert. Der inzwischen ebenfalls ›Geschichte‹ gewordene westdeutsche Historikerstreit der achtziger Jahre war auch Ausdruck des Dilemmas, in das eine Geschichtsschreibung zwangsläufig gerät, die für diese Art des ›absolut Neuen‹ von ihrer Methodik und ihrem Selbstverständnis her nicht zuständig ist (eine vornehme Umschreibung des Umstands, dass sie ja in ihrer spezifisch ›modernen‹ Form unter anderem aus dem Kampf gegen christliche Mythenbildungen und Legenden hervorgegangen ist), sich ihm aber aus Gründen, die ebenso im Ethischen wie im Bereich der politischen Kultur liegen, nicht verschließen kann und will.
Bezeichnenderweise sind die Historiker, die damals verstärkt begonnen haben, die Frage nach der Verantwortung für das Morden in Richtung auf Teilaspekte des einigermaßen komplexen Geschehens und die dazugehörige Entwicklung und Realisierung von Konzepten zu erweitern und zu konkretisieren, rasch auf das gestoßen, was man ›Karrieremuster‹ nennt: der ›neue Mann‹, der ›Mann der Stunde‹ ist einer, der die situationsgegebenen Möglichkeiten erkennt und ›produktiv‹ zu wenden versteht. Das ist, angesichts der gegenwärtigen, in den Geschlechterdiskurs eingebundenen Idolatrie der ›Karriere‹ und, paradoxerweise damit eng verbunden, des ›neuen‹, ›unverbrauchten‹ Denkens, ein bedenkenswertes und beunruhigendes Ergebnis – vor allem, wenn man beachtet, dass das Absehen von und in der Folge das Wegsehen als integraler Bestandteil dessen fungiert, was man gemeinhin ›Konzeptualisierung‹ nennt, während die rituelle Beteuerung des Gegenteils der verbalen Absicherung dient. Wie das funktioniert, lässt sich in jeder Talkshow besichtigen. Der Zuschauer hat die Wahl: er kann die ›unkonventionellen Problemlöser‹ einer mörderischen Vergangenheit als Menetekel der von den Teilnehmern ›bewusst katastrophisch‹ akzentuierten Gegenwart verstehen – oder als alltagsweltlich konzipierte Geschöpfe einer historischen Phantasie, die das nach wie vor Unbegreifliche einer von der historischen Erfahrung radikal geschiedenen Mitwelt ›nahebringen‹ sollen. Denkbar, wenngleich wenig überzeugend, wäre auch die dritte Variante: die ›klammheimlich‹ sich ausbildende Überzeugung, dass ›nichts Neues unter der Sonne‹ geschieht. Sie unterbietet das Problem, das darin besteht, dass der Systemort des Neuen sich wohl verschieben, aber nicht eliminieren lässt – jedenfalls solange man mit Individuen rechnen muss, die einen Sinn dafür haben, dass mit ihnen die Welt neu ersteht und sich aufs Neue verbraucht.
6.
Der zuletzt genannte ›Sinn‹ kann im Einzelnen mehr oder weniger ausgeprägt sein, er kann, je nachdem, ob die Umwelt ihn fördert oder unterdrückt, zu unterschiedlicher Ausprägung gelangen. Die zwei Seelen in der Brust des modernen Menschen, Konservatismus und Progressivismus, beginnen ihr inniges tête-à-tête dort, wo ihm eine kulturelle Leitfunktion zuteil wird. Darüber ist viel geschrieben worden, es ist eines der Lieblingsthemen der Literatur. Eine bekannte, durch Goethes Wilhelm Meister inspirierte Stelle in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik handelt von nichts anderem. Dort findet sich die Formel von den »modernen Rittern«, denen es nicht oder allenfalls cum grano salis gelingt, »ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigsten einen Himmel auf Erden herauszuschneiden«, denn: »das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, dass sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt«. Der Akzent liegt auf den ›bestehenden Verhältnissen‹, die von der Dynamik des Geistes ja nicht ausgeschlossen sind, aber gegenüber dem Individuum die Art von Härte, Undurchdringlichkeit und Sprödigkeit beweisen, die Systemen nun einmal eigen ist oder zu sein scheint. Unter Systemtheoretikern läge der rationale Kern dieser subjektiv grundierten Attribute der künstlichen Wirklichkeit in der Indifferenz der Systeme gegen ihre biologisch oder, allgemeiner, materiell definierten Träger. Deren ›Eintritt‹ in die ›Verkettung der Welt‹ verändert diese nicht oder doch so unmerklich, dass ihnen als Individuen gar nichts Neues gelingen kann außer der Einnahme des ›angemessenen Standorts‹ oder die Erbeutung einer oberen Sprosse auf einer der vielerlei hingehaltenen Karriereleitern.
Das Individuum ist das Neue. Aber darin liegt nichts Neues, auch wenn es selbst das Unverbrauchte seiner Existenz lebhaft empfindet.
›Homines novi‹ nannte das antike Rom seine sozialen Aufsteiger, wenn es ihnen gelang, die Senatoren- oder Konsularwürde zu erreichen. Dem Parvenue signalisiert die Neuheit des erworbenen Status, dass der Kampf um Anerkennung beliebig lang und beliebig oft geführt werden kann, ohne je zu eindeutigen Resultaten zu führen. Das Neue bleibt Segen und Fluch zugleich. Für den christlich inspirierten Abschied vom ›alten Adam‹ gilt das nicht minder, mit dem Unterschied, dass hier die Ununterschiedenheit in Christo für die Masse der Gläubigen zum gelebten Problem wird. In den Worten des heiligen Paulus: »Nun aber legt alles ab von euch: Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem Munde; belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat. Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus.« Wieviel Differenz, wieviel Alterität ist nötig, um den neuen Menschen vom alten, den geläuterten Persönlichkeitsanteil vom naturalen zu sondern? Die auf Augustinus folgende Bekenntnisliteratur hat diese Frage mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder weniger erfolglos zu beantworten gesucht. Wie immer man die Parameter stellt: der Austreibung des alten Adam folgt die neue Korruption auf dem Fuß. Daran ändert sich auch im Zeichen des Kommunismus und alternativer Lebensformen, etwa im Gefolge der ´68er-Revolte, nichts.
Die welthistorisch so erfolgreiche Konstruktion des Homo novus (ohne die es vielleicht keine ›Weltgeschichte‹ gäbe) stellt das Individuum in ein merkwürdiges Spannungsverhältnis. Als Teil der symbolischen Ordnung – oder Unordnung, was in diesem Zusammenhang keinen Unterschied macht – nimmt sie teil an der Indifferenz der ›Verhältnisse‹ gegenüber den Einzelwesen. In ihrem appellativen Charakter geht sie über die ›normalen‹ Anmutungen der Symbolwelt deutlich hinaus. Das Individuum, von Kindesbeinen auf damit befasst, Symbole als Insignien zu verwenden, die dazu dienen, seinen – mit Hegel zu reden – als ›angemessen‹ betrachteten ›Standpunkt‹ im Leben zu erbeuten, zu dokumentieren und zu verteidigen, sieht sich durch die gänzlich andere Bildung des neuen Menschen vor eine kommunikative Schranke geführt, die nur um den Preis der Selbstaufgabe zu überwinden bleibt. Bekanntlich ist der Wegbereiter des Homo novus einer, der selbst nicht in Betracht kommt und gerade darin sich seine Rolle sichert. Das gilt bereits für die einfachste Form der Wegbereitung, das Darüber-Reden. Die Hegel-Stelle über Wilhelm Meister illustriert diese Schranke recht gut, vor allem deshalb, weil in ihr der Goethesche Typus des Homo novus, der durchgebildete Mensch, gar nicht vorkommt, sie stattdessen sich gänzlich auf das als wiederkehrend postulierte praktische Resultat des Bildungsprozesses kapriziert. Dass vom Bildungsbürger eine neue Praxis ausgehen könnte, innerhalb deren die alteuropäische Formel vom ›Weltlauf‹ eine erhebliche Plausibilitätseinbuße erfährt, geht in die zitierte Reflexion nicht ein, was einen gerade im Hegelschen Theoriemilieu verwundert. Das legt den Gedanken nahe, in ihr eine Art von ›reflexhafter Abwehr‹ am Werk zu sehen, die aufs Engste mit jener existentiell bedrohlichen Indifferenz verbunden ist.
7.
Gesellschaften, die den ›neuen Menschen‹ zum Garanten ihrer Existenz oder ihres Fortbestandes erklären und durchzusetzen versuchen, lassen ihre Glieder den Preis fortwährender Mobilisierung bezahlen, etwa in Form persönlichen Unglücks oder neurotischer Fehlgänge. Die verlangte novitas ist, da zur symbolischen Ordnung gehörig, für niemanden als Person erreichbar, sie determiniert aber den Alltag aller, und zwar als Kampf und als Lüge. Das hat der ›sozialistische Mensch‹ ebenso erfahren müssen wie die Kreuzritter des Mittelalters oder die Frauenbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts. Das unvermeidliche Sich-Hineinfinden der Angehörigen einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Kultur in die Spielregeln, wie immer sie aussehen mögen, unterhält Anpassungsprozesse, die zwar etwas produzieren, was dem ›neuen Menschen‹ nahezukommen pflegt, aber doch nur, um ihn signifikant zu verfehlen. Der Homo sovieticus hat das in schönster Prägnanz gezeigt und es zeigt sich täglich in allen möglichen familiären Situationen. Solche Anpassungsprozesse wirken sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene subkutan, ihre Verläufe und Resultate sind der Planbarkeit radikalentzogen – soll heißen an jener Wurzel, auf die das Reis des Neuen aufgepropft werden soll.
Von den scheinbar sublimsten bis zu den abstoßendsten Formen dieser Variante des ›learning by doing‹, den Umerziehungslagern, die den Sklaven- und Vernichtungslagern – tendenziell und realiter – vorangehen, zieht sich der gleiche rote Faden aus inhärenter Perfidie und Misserfolg. Die ›Lagergestalt‹ des Menschen, geformt durch die Auslöschung der Privatsphäre, das Ausgeliefertsein an regel- und zügellose Gewalt und die minimierte Aussicht, ›mit dem Leben davonzukommen‹, ist das Produkt einer Strategie, der das Scheitern inhärent ist. Als solches trotzt sie den Anforderungen der Systeme, die ihren Opfern ›das Letzte‹ abzuzwingen bereit sind. »Das Lager repräsentiert den Niedergang des zoon politikon durch den homo faber. Es repräsentiert die Praxis einer poiesis, die nicht auf die Produktion von Gebrauchsgegenständen gerichtet ist, sondern vielmehr auf die Produktion einer einzelnen, übergreifenden Identität, gewonnen durch eine undifferenzierte menschliche Masse, die zu einer Art Rohmaterial reduziert wurde.« Die zynische Überbetonung der Formbarkeit des Menschen zielt, wo immer sie freie Bahn bekommt, auf die Auslöschung der Person. Das gibt dem periodischen Gerede über das Ende des Subjekts und des ›anthropologisch gedeuteten‹ Menschen seine perhorreszierende Note.
Giorgio Agamben, der römische Philosoph, verficht die Hypothese, ›das Lager‹ repräsentiere den Ausnahmezustand – »in dem wir leben« – und der ›Muselmann‹, der Typus des Lagerbewohners im letzten Stadium der Entkräftung und der ›Entsubjektivierung‹, sei als der spezifische Beitrag der als unbezeugbar bezeugten Realität des Lagers zur Erkenntnis des Menschen anzusehen: »Nur weil es möglich war, im Menschen einen Muselmann zu isolieren, nur weil das menschliche Leben wesentlich zerstörbar und teilbar ist, kann der Zeuge den Muselmann überleben. Das Überleben des Nichtmenschlichen durch den Zeugen ist Funktion des Überlebens des Menschlichen durch den Muselmann. Was grenzenlos zerstört werden kann, ist das, was sich grenzenlos überleben kann.« Angesichts der religös-fundamentalistisch motivierten Herausforderung des Westens nach der Auflösung des sowjetischen Systems werden die Fäden, die hier zwischen einem bei Levi und anderen Überlebenden bezeugten Ausdruck des nationalsozialistischen Lagerjargons, der einen Zustand weitgehender Apathie, ›Geistesabwesenheit‹ und ›Willenlosigkeit‹ vor dem Eintritt des Todes benennt, dem US-amerikanischen ›Krieg gegen den Terror‹ und seiner an Orten wie Guantánamo geübten Entrechtlichung des Gegners, der Praxis der organischen Lebenserhaltung in den Einrichtungen der modernen Medizin und dem Oszillieren des ›modernen‹ Staates zwischen Phasen und Zonen geltenden und verminderten Rechts gewoben werden, Ausdruck einer unausgesprochenen – vielleicht unaussprechlichen – Hypothese. Ist es sinnvoll, ist es möglich, die nach westlichem Muster als ›terrorismusverdächtig‹ interpretierte muslimische Identitätsfigur der ›Ergebung in Gott‹ und die von Agamben diagnostizierte Wiederkehr des auf das nackte Leben reduzierten ›Homo sacer‹ in Gestalt der Expatriierten, der Flüchtlinge und der ›künstlich‹ am Leben Erhaltenen, die die subjektive Bedingung der Teilhabe nicht mehr erfüllen, in der Extremfigur des ›Muselmanns‹ zu bündeln? Das ist die Frage. Eine Antwort darf das ›radikal‹ Neue nicht außer Acht lassen, in dessen Namen sich die Figuren auch, ist man versucht zu sagen, bei Agamben zusammenfügen – also etwa die ›Konzeption‹ des ›reinen Rechts‹, von dem am Ende des Buches über den Ausnahmezustand die Rede ist. Das reine Recht wäre das Recht, in dem der »Bezug zwischen Gewalt [violenza] und Recht rückgängig« gemacht ist. Das radikal Neue zeigt sich hier wie andernorts als das radikal Andere, dem gegenüber der alte Adam (die alte Eva nicht zu vergessen) wie eh und je sein Recht behauptet: das ›Recht aufs Dasein‹, in dem die Bereitschaft, Gewalt zu üben und zu erleiden, mitgesetzt ist.
Was für die gewaltsame Herstellung des neuen Menschen gilt, scheint ganz allgemein auf das Phantasma einer ›schlagenden‹, wie der Benjaminsche Ausdruck lautet, Konversion der menschlichen Dinge zuzutreffen: man hat genügend Auf- und Niedergänge aus ›selbstverschuldeten Unmündigkeiten‹ gesehen, um zu konstatieren, dass es nicht funktioniert – was in interessierten Kreisen am Ende den Ausschlag geben dürfte. ›Lager‹ – reale und ideologische – produzieren, und sie gleichen darin den Gesellschaften mit intensiviertem Bedarf an Neuem, die sie hervorbringen, aufs Haar – jene spezifische Form des Unglaubens, die der Systemtheoretiker Helmut Wilke in seinem Buch Dystopia unter dem Stichwort ›systemische Ironie‹ streift, um sie – zu verfehlen. Der ›systemische Ironiker‹ stellt sich, so Wilke, der radikalen Einsicht, »dass die Unvollständigkeit jeder Möglichkeit des Wissens sich nicht erst im evolutionären Zeitablauf als Relativität von Überzeugungen und Aspirationen erweist, sondern dass die eigenen Überzeugungen und Aspirationen tatsächlich kontingent in dem Sinne sind, dass sie hier und heute weder notwendig noch unmöglich sind, dass sie unter denselben Bedingungen anders ausfallen könnten, dass sie so, wie sie sich mir darstellen, zwar möglich sind, aber genausogut auch anders möglich wären und ich nicht wissen kann, welche Umstände mich zu anderen Möglichkeiten bringen könnten.« Das ist das zur individuellen Maxime gewordene Konzept radikaler Kontingenz, wobei die Radikalität darin besteht, dass der nicht so heimliche Widerpart von Kontingenz, das Apriori, nicht gedacht, sondern nur bekämpft wird. Der radikal Ungläubige glaubt aber nicht an die Kontingenz seiner Überzeugungen, sondern wird von ihr heimgesucht – und zwar umso radikaler, je überzeugter er sich gibt oder je intensiver er sich der Arbeit an der Überzeugung hingibt. ›Beziehungskrisen‹, die sich aus solchen Heimsuchungen entwickeln (Stichworte: heimliche Aussprachen, Verschwörungen, Fluchtgedanken), enthalten in sich die Möglichkeit des Übergangs zu neuen Überzeugungen, deren Neuheit ausschließlich subjektiven Charakter besitzt, während über ihre objektive Neuheit schlechterdings nichts ausgesagt werden kann. (Übrigens dürfte hier, dies nur am Rande, einer der ›Attraktionsgründe‹ für moderne Fundamentalismen liegen, in deren motivierender Kraft vor allem die Stärke des Wunsches, dem unaufhebbaren Unglauben zu entrinnen, zutage tritt.) Ich nenne solche Krisen ›Beziehungskrisen‹, um anzudeuten, dass dabei das Verhältnis der Person zu einem fordernden Gegenüber eine tragende Rolle spielt, das keine Person sein, aber, wenigstens in seinen Repräsentanten, menschliche (oder unmenschliche) Züge tragen muss. Das kommt daher, dass das symbolische Konstrukt des Homo novus nicht direkt auf den Einzelnen wirkt, sondern, vorsichtig ausgedrückt, eingebettet in soziale Interaktion, wie schon das Genre der pietistischen Autobiographie zeigt, in dem die ›Erweckung‹ zwar eine Sache zwischen dem Einzelnen und seinem Gott ist, aber durch Boten initiiert und durch die Aufnahme in die Gemeinde feierlich ›befestigt‹ wird. Dass Erweckungsbiographien in der gegenwärtigen Gesellschaft andere Verläufe zu nehmen pflegen, rührt natürlich daher, dass die Gemeindekommunikation in gesellschaftliche Kommunikationen anderen Charakters verwoben ist und ihre Politik der Abgrenzung im Hinblick auf letztere je different gehandhabt wird, also letztlich aus der differentia specifica zu verstehen ist.
Wenn daher Fürsprecher der modernen ›Wissensgesellschaft‹ einen adäquaten neuen Menschentypus postulieren, dessen Ressource, so Wilke, nicht das Herkommen darstellen soll, also das ›Wissen des Wissens‹, sondern die Zukunft, genannt das ›Wissen des Nichtwissens‹, das nach Art des Derivatehandels der Börsianer unter die Leute gebracht und zur Grundlage der sozialen und mentalen Existenz des Einzelnen gemacht werden soll, dann ist das einerseits eine Banalität, weil damit nur die gegebene Struktur des Wissens an einem Punkt in markige Worte gefasst wird, andererseits ein weiterer aus der Reihe der Angriffe auf den alten Adam (und die alte Eva), deren größte Idiotien man unter gewaltigen Menschenopfern gerade abgewehrt glaubte. Der Ruf nach ›Normalität‹, der nichts weiter meint als ein Unterbrechen der Kette der Mobilisierungen (der »Kette der Demütigungen«, wie der Autor Botho Strauss aus scheinbar geringfügig anderem Anlass schrieb), wird auch den Homo novus novus oder Homo oeconomicus globalis ereilen. Da wäre schon ein wenig Expertise gefragt. Insofern waren die Büchervernichtungen, die das Ende der sozialistischen Ära in Deutschland markierten, vielleicht etwas voreilig, jedenfalls Fanale eines offenbar unauflöslichen Hochmuts, der heute auf den Namen des Westens hört.
8.
Der Lesestoff besitzt die Eigenschaft, den Hunger zu stillen oder doch zu überlisten, also von Objekt zu Objekt mit immer neuen Verheißungen in die Weite zu locken und letzten Endes in die Irre zu führen. Allerdings macht sich, wer den Hunger kennt, sowohl über das Ende wie über die Irre Gedanken, die nicht nach jedermanns Geschmack sein müssen. Aber nicht davon sei hier die Rede, vielmehr von der Lektüre selbst. Wie viele verirrte Lektüren summieren sich im Laufe eines Leser-Lebens? Auf welchem Gedächtnisboden setzen sie sich ab? Welche Erinnerungsstöße oder -stürme wirbeln sie auf – und davon? Welche Luft – Atemluft, lebensnotwendige Luft – wurde von ihnen geschwängert? Und welche Art von Schwängerung ist da im Spiel? Wäre der Einzelne die Summe seiner Lektüren, er erwiese sich als ein Wesen mit ebenso überzähligen wie unvollständigen Organen: unfähig zu jeder Form autonomer Fortbewegung und unkundig des reglosen Bei-sich-Seins. Nicht im Lesen, sondern im Weiterlesen scheint die von der Literatur angestoßene und unterhaltene Tätigkeit zu bestehen.
Die Behauptung, die Literatur sei tot, untergegangen in den seichten Gewässern der Unterhaltung und ein Opfer veränderter Rezeptionseinstellungen, läuft demnach auf die Unterstellung hinaus, auf das Weiterlesen sei nicht länger Verlass – eine exotische Annahme, für die nichts spricht und die durch den Augenschein spielend widerlegt wird. Denn gleichgültig, in welchem ›Stoff‹ es sich vollzieht, das Weiterlesen lässt sich nicht unter dem Stichwort ›Unterhaltung‹ rubrizieren, jedenfalls dann nicht, wenn das Abgründige in allen Formen des Zeitvertreibs nicht mitbedacht wird. Eher locken die Ausdrücke ›Sucht‹, ›Manie‹, ›Krankheit‹, solange sie nicht den Gedanken des Entzugs und der Heilung nahelegen. Aber vielleicht liegt in letzterem die freundliche Überredungskunst des Lamentos: die Literatur ist tot und wir leben – man müsste blind und taub sein, um den Zusammenhang nicht mit Händen zu greifen. Vielleicht hat keine Generation vor uns so sehr gelebt, dass sie auf die Literatur hätte verzichten können. Literatur ist Surrogat – sie hat es oft genug bekundet, in gewisser Weise hat sie niemals von etwas anderem gehandelt als von ihrem Surrogatcharakter: draußen das Leben, machtvoll, gewalttätig, lustvoll, hier das stille Leben, kraftlos, friedfertig und sublim, Nature morte, eine andere Welt, errichtet auf dem ruhenden Gesäß des Lesenden.
Die von der Literatur gereinigte Welt ist demnach die Welt, in der alle zu Akteuren geworden sind. Wer mitspielen darf, muss nicht länger Zuschauer sein. Er darf das Buch zuklappen: alles ist wirklich und jeder darf zeigen, aus welchem Stoff er gemacht ist. Kein abwesender Autor hält ihn im Bann: alle Verletzungen, alle Tränen, alle Glücksmomente sind wirklich, nein, sie sind wirklich wirklich, denn wirklich sind jene anderen auch, wenngleich auf eine unwirkliche Art und Weise, wenn man so sagen darf: hervorgerufen durch Illusionen, von denen sich die wirklichen Dinge und Verhältnisse durch ihr körniges und widerständiges Dasein scharf abheben. Die wirkliche Welt ist die wahre: dieser Satz steht hinter der heuchlerischen Klage, keine Zeit mehr für die Literatur zu haben, im Grunde schade, man wäre so gern Kind geblieben – ... Leben wir also in einer endlich erwachsen gewordenen Welt? Dumme Frage, natürlich, wer spricht so? Im Ernstfall ein Leser, der die Spannung zwischen seiner Lektüre und den Phasen dazwischen als zu groß empfindet – er möchte sie teilen, das geht nur mit anderen Lesern.
Es geht nur mit anderen Lesern. Um aber an sie heranzukommen, ist es nötig, die Lektüre zu unterbrechen, das Laster zu züchtigen: das geschieht durch Unterscheidung. Die wahre Literatur, das wäre zweifellos diejenige, die das Recht hätte, jeden Zeitaufwand von uns zu fordern, also gerade dasjenige, was wir nicht leisten können. So kann die Lektüre, über der wir uns ertappt fühlen – und zwar von uns selbst, lange bevor ein Dritter sie uns streitig macht –, nur die falsche sein, untergeschoben, um die richtige weiter hinauszuschieben. Die wirkliche Lektüre ist die falsche, und also ist die Literatur, die man aus dem Regal holt, um sich in ihr zu verfangen, notgedrungen etwas ganz anderes als die wahre, von der man nur den Aufwand kennt, den man scheut, weil er sich auf keine vertretbare Weise eindämmen lässt. Die wirkliche Literatur zehrt das wirkliche Leben auf wie das wirkliche Leben die wirkliche Literatur: Also müssen wir uns entscheiden. Wofür aber könnte man sich, ernsthaft gesprochen, wohl entscheiden, wenn nicht für das Leben selbst, das, anders als jedes Buch, keineswegs gewillt ist zu warten, und gegenüber jeder begonnenen Lektüre den Vorteil besitzt, dass es, wie das Fernsehen, von allein weiterläuft. Die manifeste Drohung, nicht mitzubekommen, was da läuft, schwebt über jeder ›abgehobenen‹ Lektüre und degradiert sie zur falschen, weil in der Regel kein Leser gewillt ist, vor sich selbst als lebensfremd dazustehen.
Dabei ist gerade dies verlorene Liebesmüh, da er, als Leser, in den Augen der anderen bereits verloren hat. Kein Außenstehender unterscheidet so scharf, dass er die Differenz, auf die der Leser so großen Wert legt, tatsächlich in Anschlag brächte. Im Gegenteil, erfreut, überhaupt einem Leser zu begegnen, wüsste er nicht, weshalb er ihm das gefürchtetste aller Komplimente vorenthalten sollte, einer der wenigen zu sein, die noch wirklich zu lesen wüssten, also so, wie er selbst lesen würde, wenn das Leben nicht anderes von ihm forderte. Nein nein, wird der Leser, vielleicht ein wenig hastig, jedenfalls aber verlegen antworten, daran sei gar nicht zu denken, er habe den Band ohnehin nur zur Hand genommen, um sich davon zu überzeugen, dass dieser das Weiterlesen nicht lohne. Jetzt aber habe er sich in der Zeit vertan, und es sei höchste Zeit, damit aufzuhören. Den Außenstehenden kann diese Auskunft nicht befriedigen – einerseits gibt sie ihm das beruhigende Bewusstsein, einem Leser vom gleichen Schlag begegnet zu sein, andererseits lässt sie ihn mit dem Argwohn allein, vom Geheimnis jener Lektüre ausgeschlossen zu bleiben und damit eine der seltenen Gelegenheiten verpatzt zu haben, ein Gespräch über Literatur zu führen und so dem Geheimnis der wirklichen, ihm außerordentlich rätselhaft erscheinenden Lektüre ein wenig näher zu kommen.
Je nach Situation ist jeder Leser und Außenstehender, kennt folglich beide Seiten des Rituals. Was lernt er daraus? Offensichtlich nicht ausreichend viel, um es zu durchschauen. Denn dann müsste er sich eingestehen, dass jene utopische Lektüre, deren Vorstellung ihn durchgeistert, sobald er eines versunkenen Lesers ansichtig wird, sein eigenes Leseverhalten nur deshalb zu beschämen vermag, weil sie es als Form der Versenkung fest im Griff hat. Die Unruhe des Lesers, sein ungestümer oder schleichender Wunsch weiterzulesen entwertet das bereits Gelesene. Sie entwertet es in einem solchen Maß, dass es dem Lesenden im Moment des Aufblickens so vorkommt, als habe er nichts gelesen, buchstäblich nichts oder jedenfalls nichts Erwähnenswertes – als habe er seine Zeit vertan, als sei sie ohne ihn vergangen, obwohl sie doch, streng genommen, in ihm zum Stillstand gekommen ist. Wer sein Buch zuklappt, hat es gewöhnlich eilig (falls er nicht sanft entschlummert), er hat es deswegen eilig, weil er sich den Versuch schuldig zu sein glaubt, das Versäumte nachzuholen, und zwar – darauf kommt es an – weitgehend unabhängig davon, was er während des Lesens versäumt zu haben glaubt. Der Umstand, dass er nichts Bestimmtes verpasste, zeigt zur Genüge, was man von dieser Art Hast zu halten hat: sie gilt dem falschen Umgang mit der Zeit, der sich zweifellos rächen wird und in gewisser Weise bereits gerächt hat, weil man sich selbst darüber angetroffen hat, seine Zeit zu vertrödeln, soll heißen, mit Abgelebtem zuzubringen. Der Lockruf des Lebens enthält einen moralischen Imperativ: Vergiss nicht zu leben! Vergiss es niemals, zu keiner Zeit!
Wie nennt man den, der nicht vergessen darf?
Anmerkungen