Jenseits der Kultur der Naturvölker erheben sich die Kulturvölker. Was wir geistige Welt nennen, ist hier die Welt des modernen Staates, der Literatur, Kunst, Wissenschaft, alles das sind Produkte der Kulturvölker.
Wilhelm Dilthey
Hadji Murad ist tot. Angeschossen, erstochen, erschlagen und zerstückelt: das Ende eines Helden und Verräters, wie es im Buche steht. Kosaken und Milizionäre, man muss es ihnen lassen, haben ganze Arbeit geleistet:
Er rührte sich nicht mehr, aber er war noch am Leben. Als der erste seiner Feinde, Hadschi Aga, ihm mit dem langen Dolch einen Hieb über den Kopf versetzte, schien es ihm, als schlüge ein schwerer Hammer auf seinen Schädel, und er begriff nicht, wer das tat und warum es geschah. Es war die letzte Empfindung, die sein Körper hatte. Dann fühlte er nichts mehr, und die Feinde stießen und schlugen nur noch etwas, was nichts mehr mit ihm gemein hatte. Hadschi Aga trat ihm mit dem Fuß auf den Rücken und trennte mit zwei Streichen den Kopf vom Rumpf. Vorsichtig, um seine Schuhe nicht zu beschmutzen, rollte er ihn mit einem Tritt beiseite. Hellrotes Blut schlug aus den Arterien des Halses und schwärzliches aus dem abgehauenen Kopf rings über das Gras.
Nun scharten sich Karganow, Hadschi Aga, Achmet Chan und die Soldaten, wie Jäger um das erlegte Wild, um die Leichen Hadschi Murats und seiner Leute (Hanefi, Kurban und Hamsalo waren gefesselt worden) und besprachen triumphierend ihren Sieg, während der Pulverdampf in weißlichen Wolken zwischen den Büschen stand.
Die Nachtigallen, die während des Gefechts verstummt waren, begannen aufs neue zu flöten, zuerst eine ganz nahe und dann die anderen in einiger Entfernung von den Männern.1
1.
Versuchen wir – spielerisch, denn der Versuch kostet nichts, schon gar nicht das Leben –, die Jagdszene aus dem zaristischen Russland mit den Mitteln zu lesen, welche uns René Girards Hermeneutik der Verfolgung an die Hand gibt, so scheint es, dass der Kreis, der sich um die Getöteten schließt und der sich in der Umzingelung durch die Verfolger bereits geschlossen hatte, die dort beschriebene mythische ›Ursituation‹ wiederholt, fast als habe Tolstois Erzähler vorgreifend dem Verfasser von La Violance e le Sacré ein Geschenk machen wollen. Die Mörder kreisen ihr Opfer ein, sie töten es kollektiv in einem Zustand namenloser Erregung, die sie gegenüber dem Umstand blind werden lässt, dass der Ermordete sich aus dem Körper, den sie traktieren, bereits davongemacht hat und für sie unerreichbar geworden ist. Nur der Erzähler scheint den Zusammenhang zwischen dem ersten, von Hadschi Aga geführten Hieb und dem Erlöschen des bereits angeschlagenen Bewusstseins zu kennen. Und es ist wichtig für diese Lesart, dass er ihn kennt. Denn das Detail stellt sicher, dass Hadji Murad von den Seinen, also von seinesgleichen getötet wird. Der Erzähler zerstreut das Bild der verfolgten Unschuld ebenso sorgsam, wie er bereits im Vorfeld jeder denkbaren Schuldzuweisung an den entflohenen Rebellen den Boden entzogen hat.
Dieser Erzähler ist eine bemerkenswerte Figur. Er ist einer, der Augen hat, zu sehen, und Ohren, um zu hören. Nicht nur, dass er – erstaunlich genug – über Hadji Murads letzte Empfindung sowie über die Sonderrolle des »ersten seiner Feinde« im Bilde ist, die der Sterbende mangels Wahrnehmung nicht mehr würdigen kann. Weder übersieht er die Eleganz, mit der Hadschi Aga den Kopf des Besiegten traktiert, noch überhört er den Gesang der Nachtigallen vor und nach der Tat. Nebenbei verfügt auch er über theoretisches Gepäck, das er, metaphorisch verpackt, dem Leser zu Beginn der Erzählung vorweist und das er am Ende noch einmal in Erinnerung ruft: es ist die These von den unvermeidbar scheinenden, gleichwohl weder zu rechtfertigenden noch zu einem guten Ende kommenden Verlusten, die der Prozess der Zivilisation erzwingt. Der Stammesfürst, der ins Räderwerk der Kolonialmacht gerät und von ihm zermalmt wird, symbolisiert die andere Seite der zivilisierten Welt: das Opfer der sich an den Rändern fortdauernd wieder herstellenden Menschennatur. Auch das, so belehrt uns Girard, wäre nur als Gleichnis zu verstehen, da just diese Menschennatur im Mechanismus des versöhnenden Opfers gründet – wofür die Feindschaften zwischen den kaukasischen Anführern ein beredtes Zeugnis ablegen könnten. Hadji Murad muss sterben, auf dass die Zivilisation lebe (und die ›Bergstämme‹ an ihr teilhaben können). Daneben aber stirbt er durch die Hand seines angestammten Feindes: so will es der Brauch.
Alles hat seinen Platz. Alles? Das Mahl ist gerichtet, doch es fehlt der Esser. Es fehlt das Kernstück der Girardschen Theorie: der ›Umschlag‹, durch den die Verfolger sich in Parteigänger und der Getötete sich in einen Gott oder in eine Leitfigur verwandelt. Die Jäger triumphieren, aber sie triumphieren über ihr Opfer und sehen keinerlei Anlass, den Sachverhalt zweckmäßig zu verfälschen, um sich eine weiße Weste zu verschaffen. Im Gegenteil: wenn Hadschi Aga den Kopf des Getöteten abtrennt, dann geht er dabei so besonnen zu Werke, dass man darin, nach dem vorangegangenen Mordrausch, ruhig die Pointe dieser Szene erblicken darf. Natürlich könnte man behaupten, die Apotheose sei nur hinter die Szene verlegt, in die Erzählungen der – aus der Sicht der russischen Kolonisatoren – ›halbwilden‹ Kaukasusvölker, als deren Kriegsheld er sich zu Lebzeiten ausgezeichnet hat. Damit aber hätte man nur die Pointe nachträglich verdorben, die darin besteht, dass der Umschlag nicht stattfindet, auch wenn die Jäger selbstredend das erlegte Wild nachträglich ein wenig dämonisieren dürften, um die Größe der eigenen Tat herauszustreichen. Der Erzähler hütet sich, hier etwas anzudeuten. Das gewaltsame Ende des Hadji Murad fügt den Berichten von seinem Kriegerleben nur die Geschichte seines Ablebens hinzu, nicht mehr und nicht weniger. Das müsste nichts weiter bedeuten, wenn es nicht darauf aufmerksam machte, dass diese Abwesenheit für die Theorie der Kultur, die auf der Annahme der versöhnenden Opfers beruht, konstitutiv zu sein scheint. Der Umschlag, den die Theorie postuliert, bleibt in der Empirie unauffindbar.
Dies feststellen heißt, den Widerspruch herauszufordern. Schließlich soll die Kultur als Resultat dieses Umschlags nur von ihm her zu begreifen sein. Kultur existiert demnach, weil es den Opfermechanismus gibt und weil er funktioniert – was voraussetzt, dass er irgendwann in der Vorgeschichte der Menschheit in Gang gesetzt wurde. Doch das bleibt Spekulation. Was zählt, sind die Erzählungen, und deren Sprache ist zweideutig. Girards Argument beschränkt sich auf eine captatio benevolentiae: es sei naiv anzunehmen, kein realer Mord habe stattgefunden, wo doch die mythischen Quellen auf eine so beredte Weise über ihn schweigen. Allerdings blendet es die spiegelbildliche Beobachtung aus, dass die Mordberichte, an denen gleichfalls kein Mangel herrscht, keinerlei Apotheose im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tat enthalten. Das fällt besonders auf, wenn vom Lynchmord die Rede ist, der für Girard so etwas wie ein empirisches Gegenstück zu den spekulativen Gründungsmorden darzustellen scheint. Der Mob, von dem diese Form der Gewalt ausgeht, zeichnet sich durch elementare Flüchtigkeit aus: er ›rottet sich zusammen‹ und ›läuft auseinander‹, bewegt sich also eher am entgegengesetzten Ende der Skala, auf der die opferkultischen Gesellschaften das konservative Extrem besetzen. Auch die sprichwörtlichen ›Leichen im Keller‹, die mancherlei Gemeinschaften zusammenschweißen, werden bekanntlich nicht idealisiert, wie es die kultische Interpretation nahelegte, sondern aus dem offiziellen Gedächtnis eliminiert, sofern sie nicht als ausgesuchte Verräter und Menschheitsfeinde für ›rituelle‹ Verwünschungen herhalten müssen.
Nun ist der Umschlag, gemessen an dem, was er in der Praxis leisten soll, eine gleichermaßen empirische wie transzendentale Größe: Ursprung der Sprachen, Regeln und Ordnungen und damit der symbolvermittelten Praxis schlechthin. Dass Girard auf der Buchstäblichkeit des Vorgangs besteht, macht den spezifischen Naturalismus seiner Position aus; da darf die religiöse Überzeugung als Reparaturinstanz nicht fehlen. Ursprünglich – in des Wortes strikter Bedeutung – ist die Sprache, folgt man Girard, Verdeckung des vorangehenden Tatbestandes, den der Begriff des Lynchmordes anschaulich umfasst. Was immer geschehen ist, es ist nicht geschehen, wer immer es tat, hat es nicht getan: damit beginnt das kreisende Spiel der Interpretationen, deren wir nur im Plural habhaft werden, obwohl ›letzten Endes‹ alle auf das gleiche zugrundeliegende Concretum verweisen. Das Wesen von Kultur wäre demnach Verstellung, das Wort nicht in seiner psychologischen Bedeutung, sondern als räumliche Metapher verstanden. An die Stelle der Mordtat ist etwas anderes getreten, das ihren Platz im Denken einnimmt: Denken, Verneinung und Verstellung bilden somit ein unauflösbares Ganzes.
Wohl oder übel muss man unterscheiden zwischen der gedachten Negation und der Negation, die das symbolische Denken an sich darstellt. Nur von letzterer ist hier die Rede. Negiert wird der Augenschein, der sich aber bereits verflüchtigt hat oder dabei ist, sich zu verflüchtigen, so dass der Kreis, den die Verfolger um das Opfer bilden, das einzig Reelle ist, das sowohl in der vorangegangenen Situation wie in der auf sie folgenden Rede erscheint. Anders steht es um die Verstellung, die offensichtlich nur im Denken statthaben kann. Denn wäre das Denken selbst die Verstellung, dann gäbe es keine Möglichkeit, sie zu denken, und man wüsste buchstäblich nicht, wovon hier die Rede ist. Um einen Mord zu vertuschen, muss wenigstens eine Ahnung davon vorhanden sein, dass ein Mord stattfand; um an die Stelle der Verfolgung die Apotheose treten zu lassen, muss das Denken für die Differenz zwischen beiden durchlässig sein. Die Verstellung bringt also die Differenz ins Spiel und mit ihr die Identität des Opfers und des Gottes. Beide sind sozusagen schattenhaft gegeben: die Durchlässigkeit der mythischen Erzählungen im Hinblick auf das zwar verstellt, aber in Wahrheit erzählte Ereignis ist eine conditio sine qua non derjenigen Interpretation, die den Verstellungen eine weitere hinzufügt, um zum Ereignis zurückzufinden und damit – Wunschtraum jedes Interpreten – dem Spiel der Interpretationen ein Ende zu bereiten.
Wäre der Anfang der Kultur eine beobachtbare Größe, dann müsste er dem Beobachter die Mittel der Interpretation gleichsam selbsttätig in die Hand legen. Ein Mensch stirbt von der Hand eines Kollektivs (das bislang keines war, eher eine Ansammlung in mimetische Händel verstrickter Raufbolde, aber nun ist es eines), und dieses redet sogleich (vielleicht nach einer kurzen Bedenkzeit – aber was wäre hier zu bedenken?) in Zungen: ein Gott ist erschienen, seht her, wir verkünden euch etc. Man darf sich das alles wohl nicht so genau vorstellen, die Sache wirkt in jedem Fall leicht abstrus. Immerhin lässt sich soviel erkennen, dass die Verstellung, die alles leisten soll – die Herstellung von Einmütigkeit, soll heißen gültiger Überzeugungen und der dazugehörigen Praxis mitsamt ihren Inklusions- und Exklusionsverhältnissen –, rhetorische, genauer persuasive Qualität besitzt. Es darf keine Zeugen geben, und wenn es welche gibt, dann müssen sie zum Schweigen gebracht werden. Am Anfang der symbolischen Rede steht die Überredung oder das Zum-Schweigen-Bringen der Zeugen.
Auch Tolstois Erzählung enthält ein solches persuasives Element, eine Botschaft, die von der kollektiven Tötung des einen ausgeht und dazu bestimmt ist, eine pazifierende Wirkung bei denen zu entfalten, die sie angeht. Es ist der abgeschlagene Kopf Hadji Murads, bestimmt, als Trophäe herumgezeigt zu werden. Eine erste Begegnung mit ihm hat der Leser bereits hinter sich, er weiß also Bescheid, und der Tötungsbericht ist von vornherein beglaubigt, er gilt mehr dem Wie als dem Was der Bluttat. Von einer Vertuschung kann also nicht die Rede sein, im Gegenteil: alle Beteiligten haben ein dringendes Interesse daran, die Sache publik zu machen – die Feinde Hadji Murads, um ihren Triumph vollständig zu machen, die russische Kolonialmacht, weil sie sich ihrem Bemühen einfügt, den Widerstand in der Region zu brechen. Nicht darum geht es, mögliche Zeugen zum Schweigen zu veranlassen, sondern darum, die Tatsache, dass dieser eine zum Schweigen gebracht worden ist, in aller Munde zu bringen und zu diesem Zweck durch ein künstliches Arrangement Augenzeugen zu schaffen. Die symbolische Qualität des abgeschlagenen Hauptes besteht darin, dass es die Tatsache der Tötung, abgelöst vom Geschehen, unter die Leute bringt und also – im Sinn einer breiter gestreuten Mitwisserschaft – verfügbar macht. Der abgeschlagene Kopf des Hadji Murad entfaltet (jedenfalls soweit es nach den Vorstellungen der Täter geht) eine doppelte pazifierende Kraft: bei den Seinen dient er dazu, die Herrschaft der Gegenspieler zu festigen, der Kolonialmacht hilft er, die Befriedung der Region, sprich: die Arrondierung des eigenen Herrschaftsgebietes, voranzutreiben. Der Tod seines Trägers ist das Opfer, auf das sich beide Seiten einigen konnten; in ihm stellt sich das Parallelogramm der ungleichen Kräfte anschaulich dar und wird lebbar. Wenn von Einmütigkeit die Rede sein kann, dann in Bezug auf den Umstand, dass die Tat sowohl innerhalb zweier symbolischer Ordnungen einen guten, wenngleich unterschiedlichen Sinn besitzt als auch die Koexistenz beider ein Stück weit festigt, und zwar dadurch, dass sie die Konditionen – alles in allem, wie es aus der Distanz sich darstellt, zu Lasten der schwächeren Seite – verändert.
Eines steht fest: wenn hier Verstellung im Spiel ist – und eigentlich besteht daran kein Zweifel –, dann jedenfalls nicht in dem Sinn, den die Opfertheorie postuliert, solange sie den – schimärischen – Ursprung von Kultur interpretatorisch nachstellt. Die Direktheit, mit der die Tötung publik gemacht wird, entspricht dem Bedürfnis der Beteiligten, den Stand des Kräftemessens zu dokumentieren – lauter Sieger gegen einen Verlierer. Denn wäre er nicht der Verlierer, so wäre er jetzt nicht tot. Die Verstellung hingegen liegt darin begründet, dass tatsächlich alle Seiten verloren haben und es auch wissen: die Kaukasier, weil der russische Sieg über Hadji Murad ihren Status als Kolonisierte festschreibt, die Russen, weil der lebende Hadji Murad in ihrer Hand eigentlich mehr wert gewesen wäre als der tote. Der Kern der Geschichte, wie sie Tolstoi erzählt, besteht darin, dass sich der Tschetschene freiwillig in die Hände der Feinde seines Volkes begibt, weil er – seinem Ehrbegriff nach – den schlimmeren Feind im Haus hat. Der einen Seite also ist er ein Ausgestoßener und ein Verräter, der anderen ein Lockvogel und eine Geisel, kurz: das ideale Opfer.
Das moderne Opfer wird auf der Flucht getötet. Man wartet ab, ob es ›die Nerven verliert‹, und dieses man bezeichnet das vorgängige Kollektiv, das im kleinen Kollektiv derer, die sich an der Tat ›die Hände schmutzig machen‹, abwesend anwesend ist. Das lebende Opfer, die aufgeschobene Opferung ist im Prinzip, soll heißen idealiter mehr wert als die vollstreckte, weil sich in ihr die Kollektivmacht als die zivilisatorisch überlegene, als die humanere Macht zeigt. Die faktische Tötung erscheint als das zwangsläufige, aber in seiner Brutalität nur als Zufallsprodukt oder Unfall oder als Versagen des Opfers tragbare Resultat jener speziellen Zurschaustellung von Humanität, die sich im Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem ›gezeichneten‹ Individuum und seinen Bewachern manifestiert. Da trifft es sich – auch für den Erzähler – gut, dass die Landsleute Murats den handgreiflich blutigen Part übernehmen: noch im Vorgang der Tötung demonstriert die Kolonialmacht, dass sie halbwegs über diesen Dingen steht.
Das Mahl ist gerichtet, aber es fehlt der Esser. Sollte die zivilisatorische Verfälschung so stark sein, dass sie die Ursprungssituation heillos verbiegt? Aber was wäre in einem solchen Fall die Theorie noch wert? Oder sollte Tolstois Erzähler die Entkräftung des Opfermechanismus durch seine Weigerung betreiben, das Lamm als schuldlos zu glorifizieren? Woher dann die Komplizenschaft des Erzählers mit der Besatzungsmacht? Beide – der Erzähler und die Besatzer – demontieren durch ihr Vorgehen eine Vorbedingung der Theorie. Anders als in ihr behauptet, muss die Macht des Opferrituals gebrochen sein, damit ihre Deutungsmacht sich entfalten kann. Nur an der – imaginären oder realen – Grenze zwischen der ›zivilisierten‹ und der ›archaischen‹ Kultur (die eine gegen die vielen) kann sie ihre Stärke entfalten, die darin liegt, dass sie die Einzigartigkeit der einen – rationalen und deshalb zivilen – Kultur in einem Zug bestreitet und unterschreibt.
Die Erklärung des Menschenopfers ist eine zu ernste Sache, als dass man sie dilettierenden Hermeneuten überlassen könnte. Sie ist in den Opfergesellschaften ›schon immer‹ geleistet durch die Begründungen, die sie selbst dafür geben. Diese Begründungen ernst nehmen heißt nichts anderes als den abweichenden Kausalbegriff, der in ihnen wirksam ist, zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie durch die Annahme einer zweiten, naturgesetzlich wirkenden Kausalität mit einem doppelten Boden auszustatten und gemäß dem Motto: Erzählt, was ihr wollt, wir wissen, warum ihr es tut und warum ihr so redet, wie ihr redet ineins die posthume Entmündigung und mystifikatorische Aufwertung ihrer Kulturen zu betreiben. Die Theorie des versöhnenden Opfers hat mit dem Rousseauismus gemein, dass sich ihr Potential erst in Bezug auf Phänomene der modernen Gesellschaft erweist – dort aber, wie Tolstois Erzählung belegt, vexierspiegelhaft verzerrt und eigentümlich unerschlossen. Die postulierte Doppelbödigkeit der Opferkulturen ist identisch mit der Doppelbödigkeit der modernen Kultur, in der sich ›rationale‹ und ›mythische‹ Denkelemente durchdringen. Während derjenige Teil ihrer Kritiker, der dem unmöglichen Beweis der mythischen Qualität der Vernunft nachjagt, zusammen mit der Differenz den Gegenstand der Untersuchung zu eliminieren unternimmt, verlangt die Opfertheorie den Sprung in den Glauben, um auf diese Weise den Naturalismus zu zementieren: nur im Beharren auf der magischen Kraft der eigenen Rede, das Naturgesetz in dem einen, durch den Opfermechanismus bezeichneten Punkt auszuhebeln, soll die Differenz der Ratio zum Mythos wirklich werden.
2.
Bekanntlich erkennt Girard die größte Nähe zwischen seiner Theorie des versöhnenden Opfers und den in Totem und Tabu ausgestreuten Hypothesen zum Vatermord in Freuds Ausführungen über den Chor der attischen Tragödie, die, wie er glaubt, »eine umfassende Interpretation des Tragischen« enthalten.
Eine Schar von Personen, alle gleich benannt und gleich gekleidet, umsteht einen einzigen, von dessen Reden und Handeln sie alle abhängig sind: es ist der Chor und der ursprünglich einzige Heldendarsteller. Spätere Entwicklungen brachten einen zweiten und dritten Schauspieler, um Gegenspieler und Abspaltungen des Helden darzustellen, aber der Charakter des Helden wie sein Verhältnis zum Chor blieben unverändert. Der Held der Tragödie mußte leiden; dies ist noch heute der wesentliche Inhalt einer Tragödie. Er hatte die sogenannte »tragische Schuld« auf sich geladen, die nicht immer leicht zu begründen ist; sie ist oft keine Schuld im Sinne des bürgerlichen Lebens. Zumeist bestand sie in der Auflehnung gegen eine göttliche und menschliche Autorität, und der Chor begleitete den Helden mit seinen sympathischen Gefühlen, suchte ihn zurückzuhalten, zu warnen, zu mäßigen und beklagte ihn, nachdem er für sein kühnes Unternehmen die als verdient hingestellte Bestrafung gefunden hatte.
Warum muß aber der Held der Tragödie leiden, und was bedeutet seine ›tragische‹ Schuld? Wir wollen die Diskussion durch rasche Beantwortung abschneiden. Er muß leiden, weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie ist, die hier eine tendenzielle Wiederholung findet, und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muß, um den Chor von seiner Schuld zu entlasten. Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Entstellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus der historischen Szene hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit waren es gerade die Chorgenossen, die das Leiden des Helden verursachten; hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern, und der Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held – noch wider seinen Willen – zum Erlöser des Chors gemacht.2
Freuds Vatermord – man muss nicht das Rad der Freud-Kritik neu erfinden wollen, um darauf hinzuweisen –, ist ein Witz, ein Zynismus, bestimmt, der Darwinschen Urhorde zu jener Dynamik zu verhelfen, die aus ihr die Psyche des ›Primitiven‹ und aus dieser am Ende diejenige des ›normalen Erwachsenen‹ der westlichen Hemisphäre hervorgehen lässt: Bringen wir doch den Vater um und sehen wir zu, was geschieht. Die Ödipus-Szene ist also die Urszene der Kultur, die Repräsentation – um Girards Terminologie zu verwenden – des ›Gründungsmordes‹ in einem Medium, das Wiederholbarkeit garantiert. Wobei unklar bleibt, was hier wiederholt wird: die Mordtat selbst oder die zweckmäßige Abwälzung der Urheberschaft auf den Fremden, der garantiertermaßen nichts damit zu tun hat. Bei Freud bleibt diese Differenz nicht nur im Dunkeln, sie wird zur Kern-Verstellung der Repräsentation: Der Held ist der Urvater, der Chor ist die Brüderschaft der Mörder, die Mordtat, derer er bezichtigt wird, ist der Mord an ihm selbst, und der hinzugekommene Fremde ist nicht die verfolgte Unschuld – was absonderlich wäre –, sondern – hier stellt Freud den Realitätssinn des modernen Theatergängers unter Beweis – die Repräsentation dessen, der doch wohl nicht gleichzeitig Mörder und Ermordeter sein kann.
Girard, der den Vater streicht und den Mord beibehält, sieht das nicht anders: der Chor besteht aus der Menge der feindlichen Brüder, der Held ist das Opfer aus ihrer Mitte, der Sündenbock, mithin der Gemordete, der des Mordes an sich bezichtigt wird, um – Mord gebiert Mord – zwiefach gemordet als tragischer Held zu reüssieren. Nichts davon steht bei Sophokles, aber das hatte schon Freud nicht beunruhigt. Um so mehr erstaunt das neuerliche ›Auftauchen der Differenz‹:
Gleichwohl soll die Übereinstimmung unserer Lesart mit der Freuds nicht überbetont werden. An einem bestimmten Punkt taucht die Differenz wieder auf. Freud fällt sogar in die Differenz par excellence zurück. Der Menge der Doppelgänger stellt er die absolute Einzigartigkeit des Helden gegenüber. Der Held monopolisiert die Unschuld, der Chor die Schuld. Die dem Helden zugeschriebene Schuld ist überhaupt nicht seine Schuld; es ist ausschließlich die Schuld der Menge. Der Held ist reines Opfer; ihm wird eine Schuld angelastet, mit der er überhaupt nichts zu tun hat. Diese einseitige, rein »projektive« Auffassung ist ungenügend, ja trügerisch. Sophokles gibt uns in der ihm eigenen Tiefgründigkeit – wie später Dostojewski in Die Brüder Karamasow – zu verstehen, dass das zu Unrecht angeklagte versöhnende Opfer dennoch schuldig ist wie alle anderen auch. An die Stelle der üblichen Auffassung von »Schuld«, die die Theologie fortsetzt, muß die vergangene, zukünftige und vor allem die gegenwärtige Gewalt gesetzt werden, an der ebenfalls alle teilhaben. Ödipus hat an der Menschenjagd teilgenommen.3
Man könnte meinen, mit Interpretation habe diese Zurschaustellung einer ›Lektüre‹ wenig zu tun, doch das dürfte ein Irrtum sein: dieses Hin- und Herschieben von Spielmarken verrät mehr über ›Interpretation‹ als jedes Bemühen um Sorgfalt und um den ›historischen Kontext‹. Schließlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den Ursprung der Kultur. Die Autorität Freuds lässt sich nur um den Preis posthumer Proselytenmacherei überspringen; da liegt die Crux, das ›Kreuz der Welt‹, um die etwas summarisch abgekanzelte Theologie zu bemühen. Indem, hätte der gute Adorno geschrieben, indem Girard aus dem Vatermord den tyrannischen Vater entfernt, erzeugt er ›in der Nacht, in der alle Kühe schwarz sind‹, eine substanzlose Gleichheit, die alle Welt Lügen straft – und der Lüge bezichtigt, müsste man fortfahren. Freud, der Ödipus mit dem tyrannischen Vater gleichsetzt, verschwendet keinen Gedanken an dessen Unschuld. Wie sollte er? Dass die Söhne ihn zum gegebenen Zeitpunkt töten, erscheint als die natürlichste Sache der Welt, als eine Frage der verfügbaren Waffen. Das Gewissen, das wunderbarerweise aus dieser Tat entstehen soll – obwohl wir kein Beispiel einer solchen Genese kennen und kennen können –, ist von Anfang an Bewusstsein von Schuld, nicht von Unschuld: erstere, nicht letztere ist das mit der Tat Gegebene. Natürlich ist Ödipus, dieses Vexierbild aus Vater und Sohn im Geist der Psychoanalyse, auch einer der ihren und damit der Tat schuldig, deren man ihn bezichtigt, er ist, frei nach Girard, auserwählt, den Sohn ›par excellence‹ zu spielen und so alle Schuld auf sich zu nehmen. Doch eigentlich interessiert das Freud nicht mehr, da die Genese des Gewissens die Individualisierung der Schuld von vornherein einschließt. Solange alle ›irgendwie‹ schuldig sind, regiert nicht das Gewissen, sondern die Ausrede, also, nach psychoanalytischem Sprachgebrauch, das Symptom.
In einem Punkt unterscheidet sich Girard von Freud fundamental: das von ihm bevorzugte Gründungsgeschehen ist beliebig wiederholbar. Freuds darwinistisches Märchen hat die Struktur des platonischen Mythos: die diskursive Rede wird hic et nunc suspendiert. Weder lässt es sich diskursiv ersetzen noch durch Auslegung stimmig machen. Die Rede ist von einem Vater und einer Horde: sie vervielfachen hieße den Vorgang der Lächerlichkeit preisgeben. Hier schweigt die Vernunft – um so beredter meldet sie sich bei Girard zu Wort. Und zwar im doppelten Sinn: im verdeckenden Mythos sowohl wie in seiner entdeckenden Interpretation. Dasjenige aber, was sie verdeckt und aufdeckt, der Mechanismus des versöhnenden Opfers, wird der biologischen Ausstattung der Gattung Mensch zugeschlagen. Girard redet hier, wenn auch undeutlich (anders als Freud wohlgemerkt, dessen Schwanken in puncto Vererbbarkeit psychischer Konstitutionen den zeitgenössischen Stand der Vererbungslehre reflektiert) über eine genetische Disposition und er steht nicht an, sie als die Disposition zum Menschsein auszuzeichnen, insofern der Mensch das symbolerzeugende und sich symbolisch verständigende Wesen ist.
Die beiden Enden der symbolischen Vernunft – die Verdeckung und Aufdeckung des Verfolgungsmechanismus – koinzidieren in einem Punkt: sie betonen die radikale Fremdartigkeit des Geschehens, die unerträgliche Präsenz, die im ersten Fall symbolisch, im zweiten Fall faktisch beseitigt werden muss. Das versöhnende Opfer ist also etwas, dessen man sich – im kulturellen Kontext – schämt. Seltsamerweise bietet die Theorie für diesen Umstand keinerlei Begründung an (es sei denn, man akzeptiert die schamlose Anleihe bei Freuds Genealogie des Gewissens als Begründung). Der Druck, die Fakten zu verbergen oder – in heilsgeschichtlicher Perspektive – hinter sich zu lassen, scheint etwas vorauszusetzen, dessen Entstehen er erklären soll: weniger das individuelle Gewissen als vielmehr den Ausschluss des Mörders aus dem Kollektiv. Das aber ist nicht einzusehen: entweder leistet der gedankenlose Kollektivmord das, was ihm die Theorie aufbürdet – die Heraufkunft jenes himmlischen Friedens im Gemüt der Mörder, dessen Erinnerung noch ihre Kindeskinder im rituellen Opfer festzuhalten versuchen –, oder aber er setzt mit dem Abscheu über die begangene Tat die hektische Suche nach dem Mörder in Gang, auf den man sich einigen kann, auf dass man selbst ohne Schuld sei – in welchem Fall es mit der erworbenen Friedfertigkeit nicht so weit her zu sein scheint.
Um diesem Dilemma zu entgehen, entscheidet sich Girard für eine bemerkenswerte Konstruktion. Während der Mechanismus augenblicklich wirkt, der angenehm pazifierende Effekt der Mordtat also unmittelbar nach der Tat eintritt – und zwar bei den Mördern selbst, nicht bei irgendwelchen Zaungästen –, scheint für die Erzählungen, die sich um die Mordtat ranken, zu gelten, dass sie in sicherer Distanz zur Tat und zu den Tätern entstehen. Die sicherste – und am sichersten anzunehmende – Distanz setzt die Generationenfolge mit der eindeutigen Tendenz, das ›in grauer Vorzeit‹ Geschehene zu frisieren und den gehobenen Ansprüchen der Moral entsprechend umzudichten.
Beides erscheint prima vista plausibel. Der Mechanismus muss unmittelbar wirken, weil jedes Mittelglied die Wahrnehmung einer Kausalität vernichten und damit die symbolische Rückkehr zu den Quellen der gesellschaftlichen Ordnung im Opfer vereiteln würde. Die Erzählungen können sich nicht anders als mittelbar – und das heißt: durch Mittlerinstanzen hindurch – auf das Geschehen beziehen, weil die unter den Tätern verabredete Lüge aus der ursprünglichen Verstellung der Tat durch die symbolische Ordnung eine willkürliche, durch Zeugen oder kritische Kommentatoren jederzeit korrigierbare Setzung entstehen ließe. Die Distanz der symbolisch vermittelten Ordnung zum primären Geschehen, heißt das, ist absolut: wer immer es schaffte, die Wahrheit zu erzählen, der zerstörte die Ordnung auf irreversible Weise, ohne dass es ihm gelänge, die Wahrheit als solche – die ›nackte‹ Wahrheit‹ – zu erweisen. Dies scheint Girard mit der Rede vom Opfermechanismus als einer »fixen Idee« im Auge zu haben: der Inhaber der ›wahren Geschichte‹ kann nicht anders als unter allen, selbst den für unwahrscheinlich gehaltenen Umständen auf sie zurückkommen, weil alle Umstände für sie sprechen, insofern sie sie verschweigen. Das ist als Wissensmodell fatal, als Finte einer für unmöglich gehaltenen, nur als Vorschein einer anderen Praxis zugelassenen Vernunft hingegen unschlagbar.
Damit aber – es ist ein entscheidendes Aber, das an dieser Stelle heraufdämmert – zerstört die Theorie den in ihr postulierten Kausalnexus zwischen dem ›Mechanismus‹ und der symbolischen Ordnung. Letztere ist bereits immer gegeben, muss bereits immer gegeben sein, damit die Ahnung von ersterem in sie eindringen und sie durchsetzen kann. Es gibt keinerlei Grund, vom nackten Geschehen zu den mythischen Erzählungen ›fortzuschreiten‹: Entweder ist den Handelnden die Kausalität ihres Tuns einsehbar – dann bewegen sie sich bereits innerhalb einer Ordnung, die ihnen erlaubt, zu lügen oder ›die Wahrheit zu sagen‹, oder aber der Gedanke der Kausalität ist ihnen unzugänglich, dann bleibt ihnen nichts anderes übrig als die mechanische Wiederholung eines mechanischen Vorgangs - usque ad infinitum.
Daraus ergibt sich eine bemerkenswerte Konsequenz: zu sagen, die symbolische Ordnung ›verstelle‹ den Blick auf das primäre Geschehen, heißt unter der Voraussetzung, dass die Verstellung älter ist als das Verstellte – älter nicht in einem historischen Sinn, sondern im Sinn einer Antezedenz der Deutungen –, dass das Verstellte keineswegs das Fundament der symbolisch vermittelten Ordnung sein kann. Allenfalls lässt sich die symbolisch vermittelte Ordnung dadurch erneuern, dass man das ›purgierte‹ oder ›glorifizierte‹ Opfer zweckmäßig in sie einfügt. Das ist erschreckend genug, doch bei weitem nicht so schreckenerregend wie die Vorstellung einer von Anbeginn auf dem Menschenopfer als seinem fundamentum inconcussum et indispensabile gegründeten Ordnung der Dinge, die nur die eschatologische Perspektive zu durchbrechen erlaubt.
Vermutlich könnten die gemäßigten Vertreter einer Theorie des versöhnenden Opfers, wenn schon nicht ihr Urheber, mit einer solchen Modifikation ganz gut leben. Spekulationen über den Ursprung der Kultur leiden an chronischen Paradoxien, unter denen die eines Naturalismus ohne zureichende empirische Basis eher leicht wiegt, leichter jedenfalls als der Befund, dass die bekannten naturalistischen Herleitungen der Leistung des Bewusstseins das in seinen Funktionen ausgebildete Bewusstsein entweder unterschlagen oder als falsches Bewusstsein denunzieren. Schließlich kommen diejenigen, die neueren Datums sind, nicht umhin, nach und neben der biologischen Evolution des Gehirns, die während der kurzen Existenzspanne des Homo sapiens sapiens keine nennenswerte Rolle spielt, eine zweite Evolution in Anschlag zu bringen, der, analog zur ersten, die Aufgabe zufällt, die Naturgeschichte des Menschen in seine historisch dokumentierten Zustände hinein zu verlängern, ohne dass man dabei auf ein materielles Substrat zurückgreifen könnte. Seine Rolle übernimmt der bunte Symbolflitter, anhand dessen man Kulturen erkennt und identifiziert. Als pseudo- oder quasimaterielle Substratsurrogate lassen sie sich wechselweise zu binär sortierten Ordnungsmustern zusammenfügen oder inmitten ihrer chaotisch-symbiotischen Verflechtungen ›zum Sprechen bringen‹; das individuelle Forschungsinteresse hat hier ebenso ein Wörtlein mitzureden wie die religiösen oder politischen Vorlieben der Autoren. Entscheidend ist der Faktor Evolution, der als Platzhalter des abwesenden Gattungssubjekts alles darf, worin sich letzteres auszeichnen würde, wenn man es nicht schweren Herzens verabschiedet hätte, außer einem: Aber ach, sie kann nicht denken! Das übernehmen die Interpreten.
Aus diesem Zaubergarten der verborgenen Lüste und vergifteten Früchte ist eine Theorie nicht schon deshalb entlassen, weil ihr Urheber sich in seinen Äußerungen züchtig zurückhält. Der Verzicht auf die Ursprungsspekulation hätte daher die Annehmlichkeit zur Folge, dass nun nicht länger nachgefragt werden könnte, an welcher Stelle denn der Kausalgedanke in das Gewebe hineinkommt und welche Funktion ihm dabei zufällt. Immerhin scheinen der blinde Reflex, der das Gründungskollektiv dazu motiviert, das Opfer zu wiederholen, und die Begründung, die es dafür aufbietet, es zu institutionalisieren, nicht ganz dasselbe zu sein. Selbst wenn man die offenkundig falsche Voraussetzung akzeptiert, die symbolische Welt sei nichts anderes als die Verstellung des ursprünglichen Mechanismus, bleibt diese Differenz bestehen. Sie ist allerdings eine Differenz im Denken, die irrelevant erscheint, solange man letzterem selbst nur Symptomcharakter unterstellt – solange man die Leute reden und den Gott einen wie du und ich sein lässt.
Nun wird auch dieser feine Unterschied hinfällig – ungeachtet des Zutrauens, das wir der Denkkraft unserer Altvorderen entgegenbringen –, da alle Differenzen in der Theorie zutage treten. Allein die Theoriedisposition entscheidet darüber, ob und in welcher Weise die Annahme eines genetisch fixierten Opfermechanismus als statthaft, zweckmäßig und vermittelbar gelten kann. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Sündenbock-Phänomen existiert und dass es einerseits mit dem rituellen Opfer im Zusammenhang steht, andererseits Gesellschaften, in denen das rituelle Opfer abgeschafft oder auf ein Achselzucken reduziert wurde, als periodische, nur schwer kontrollierbare Gefahr durchgeistert. Das Interesse an einer Theorie, die diese Problemlage in den Blick nimmt, ist also theoretisch und praktisch motiviert. Das sollte genügen, um Misstrauen gegen Vorschläge zu schüren, die allzu offenkundig das Prestige der Fragestellung zu Selbstdarstellungszwecken plündern. So im Fall einer Theorie des mimetischen Begehrens (auf der die Theorie des versöhnenden Opfers aufruht), die in ihrer Struktur den Vorgang, den sie aufzuklären beansprucht, repräsentiert: alle Stadien der versuchsweisen, die wahre Zugehörigkeit eines Gedankens gegen die allgemein akzeptierte falsche ausspielenden Aneignung von Argumentationsmustern, die bestenfalls darin zusammenkommen, dass das Ansehen ihrer Vertreter in der Forschergemeinde das Begehren reizt, über das zu verfügen, worüber jene befinden, bis hin zur Personalisierung des Begehrens in der Auseinandersetzung mit Freud, die in der Durchstreichung der Theoriestücke, mit denen sich sein Name unauflöslich verbindet, also der inzestuösen Mutterbindung als Grundform des Begehrens und des kollektiven Vatermordes als Urszene des tragischen Opfers gipfelt, während dessen anhängige Bemerkungen zum Problem der Mimesis zum eigenen Ceterum censeo erhoben werden. Was danach kommt, sind forcierte Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche in eigener Sache, durch die hindurch sich der Verfasser unverhohlen als Sündenbock anbietet: ein unerquicklicher Anblick und eine peinliche Versuchung. Eine Forscherkarriere, sans doute.
3.
(a) Eine Gruppe von sechs, sieben Kindern umlagert eine Katze auf einer roh zusammengezimmerten Holzbank. Die Bank schwankt verdächtig; alle Augen sind auf das Kätzchen gerichtet, das ein wenig Angst zeigt und deshalb Vorsicht gebietet. Aus der Ferne entdeckt ein weiteres Kind die Gruppe. Es stürzt herbei und wirft durch seinen Anprall die Bank um. Das Kätzchen, durch den geschlossenen Kreis der anderen um seine Bewegungsfreiheit gebracht, wird von der Bank getroffen und stirbt.
Was ist geschehen? In den Augen der versammelten Kinder trägt das hinzugekommene Kind die Schuld. Es hat die Katze getötet. Ein Teil fällt über es her, ein anderer stürmt los, um den Eltern die Sensation mitzuteilen: A ist ein Mörder. ›In Wahrheit‹ war A von demselben Begehren erfüllt wie die anderen, ›in Wahrheit‹ war der Wunsch, dabeizusein wie die anderen auch, der Auslöser seiner Erregung. ›In Wahrheit‹ hat das Zusammenwirken aller die Katze getötet – oder die mangelnde Standfestigkeit der Bank. A ist der Sündenbock.
Wäre die Katze entsprungen, er wäre auch daran schuld gewesen. Dennoch wäre es nicht dasselbe gewesen: niemand hätte ihm unterstellt, er habe die Katze verjagen wollen. Er wäre als Tölpel behandelt worden, nicht als Täter. Der Unfall macht diese Unterscheidung hinfällig. Und auch das stimmt nur zum Teil: es ist nicht recht, die Größe der Schuld zu mindern, indem man den Täter als Tölpel behandelt. Ein Mörder ist kein Tölpel. Er ist etwas anderes, Gefährlicheres.
Den Erwachsenen erstaunt und verstört die umfassende Plötzlichkeit des Geschehens. Es gibt keine Beratung, kein Für und Wider der Darstellungen, keine gegenseitige Bezichtigung, kein Aufschaukeln der Feindseligkeiten, alle Stadien der mimetischen Rivalität ruhen angesichts der einen, überwältigend spontanen Gewissheit: Dieser war es. Seine Schuld ist über jeden Zweifel erhaben. Die Verstörung über den ›Mord‹ und die Nominierung des Sündenbocks sind eins. Liegt da der genetische Mechanismus?
Andererseits ›versteht‹ auch ein Erwachsener die Kinder unmittelbar. Wäre das hinzugekommene Kind nicht so stürmisch gewesen, hätte es nicht durch sein Hinzukommen die bestehende Situation ›gekippt‹ – soll heißen, einen fragilen Gleichgewichtszustand beendet –, so wäre es nicht passiert. Was immer passiert sein mag, es wurde durch eine Intervention ausgelöst, von der den Hinzugekommenen niemand freisprechen kann.
(b) Die Konstruktion eines labilen Gleichgewichts, das durch die Dazwischenkunft eines Dritten (der natürlich kein Dritter ist, sondern ein zur Menge hinzukommender X) irreversibel zerstört – ›vernichtet‹ – wird, prägt einen der bedrückendsten Texte aus den zwanziger Jahren. In Walter Benjamins Kaiserpanorama liest man unter der Ziffer VI:
Dem Ausländer, welcher die Gestaltung des deutschen Lebens obenhin verfolgt, der gar das Land kurze Zeit bereist hat, erscheinen seine Bewohner nicht minder fremdartig als ein exotischer Volksschlag. Ein geistreicher Franzose hat gesagt: ›In den seltensten Fällen wird sich ein Deutscher über sich selbst klar sein. Wird er sich einmal klar sein, so wird er es nicht sagen. Wird er es sagen, so wird er sich nicht verständlich machen.‹ Diese trostlose Distanz hat der Krieg nicht etwa nur durch die wirklichen und legendären Schandtaten, die man von Deutschen berichtete, erweitert. Was vielmehr die groteske Isolierung Deutschlands in den Augen der anderen Europäer erst vollendet, was in ihnen im Grunde die Einstellung schafft, sie hätten es mit Hottentotten in den Deutschen zu tun (wie man dies sehr richtig genannt hat), das ist die Außenstehenden ganz unbegreifliche und den Gefangenen völlig unbewußte Gewalt, mit welcher die Lebensumstände, das Elend und die Dummheit auf diesem Schauplatz die Menschen den Gemeinschaftskräften untertan machen, wie nur das Leben irgendeines Primitiven von den Clangesetzlichkeiten bestimmt wird.4
Der Titel der ganzen Passage lautet Reise durch die deutsche Inflation. In unserem Text sind demzufolge zwei Reisende präsent: der »Ausländer«, der das Land allenfalls »kurze Zeit bereist« hat, und der Schreibende, dessen »Reise« nicht dem Land, sondern seinem gegenwärtigen Zustand gilt, in Wirklichkeit also stationär verläuft. Was die Reise in der Zeit zutage fördert, der trostlose Verlust an freier, beweglicher Individualität im Gefolge von Krieg und Inflation, das betrachtet der von außen urteilende, allenfalls kurz ›das Land bereisende‹ »Ausländer« als stereotypen Volkscharakter, der in der fehlenden Klarheit des Einzelnen über sich selbst seinen schlagenden Ausdruck findet. An die Stelle gestalteter Beziehungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft tritt »die Außenstehenden ganz unbegreifliche und den Gefangenen völlig unbewußte Gewalt«:
Das europäischste aller Güter, jene mehr oder minder deutliche Ironie, mit der das Leben des einzelnen disparat dem Dasein jeder Gemeinschaft zu verlaufen beansprucht, in die er verschlagen ist, ist den Deutschen gänzlich abhanden gekommen.
Wie die Kinder in dem vorhergehenden Beispiel eint die »Gefangenen« ein und derselbe Wunsch. Wie in den Kindern ist er so stark geworden, dass die Distanz zum Objekt des Begehrens sich in der Distanz zwischen den Individuen reproduziert, die der Einzelne nicht mehr zu gestalten oder überhaupt zu beeinflussen vermag. Für diese ›primitive‹ Distanz benützt Benjamin das Bild – was sonst? – des Theaters:
Es ist, als sei man in einem Theater gefangen und müsse dem Stück auf der Bühne folgen, ob man wolle oder nicht, müsse es immer wieder, ob man wolle oder nicht, zum Gegenstand des Denkens und Sprechens machen.
Die Zuschauer sind Gefangene ›in einem Theater‹, also nicht etwa durch das Stück gefesselt, das hier gegeben wird. Sie können dem Stück nicht entrinnen – was wohl heißt, das Theater zur Hölle zu machen –, und dieser Zwangscharakter der Vorstellung bewirkt ihre Verwandlung in den Chor, der das Geschehen denkend und sprechend begleitet. Das anonyme »man« schließt den Schreibenden in diese Verwandlung ein – er ist Teil des Kollektivs. Aber es schließt ihn auch aus. Die Situation des einzelnen ist die Situation aller: ›Es ist, als sei man...‹ Doch genauso ist sie die Situation dessen, der ›anders‹ ist – auch das meint das Bild des Gefangenen angesichts des Stücks, das ›auf der Bühne‹ gegeben wird. Dieses Stück, was sollte es anderes sein als die Aufführung aller, die diesen einen ein- und ausschließt, je nachdem, ob er jenes Alltagswesen an sich selbst erkundet oder an den anderen registriert.
Es will mir nicht gelingen, die Passage ohne den Hintergedanken zu lesen, der die Wahrnehmung so vieler Dokumente aus jener Zeit mehr oder weniger triftig grundiert – ein kollektiver Gedanke auch dies, den die stehende Floskel »während« einzuleiten pflegt: während der Schreibende im Bild der ›Hottentotten‹-Kultur die Distanz des Einzelnen zur entindividualisierten Masse über jedes europäische, ›zivilisierte‹ Maß hinaus vergrößert, ist in den Plänen der kommenden Täter die Opferselektion bereits im Gange, die auch diesen einen mehr als ein Jahrzehnt später vernichten wird. Von Vernichtung ist explizit im Text die Rede. Das verblendete Bürgertum, heißt es an früherer Stelle, könne den eigenen Niedergang nur als vorübergehenden Ausnahmezustand begreifen:
Dahingegen wird die Erwartung, daß es nicht mehr so weitergehen könne, eines Tages sich darüber belehrt finden, daß es für das Leiden des einzelnen wie der Gemeinschaften nur eine Grenze, über die es nicht mehr weiter geht, gibt: die Vernichtung.
Im Beispiel der Kinder, die ›spontan‹ den Sündenbock für die kollektive Tat finden, steht ein Verlierer von vornherein fest – die ›gute Erziehung‹. Der Ausdruck erinnert daran, dass eine weniger gute Erziehung, in der jene ›naturwüchsigen‹ Reaktionen vorgebildet werden, die hier zum Ausbruch gelangen, die gute wie ihr Schatten begleitet. Der kollektive Verlust an ›europäischer Gesittung‹, das Auftauchen der ›Hottentotten‹-Kultur inmitten europäischer Verhältnisse geht der Auszeichnung der Sündenböcke voran. Allerdings auf eine weit komplexere, generationenübergreifende Weise: eine Entwicklung, die vom Verlust ökonomischer Sicherheiten über den latenten und offenen Bürgerkrieg, die Markierung der Opfer seitens der Bürgerkriegsparteien und die ›Befriedung‹ des Landes durch die Einrichtung monströser Opferstätten seitens der siegreichen Partei bis hin zur Apotheose bestimmter Opfergruppen in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts reicht, lässt sich nur als eine Folge kultureller Akte verstehen. Auch der Kritiker beteiligt sich an der Sündenbock-Suche. Das Bürgertum, das er – nicht sonderlich originell – ins Gerede bringt, gehört zu dem phantasmagorischen Personal, das in komplexen Gesellschaften für derlei Zwecke benötigt wird. Der latente, einer Drohung nicht unähnliche Verweis auf die sowjetische Vernichtungspraxis ist zu bedenken. Die Gegenseite erscheint deshalb nicht harmloser. Benjamins auffälliges Insistieren auf der »Dummheit« des heimischen Bürgertums kommentiert vielleicht einen Typus von Verblendung über die ›wahren‹ Ursachen des ökonomisch-politischen Desasters jenseits aller Theorie – den Hass auf die angenommenen Schuldigen, in dem die Opferselektion in vollem Gang ist.
Manches deutet darauf hin, dass Gesellschaften, nicht anders als Individuen, unter existentiellem Druck auf Muster der Welterklärung zurückgreifen, die unter ›normalen‹, das heißt halbwegs entspannten Verhältnissen als ›kindisch‹, ›unangemessen‹, ›barbarisch‹ gelten. Das Sündenbock-Raster, also die Versuchung, den personellen Urheber einer komplexen Situation namhaft zu machen, wäre demnach ein Beispiel für die fortdauernde Gegenwart mythischer Denkstrukturen innerhalb der ›rationalen‹, wesentlich auf wissenschaftliche Denkmuster vertrauenden Gesellschaft. In der Krise – sobald die eingespielten Techniken der Problembewältigung nicht mehr greifen – wächst die Versuchung: das gilt für Individuen, warum dann nicht auch für Gemeinschaften, die schließlich aus Individuen bestehen und ›am Ende‹, soll heißen, inmitten einer ökonomischen Krise, die angesichts einer politisch labilen ›Landschaft‹ sich als Systemkrise darbietet, in lauter Individuen zerfallen? Wie allerdings aus diesen isolierten Einzelnen die diagnostizierte ›Hottentotten‹-Kultur mit ihren überwältigenden Kohäsionskräften entstehen soll, das bliebe noch zu klären, ließen sich nicht Ekel und Verachtung als die wesentlichen Ingredienzen den Vergleichs identifizieren: schließlich ähnelt die neue Gemeinschaft, welcher der Intellektuelle, der bürgerlichen Gesellschaft überdrüssig, entgegenfiebert, weit eher dem archaisierenden Gegenbild als die dissoziierte Masse der ökonomisch Ruinierten.
Verdächtig macht die Krisenrede der Umstand, dass sie selbst angesichts der Komplexität der Problemlage reduziert. Eine Vokabel wie »Rückfall« gehört weitgehend in die Zuständigkeit einer populären Psychologie, die von Besserungs- und Präventionsgedanken beherrscht wird. Im gegebenen Fall setzt ihre Verwendung ein jederzeit zitierbares Kollektivsubjekt voraus, das dem Sündenbock zum Verwechseln ähnlich sieht. Nicht besser steht es um die anonymisierende Metapher vom »Umschlag« rationaler in archaische Verhaltensweisen. Ihre Verwendung setzt auf die Anmutung pseudo-mechanisch wirkender »Kräfte« und »Mächte«, die allzu glatt aus dem magischen Vorstellungsbereich in die Dampfkolbenrhetorik der politischen Dialektik hinüberwechselten und daher besser den Wahnphänomenen zuschlagen werden sollten, die man mit ihrer Hilfe erklären möchte.
Wenn es einen Gewinn gibt, der sich aus der Lektüre – nicht den Theorien – Girards ziehen lässt, dann den, dass das ›mythische Denken‹, gleichgültig darum, ob und in welcher Weise es dem rationalen vorausgeht, in den rationalen Denk- und Verhaltensmustern mitbedacht werden muss. Nicht, als sei Rationalität selbst ein zu destruierender Mythos – diese Pille für Leichtgläubige, denen die Sache schon immer verdächtig vorkam. Benjamins unvermutet freie Sicht auf den Mitmenschen als Hottentotten kommt nicht von ungefähr, sie ist in der Konstruktion des Hottentotten angelegt. Der distanzierende Habitus, der menschliche Lebensformen am unteren Ende einer Skala plaziert, deren entgegengesetztes Ende man europäisch-ironisch, in Wahrheit egozentrisch-unironisch für sich selbst reserviert, wird, einmal erfunden, universal verwendbar, sobald ihm die Verhältnisse Raum geben. Mit anderen Worten: es handelte sich nur um eine Frage der Zeit und der Gelegenheit, ob und in welcher Form koloniale Deutungsattitüden auf den Markt der europäischen Selbstdeutungen drängten. Dort aber wurden sie zu Mitteln sich kreuzender Selektionen, die wiederum – von Opfern, Außenstehenden, Nachgeborenen – als ›barbarisch‹ geächtet wurden – eine nicht unproblematische Bezeichnung, mit der man aus einem desavouierten Deutungsschema nur in ein älteres und keineswegs unschuldigeres hinüberwechselt. Der ›Wiederkehr‹ archaischer Denk- und Handlungsmuster geht ihre Entdeckung im Gewand wissenschaftlicher Theorien voraus. Da liegt die Annahme nahe, dass die Erforschung vorrationaler Einstellungen im Medium der Rationalität das Medium selbst verändert. Rationalität, als institutionell verankerter Prozess betrachtet, konstruiert ihren Gegenpart zwangsläufig als eine andere Rationalität, um ihn als solche – da es zweierlei Rationalität nicht geben kann – zu integrieren: der rituelle letzte Schrei im Westen ist das ›vernünftige‹ Wissen um das Andere der Vernunft, das sie nur um den« Preis des Selbstverlustes aufgeben kann. Der Kollektivmord steht nicht am Anfang der ›Kultur‹, sondern an ihrem Ende: erbrütet im konstruierten Antagonismus der einen rationalen und der vielen archaischen Kulturen, deren ›Wissen‹ die rationale Kultur zu reintegrieren habe, wenn sie ihr eigenes Überleben sichern wolle. Als sozialer Träger dieses ›rationalen Archaismus‹ dient die gleichermaßen verhöhnte und zum Hoffnungsträger verklärte, vorgeblich alle Kultur transzendierende ›Masse‹ (eine weitere fast-imaginäre Größe, die etwa in der ambivalenten Kritik am Konsumterror oder dem angeblichen Realitätsverlust der Medienkonsumenten fortlebt).
Erscheint ein solcher Zusammenhang plausibel, dann ist auf Nachbarschaften zu achten. Im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen – in dem Ernst Cassirer das Programm, das mythische Denken sei nicht durch ›rationale‹ Interpretationen zu überformen, sondern in der ihm eigenen Denkform zu begreifen, in aller Deutlichkeit exponiert – findet man im Anschluss an ein Zitat, das die mythische Vorstellung von Kausalität illustrieren soll, eine Bemerkung, die hellhörig macht.
›Netze phantastisch willkürlicher Beziehungen‹ – so schildert z. B. Oldenberg die Grundanschauung, die den Opfer- und Zauberbräuchen der vedischen Religion zugrunde liegt – ›umspannen alle Wesenheiten, aus deren Aktion sich die Struktur des Opfers, seine Wirkung auf Weltlauf und Ich erklären soll. Sie wirken aufeinander durch Berührung, durch die ihnen innewohnende Zahl, durch irgend etwas ihnen Anhängendes... Sie fürchten sich voreinander, gehen ineinander ein, sind miteinander verwoben, paaren sich miteinander... das eine geht in das andere über, wird zum anderen, ist eine Form des anderen, ist das andere... Man möchte meinen, daß wenn sich hier zwei Vorstellungen einmal in einer gewissen gegenseitigen Nähe befinden, es nicht mehr gelingen will, sie auseinanderzuhalten.‹ Trifft dies zu, so ergibt sich das Merkwürdige, daß Hume, indem er scheinbar das Kausalurteil der Wissenschaft analysierte, vielmehr eine Wurzel aller mythischen Welterklärung aufgedeckt hat.5
Man möchte, ganz im Gegenteil, meinen, dass Oldenberg resp. Cassirer, im Glauben, eine »Wurzel aller mythischen Welterklärung aufgedeckt« zu haben, einen Grundzug zeitgenössischer Ideologien beschreibt. Doch ist es mit dem Gegenteil nicht so weit her, da der Irrtum, der Cassirer zufolge Hume unterlief, sich jederzeit wiederholen kann, falls er sich nicht zwangsläufig wiederholen muss, weil es »das Kausalurteil der Wissenschaft« ebensowenig gibt wie die Wissenschaft, auf die hier Bezug genommen wird. Wo jede neue Wendung oder Ausweitung von Wissenschaft streng genommen nicht präjudizierbare Rückwirkungen auf das Verständnis dessen hat, was wissenschaftsnahen wie -fernen Zeitgenossen als wissenschaftlich einleuchtet, lässt sich nicht ausschließen, dass eine neue Wissenschaft nach orthodoxen – woher auch immer gewonnenen – Maßstäben einen ›Rückfall‹ in ältere, tendenziell unwissenschaftliche Denkgewohnheiten darstellt – das Neue erscheint als ein Altes, weil eine mentale Blockade verhindert, dass es in seiner spezifischen Andersheit wahrgenommen wird. Das Problem verschärft sich, wenn man es auf die ›rationale Kultur‹ als ganze bezieht: was hier ›rational‹ heißt, gerät rasch in den Ruch des Abgestandenen, Weltfremden oder Lebensfeindlichen, weil die Distanz zur umgebenden Gesellschaft sich in den spezifisch wissenschaftlichen Verständigungsweisen ebenso reproduziert wie im Geflecht der Beziehungen, welche eine Gesellschaft mit ›ihren‹ Wissenschaften unterhält. Ihren eigenen Prämissen gemäß ist die rationale Kultur nicht rational. Das zeigt sich im Vorurteil gegen ihre Rationalitätsorte und –inseln ebenso wie an diesen Orten selbst.
Martin Heidegger hat Cassirers Analyse des mythischen Kausalitätsdenkens, die auf die uneingeschränkte Geltung der beiden Prinzipien »post hoc, ergo propter hoc« und »juxta hoc ergo propter hoc« hinausläuft, in einer 1928, also im selben Jahr wie Benjamins Einbahnstraße erschienenen Rezension einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Dort heißt es im Referatsteil:
Alles bleibt in einer gleichmäßigen Seinsebene des unmittelbar Anwesenden, von dem das mythische Dasein benommen ist. Dieses Gegenstandsbewußtsein hat seinen ihm eigentümlichen und genügenden Anspruch auf »Erklärung« und »Verständnis«. Die Mitanwesenheit von etwas mit etwas anderem »gibt« die Erklärung: die Schwalbe macht den Sommer.6
Die unmittelbare Wirksamkeit des Opfers, sie deutet sich hier in der mythischen Denkform an (die, folgt man Cassirer, symbolisch und folglich in allen Gliedern vermittelt ist): als »Mitanwesenheit von etwas mit etwas anderem«. Wie die Schwalbe den Sommer, so »macht« analog dazu das Opfer die ›Ordnung‹. Das bedeutet aber, dass die Unmittelbarkeit nur für den besteht, der das Mittelglied der Kausalkette vermisst: der philosophisch geschulte Betrachter, der die Abwesenheit ›echter‹ Kausalität in einem Denken zu denken unternimmt, das an solchen Stellen ›nichts vermisst‹. Diese Selbstgenügsamkeit ist es, was am ›mythischen Denken‹ befremdet. Im Schlussteil der Besprechung demonstriert Heidegger, dass das Befremden sich mühelos wenden lässt – gegen einen Denkansatz, in dem diese Selbstgenügsamkeit systematisch ortlos und also unbegriffen bleibt, während ein Blick auf die Ausarbeitung der ontologischen Grundverfassung des Daseins in Sein und Zeit ausreicht, um in der mythischen Daseinsform die primäre Bestimmtheit durch die »Geworfenheit« zu erkennen. Unter der Rubrik »Geworfenheit« vollzieht sich die Eingliederung des Benjaminschen Hottentotten in die Analytik des Daseins: er wird, cum grano salis, Europäer.
In der Mana-Vorstellung bekundet sich nichts anderes als das zu jedem Dasein überhaupt gehörige Seinsverständnis, das sich je nach der Grundart des Seins des Daseins – also hier des mythischen – in spezifischer Weise abwandelt und im Vorhinein Denken und Anschauen erhellt...
In der ›Geworfenheit‹ liegt ein Ausgeliefertsein des Daseins an die Welt derart, dass ein solches In-der Welt-sein von dem, woran es ausgeliefert ist, überwältigt wird. Übermächtigkeit vermag sich sich als solche überhaupt nur zu bekunden für ein Ausgeliefertsein an... In solcher Angewiesenheit an das Übermächtige ist das Dasein von diesem benommen und vermag sich daher nur als zugehörig zu und verwandt mit diesem Wirklichen selbst zu erfahren. In der Geworfenheit hat sonach alles irgendwie enthüllte Seiende den Seinscharakter der Übermächtigkeit (mana).
4.
»Der Neukantianismus ist der Sündenbock der neueren Philosophie.« Mit dieser Feststellung eröffnet Cassirer die kuriose Davoser Disputation mit Heidegger von 1929. Und er fährt, gegen letzteren gewandt, fort: »Mir fehlt aber der existierende Neukantianer. Ich wäre dankbar für eine Klärung darüber, wo hier eigentlich der Gegensatz liegt.« Gesprächsstrategisch liegt es damit an Heidegger, sich zu erklären und den Riss innerhalb der philosophischen Welt sichtbar zu machen, dessen Wahrnehmung dem Repräsentanten der anderen Seite notwendig verschwommen bleibt, weil er nicht zugeben kann, dass das, was für ihn nur die fällige Konsequenz aus einem Faktum darstellt – der Wissenschaftsförmigkeit des Wissens innerhalb der rationalen Kultur –, seinerseits als Dogma begriffen und verabschiedet werden könnte. Heidegger zögert keinen Augenblick, den angebotenen Rollenvorteil anzunehmen. Nachdem er Namen genannt hat, fährt er fort:
Das Gemeinsame des Neukantianismus kann man nur verstehen aus seinem Ursprung. Die Genesis ist die Verlegenheit der Philosophie bezüglich der Frage, was ihr eigentlich noch bleibt im Ganzen der Erkenntnis. Um 1850 ist es so, daß sowohl die Geistes- als die Naturwissenschaften die Allheit des Erkennbaren besetzt haben, so daß die Frage entsteht: was bleibt noch der Philosophie, wenn die Allheit des Seienden unter die Wissenschaften aufgeteilt ist? Es bleibt nur noch Erkenntnis der Wissenschaft, nicht des Seienden.
Mit diesen eher banalen Sätzen ist der Neukantianismus erledigt – ein Fall für die Philosophiegeschichtsschreibung – und die Frage nach dem ›existierenden Neukantianer‹ progressiv beantwortet: es ist jeder, der diese Beschreibung der Ausgangslage für sich akzeptiert. Das damit über eine Problemexposition, die weithin mit der Anerkennung der rationalen Kultur durch das philosophische Denken identisch ist, verhängte Tabu lässt jeden, der es verletzt, schuldig erscheinen – schuldig an einer Situation, die er lediglich vorfindet und indirekt stabilisiert, insofern er sie als gegeben annimmt und also seinen Analysen zugrundelegt –: der von Cassirer mit der Überlegenheit des ›kultivierten Gesprächspartners‹ in den Raum gestellte Sündenbock ist gefunden und er entpuppt sich als Stellvertreter im doppelten Sinn, einmal als der stellvertretend Schuldige, der die Lage der Philosophie – oder, allgemeiner, des Denkens – in der verwissenschaftlichten Welt zu verantworten hat, zum anderen als präformative Beschreibung jeder Person oder Personengruppe, die in den Verdacht geraten könnte, an der Lagebeschreibung zu partizipieren.
Ganz auf dieser Linie liegen die gezielten Grobheiten, die Heidegger im Fortgang des Gesprächs streut, so die, dass es darauf ankomme, »[g]erade hineinzukommen in die Geworfenheit des Daseins« – und nicht etwa krumm, wie es dem Reflexionstypus des Zivilisationsvertreters widerfährt –, bis hin zu der Feststellung, »daß die Philosophie die Aufgabe hat, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.« Hier tritt etwas von der zugetragenen »Feindseligkeit« und »Kampfeslust« des ›Gesprächspartners‹ zutage, von der Toni Cassirer in ihren Erinnerungen berichtet. Die Analyse dessen, heißt das, was draußen geschieht – wobei dieses Draußen das Dasein jedes Einzelnen grundiert –, ist zumutbar, aber auch: Es geht darum, den Denkenden in reale Kämpfe zu verstricken um der Aussicht willen, dass ihn sein Schicksal ereilt. Abgedunkelt bleibt, dass diese wirkliche Auseinandersetzung nicht zwischen gleichermaßen kampfbereiten Parteien, sondern zwischen dem neuen Kämpfer-Typus und den kraft der Definitions- und Denunziationsmacht des ersteren zur Gegenpartei erklärten Vertretern der »faulen« und bereits in der Vergangenheit versinkenden Gegenwart spielt und spielen soll. Der Kämpfer bezeichnet den Feind. Benjamins kolonialer Ekel vor den zentraleuropäischen Hottentotten und Heideggers die philosophische Fachsprache transzendierendes Begehren, »gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen«, begegnen sich im Zeichen des bouc émissaire.
Man muss sich daran erinnern, dass Benjamin den hochempfindlichen Zustand, den er beschreibt, ins Bild einer Belagerung durch eine Macht fasst, die sich nicht erklärt. Den nicht greifbaren Gegner zu identifizieren wird in dieser Lage zu einer Art »Bürger«-Pflicht, der sich der Kritiker indessen entzieht. Die Alternative von »Wunder« und »Vernichtung« scheint alle Möglichkeiten zu erschöpfen. In der »Entscheidung« hingegen ist beides anwesend. Das Mittel dazu liegt in der Entscheidung selbst und der in ihr herbeigeführten Fokussierung des Problems: Um die Blockade zu brechen, ist es nötig, mit einem Denken, das die Blockade nicht als solche erkennt (und darum in sich selbst realisiert), zu brechen und seine Träger als wirkliche Feinde zu behandeln. Was phänomenologisch als »man« analysiert wird, das kehrt im Umkreis der »Entscheidung« als herrschendes System wieder, an dem sich die Rebellion entzündet.
Dieser Zusammenhang ist merkwürdig und in mehrere Richtungen bedenkenswert, weil er die Funktionsweise des Sündenbock-»Mechanismus« ein Stück weit erhellt. Im Benjaminschen Bildervorrat steht für ihn der Niedergang der bürgerlichen Kultur, deren Trägern die Kontrolle über die ökonomisch-technischen Prozesse entglitten ist. Die Schmährede markiert die herrschende Unkultur als Tiefpunkt dieser Kultur und damit die Fallhöhe des Europäers. In dieser Nicht-Kultur wird die andere Kultur des »Hottentotten« oder des Heideggerschen »man« sicht- und beschreibbar. Im einen wie im anderen Fall geht es darum, den diagnostizierten Kulturbruch – in dem die scheinrationale Kultur sich angeblich zur Kenntlichkeit entstellt – in ein Wissen vom Menschen zu verwandeln und damit in eine Grundlage aller »eigentlich« durchzuführenden Operationen. Die Revolte lokalisiert die Stellvertreter der Unkultur im Bereich der institutionalisierten Kultur, weil diese ihnen ein Wissen von jener vorenthält, das nötig wäre, um in ihr dagegenzuhalten und die Möglichkeit des eigenen Scheiterns zu eröffnen:
Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit. Dieser Sturz aber bleibt ihm durch die öffentliche Ausgelegtheit verborgen, so zwar, daß er ausgelegt wird als ›Aufstieg‹ und ›konkretes Leben‹.
Das prekäre Gleichgewicht des Betriebs bzw. der ›Betriebsamkeit‹ zerbricht im Einzelnen, der seinen Platz in ihm nicht findet und nicht finden kann, weil das Bild des gegen den Einzelnen gleichgültigen Getriebes eine solche Vakanz nicht erlaubt. Die Frage ist, ob es an ihm zerbrechen kann. In Sein und Zeit wird sie eher verneint, hier überwiegt der akademische Habitus, dessen Distanz zum Gegenstand institutionell abgesichert erscheint. Anders die Rolle Heideggers in Davos – eine Doppelrolle, in der er nicht ansteht, den Sündenbock zu benennen und sich selbst als solchen zu präsentieren: als derjenige, dessen Hinzutreten zu einer bestehenden Konstellation diese irreparabel beschädigt, während er sich darauf beschränkt, sich allen wohlmeinenden Versuchen der anderen Seite, sich mit ihm ›in der Sache‹ zu verständigen, beharrlich zu entziehen. Er ist der Meister der Situation und ihr Opfer: ein »Schicksal«, das sich einige Jahre später im öffentlichen Aufstieg und Fall aus- und auseinanderlegt, während das Jahr 1933 die Mitanwesenheit des Neukantianismus ›auf deutschem Boden‹ beendet.
Benjamins Einbahnstraße erzeugt eine analoge Konstellation im Imaginären: im performativen Gestus des Kritikers, der sich als Zeitreisender maskiert, um durch die Gitterstäbe seiner durchgestrichenen Mit-Existenz hindurch den Stand der Dinge als eine Momentaufnahme aus ihrem Sturz zu fixieren. Das Bild der Hottentotten-Kultur fungiert dabei als Allegorie einer Vernichtung, die bei den Akteuren noch nicht angekommen ist. Ein solches Bild ist von Haus aus doppelsinnig. Dem Verschwinden der ›primitiven‹ Kulturen von der Erdoberfläche präludiert die Entkräftung des Kultus. Die »frenetische« Geist-Feindschaft des »Pöbels« (des Negativs der »Massen«) lässt die Existenz des Intellektuellen nur als permanenten – virtuellen oder realen – Opfergang zu. Sinnigerweise findet Benjamin die Gewähr für die Vernichtung des »geistigen Lebens« in der »Abzählung der Leiber«: auch in diesem Bild ist der Kritiker derjenige, der dazukommt, um die Zahl zu vernichten oder vernichtet zu werden oder beides.
5.
In allen Fällen hat sich die Figur des Hinzukommenden – das Kind, das die Bank umwirft, während es ›rein physikalisch‹ nur ein prekäres Gleichgewicht marginal verschiebt oder nicht einmal das, sondern nur die Aufmerksamkeit der schon Anwesenden ablenkt – als jene entscheidende Beigabe erwiesen, die den katastrophischen Zug ins Bild bringt und den Mechanismus der Opferselektion in Gang setzt. Einen Sonderfall bietet der Freudsche Vatermord, der durch eine Verschiebung im Bereich der Technologie angekündigt wird: »Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben.« Das bleibt als psychologische Erklärung schwach, aber als moderne Nebenwahl zum ›archaischen‹ Vater-Sohn-Mythos wirkt es unschlagbar. Der »Kulturfortschritt« im technologischen Sinn grundiert die Texte der Einbahnstraße und rückt als Abstraktum »Technik« in die Sündenbock-Rolle bei Heidegger ein, nachdem der Davoser »Neukantianismus« sich als Gegner historisch erledigt hatte. Der Unterschied zu diesen liegt darin, dass Freud an dieser Stelle keinen Sündenbock braucht; das Verhältnis zur wissenschaftlich-technischen Kultur ist von seiner Seite völlig ungetrübt, wenngleich alles andere als entspannt.
Offen liegt die Ambivalenz hingegen in Tolstois Erzählung. Hier wirbelt das unvermutete Dazwischentreten des ›wilden‹ Kriegsherrn den Alltag der russischen Kriegsmaschine ›durcheinander‹ und bringt so die Profiteure des »Kulturfortschritts« in Verlegenheit: die unverhoffte Chance wird auf allen Stufen der Hierarchie – den Zaren eingeschlossen – vor allem als Gefahr wahrgenommen, sich zu blamieren. Und so, als Herd möglicher Ansteckungen, nimmt man den ›Gast‹ bis auf weiteres in Verwahrung – bis sein Ausbruchsversuch die Blamage unabwendbar ›wirklich‹ macht, es sei denn, er lässt sich – selbstredend mit allen, soll heißen tödlichen Mitteln – vereiteln. Jene »stumme, unsichtbare Macht«, von der Benjamin schrieb, sie belagere, aber sie verhandele nicht, personalisiert sich im Umgang der russischen Gastgeber mit Hadji Murad. Während er eine Antwort auf seine militärischen Pläne erwartet, bittet man ihn, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Das ist um so bemerkenswerter, als Tolstoi in ihm den Typus des ›kultivierten Wilden‹ zeichnet, der sich in den Urteilen über die Sitten seiner ›gebildeten‹ Gastgeber als verständnisvoller Kulturrelativist erweist, während diese, befangen im Schematismus der ›höheren Kultur‹, ihm ein ausschließlich ethnographisch diktiertes Interesse entgegenzubringen imstande sind. Man redet mit ihm, man zieht ihn in seine Gesellschaft, man begegnet ihm achtungsvoll und mit Ehrerbietung, immer eingedenk der Gefahr, die er darstellt, die er unter seinem angenehmen Äußeren verbirgt wie ein wildes Tier, das jederzeit hervorbrechen kann – eine Gefahr, die imaginär und greifbar zugleich ist und in nichts weiter besteht als in der mentalen Lageveränderung, die sein Dazwischentreten bewirkt hat –, also etwa so, wie man dem Typus Erzähler-Autor begegnen könnte, den Tolstoi realisieren wollte und den er im zivilisationskritischen Impetus seiner Erzählungen vielleicht wirklich realisiert hat.
Wenn, wie Jacques Derrida schreibt, alle Nationalstaaten aus Gewalt hervorgehen und in Gewalt gründen und fortfährt: »Ich glaube an diese unwiderlegbare Wahrheit«,7 dann liegt in dem »Hervorgehen« eine Zweideutigkeit, der bereits Girard seine gewagteren Effekte verdankt. Gewalt zählt zu den ständigen Begleitern von Herrschaft. Im ›Wilden‹ der europäischen Kolonialgeschichte hat die zweideutige menschliche Neigung, eine gesichtslose Gefahr in einem ad hoc gewählten Gegner zu konzentrieren, ihn als potentiellen Angreifer über alle Satzungen hinweg zu identifizieren und zu eliminieren, ein im allgemeinen leicht zu handhabendes, ›dankbares‹ und dabei ausgedehntes Objekt gefunden. Das ›Unbehagen in der Kultur‹, die nicht aus ihr zu eliminierende, latente oder grassierende Katastrophenangst, inkorporiert dieses Objekt der ›Kultur‹ und bezichtigt diejenigen der Blindheit oder der Kollaboration, die die Gefahr nicht sehen oder nicht sehen wollen. Der Sündenbock ist der imaginäre Wilde in der Kultur. Fragt sich, wer seiner als erster ansichtig wird – die Intellektuellen oder die Meute.
Zwischen Gefahr und Opfer wächst die Versuchung: das starke Leben.
Anmerkungen