Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Faktum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf ‒ zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Deliktum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter misstrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug. ‒ Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister.
Heinrich von Kleist, Vorrede zum Zerbrochnen Krug
1.
Auf dem Kupferstich von le Veau deutet eine ältere, offensichtlich erregte Frau mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand auf einen jungen Mann. Seine Haltung und Mienenspiel lassen auf starke Verlegenheit schließen. Die Frau zerrt an seinem Obergewand, gleichzeitig spricht sie heftig auf eine stumm lauschende Amtsperson ein ‒ den Gerichtsschreiber, wie der Betrachter wohl annehmen darf. Der Schreiber sitzt an einem Tisch, den ein bis auf den Boden reichendes Tuch verdeckt. Zwischen beiden Figuren, in den Mittelgrund gerückt, thront der Richter. Das Kinn auf den Ballen der rechten Hand gestützt, die Linke lässig auf der Sessellehne ruhend, scheint er ganz Auge und Ohr zu sein. Einige der Verhandlung teils aufmerksam folgende, teils mit Desinteresse begegnende Personen bereichern die Szene. Mit einer gleichermaßen als widerstrebend oder begütigend zu verstehenden Geste hat der junge Mann seine Hand auf den Oberarm der Alten gelegt. Schwerer zu deuten ist der auf ihr ruhende Blick der jungen Frau, die einen geborstenen Krug am Unterarm trägt. Ihre ergebene Haltung und das corpus delicti an ihrem Arm lassen über den Gegenstand der Verhandlung kaum Zweifel aufkommen. Das Kind braucht einen Vater ‒ so wird man das Thema des Bildes verstehen dürfen: La juge ou la cruche cassée.
2.
Kleists Vorrede zum Zerbrochnen Krug, handschriftlich überliefert, ist ein Muster überformender Erinnerungsarbeit: das wahrscheinliche ›historische Faktum‹, ›worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können‹, legt sich über das Sujet und verschiebt das gerade erst erwachende Bedürfnis des Lesers zu verstehen, ›worum es geht‹, von der schlichten Exemplifikation des bekannten Sprichworts Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, auf eine unbekannte Geschichte, die mit Hilfe andeutender, nichts als sicher nehmender Wendungen wie ›schien‹, ›wahrscheinlich‹, ›wer weiß‹, ›könnte‹ allmählich Konturen annimmt, bis schließlich durch die Erwähnung des Paares Kreon-Ödip die ebenso jähe wie vage Gewissheit einkehrt: Der Richter ist der Schuldige. Es folgt der Hinweis auf den ›niederländischen‹ Meister mit dem ominösen Einschub: ›wenn ich nicht irre‹. Der Verfasser irrt allerdings. Die Vorlage für den Stich stammt von dem französischen Maler Jean Philibert Debucourt.
Die Einzelheiten, in denen der Autor der Vorrede ›irrt‹, verfolgen einen einzigen Zweck: sie sollen helfen, ein im Bild nicht vorhandenes, jedenfalls gut verstecktes, nur im Raum der Mutmaßungen existierendes Motiv zu exponieren. Für Leser, die den Stich nicht vor Augen haben, gewinnt die Szene dadurch ein quasi-inquisitorisches Interesse, das sich von dem des abgebildeten Personals weit entfernt. Denn, Hand aufs Herz: dass der durch den Krug metaphorisch zum Ausdruck gebrachte Umstand die Parteien auf dem Bild zusammenführt ‒ daran zu zweifeln erfordert eine gewisse Beimengung von Irrsinn oder detektivischer Verbohrtheit, die sich leichter im Adressaten deponieren als offen zur Schau tragen lässt. Das Kind braucht einen Vater: was soll da ein Verdacht gegen den Richter? Damit ist niemandem gedient. Ein solcher Niemand ist der Autor: er allein hat den Verdacht in der Szene plaziert. Er ist es, der den Leser und sich selbst beredet, das, was er gesehen hat, sei als nebensächlich zu erachten und wichtig nur das ›wahre‹ Motiv, das im Verborgenen gedeiht.
An einer einzelnen Veränderung lässt sich ablesen, was hier geschieht. Warum wandert in Kleists Beschreibung der Krug vom Arm des Mädchens in die Hand der ›alten Frau‹ hinüber? In welchem Sinn ist es der ihre? Welche Genugtuung kann ihr widerfahren? Was auf dem Bild klar erscheint, verschleiert sich in der erinnernden Rede. Die Weigerung des Autors, das corpus delicti metaphorisch zu nehmen, verwandelt die Szene in ein Tribunal, angesichts dessen niemandem wohl werden kann. Gegen den in seine ›Materialität‹ entlassenen Krug als Zeugnis einer Missetat, die buchstäblich ›nicht zu fassen‹ ist, kann kein Anwesender Recht behalten.
Als urwüchsige Strategie zur Erzeugung von Komik gehört das Wörtlichnehmen, das dem Wort nachsinnende Verkennen des Gemeinten zum eisernen Theaterbestand. Kleists ›Lustspiel‹ vertraut ihr grenzenlos. So noch im letzten Auftritt, wenn Frau Marthe an ihr ursprüngliches Anliegen erinnert: »Soll hier dem Kruge nicht sein Recht geschehn?« Natürlich hat sie recht: Die Frage bleibt am Ende so unbeantwortet wie zu Beginn. Zwar ist der Schuldige ermittelt, doch dessen Schuld scheint sich auf wesentlich anderes zu beziehen als auf den in den Augen aller Beteiligten (mit Ausnahme der Klägerin) als Nebensache begriffenen Krug.
So zu reden setzt voraus, dass es eine Hauptsache gibt, die Verhandlungssache wird, sobald der Prozess um den Krug seinen Lauf nimmt. Sie ist auf dem Stich von Le Veau nicht zu übersehen: als natürliche Folge der sexuellen Verfehlung ‒ oder Unachtsamkeit ‒ der jungen Protagonisten, die im Drama Eve und Ruprecht heißen. Die Klage auf den zerbrochnen Krug beschränken heißt also, abzulenken von der sprichwörtlichen Tat. Wirklich scheinen sich die handelnden Personen, vom Gerichtsrat bis zum Vater des Beklagten, vor allem darin einig zu sein, den Ruf des Mädchens keinen Schaden nehmen nehmen zu lassen. Am Ende geht Eve aus dem Verfahren unschuldiger hervor, als sie am Anfang dasteht: ein zweideutiges Ergebnis, wenn man bedenkt, dass alle Beteiligten ein mehr oder minder handfestes Interesse daran haben, sie schuldlos erscheinen zu lassen. Ironischerweise gilt das am stärksten für die Person, auf der am Ende alle Schuld zu liegen kommt ‒ den Richter. Der sexuelle Fehltritt hat nicht stattgefunden, der Krug ‒ in seiner metaphorischen Bedeutung ‒ ist heil wie am ersten Tag, nur der wirkliche Krug, das Ding da, bleibt geborsten wie zu Prozessbeginn. Kein Wunder also, dass Frau Marthe ›empfindlich‹ reagiert: Wo alle bekommen, was sie wollen ‒ oder verdienen ‒, geht sie leer aus. Ein Unrecht? Zweifellos. Fragt sich, ob es sich in der Appellationsinstanz aus der Welt schaffen lässt.
Unumwunden stellt Frau Marthe bereits vor Beginn der Verhandlung klar, dass sie mit dem blessierten Krug zugleich die Sache des Mädchens in die Hand genommen hat:
Willst du etwa
Die Fiedel tragen, Evchen, in der Kirche
Am nächsten Sonntag reuig Buße tun?
Dein guter Name lag in diesem Topfe,
Und vor der Welt mit ihm ward er zerstoßen,
Wenn auch vor Gott nicht, und vor mir und dir.
Der Richter ist mein Handwerksmann, der Schergen,
Der Block ists, Peitschenhiebe, die es braucht,
Und auf den Scheiterhaufen das Gesindel,
Wenns unsre Ehre weiß zu brennen gilt,
Und diesen Krug hier wieder zu glasieren.
Und genauso deutlich gibt Eve zu erkennen, dass sie nicht im Traum daran denkt, ihren ›guten Namen‹ an das lädierte Gefäß zu binden. Dass er ›vor der Welt mit ihm ... zerstoßen‹ wurde, will ihr keineswegs in den Kopf. Am Krug, der ihr herzlich wenig bedeutet, respektiert sie allenfalls den sentimentalen Wert, den er für die Mutter besitzt. Dass dieser Wert im Prozess nur vorgeschoben ist, um unausgesprochen von dem Problem zu handeln, das die Mutter umtreibt, steht für beide Frauen außer Frage. Solange die Verhandlung andauert, übergeht Frau Marthe die metaphorische, also in ihren Augen eigentliche Bedeutung des Krugs mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der Eve ausspart, dass sie überhaupt existiert. Der Krug bedeutet nichts: das ist die Position, die Eve im Prozess einnimmt und die am Ende ‒ mangels Beweisen ‒ obsiegt. Er bedeutet nichts, weil er nichts beweist. Auf ihre Weise kehrt Eve den Gedankengang der Mutter um, die den Krug zum Beweis dessen setzt, was alle Welt weiß oder wissen soll: dass der Verlobte ihn zerbrochen (und der Tochter die Unschuld genommen) hat und kein anderer.
Der Mutter bedeutet der Krug alles ‒ soll heißen alles, was zur Verhandlung ansteht. Wohl weil sie vor den Schranken des Gerichts nicht auszusprechen wagt, wofür er steht ‒ was auch kaum nötig ist, da jedermann es sich denken kann ‒, verfällt sie auf den Ausweg, seine Bedeutung mäandernd in alles Mögliche zu setzen. In ihrer Rede ist er nicht länger das sichtbare Objekt, sondern die erzählte Sache, also etwas, das man nicht sieht und nicht sehen kann, teils, weil das Loch, Ausgangs- und Zielpunkt der Erzählung, seinen Anblick zunichte gemacht hat, teils, weil es ohnehin der Vergangenheit angehört.
Das erklärt die grandiose Abschweifung, in der Marthe sich über die doppelte Historie des Krugs verbreitet ‒ die dritte wäre die, deretwegen sie das Gericht bemüht ‒, nachdem der Richter widerwillig, weil er den Grad und die Richtung ihrer Diskretion noch nicht abzuschätzen vermag, sie auf Walters Drängen aufgefordert hat, den Gegenstand der Klage zu erläutern.
Ich klag, Ihr wißts, hier wegen dieses Krugs;
Jedoch vergönnt, daß ich, bevor ich melde
Was diesem Krug geschehen, auch beschreibe
Was er vorher mir war.
Die Wendung ›Was er vorher mir war‹ kann zweierlei bedeuten: (1) Jetzt, in diesem zerschlagenen Zustand, bedeutet er mir nichts mehr; ich verlange die Bestrafung des Übeltäters ‒ wer immer es sein mag ‒ um meines unersetzlichen Verlustes willen. (2) Jetzt bedeutet er mir das, was dort geschehen ist und ich bestehe darauf, dass der ‒ mir wohlbekannte ‒ Täter die Verantwortung für das Geschehene übernimmt. ‒ Dadurch, dass Marthe vehement die Bestrafung nicht des Täters, sondern dieses Täters fordert, verbindet sie beide Bedeutungslinien, ohne dass sie aussprechen müsste, was eigentlich ‒ im Sinn der Krug-Metapher ‒ dort geschehen ist. In der Forderung nach Bestrafung liegt (schließlich geht es darum, Eve unter die Haube zu bringen) eine Finte ebenso wie im Unernst des Berichts, den sie gibt, um zu erläutern, was ihr der unversehrte Krug bedeutete.
Der Bericht reizt die Lachmuskeln des Theaterpublikums. Das liegt an seinem ausholenden, ab ovo, oder, um in der Sprache des Stückes zu bleiben, mit Adam und Eva anhebenden Gestus. Listig-umständlich setzt sich der zähe, ›bauernschlaue‹ Charakter der um die Zukunft ihrer Tochter feilschenden Mutter gegen die Herren des Gerichts in Szene. Es ist aber auch zum Lachen, was sie zu erzählen weiß. Die Darstellung, die ihr den Krug, wie sie sagt, so überaus wertvoll machte, die Belehnung Philipps II., des späteren Königs von Spanien, mit der Regentschaft über die 1648 unabhängig gewordenen Niederlande bringt jenen größeren geschichtlichen Sündenfall ins Spiel, als den man, je nach Partei, den ins Bild gesetzten Vorgang oder den späteren Abfall der niederländischen Provinzen von der spanischen Krone verstehen darf. Denn der Vorgang, von dem der Krug Zeugnis gab, kann in der aktuellen Weltlage schwerlich als etwas anderes erachtet werden denn als das falsche Gründungsdatum der Vereinigten Niederlande. Die kuriose Devotion der Frau aus dem Volke angesichts des abgebildeten Krönungsgeschehens lässt den Unabhängigkeitskampf, also die wahre Gründungsgeschichte des Gemeinwesens, mit all ihren bis in die Gegenwart wirksamen Folgen, als eine Episode minderen Ranges erscheinen. Im Krugraub des Geusen blitzt sie eher beiläufig auf. Als Kehrseite der Verschmitztheit bekundet sich eine offenbar ebenso unausrottbare wie indifferente Obrigkeitshörigkeit: Die Empörung der Klägerin angesichts der Indezenz eines Lochs, das dafür sorgt, dass Kaiser und König nicht länger ihre angestammten Plätze einnehmen, demonstriert einen habituell zu nennenden Unwillen, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und zu begreifen, dass der Gegenstand der Klage, der ›Riss‹ und das ›Loch‹, in der wirklichen Welt nicht erst seit gestern und heute, sondern seit der Gründungszeit des Gemeinwesens klaffen und, wohlverstanden, dessen ›Ratio‹ repräsentieren. In Wahrheit beklagt Frau Marthe den Lauf der Welt. Dabei wäre sie die letzte, die ihn aufhalten wollte.
Aufs Ganze des Dramas gesehen, ist das kein nebensächliches Motiv. Es ist dieselbe Denkweise, die etwa Eve darauf sinnen lässt, ihren Verlobten durch unlautere Mittel dem drohenden Wehrdienst zu entziehen, und ‒ partiell ‒ die Macht des falschen Adam über sie begründet. Frau Marthe, Eve, Ruprecht: das bornierte Interesse, das sich die Zweckhaftigkeit staatlicher Machtentfaltung misstrauisch nach Belieben umdenkt und daraus praktisch-handfeste Schlüsse zieht, schweißt die kleine ländliche Gemeinschaft gegen die da oben zusammen und lässt den Dorfrichter Adam als einen der ihren erscheinen. Kein Zweifel, dass ohne den unverhofft hinzukommenden Gerichtsrat das Verfahren den von Frau Marthe ins Auge gefassten Gang nehmen würde. Denn in der Sache sind sie und Adam Verbündete. Angenommen selbst, sie hegte gegen ihn einen Verdacht: gerade den in seiner Machtfülle unbeeinträchtigten korrupten Richter hätte sie ‒ den Krug vorweisend ‒ in der Hand.
3.
Der Dichterwettstreit, zu dem sich Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland und Heinrich von Kleist in Bern 1802 vor dem Stich ›im Scherz‹ verabreden, enthält, wie sich im Fortgang erweisen wird, eine Asymmetrie. Wieland wird zugunsten eines Dritten zurücktreten, Zschokke neidlos Kleists Bühnenstück als den einzigen namhaft gewordenen Ertrag reklamieren. Der einzige, dem es mit dem Wettstreit völlig ernst zu sein scheint, ist Kleist. Wie ernst, das verrät eine ein Jahr später in Dresden spielende Episode, als der Dichter eines Abends die drei ersten Szenen des Krugs diktiert, nachdem ein weiterer Freund, Ernst von Pfuel, ›Zweifel an seinem komischen Talent geäußert‹. Freunde spielen bei der Entstehung des Stücks eine erhebliche Rolle. Ihnen gegenüber befindet sich Kleist in einer prekären Situation ‒ er muss sich (und ihnen) etwas beweisen. Zum einen seinen überlegenen dichterischen Rang: Dieses Motiv bildet der in Bern beschlossene Wettstreit ab. Sodann ein Talent, zu dem er dem anderen nicht sonderlich prädestiniert erscheint und das er gerade deshalb für sich reklamiert: Er kann auch das. Dieses Wettmoment liegt der Dresdner Episode zugrunde.
Der doppelte Beweis, den der Dichter des Krugs antritt, lässt sich in zwei Sätze fassen: Ich kann, was ich will. Und: Ich bin, der ihr wollt. In beiden liegen Anspruch und Vorsicht dicht beieinander. Man liest den ersten erst dann angemessen, wenn man mitbedenkt, welche Tücke das ‒ unbedingte ‒ Wollen für Kleist bereithält. Seit dem Guiskard-Unternehmen und dem Debakel, in dem es endete, liegt im Wollen das durch keinen noch so ausgeklügelten Plan aus der Welt zu schaffende Problem der Grenze, die schmerzlich erfahren, aber nicht akzeptiert wird: eine Lesart des Scheiterns, für welche schon früh die sogenannte Kant-Krise das Muster bereitgestellt hat. Das wache Bewusstsein der Gefahr lässt den Wettstreit, lässt die Wette als den Ort der Provokation erscheinen, deren es bedarf, um den Entschluss zu wollen auszulösen ‒ und damit über den Schatten des einmal Gescheiterten zu springen. Die Herausforderung hat sich verlagert; sie ist plötzlich und kontingent geworden und verlangt nach einer ebensolchen Entgegnung. Überdies spielt sie auf einer anderen sozialen Ebene: unter Freunden. Dem trägt die zweite, nicht weniger zweideutige Maxime Rechnung. Ich bin, der ihr wollt, das bedeutet: Ich bin der, nach dem ihr verlangt ‒ gleichgültig, für wen ihr mich haltet. Der Autor lässt sich nicht bloß auf die Vorgaben der anderen ein, sondern redupliziert sie als Einlassungen in eigener Sache. Einerseits, weil sie genauso viel taugen wie andere auch ‒ also das Kriterium der Kontingenz erfüllen ‒, andererseits, weil sie auf ihn als die ersehnte Herausforderung wirken, angesichts derer ihm nichts anderes übrigbleibt, als sich zu stellen.
Sätze, die diesen Mechanismus aufblitzen lassen, finden sich im Umkreis des Krugs genug. So jene, mit denen er den Abschluss der Arbeit mitteilt: »Die Wahrheit ist, daß ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste. Wär ich zu etwas anderem brauchbar, so würde ich es von Herzen gern ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.« Die schroffe Trennung zwischen dem Vorgestellten und dem Geleisteten, zwischen Gedanken und Ausführung, zeigt an, dass die Logik des Scheiterns ‒ das Guiskard-Syndrom ‒ durch die Vollendung des Stücks nicht aufgehoben, sondern bestätigt wird, dass sie ihm voraus- und zugrundeliegt. Ähnlich aufschlussreich heißt es im Brief an Fouqué von 1811: »Nehmen Sie gleichwohl das Inliegende ... mit Schonung und Nachsicht auf. Es kann auch, aber nur für einen sehr kritischen Freund, für eine Tinte meines Wesens gelten; es ist nach dem Teniers gearbeitet, und würde nichts wert sein; käme es nicht von einem, der in der Regel lieber dem göttlichen Raphael nachstrebt.« So wie im einen Fall das Ich kann, was ich will noch im kategorischen Dementi seinen Platz behauptet, so zeigt sich das Ich bin, der ihr wollt in der Empfehlung des Dichters, ihn in dem, was er gemacht hat, nicht zu verkennen, obwohl ‒ vielleicht weil ‒ er ›in der Regel‹ dem entgegengesetzten ‒ und höheren ‒ Leitbild ›nachstrebt‹. Ich bin, der ihr wollt heißt immer auch: Ich kann auch anders. Das ist eine Bedeutung jener Maxime Ich kann, was ich will.
Mag die Prozessführung, die der Dorfrichter Adam ›in der Regel‹ bevorzugt, auch ›nach dem Teniers gearbeitet‹ sein, so bedeutet ihm die Anwesenheit des Gerichtsrats, es könne diesmal eine andere Verfahrensart angezeigt sein:
ADAM. Befehlen Euer Gnaden den Prozeß
Nach den Formalitäten, oder so,
Wie er in Huisum üblich ist, zu halten?
WALTER. Nach den gesetzlichen Formalitäten,
Wie er in Huisum üblich ist, nicht anders.
ADAM. Gut, gut. Ich werd Euch zu bedienen wissen.
Ich kann auch anders oder Ich bin, der ihr wollt: Das exakt ist es, was er vom ersten bis zum letzten seiner Auftritte signalisiert. In der Durchführung zeigt er alsbald jene ›Chuzpe‹, welche die Maxime Ich kann, was ich will bestens umschreibt. Ihr verdankt er die Kraft des Einfalls (und der dreisten Lüge), die Schreiber Licht bereits im ersten Auftritt bewundert. Mag auch der einzelne Einfall, für sich genommen, läppisch wirken und die glossierende Ironie des Schreibers förmlich herausfordern, die Geistesgegenwart des Richters beweist sich in der Ungeniertheit, mit der er Einfall auf Einfall türmt.
ADAM. Das ist der Augenknochen. ‒ Ja, nun seht,
Das alles hatt ich nicht einmal gespürt.
LICHT. Ja, ja! So gehts im Feuer des Gefechts.
ADAM. Gefecht! Was! ‒ Mit dem verfluchten Ziegenbock,
Am Ofen focht ich, wenn Ihr wollt. Jetzt weiß ichs.
Wie immer man es dreht: Adams Situation spiegelt ‒ reichlich unverblümt ‒ die Ausgangslage des Dichters wieder. Sie spiegelt sie, soll heißen, wie sich Protagonist und Dichter in ihr bewähren, entscheidet sich im gleichen Takt und in ein- und derselben Figur. Der Beweiszwang, unter dem der Autor steht, reproduziert sich im Aktionismus des Richters als Zwang zur Vertuschung. Auch dieser haftet einerseits an der Person, andererseits an der jeweils ‒ und jeweils anders ‒ sich darbietenden Situation: die von Kleist an anderer Stelle beschriebene ›allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ ist das über jede Klugheit hinaus forcierte Verfahren, dessen sich Adam bedient, und das Netz, in dem er sich schließlich verfängt. In ihm zeigt sich sein eigentümliches Talent.
Man wäre schlecht beraten, würde man versuchen, die Parallele psychologisch zu deuten, also in der Figur Adams das ‒ wie auch immer versteckte ‒ Psychogramm des Dichters zu buchstabieren. Die Beredsamkeit, die das Stück entfaltet, folgt einem anderen Ehrgeiz. Ihre Aufgabe ist es, eine Figur vorzuführen, die jene beiden Maximen zwanghaft praktiziert (mit ihnen geschlagen ist) ‒ mit dem Ziel, über sie zu lachen, sie (wie im ὀνομαστὶ κωμῳδεῖν der attischen Komödie) zu verlachen. Dass im Bühnen-Selbst das eigene Selbst mitgesetzt ist ‒ das des Autors wie das des Zuschauers ‒, tut dem Gelächter keinen Abbruch. Im Gegenteil: es zählt zu den Voraussetzungen, unter denen es seine Kraft entfaltet. Derjenige, der da verlacht wird, ist zugleich Urheber und Geschöpf seiner Pointen. Der Richter, der sich produziert, produziert die Komik, die das Spiel zum Kleistschen ›Lustspiel‹ macht. Allenfalls Marthe vermag da gelegentlich mitzuhalten. Adam ist nicht nur komisch, er will es sein. Er sammelt Punkte in einem Spiel, in dem er nur verlieren kann, auf dass der Autor gewinne.
Akte physischer wie moralischer Entblößung fordern das Gelächter heraus: auch das gehört zum Reaktionsbestand, auf den Verlass sein muss, damit das Lustspiel seinen Gang gehen kann. Die Zurschaustellung dessen, was einer tunlichst vor seinen Mitmenschen verbirgt, kommt so unverhofft wie pointensicher. Was sich dem Auge zeigt ‒ der lädierte, durch das Fehlen der Perücke immer erneuter Begutachtung ausgesetzte Kopf, der durch die ›Behandlung‹ freigelegte, christliche und klassische Mythologie ›unförmig‹ ineins ziehende Klumpfuß ‒, gewinnt seine Bedeutung erst durch das, was sich entsprechend in der Rede zeigt, et vice versa. Das gilt nicht nur für die forensische Seite der Sache. Es gilt auch für den sexuellen, ›phallischen‹ Aspekt des Falls. Das Sexuelle bildet einen durch ein doppeltes Tabu begrenzten Bereich: Was immer zwischen Adam und Eve geschehen sein mag, es ist nichts geschehen, und: Was auch an Zwei- oder Eindeutigem auf der Hand liegen mag, es ziemt sich nicht, darüber zu reden. Der zerbrochne Krug, der zwischen Eve und ihrem Bräutigam steht ‒ nicht wirklich, aber als ›Verhandlungssache‹ ‒, bestimmt den Gang der Verhandlung bis ins Detail. ›Zerbrochen‹, in sich zerfallen sind Rede wie Gegenrede, ist die Verhandlung selbst und, das vor allem, das Beziehungsgeflecht zwischen den Protagonisten. Obwohl die Teile dauernd im Spiel sind und das Spiel in Gang halten, fügen sie sich zu keinem Ganzen zusammen. Als Widerspiel der rechtlich-moralischen Auseinandersetzung fungiert das beschwiegene, bildhaft aufzüngelnde Obszöne.
Lose Reden werden da vor Gericht geführt. Richter und Klägerin geben sich in ihnen wenig nach. Beide sind in der Wahl ihrer Waffen keineswegs zimperlich. Beide kennen nur zu gut die Bedeutung der Krugmetapher: Allenfalls ein »Gimpel! Simpel! Tümpel« (Variant) Ruprecht kann so unbedarft sein, sie hinauszutrompeten. Der Richter hingegen, tollkühn aus Verlegenheit, reizt die Metapher weiter aus. Auf die Frage des Revisors: »Kennt ihr die Frau?« antwortet er:
Sie wohnt hier um die Ecke, Euer Gnaden,
Wenn man den Fußsteig durch die Hecken geht;
Witw’ eines Kastellans, Hebamme jetzt,
Sonst eine ehrliche Frau, von gutem Rufe.
›Hier um die Ecke‹: ›hier‹, behauptet der Richter eingangs, sei er ›gestrauchelt‹, »[a]uf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier?« ›Hier‹ also geht es ›durch die Hecken‹, wie man jetzt erfährt, ‒ zur ›Witw’ eines Kastellans‹ (eine handfeste sexuelle Anspielung: das ›Schloss‹ ist nicht ganz fest verwahrt). Auf das ›Hier‹ folgt das ›Jetzt‹:
WALTER. Fragt nach dem Gegenstand der Klage jetzt.
ADAM. Jetzt soll ich ‒?
WALTER. Ja, den Gegenstand ermitteln!
ADAM. Das ist gleichfalls ein Krug, verzeiht.
WALTER. Wie? Gleichfalls!
ADAM. Ein Krug. Ein bloßer Krug. Setzt einen Krug,
Und schreibt dabei: dem Amte wohlbekannt.
Das ist, sozusagen, starker Tobak. Es fügt sich aber in das Schema von Verhüllen und Entblößen, Entblößen durch Verhüllen ein, welches das Stück regiert und einer Zuschauerin nach der missglückten Weimarer Erstaufführung das Wort von der »Schenkenszene« eingab, »die zu lang dauert, und die ewig an der Grenze der Dezenz hinschießt«. Der Ausdruck ›gleichfalls‹, der den Gerichtsrat irritiert, stellt untergründig die Verbindung zwischen dem Hier und dem Jetzt her, die durch den Formalismus der Prozesseröffnung auseinandergebracht werden. ›Durch die Hecken‹ geht der Weg zu Mutter und Tochter: ein Detail, das dem Gerichtsrat in der Verhandlungspause dämmert, ohne dass es ihm gelänge, die Fäden zu entwirren. »Neun Wochen sind’s«, dass der Richter das Haus der Marthe nach ihrer Auskunft meidet. Das scheint ihn zu entlasten ‒ jedenfalls, solange man ihn nur auf Eves Spur vermutet (»WALTER: Hm! Sollt ich auch dem Manne wohl ‒«) ‒ und macht ihn, die Umstände sorgsam erwogen, erst recht verdächtig:
WALTER. Auf Euer Wohlergehn! ‒ Der Richter Adam,
Er wird früh oder spät schon kommen.
FRAU MARTHE. Meint Ihr? Ich zweifle.
Könnt ich Niersteiner, solchen, wie Ihr trinkt,
Und wie mein sel’ger Mann, der Kastellan,
Wohl auch, von Zeit zu Zeit, im Keller hatte,
Vorsetzen dem Herrn Vetter, wärs was anders:
Doch so besitz ich nichts, ich arme Witwe,
In meinem Hause, das ihn lockt.
WALTER. Um so viel besser.
Man darf bei alledem nicht vergessen: es ist Eves guter Ruf, um den, bei Licht betrachtet, sich hier alles dreht. Er bleibt dann (und nur dann) unangetastet, wenn sich herausstellt, dass Ruprecht in der Kammer war ‒ in diesem Fall gilt unbesehen die Versicherung der Verlobten, es sei nichts passiert. Verloren hingegen ist er für den Fall, dass sie den Dritten in ihre Kammer gelassen hat. Nach dieser rustikalen Regel betreibt Frau Marthe die Verurteilung Ruprechts. Adam versteht das gut und ist aus schierem Eigennutz dazu bereit, ihr zu assistieren. Doch während der Verhandlung gerät Eves Ruf auf ganz andere, unvorhergesehene Weise in Gefahr. Diese Gefahr geht von den zweideutigen Reden Adams aus. Sie sind keineswegs alle ›beiseitegesprochen‹. Viele begleiten die Vernehmung als Geräusch: für die Anwesenden, Eve ausgenommen, nicht deutbar ‒ jedenfalls nicht sofort ‒, und deshalb verwirrend. Was er gesagt, was er gemeint haben mag ‒ nichts davon fügt sich in die Rolle des Richters. In welche dann? Der Bösewicht ist noch weit. Dass er sich in seinen Zeichen verrät (den Zuschauern gegenüber, die aber ohnehin bald schon alles verstanden haben), wie es eine gängige Lesart will, ist zwar nicht falsch, aber doch nur die halbe Wahrheit. Kein Tollpatsch wird in ihnen sichtbar, eher die Ratlosigkeit des Virtuosen, den das Ich bin, der ihr wollt zwischen alle Stühle bringt. Denn der Prozess, den Frau Marthe, und der, den der Gerichtsrat von ihm erwartet, lassen sich beim besten, beim angestrengtesten Willen nicht zusammenzwingen. Adams Beiseitesprechen, sein Gemurmel, die abgeschnittenen, rätselhaften, zweideutigen Wendungen, in denen er sich ergeht, nicht zuletzt seine Metaphern und rhetorischen ›Finten‹ können nur deshalb gegen ihn zeugen, weil seine fatale Lage ihn nötigt, sich stückweise auf das Geschehene zu besinnen, sich die Aspekte des ›Falls‹ vorzusagen, die er keinen Augenblick vergessen darf, wenn er sich nicht verraten soll.
Pointiert gesprochen: Erst die bedingungslose Praxis des Ich bin, der ihr wollt zwingt den Akteur, die im unprätentiösen Alltag zerstreuten und nur lose ineinandergreifenden Elemente seiner Existenz ‒ den sexuell umtriebigen Hagestolz, den selbstherrlichen Provinzhonoratior, den eigennützigen Richter ‒ in die Form der zensierten Identität zu fassen und als das auszusagen, was es zu überspielen gilt:
ADAM. Ich müßt ein Lügner sein ‒ wie siehts denn aus?
Ein Beispiel für das Aussparen von Identität findet sich gleich im ersten Auftritt:
ADAM. Der Fuß! Was! Schwer! Warum?
LICHT. Der Klumpfuß?
ADAM. Klumpfuß!
Ein Fuß ist, wie der andere, ein Klumpen.
LICHT. Erlaubt! Da tut Ihr Eurem rechten Unrecht.
Der rechte kann sich dieser ‒ Wucht nicht rühmen,
Und wagt sich eh’r aufs Schlüpfrige.
ADAM. Ach, was!
Wo sich der eine hinwagt, folgt der andre.
Der Fuß, der »ohnhin schwer den Weg der Sünde wandelt«, zeichnet den Richter vor dem Prozess, der ihn entlarven wird. Er gibt den ersten Hinweis auf eine verborgene Identität: Adam = Oidipus, der unglückliche Exekutor des Delphischen ›Erkenne dich selbst‹. Er selbst will es nicht wahrhaben, er bestreitet förmlich die nicht zu übersehende Differenz: ›Ein Fuß ist, wie der andere, ein Klumpen.‹ Was ihn auszeichnet, macht er zur Allerweltssache. Das Eigene bleibt diffus. Licht, der erwartete Revisor, der Richter zu Holla ‒ sie alle, so denkt er, sind vom gleichen, von seinem Schlag. Darin liegt seine Blindheit, die er mit dem Sophokleischen Oidipus teilt. Auch Oidipus weiß ja, was er getan hat, und weiß es nicht, weil er es nicht mit dem Fall, den es zu klären gilt, verbindet. Dass der Adamsfall des Richters, ein Allerweltsfall seiner Einschätzung nach, hier und jetzt vor den Schranken seines Gerichts zur Verhandlung kommen soll, will ihm nicht so rasch in den Kopf:
ADAM. Evchen! Ich bitte dich! Was soll mir das bedeuten? ...
ADAM (für sich). Ei, Evchen. Sieh! Und der vierschrötge Schlingel,
Der Ruprecht! Ei, was Teufel, sieh! Die ganze Sippschaft!
‒ Die werden mich doch nicht bei mir verklagen?
Die Vertuschungsmanöver, die ihn, anders als Oidipus, zum Lügner stempeln, entspringen ebensosehr diesem Unvermögen, den Fall als den eigenen zu erkennen, wie dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung; am Ende fällt beides gemeinsam dahin. Zur Selbstaustreibung aus der Gesellschaft, in der sich sein Oidipus-Schicksal vollendet, nötigt ihn der Umstand, dass es mit dem Spiel des Ich bin, der ihr wollt in dem Augenblick vorbei ist, in dem das unter dem Druck der Situation erzeugte Bewusstsein der eigenen Identität ihm von außen, als Entrüstung, Verachtung, Empörung entgegenkommt.
Man ist also gut beraten, wenn man den scheinbar erratischen Splittern und Bruchstücken seiner Rede, aus denen, in einem schmerzhaften Prozess des Sich-Windens, sich Stück für Stück im Sinn der Marthe ›entscheidend‹, die verleugnete und in der Leugnung sich bildende Identität sich zusammenfügt, auch dann Gehör gibt, wenn sie Aussagen enthalten, die nicht allein auf die Person des Richters zurückschlagen. Ein solcher Fall findet sich während der Vernehmung Ruprechts im siebten Auftritt:
[RUPRECHT] Da sagt ich: willst du? Und sie sagte: ach!
Was du da gakelst. ‒ Und nachher sagt’ sie, ja.
ADAM. Bleib Er bei seiner Sache. Gakeln! Was!
Ich sagte, willst du? Und sie sagte, ja.
RUPRECHT. Ja, meiner Treu, Herr Richter.
Das ist zwar nicht beiseite gesprochen, aber ein Beispiel zweideutiger Rede. Was Ruprecht wie eine Zusammenfassung seiner Aussage vorkommen mag ‒ im Kontext Adamschen Selbstverrats verwandelt es sich in ein Stück Selbstgespräch. Es beginnt mit der Zurechtweisung des heimlichen Konkurrenten: »Bleib er bei seiner Sache. Gakeln! Was!« Das Metaphernfeld des ›Gakelns‹ hat Adam bereits früher, in der mehrfach durchgehechelten Geschichte vom Perlhuhn, das den ›Pips‹ hat und von Eve ›genudelt‹ werden musste, für seine Bedürfnisse reserviert. So vorbereitet, erhält der Satz ›Ich sagte, willst du? Und sie sagte ja‹ eine Bedeutung, die es nicht erlaubt, Eves siegreiche Unschuld allzu wörtlich zu nehmen. Dafür gibt es Indizien.
Eine ›schmutzige‹ Interpretation? Eine, ›die sich verbietet‹? Etwa, weil das Stück in diesem Punkt eine ›seriöse‹ Auskunft verweigert? Gewiss. Schließlich ist es dieser Mechanismus des Sich-von-selbst-Verbietens, den das Stück zur Schau stellt, der ›unwillkürlich‹ auf den Zuschauer übergreift und ihn ›funktionieren‹ lässt; andernfalls hätte er nichts zu lachen. Der Umstand allerdings, dass er zu lachen hat, dass er Grund zum Gelächter findet, zeigt, dass auch er ›im Grunde‹ weiß, worum es geht. Das Anstößige liegt in der produktiven Tendenz des Stückes. Nach dem Besuch der Weimarer Aufführung schreibt Magdalene Henriette von Knebel:
Der moralische Aussatz ist doch auch ein böses Übel. Ich glaube, bei diesen Herrens hat sich das Blut, was sie sich im Krieg erhalten haben, alles in Dinte verwandelt.
Was bei Hof als anstößig gilt, die Dame plaudert’s aus: den ›Herrens‹ scheint der gallige Witz zur schriftstellerischen Natur geworden zu sein. Und ohne Zweifel ist auch Eve ›Dinte‹ ‒ eine Kunstfigur. Man sollte die Unschuldsvermutung, die vor Gericht gilt, daher nicht zu wörtlich nehmen, schon gar nicht, wenn sie als Teil des Spiels dazu dient, zu verbergen, was sich in der verhüllenden Rede von selbst enthüllt.
Nimmt man erst einmal ein sprachlosen Einvernehmen zwischen Adam und Eve an, dann werden auch die wiederholten Genesis-Anspielungen im Stück verständlich. Der biblische Mythos von Sündenfall und Vertreibung strukturiert die Geschichte des ›Falls‹. Ruprecht, der als flammender ›Cherub‹ den Zugang zum Paradies verstellt, erscheint als einer, der zwar auf die bindende Kraft des einmal gegebenen Wortes setzt, aber bei der erstbesten Gelegenheit das blinde Vertrauen durch ein ebenso blindes Misstrauen ersetzt: nicht unberechtigt macht ihm Eve sein Verhalten zum Vorwurf. Adam allerdings, der weiß, was Gelegenheit heißt, und den Wortbruch ‒ Eves gegenüber Ruprecht, der Regierung gegenüber der Bevölkerung ‒ als das Gegebene kalkuliert, besitzt ihr volles Vertrauen: warum? Warum sonst, wenn nicht aus Gründen, die sie an sich selbst deutlich erfahren hat?
Adam hat ›Flaps‹ Ruprecht das Wissen voraus, dass Gefühle ‒ wie Verträge übrigens auch ‒ nicht rein zu haben sind, sondern in wechselnden Konstellationen ein unterschiedliches Aussehen gewinnen. Mit großem Sachverstand spielt er auf dem Klavier der gemischten Motive. Eve kennt die Melodie; sie kennt sie besser, als sie in der Buchfassung zugibt. In der Manuskriptfassung sagt sie es:
Du gehst zum Regimente jetzt, o Ruprecht,
Dich führt der Krieg, der Himmel weiß, wohin.
Könnt’ ich dich von der Landmiliz befreien,
Um eines Fehltritts, in der Angst gethan,
Müßt’ ich auf ewig jetzo dich verliern?
›Um eines Fehltritts, in der Angst gethan‹: der Satzteil steht nicht nur syntaktisch unschlüssig zwischen zwei Auslegungen. Er beleuchtet die Uneindeutigkeit Eves und ist damit an dieser Stelle ein Wink zuviel. Uneindeutig, wie alles, zeigt sich auch die bekundete ›Angst‹: Angst vor Entdeckung? Um Ruprecht? Vor Ruprecht? Anders als er ist Eve in die Dinge des Lebens eingeweiht und hat daher Grund, seine Unbedarftheit zu fürchten. Nein, nicht Erpressung allein versiegelt ihr für die Dauer der Verhandlung den Mund, sondern auch das dem Richter insgeheim Recht gebende Wissen um die eigene Schwäche. Wer sagt, es wäre ausgeschlossen, dass Adams Pips-und-Perlhuhn-Rodomontaden sie daran zu ›packen‹ suchen?
4.
Es liegt auf der Hand, warum Kleist mit dem Bildmotiv Le Veaus, das den zerbrochenen Krug am Arm der schuldbewusst blickenden Jungfer zeigt, nicht viel anfangen konnte. Der vordergründige Gedächtnisfehler, ihn der Mutter zu überantworten, enthält gewissermaßen bereits das Drama, auf das es dem Autor ankommt. Denn er besagt, dass jenes sexuelle Verschulden nicht rein zu ermitteln ist oder als factum brutum belanglos bleibt. Von vornherein entfaltet es seine Wirkungen im Widerstreit der Interessen. Das verschwiegene Interesse eint den Richter und die klagende Partei und bringt sie gegeneinander in Stellung: die Mutter gegen den Verlobten, die Tochter gegen die Mutter, beide schließlich gegen den Richter, der es ihnen in der Hinsicht tatsächlich nur recht machen will. Die Mutter selbst ist es, die ihren eigenen Ruf und den der Tochter aufs höchste gefährdet, indem sie den Zweifel vor Gericht bringt. Der Grund liegt darin, dass sie seine Wiederherstellung nicht von der Aufklärung des zugrunde liegenden Sachverhalts, sondern vom Appell an das Eigeninteresse der Gegenpartei erwartet. Nicht das Gewesene kümmert sie, sondern das, was jetzt not tut. Was sie vom unparteiischen Walten der Justiz erwartet, zeigt zur Genüge das Wortspiel, mit dem sie vor Beginn der Verhandlung dem Vater des Verlobten den Versuch, abzuwiegeln, entgilt: nichts.
Hier wird entschieden werden, daß geschieden
Der Krug mir bleiben soll. Für so’n Schiedsurteil
Geb ich noch die geschiednen Scherben nicht.
Was sie will, ist kein ›Schiedsurteil‹ (das ›Schietsurteil‹ bleibt mitzuhören), sondern etwas anderes: Das Gericht soll die Sache richten ‒ nicht den Krug (der bleibt entzwei), sondern die verfahrene Situation. Beistand erwartet sie von der Aura des Schreckens, der das ›hohe Gericht‹ umgibt. Von ihr soll eine heilsame Wirkung auf die verstockte Person ausgehen, die allein imstande ist, die Sache zu einem glücklichen Ende ‒ der Heirat ‒ zu führen.
Den Krug, ihr hohen Herren Richter beide,
Den Krug hat jener Schlingel mir zerbrochen.
›Schlingel‹, ›eitler Flaps‹ ‒ die Namen allein, mit denen sie den grollenden Verlobten bedenkt, würden verraten, dass Marthe nicht eigentlich gegen ihn prozessiert, sondern gegen den Unverstand, der ihn regiert. Spott und Hohn sind die Waffen, die sie gegen ihn kehrt. Bei aller Rhetorik bleibt die Anklage zahm, da sie an der Schwelle zu Eves Zimmer innehält. Strafbegehren und Verwünschung sind eins. Es geht nicht eigentlich darum, den Abtrünnigen anzuklagen, sondern seine Anklage zu überschreien und zu übertrumpfen, indem sie ihn ‒ und zwangsläufig Eve ‒ in die Schrecknisse eines Gerichtsverfahrens hineinzieht, voll wohlkalkulierter Hoffnung, dass ihm nicht im Ernst daran liegen kann, seine Eve am Pranger zu sehen.
Auf dieses Szenario trifft das seinem Auftrag entsprechende Ansinnen des Revisors, einem »nach den gesetzlichen Formalitäten« geführten Prozess beizuwohnen, in dessen Mittelpunkt die Ermittlung des wahren Schuldigen steht. Damit tritt etwas ein, womit vor Prozessbeginn keine der Parteien rechnen musste. Die juristische Fiktion des ›wahren Schuldigen‹ wird auf eine Materie projiziert, die, pragmatisch betrachtet, die Suche nach ihm eher verbietet. Die verfahrene Situation verwandelt sich in einen vertrackten Fall. Dem Grad der Vertracktheit entspricht das ›Walten‹ des Gerichtsrates. Wann immer das Verfahren stockt, zeigt er sich geschäftig, den Fortgang zu sichern. Seine Anwesenheit garantiert die Durchführung der Beweisaufnahme, die der Überführung des ›wahren Schuldigen‹ dient. Damit übernimmt er die Rolle, die in Kleists Vorbemerkung dem Betrachter des Stiches zufällt, der sich nicht mit dem offenkundigen Sinn der Darstellung zufriedengibt, sondern ein Spiel der vagen Verdächtigungen beginnt, an dessen Ende kein anderer als der Richter gerichtet sein wird ‒: ein wiederauferstandener Laios, der hinzutretende Dritte, Stellvertreter des Zuschauers auf der Bühne, der Akteur mit dem Zuschauer-Blick, unter dem die Mitspieler ins Stocken geraten: von ihm geht jener disziplinierende Zwang aus, dem sie sich unterwerfen, weil sie keine andere Wahl haben, und dem sie, wann immer es angeht, auszuweichen versuchen, weil alles, was sie sagen und tun, sie nur verraten kann.
Die bloße Rechtsförmigkeit des Verfahrens trägt einen Begriff von Schuld in die Gemengelage alltäglicher Interessen und allseits verschwiegener Vorbehalte hinein, der vor Prozessbeginn dort nicht zu finden ist. Das versteht sich, da er den Charakter der Klage verkennen lässt und lassen muss, praktisch von selbst: es ist Bestandteil der Überführung alltäglichen Rechtsempfindens in Jurisdiktion. Wenn erst ein Grund zur Klage besteht, muss es auch, jedenfalls im Sinne der Anklage, einen Schuldigen geben. Sofern allerdings der gebrechliche Zustand der Welt Grund zur Klage gibt (wie in Frau Marthes Klage um den zerbrochnen Krug, der, schenkt man ihrer Rede Glauben, metonymisch für alles mögliche steht), gerät die Jurisdiktion rasch in Gefahr, sich zum Büttel eines Rechtsempfindens zu machen, das sich mit dem gesetzten Recht nicht unbedingt verträgt. Auch dieser Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer: den ›unglücklichen Umstand‹ im Verein mit dem Wunsch, dem supponierten Missstand ein Ende zu setzen, koste es, was es wolle. Der ›wahre Schuldige‹ ist dann der, auf den sich alle Seiten einigen können ‒ sei es, weil die Kraft der Beweise ihn isoliert, sei es, weil von vornherein seine Interessen bei keiner der Parteien aufgehoben sind. Beides trifft auf den Dorfrichter Adam zu. Die Konzentration auf das mindere Delikt ‒ das Zerbrechen des Krugs ‒ führt auf die Fährte eines Verbrechens, das zwar von der Ausgangslage abführt, aber den Vorteil hat, alle Schuld dem Richter aufzubürden und die metaphorische Bedeutung des zerbrochnen Krugs dem gnädigen Vergessen aller zu überantworten.
Der unbestimmte Verdacht, den Kleists Vorrede in den Konflikt einfügt, wie er sich auf dem Stich von Le Veau darstellt, lässt über kurz oder lang den Richter zum idealen Schuldigen werden. Und zwar unabhängig davon, wie seine Schuld sich real begründen lässt: einfach deshalb, weil er als einziger die Hände auf beiden Seiten im Spiel hat. Er ist einer wie die anderen auch und doch von Amts wegen anders als sie. Wo alle ihre Ausflüchte geltend machen, kann und darf er sich nicht verteidigen, will er nicht den Verdacht erregen, den er gerade von sich abwälzen möchte. Ist erst die Spur gefunden, die vom Ort des ‒ namenlosen ‒ Verbrechens zu ihm führt, so findet sich alles weitere auch. Der Grund ist die heimliche Doppelnatur dessen, der da gestellt wird:
Und Menschenfuß und Pferdefuß von hier,
Und Menschenfuß und Pferdefuß, und Menschenfuß und Pferdefuß,
Quer durch den Garten, bis in alle Welt.
ADAM. Verflucht! ‒ Hat sich der Schelm vielleicht erlaubt,
Verkappt des Teufels Art ‒?
RUPRECHT. Was! Ich!
LICHT. Schweigt! Schweigt!
FRAU BRIGITTE. Wer einen Dachs sucht, und die Fährt entdeckt,
Der Weidmann, triumphiert nicht so, als ich.
Sobald die Fährte gefunden ist, kehren sich die Maximen Ich kann, was ich will und Ich bin, der ihr wollt gegen den, der sie praktiziert. Auf der Stelle bekommen sie ein Gewicht, das ihn erdrückt. So wie das aufgedeckte Ich kann, was ich will den ›teuflischen‹ Zug seines Charakters dokumentiert, so führt das Ich bin, der ihr wollt auf den durch die Maschinerie der Ermittlung erzeugten Wunsch der Prozessbeteiligten, den ›wahren Schuldigen‹ aufzufinden, um so der Sache ein Ende zu machen. Das Wunschbild des ›wahren Schuldigen‹ verlangt, einer möge hervortreten, den alle als solchen zu erkennen bereit und imstande sind, weil er, obgleich einer von ihnen, anders und damit gezeichnet ist.
Zweideutig, wie solche Zeichen von Haus aus sind, stehen sie gleichermaßen für Fremdheit und Schuld. Der Klumpfuß: deutet er nicht auf eine geheime Identität, welche die Alltagserscheinung des Richters Lügen straft? Die Verletzungen, das Loch im Kopf: geben sie nicht ein Rätsel auf, das dem des Lochs im Krug analog ist? Die fehlende Amtsperücke, abwechselnd als Katzenbehältnis, als Vogel-, als Schlangennest apostrophiert, wird Teil einer amphibolischen Natur, die alles, als das sie erscheint, in Richtung auf sein Gegenteil überschreitet. Selbst als das gute Stück endlich in corpore vorliegt, entzieht es dem Augenschein seine Beweiskraft, denn es gibt ‒ so wird gesagt ‒ eine zweite. Dennoch ‒ und gerade deshalb ‒ genügt es, dass Adam sie aufsetzt: In dem Moment ist sie die seine und der Richter überführt. Auch Schreiber Licht, der die Geheimnisse seines Richters kennt und lange vor den anderen sich auf die Geschehnisse der vergangenen Nacht seinen Reim macht, hat nicht mehr als dieses dürftige Material zur Hand. Sein ›Wissen‹ hat die Form der ‒ überschießenden ‒ Verdächtigung. Nicht anders geht es den Zuschauern: Gegen die Bereitschaft, den Richter für schuldig zu halten, bevor die Sache geklärt wird, lässt sich nicht ankommen. Wer es versucht, der vernimmt, wie der Gerichtsschreiber in der siebten Szene, ›Lärm um nichts‹; er hat ‒ buchstäblich ‒ nichts zu lachen.
Angesichts dessen, was der aufgeweckte Zuschauer jeweils schon weiß oder zu wissen glaubt, begreift der Gerichtsrat langsam, fast zu langsam für den einen oder anderen Geschmack. Gerade das erzeugt Spannung: alles, was der Zuschauer sieht und hört, redet gegen die Art und Weise, auf die Richter Adam den Prozess führt und weckt das Verlangen, der Revisor möge dem Treiben ›ein Ende machen‹. Dieser hingegen, ganz seinem Auftrag verpflichtet, stellt dem voreilig zum Bescheidwissen gerinnenden, unausgesprochenen, dafür zügellosen Verdacht eine Reihe disziplinierter, eng umgrenzter Operationen gegenüber, in denen dieser, gleichsam domestiziert, als Mittel methodisch-prozeduraler Wahrheitsfindung wiederkehrt. Das gilt für die rhetorische Wendung, mit deren Hilfe der Gerichtsrat einen konfus wirkenden Richter zur Ordnung ruft, für das Bündel diffuser Verdachtsmomente, deren Auswertung er fürs erste zurückstellt, da sie ganz offensichtlich für einen begründeten Verdacht nicht ausreichen, schließlich ‒ und drittens ‒ angesichts der wiederaufgefundenen Perücke, als es dem Richter ein letztes Mal gelingt, das sicher scheinende Indiz zu entwerten. Erst die Inkonsistenz des Adamschen Lügengewebes lässt den Revisor die Initiative ergreifen. Es fragt sich allerdings, warum er noch in dieser Situation, koste es, was es wolle, Adam zu einem Urteilsspruch nötigt. Ist ihm, wie man gemeint hat, nur um das Ansehen der Justiz zu tun? Will er, entgegen seinem Auftrag, den auf Abwegen ertappten Kollegen decken?
Beide Fragen, so gestellt, besitzen an sich selbst die Form des zügellosen Verdachts, bewegen sich demnach innerhalb der gleichen Logik der Unterstellung, die den Richter als den alleinigen Schuldigen dastehen lässt. Indirekt legen sie so die Schwelle frei, an der es darauf ankäme, der Verdächtigung Einhalt zu gebieten. Über die Motive des Gerichtsrats gibt, nüchtern betrachtet, sein Verhalten in der Szene hinreichend Aufschluss. Einesteils ist ihm darum zu tun, den Verdacht hintanzuhalten, jedenfalls solange die Zeugnisse keine eindeutige Sprache sprechen. Andernteils sieht man ihn beschäftigt, eine volkstümliche Lesart des Verbrechens abzuwehren, die Ruprecht Tümpel in die tückisch-naive Frage fasst: »Wird doch der Teufel nicht / In dem Gerichtshof wohnen?«
»Geschwätz, wahnsinniges, verdammenswürd’ges«: In dem von kalkuliertem Ärger diktierten Ausbruch Walters wird man weniger die momentane Begriffsstutzigkeit als vielmehr ein allzu gutes Begreifen der Lösung erkennen müssen, die alle Parteien vorziehen würden. Gleichgültig, ob und auf welche Weise der Richter in den Tathergang verwickelt ist: Walter wirkt entschlossen, dem Verdacht der heimlichen Identität mit dem Bösen entgegenzutreten, der ‒ in Adam oder sonstwem ‒ den Sündenbock sehen will und folglich sieht. Erst nachdem der Teufel aus dem Spiel ist, gestattet er den anderen und sich selbst, ein reelles Verschulden Adams ernsthaft in Betracht zu ziehen. Es zu verhandeln bleibt Sache der nächsten Instanz. Das gibt dem Richter Gelegenheit, im letzten Moment zu entschlüpfen, und Ruprecht, der geleimte Teufelsaustreiber, prügelt einen leeren Mantel.
5.
Mehr als einmal haben Interpreten versucht, zwischen den beiden in der Fassung des Erstdrucks mitgeteilten Dramenschlüssen zu wählen und so eine Entscheidung nachzuholen, der Kleist ‒ wohlweislich, möchte man annehmen ‒ ausgewichen ist. Dem Leser bleibt die Wahl: gleichgültig, ob er die kürzere Fassung als Bühnen- und die ältere Langfassung, den ›Variant‹, als Lesefassung begreift oder ob er es vorzieht, das Verhältnis beider etwas differenzierter zu sehen, stets hat er es mit einem Werk zu tun, das ihn auffordert, dem Autor im nachhinein Recht zu geben ‒ Recht darin, dass er sich zur Umarbeitung entschließen konnte, Recht aber auch darin, den ›Variant‹ als vollgültigen Schluss der Mit- und Nachwelt mitzuteilen und damit beizubehalten. Der Autor, so scheint es, erklärt sich mit beiden ›Lesarten‹ im voraus einverstanden ‒ unter der Voraussetzung, dass er so das Einverständnis des Lesers ‒ wenn nicht des Publikums ‒ in jedem Fall gewinnt.
Die Pointe steckt in diesem ›in jedem Fall‹: Unschwer erkennt man die Maxime wieder, die sowohl die Ausgangslage des Dichters als auch die Anlage des Stücks bestimmt. Durch sie ‒ und in ihr ‒ reflektiert das Stück die Konstellation, der es sein Entstehen verdankt. Ich bin, der ihr wollt: nachdem der Richter an der Aufgabe zerbrochen ist, die beiden von ihm erwarteten Verfahren in eines zusammenzuzwingen, bricht auch das Stück auseinander. Im ›Variant‹ siegt die rechtskonforme Variante: Walter führt den Prozess, den er von Adam von Anfang an erwartet hat, in eigener Regie zu Ende. In der revidierten Fassung bekommt Frau Marthe ihren Prozess: ein Triumph, der sich mit weniger Aufwand gestalten lässt, weil sein Bedarf an Aufklärung sich in den Grenzen der Aufgabe hält, die Verlobten mit sich ins Reine zu bringen. Sinnigerweise behält die Klägerin das letzte Wort. Ihre Erinnerung daran, dass der Krug zerbrochen bleibt wie zu Beginn, stellt die Justiz ein letztes Mal in den Dienst der Klage um die Gebrechlichkeit der Welt. Jeder muss sehen, wo er bleibt und wie weit er kommt.
Ein Kuss besiegelt die jeweilige Strategie. In der Endfassung küsst sich das miteinander ausgesöhnte Paar, im ›Variant‹ küsst der Gerichtsrat Eve. Und er hat Grund dazu. Immerhin hat er ihr Gelegenheit gegeben, die Situation in ihrem Sinn zu bereinigen und das Kammer-Motiv von all den Zweideutigkeiten zu säubern, die Adam weder ausräumen konnte noch wollte, da er zuvor sich selbst erst zum Verschwinden hätte bringen müssen. Nach seinem Abgang geht alles leichter. Ob der Gerichtsrat sich verständig oder (allzu?) verständnisvoll benimmt ‒ wen kümmerts? Mehr oder weniger, mehr oder weniger unverhüllt verfolgt die peinliche Befragung der Hauptzeugin das Ziel, sie ein für allemal von aller Peinlichkeit zu befreien. Was bleibt, ist die schöne, weil menschlich-entschuldbare Verfehlung, zu der sie sich bekennen darf, ohne dass ein bleibender Makel sie beschwert. Dafür belastet sie den abwesenden Richter mit einem Vergehen, angesichts dessen eine hässliche Eventualität wie das verschwiegene Einverständnis zwischen Richter und Jungfer nicht zum Gegenstand einer ernsthaften Verhandlung taugt.
Das Blatt hat sich gewendet: Die Vertrauenskrise spielt nicht länger zwischen den Verlobten, sie spielt jetzt zwischen dem Mädchen und dem Staat und als Vertreter des Staates hat der Gerichtsrat alle Hände voll zu tun, ersterem das Vertrauen des schlichten Gemüts zurückzugewinnen, das ein korrupter Staatsdiener zerrüttet hat. Leise, fast übergangslos hat Eve den Auftrag des Revisors ‒ die Wiederherstellung einer vertrauenswürdigen Gerichtsbarkeit ‒ zugunsten ihres privaten Interesses, das darin besteht, die Verlobung zu retten, instrumentalisiert und der Revisor ist nicht der Amtsmensch, ihr diesen allzu menschlichen ›Dienst‹ zu verweigern. Unversehens gleitet er in die Rolle des Beschützers hinüber, an der Adam gerade schmählich gescheitert ist ‒ unbestechlich, wie es scheint, und doch schon bestochen.
Damit gewinnt das Stück eine Zirkelstruktur, die allen entgeht, die da meinen, der wesentliche Charakter des Lustspiels bestünde darin, dass am Ende alle Rechnungen aufgingen ‒ außer der des Übeltäters selbstredend. Die poetische Gerechtigkeit, ein fragwürdiges Erbstück, verträgt sich vor allem deshalb mit dem Gesetz, weil sie mit der Macht geht, der versteckten wie der verliehenen, weniger (oder nur in Ausnahmefällen), um ihr zu Willen zu sein, vielmehr um im ›Rezipienten‹ aufzuzeigen, was sie vermag. Das Angebot des Gerichtsrats, Ruprecht mit eigenem Geld loszukaufen, falls die Miliz, wie jene argwöhnt, »nach Asien« eingeschifft wird, demonstriert, dass am Ende des Stücks das fatale Ich kann, was ich will zur Maxime des Revisors geworden ist. Als das Mädchen sich bereits überzeugt zeigt, setzt Walter noch einmal nach:
Vollwichtig, neugeprägte Gulden sinds,
Sieh her, das Antlitz hier des Spanierkönigs:
Meinst du, daß dich der König wird betrügen?
EVE. O lieber, guter, edler Herr, verzeiht mir.
(Variant)
War da nicht etwas? War nicht der Spanier der Feind, gegen den Ruprecht das Land verteidigen soll? Wofür also sollte das Antlitz des Königs von Spanien bürgen? Für angemaßte Herrschaft, gerecht oder ungerecht? Für List und Betrug? Für den Wert der Münze ‒ gewiss. Schafft einer so Vertrauen? ›Hier‹ aber geht es geradewegs vor das ›Antlitz‹ des Königs, hier geht der Weg zwischen den Hecken... wohin? Ach, Sie wissen schon. Aus dem Sach-Walter ist ein Schalter und Walter in eigener Sache geworden, wie Eve, die notorische Unschuld vom Lande, erleichtert und beruhigt zur Kenntnis nehmen darf. Es dient ja, alles in allem, einem guten Zweck. Auch die Botschaft des Revisors enthält also eine verborgene Losung, die besagt: Niemand kann die Triebfedern eines Handelns ganz aufdecken, ohne dass es Schaden nimmt. Das gilt für die spanische Krone samt ihrer abtrünnigen Provinz und den Dorfrichter Adam gleichermaßen. Und es gilt ‒ drittens ‒ für den Gerichtsrat. In Adams Worten:
Eins ist der Herr. Zwei ist das finstre Chaos.
Drei ist die Welt. Drei Gläser lob ich mir.
6.
Wer will, kann in Kleists Stück ein Spiel um das Verhältnis von formeller und informeller Machtausübung sehen, wobei die informelle Macht teils durch die dörflichen Strukturen, teils durch ›Sexus‹ und ›Gender‹ vorgegeben wird. Brauch und Missbrauch liegen hier so eng beieinander, dass eins für das andere einstehen kann, sobald irgendein Bedarf sich regt. Die Scheidung von Brauch und Missbrauch bedarf der förmlichen Intervention ›von oben‹, der aufgeklärten Rechtspflege, die tief in das offenkundige, aber schwer zu fassende Geheimnis der Dorfgemeinschaft eindringen muss, um nichts zurückzuerhalten oder jenes Fast-Nichts, um das sich der Kuhhandel zwischen dem Gerichtsrat und der nicht angeklagten Eve am Ende so züchtig bewegt. Der beruhigenden Schlichtheit dieses Satzes steht die beunruhigendere entgegen, dass der so geschiedene (und bühnenwirksam ausgeschiedene) Missbrauch dem Brauch vorangeht ‒ sowohl logisch als auch in der Sache ‒, dass also nicht so sehr die Möglichkeit des Missbrauchs dem Brauch inhärent, vielmehr der Brauch kaum mehr ist als der Missbrauch, aus einer freundlichen Perspektive betrachtet. Man muss schon Menschenfreund sein, um den Brauch zu mögen, doch es genügt, einer zu sein, um ihn zu hassen, zu verabscheuen und zu bekämpfen, wissend, dass man gegen Windmühlen kämpft. Der transzendentalen Gewalt des Rechts entsprechen jene Orte der Rechtspflege, an denen der Kuhhandel blüht, der in oder von der nächsten Instanz neu verhandelt und durch seinesgleichen ersetzt werden muss, weil nur für die Dauer des Prozesses die Illusion und die Möglichkeit koexistieren, ›Recht zu sprechen‹ und dadurch gerechtere Verhältnisse zu schaffen. Die Bühne als der Ort des rechten Sprechens stellt weniger den Prozess-Ort dar (der selbst eine Art Bühne dar-stellt) als die Prozedur der Gerechtigkeit, etwas Sinnlich-Unsinnliches, das im Warten auf das, was zur Sprache kommt, eine Art Objekt-Charakter gewinnt. In diesem Sinn wäre das Kleist-Stück eine Metapher der Bühne zu nennen, in der das Warten darauf, was noch zur Sprache kommen mag, alles andere überwiegt, während die Bühne nur da zu sein scheint, um dem Luftzug eine Stätte zu geben, der durch die menschlichen Dinge hindurchgeht ‒ nicht um sie zu verwandeln, sondern um sie für eine Weile leicht erscheinen zu lassen.