1.

Angenommen, Literatur sei der unalltägliche Ausdruck dessen, was in der Luft liegt. Angenommen weiterhin, es verhalte sich so, wie unser alltägliches Sprechen über Literatur es nahelegt: das in den verschiedenen Wissenssystemen oder ›Diskursen‹ anwesende Wissen sei tendenziell defizitär, bedürfe daher der steten korrigierenden Ergänzung durch ein irreguläres Medium, und die freie, sprich keiner Sparte des Wissens und Handelns, allein der Öffentlichkeit verpflichtete Literatur sei dieses Medium. Dann ergibt sich daraus zweierlei. Erstens muss verständlich gemacht werden können, welches Potential gerade die Literatur befähigt, immer neue Lücken im jeweiligen Wissensgefüge ihrer Zeit aufzuspüren und gemäß den eigenen Möglichkeiten zu benennen. Zweitens sollte es möglich sein, die Erfindung dieser Literatur im Zuge der europäischen Aufklärung so zu beschreiben, dass erkennbar wird, welche alle folgenden präjudizierende Lücke sie in ihren Anfängen auf den Plan ruft.

Erkennbar ist hier von zweierlei ›Lücke‹ die Rede. Beginnen wir mit der erstgenannten. Sie muss gewisse Eigenschaften aufweisen. Um sie zu schließen, darf es nicht ausreichen, einen bestimmten Gegenstand oder Gegenstandsbereich zu bearbeiten, wie es im modernen Wissenschaftsjargon heißt. Hinzukommen muss ein Wechsel der Sehweise, der – im nachhinein – die Blockade verständlich werden lässt, die aufzubrechen die Beteiligung eines anderen Mediums erforderte. Ohne diese Annahme fügte sich jede zu nennende Wissenslücke in die vage Unendlichkeit des noch nicht Gewussten ein. Es wäre nicht einzusehen, warum dem unverbindlich operierenden Geist etwas gelingen sollte, was sich dem Zugriff dessen, der in seinem Fach arbeitet, beharrlich entzieht. Die Blockade muss bis in ihre Motive hinein erkenn‑ und beschreibbar sein, um verständlich werden zu lassen, dass jenes Spiel von Tabuisierung und Tabuverletzung, das die Dynamik der auf Öffentlichkeit hin sich entwerfenden Literatur bestimmt, gerade in diesem Fall zu einem Erfolg kommt, der sich erst nach und nach als durch die Wissenssysteme assimilierbar erweist.

Dies trifft auch auf die zweite Bedeutung zu, in der hier von ›Lücke‹ die Rede ist. Die Differenz liegt in dem, was hinzukommt. Ein Gedankenspiel mag es erläutern. Angenommen, die Entstehung von Literatur in der skizzierten Bedeutung habe mit der zu verhandelnden Hypothese nichts zu schaffen, so ließe sich daraus folgern, daß sie die ihr unterstellte wissenskompensatorische Funktion nur beiläufig und eher zufällig ausfüllt – wenn sie sie ausfüllt. Diese Folgerung wäre korrekt unter der Annahme, dass die Geschichte der Entstehung dieser Art Literatur Aufschluss über die primären Motive und Funktionszusammenhänge gewährt, aus denen sie nach wie vor hervorgeht. Eine solche Deutung hätte manches für sich. Einmal trüge sie dem freibeuterischen Charakter einer Literatur Rechnung, zu deren immer wieder artikuliertem Verständnis die Versicherung gehört, dass sie nicht auf bestimmte Funktionen festgelegt werden dürfe, sondern ihre Aktionsfelder ein ums andere Mal neu bestimme. Das Erklärungsrisiko für ihre kognitiven Erfolge läge (von Mal zu Mal verschieden) auf seiten der profitierenden Systeme, deren Vertreter verständlich machen müssten, warum sie, drastisch gesagt, in diesem oder jenem Fall in ihren eigenen Belangen mit Blindheit geschlagen waren. Schließlich entfiele die Notwendigkeit, jene anfängliche Systemlücke zu lokalisieren, die zu schließen die Literatur gerade nicht anträte.

Allerdings enthält diese Deutung einen Schönheitsfehler. Sie wäre nur dann plausibel, wenn das Verhältnis der Literatur zu den neuzeitlichen Wissenssystemen von Anfang an als indifferent gelten könnte. Nur dann, wenn die Entstehung der modernen Literatur im Kontext der Aufklärung sich ohne Bezugnahme auf den Differenzierungsprozeß der wissenschaftlich‑technischen ›Diskurse‹ angemessen darstellen ließe, könnten die gelegentlichen Übergriffe der Literatur auf deren Terrain als beiläufig und okkasionell abgetan werden. Gerade das dürfte schwerfallen. Wer immer sich nach Indizien umsieht, die den im‑ und expliziten Zusammenhang zwischen sich entfaltender Wissenssystematik und ›schöner‹ Literatur belegen, wird rasch fündig werden. Zwar wäre auch ein Funktionswechsel denkbar, der die gerade ausgebildete Literatur in völlig neue Kontexte überführt. Doch die historischen Zeugnisse sprechen eine andere Sprache. So bleibt nichts anderes übrig, als einen Zusammenhang zwischen Literatur und systematischen Wissensformen von Anfang an in Rechnung zu stellen. Sieht man es so, dann bekommt der Ausdruck ›Systemlücke‹ eine nahezu paradoxe Bedeutung. Es ist ersichtlich, dass mit ›System‹ keine Einzelwissenschaft gemeint sein kann, da die Literatur sich nicht im Hinblick auf eine einzelne Wissenschaft konstituiert. Ebensowenig kann es darum gehen, eine Lücke im System der Wissenschaften zu entdecken, die von der Literatur geschlossen würde. Dies hieße, sie selbst als eine Wissenschaft misszuverstehen. Das Umgekehrte ist richtig. Während in der älteren europäischen Poesie der Anspruch erhoben wurde, über ein unumstößliches Weltwissen zu verfügen und im Besitz dieses Wissens mit den übrigen artes zu konkurrieren, verwirft die zur Prosa konvertierte Literatur einen solchen Anspruch. Sie erscheint als ein Medium, in dem das tendenziell ungebundene Subjekt seine Fähigkeit erprobt, sich in den verschiedensten Lebenskontexten – darunter solchen des Wissens – heimisch zu machen, ohne in ihnen aufzugehen, das heißt, die Möglichkeit zu verlieren, sich von ihnen nach Bedarf zu distanzieren.

Welche Lücke kommt danach in Betracht? Wenn der Bezugspunkt weder im System der Wissenschaften noch in einer einzelnen Wissenschaft liegt, dann bleibt nur der systematische Aspekt des Wissens übrig, sein rationaler oder Systemcharakter. Das Wissen der Wissenschaften (und, nicht zu vergessen, die nach ihm geformte Realität) ist defizitär, weil es systematisch ist: so müsste die Hypothese lauten, in deren Verfolgung die durch die Aufklärung ins Leben gerufene Literatur in jenes besondere Verhältnis zu den spezifisch modernen Diskursen eintritt, das mit Epitheta wie ›kritisch‹, ›kompensatorisch‹, etc. nur unzureichend umschrieben wird. Das klingt prima facie nicht sehr bewegend. Aber es enthält eine Klarstellung. Denn wenn Literatur das Medium ist, das gegen den als ›Systemzwang‹ denunzierten systematischen Geist der Wissenschaften und das durch sie realiter erzwungene Weltverhältnis die Phänomene zur Geltung zu bringen beansprucht, dann macht sie sich, willentlich oder nicht, zu seiner Komplizin. Vorausgesetzt, sie verharrte in einer Fundamentalopposition, die sich den minimalen Standards rationaler Rede (und man tut gut daran, das Paradigma der Naturwissenschaften nicht zu sehr zu betonen) verweigerte, so hätten sich beide Seiten schlechterdings nichts zu sagen. Sie bewegten sich in verschiedenen Welten. Das ist ersichtlich nicht der Fall – von Anfang an.

Der Einspruch der Literatur gegen die Wissenschaften artikulierte, so gesehen, nicht mehr als eine intuitive Heuristik. Eine kleine Reflexion mag zeigen, dass diese Sicht die Dinge unzulässig verkürzt. Was der Literatur auf der einen Seite die Wissenschaften bedeuten, das gilt ihr die Poesie auf der anderen. Klärt sie an ersterer Fragen der Aktualität, so richtet sie an letztere die Frage nach ihrer Herkunft. In der Kritik der Poesie setzt sich die weithin als Prosa entworfene Literatur zu sich selbst ins Verhältnis. Es liegt auf der Hand, dass sie bei letzterer über keine anderen Mittel verfügt als gegenüber den Wissenschaften. Die Abkehr von der Regelpoetik verwirft in eigener Sache jenes Zuviel an Systematik, das die Lektüre wissenschaftlicher Schriften für den gesunden Menschenverstand zur Qual werden lässt. Die veraltete Form der Kunstlehre oder ars eröffnet aber die Möglichkeit, das Zuviel als Zuwenig, als falsche oder unzureichende Systematik zu entlarven und den eigenen Auftritt als den des kritisch‑versierten Zeitgenossen zu inszenieren. Auch hier wäre also eine Lücke zu konstatieren, allerdings eine, die zwar nicht durch Wissenschaft, wohl aber durch eine neue Systematik zu schließen wäre. Die sich im Blick auf die Defizite der überkommenen Poesie neu entwerfende Literatur vermag dies ersichtlich nur in Fühlung mit zeitgenössischen Wissensdiskursen. Die Gegenstände des äußersten Misstrauens sind gleichzeitig Waffen, welche die Literatur gegen sich selber kehrt: Objekte des Bedürfnisses, sich unbedingt, aber nicht ausschließlich auf der Höhe der Zeit zu bewegen. Doch was heißt das? Welche Art von Wissen nimmt die Literatur gegen sich selbst in Anspruch? Wie geht die Wahrnehmung fremder mit der Wahrnehmung eigener Defizite zusammen? Schließlich: was bedeutet literarische Zeitgenossenschaft?

 

2.

Herders Paramythien und Blätter der Vorzeit bieten den Vorteil der Überschaubarkeit, will man solchen Fragen ein Stück weit nachgehen. In den Jahren 1785 und 1787 in der ersten und dritten Sammlung der Zerstreuten Blätter erschienen, zeigen sie sich auf den ersten Blick als eine gefällige Neuverwendung resp. Aufbereitung von Splittern griechischer und ›morgenländischer‹ Mythologie. Herder selbst weist in der 1785er Einleitung auf diesen Aspekt des Gefälligen oder Angenehmen hin, indem er die Paramythien als das Produkt eines geselligen Wettstreits vorstellen lässt.

Zwei Einsiedler gaben sich auf einigen ihrer Spaziergänge Gegenstände auf, darüber eine Fabel, eine Dichtung oder was ihnen sonst einfiele zu sagen. Ich war einer derselben, setzte auf, was gesagt wurde und so sind diese Erzählungen worden.

Es handelt sich um ein Spiel, aber: »Niemals dichtet die Seele angenehmer als in solchen Spielen...« Andererseits hat das Spiel einen ernsten, ja bedenklichen Kern, der sich nicht von der supponierten Situation des Dichtenden her erschließt, sondern von dem Bestand der antiken Mythologie, der den Stücken zugrunde liegt:

Die Paramythien sollen die alte Mythologie eben so wenig verwirren, als unzeitige Nachahmungen auffordern; sie sind ihrer Art nach mythologische Idyllen oder Fabeln, Dichtungen über Gegenstände der Natur, dergleichen wir ohne den Namen der Paramythien schon mehrere in unsrer Sprache haben.

Das klingt nach einer dreifachen Rechtfertigung, bei der die Notwendigkeit der ersten die beiden anderen nach sich zieht. Die Behauptung, nur getan zu haben, was zuvor bereits andere unternommen haben, und die Beteuerung, keine ›unzeitigen‹ Nachahmer auf den Plan rufen zu wollen, machen den Vorwurf nur fühlbarer, den die erste Aussage vehement zurückweist: die paramythischen Idyllen, Fabeln und ›Dichtungen über Gegenstände der Natur‹ tragen Verwirrung in die griechische Mythologie hinein. Sie rühren, so lässt sich schließen, an die Unverrückbarkeit des antiken mythologischen Bestandes, der – um das Motiv der Verwirrung gänzlich auszukosten – durch Ordnung besticht und Unantastbarkeit fordert.

Dies ist exakt das Argument, das Herder in der dritten Sammlung der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur von 1767 diskutiert. Dort geht es um die Frage, ob es für die zeitgenössische Dichtung nicht angemessener wäre, aus der Kenntnis der Entstehungsbedingungen der antiken Mythologie heraus »gleichsam eine ganz neue Mythologie zu schaffen«. Angesichts der zu gewärtigenden Schwierigkeiten biete sich allerdings eine leichtere Lösung an:

Aber aus der Bilderwelt der Alten gleichsam eine neue uns zu finden wissen, das ist leichter; das erhebt über Nachahmer, und zeichnet den Dichter. Man wende die alten Bilder und Geschichte auf nähere Vorfälle an: legt in sie einen neuen poetischen Sinn, verändert sie hier und da, um einen neuen Zweck zu erreichen; verbindet und trennet, führt fort und lenkt seitwärts, geht zurück, oder steht stille, um alles bloß als Hausgerät zu seiner Notdurft, Bequemlichkeit und Auszierung nach seiner Absicht, und der Mode seiner Zeit, als Hausherr und Besitzer zu brauchen.

Der Einwand, von Herder referiert, lautet, dass ein solches poetisches Verfahren »mythologische Unwahrheiten« produzieren und »das System der Mythologie niederreißen« würde: ein Argument, das den jungen Autor zu der Belehrung veranlasst, »die Alten« hätten schließlich »nie ein Fabelsystem gekannt, das sie wie Luthers Katechismus hergebetet«.

Es sieht so aus, als sei die Rechtfertigung der paramythischen Dichtungen hier bereits im voraus geleistet, und die spätere »Einleitung« biete wenig mehr als einen Nachhall alter Erörterungen. Allerdings ist schwer einzusehen, warum Herder mit seinen ›Spielereien‹ keine ›unzeitigen‹ Nachahmer auf den Plan rufen möchte, wenn Dichtung seit jeher so verfahren ist. Was bedeutet in diesem Fall das Wort ›unzeitig‹?

Offensichtlich bindet Herder die Rechtfertigung der paramythischen ›Spielereien‹ an eine bestimmte Situation. »Paramythion heißt eine Erholung«, sagt der Unterredner Theano in der erwähnten »Einleitung«, und dieses Motiv der Entspannung, des entspannten Vergnügens an geistigen Gegenständen zieht sich durch die verschiedenen Äußerungen des Autors zum Thema hindurch. Die Frage liegt nahe, welche Anspannung hier gemeint sein mag, die der Entspannung vorausgeht und sie zu rechtfertigen imstande sei. Es ist eine Frage, die (unter der Voraussetzung, dass die Beobachtung, die Dichtung habe sich seit jeher in paramythischen Erfindungen ergangen, einer Überprüfung standhält) den Blick auf eine Funktionsverschiebung von Dichtung im Inneren der Begriffe hinlenkt, in denen von ihr die Rede ist. Denn ginge es Herder an dieser Stelle um das Vergnügen an poetischen Darstellungen überhaupt – das Horazische ›delectare‹ –, so zerfiele der argumentative Zusammenhang. Die Anstrengung, von der die paramythischen Erzählungen ex negativo zeugen, schließt, so müssen wir annehmen, die tradierte Poesie ein.

Zwischen die Argumentation von 1767 und die von 1785 schiebt sich ein Motiv, das in dem frühen Text noch keine Rolle spielt, obwohl die Elemente schon bereitliegen. Sie erschließen sich, wenn man den dort vom Verfasser geforderten heuristischen Gebrauch der antiken Mythologie durch die Dichtkunst auf seine Voraussetzungen hin betrachtet. Dieser Gebrauch beruht auf einer Reihe von Hypothesen über die Natur der alten Mythologie, deren erste lautet, sie sei zu einem Gutteil »Geschichte«. Die Annahme allein wäre ausreichend, um jene ›ganz neue Mythologie‹ für die eigene, notwendig auf anderen ›Geschichten‹ fußende Literatur zu fordern, von der im folgenden die Rede ist, bliebe da nicht ein Bedenken, das sich beim Vergleich der Fähigkeiten der alten und neuen Dichter einstellt. Die griechische Mythologie, so wird gesagt, sei das Produkt einer die Gegenstände erhebenden Einbildungskraft, die den Neueren abgehe. Ein eklatanter Mangel an Einbildungskraft sei es, der die neuere Dichtung an die mythologischen Erfindungen der Alten fessele. Das Argument verfolgt einen doppelten Zweck. Einerseits dient es dazu, eine andere, neue Poesie zu fordern, die sich an den Leistungen der Alten messen ließe, andererseits bringt es die Differenz der Zeitalter ins Spiel und entlastet so die zeitgenössische Dichtung von dem Vorwurf, der moderne Mangel an Einbildungskraft könne allein der Unfähigkeit von Individuen angelastet werden.

Es ist diese Antinomie, die in der Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 entfaltet wird.

Wir glauben alle, noch jetzt väterliche und häusliche und menschliche Triebe zu haben, wie sie der Morgenländer, Treue und Künstlerfleiß haben zu können, wie sie der Ägypter besaß: phönizische Regsamkeit, griechische Freiheitsliebe, römische Seelenstärke – wer glaubt nicht zu dem allen Anlage zu fühlen, wenn nur Zeit, Gelegenheit – und siehe! mein Leser, eben da sind wir. Der feigste Bösewicht hat ohne Zweifel zum großmütigsten Helden noch immer entfernte Anlage und Möglichkeit – aber zwischen dieser und »dem ganzen Gefühl des Seins, der Existenz in solchem Charakter« – Kluft! Fehlte es dir also auch an nichts als an Zeit, an Gelegenheit, deine Anlagen zum Morgenländer, zum Griechen, zum Römer in Fertigkeiten und gediegne Triebe zu verwandeln – Kluft! nur von Trieben und Fertigkeiten ist die Rede... Du alles zusammen genommen? Quintessenz aller Zeiten und Völker? das zeigt schon die Torheit!

Das ›mechanische‹ Zeitalter der Moderne entzieht (aus Gründen, die mit der Entwicklung der mechanischen Künste, darunter des Buchdrucks, eng zusammenhängen) der mythenproduzierenden Einbildungskraft die ›Gelegenheit‹, sprich, die Gestaltungsräume, die ihr die griechische Antike zugestand: Grund genug, den Dichtern die objektive Möglichkeit abzuschneiden, sich in dieser Hinsicht mit den Alten zu vergleichen. Die Mythologie ist demnach ein Produkt jener unwiederbringlich vergangenen Zeitalter und wohl zu unterscheiden von den Reproduktionen, welche die Poesie zu Zeiten anfertigt, in denen die mythenbildende Kraft längst verflacht ist. Das Fortschreiben der Mythologie in den Künsten der Neuzeit wird zum ›Spiel‹, wie es bereits 1774 heißt, zu einem von gedanklichem Unernst geprägten So-tun-als-ob, das dem homerischen und noch dem platonischen Zeitalter völlig fremd ist.

Das Problem spitzt sich zu, sobald der mythenerfindend‑mythenreproduzierende Dichter über ein kulturmorphologisches Wissen verfügt, das es ihm erlaubt, die Gründe für den Unernst zu benennen, er sich also jederzeit dessen bewusst ist (oder bewusst sein könnte), was er macht. Der reflektierte Dichter kann nicht anders, als sich in seiner Produktion von dem Wissen zu suspendieren, das ihn von den Produktionen der Alten abschneidet. Der morphologische Blick macht ihn zum Kritiker, der seine Versuche als vergeblich durchschaut, der produktive Drang hingegen zum Dichter wider besseres Wissen. Wenn Herder seine paramythischen Erzählungen als ›Spiele‹ qualifiziert, dann meint er diesen Sachverhalt. Der unzeitige Nachahmer ist identisch mit dem naiven, der den Spielcharakter der Paramythien nicht erkennt. Soll heißen, unzeitig ist der Dichter selbst, der sich den Als‑ob‑Charakters seines Dichtens nicht bewusst macht.

›Entspannung‹ also sucht der paramythische Autor in erster Linie von einem Dilemma, das seine Kultur für ihn bereithält. Er findet sich in einer Situation, die einerseits seine Kräfte aufs äußerste spannt, weil die literarische Existenz ihn zur Uberwindung der sich vor seiner Produktion auftuenden Schwierigkeiten anhält, und die andererseits diese Kräfte lähmt, weil ihm stets vor Augen steht, dass seine Produktion objektiv – mit der morphologischen Elle genossen – nicht in Betracht kommt und kommen wird. Die fruchtlose (oder ihre relative Fruchtbarkeit trotzig erstreitende) Anspannung des modernen Dichters entlädt sich im paramythischen Spiel. Die Funktion, die der Dichtung damit zuwächst, zielt auf Entlastung (zunächst des Dichters, sodann aber auch seiner lesenden Klientel) vom Gewicht eines Wissens, das, recht bedacht, zusammenfällt mit dem Wissen um die Voraussetzungen der eigenen Epoche und der Möglichkeiten resp. Unmöglichkeiten, die sich aus ihnen für den einzelnen und seinen Handlungsbedarf ergeben. Dieses Wissen um die Grundlagen der modernen Welt – mit einiger Skepsis sei es gesagt – ist ein Wissen, wie es noch keines gab, überdies eines, angesichts dessen es ununterscheidbar bleibt, ob sein (von Herder wohl nur in Maßen empfundenes) niederdrückendes Gewicht von der Faktizität der modernen Welt oder der Faktizität des Wissens um diese Welt herrührt.

 

3.

Ist das Problem, das die paramythischen Dichtungen aufwerfen, nicht doch zu unbedeutend, um zu einem Problem der Dichtung zu taugen? Um diese Frage zu entscheiden, ist es nötig, die Argumente zu prüfen, deren sich Herder bedient. Offensichtlich argumentiert er im Widerstreit zweier Gedankenlinien. Die eine gehört dem Dichter, der sein angestammtes Recht der Erfindung gegenüber dem tradierten Fundus mythischer Erzählungen gewahrt wissen möchte. Die andere gehört dem kulturmorphologisch denkenden Kritiker, für den die klassische Mythologie nicht länger einen beliebig plünderbaren Vorrat poetischer Motive darstellt, sondern ein von den späteren poetischen Be‑ und Verarbeitungen zu unterscheidendes Phänomen, das den Anfang (oder einen der Anfänge) der europäischen Kulturentwicklung markiert: halb und halb bereits zu verstehen als ›Mythos‹ in einem späteren Sinn. In letzterer Sicht sind Paramythien nichts weiter als unechte Mythen, zum Mythos hinzugedichtet und daher für den sondernden Kritiker vom Weizen zu trennende Spreu. Der Dogmatismus, der darin liegt, wird augenfällig, wenn man bedenkt, dass in gewisser Hinsicht bereits der Herder der »Literaturfragmente« die Dichtung als zum Mythos hinzugedichtet begreift, sobald sie als ›Dichtkunst‹ (ποίησις) sich vom Typ des homerischen Gedichts scheidet. Die Frage, ob es vertretbar sei, den Mythos fortzuschreiben, nimmt angesichts der Annahme, dass alle Dichtung spätestens seit Homer so verfährt, das Verhältnis von Mythologie und Dichtung ganz allgemein in den Blick. In der »Einleitung« macht Herder daraus eine Gattungsfrage: offenbar stehen allegorisierende kleine Erzählformen wie ›Idyllen oder Fabeln, Dichtungen über Gegenstände der Natur‹ dem genuin mythischen Erzählen näher als andere Gattungen der zeitgenössischen Dichtkunst, so dass die Überlegung, ob das paramythische Spiel in ihnen legitim sei, die andere einschließt, ob und mit welchen Mitteln sich in der zeitgenössischen Dichtung Poesie‑ und Mythennähe überhaupt herstellen lassen.

Allein diese Reflexion findet hier nicht statt. An ihre Stelle tritt ein Urteilsschema, das verfügt, nichts sei verheerender für eine Dichtung, die sich der klassischen Stoffe und Figuren bedient, als der Nachweis, dass sie den antiken Mustern nicht entspricht oder ihnen sogar Unrecht tut. Dahinter steht der noch aus der ›Querelle des anciens et des modernes‹ vertraute Verdacht, das sich von den Vorbildern lösende Gutdünken des modernen Autors sei allenfalls geeignet, die bei den Alten erreichte Höhe der Dichtung zu unterschreiten: aus Mutwillen oder Unvermögen. Das (neue) kulturmorphologische und das (alte) klassizistische Argument bleiben, wie so oft bei Herder (und, wie so oft, nicht zum Vorteil in der Sache), ungeschieden. Es ist ein ebenso schwaches wie starkes Argument, wenn er zugunsten seiner mythologischen Spielereien ins Feld führt, dass »von den Alten selbst ... die Mythologie oft zu Paramythien angewandt« worden sei – stark, weil das dort verwandte mythenbildende Verfahren vor dem Urteil der Zeitgenossen durch die antike Dichtung legitimiert wird, schwach deshalb, weil die Berufung auf das antike Vorbild unterderhand zu einem Formalismus degeneriert. Die Frage, wie sich die Paramythien zu den Mythen und damit zum Material der Dichtung verhalten, bleibt unerörtert. Der Autor weiß, was er verschweigt. Er rettet sich durch einen Salto mortale: den Hinweis auf die rechtfertigende Praxis der Alten ergänzt er durch eine Frage, die überraschend auf allen dichterischen Umgang mit der Mythologie zielt.

Wie könnte sie auch sonst der Dichtkunst brauchbar werden?

›Wie ... auch sonst‹ – das kann nur heißen: wie anders wäre es möglich zu dichten, wenn nicht durch einen freien Gebrauch aller Elemente, die der Mythos für den Dichtenden bereithält? Dies, wohlgemerkt, unter der Voraussetzung, dass Dichtung unter steter Bezugnahme auf den Mythos entsteht, dass also die Klärung des Verhältnisses von Mythos und Dichtkunst eine Lebensfrage von Dichtung betrifft. Erst die methodische Separierung beider erzeugt die Rat‑ und Hilflosigkeit, die in der Frage vernehmbar wird und durch ihren rhetorischen Charakter gleichsam vom Tisch gewischt wird. In einem elementaren Sinn ist es schwer einzusehen, wie der Mythos erneut produktiv gemacht werden kann, nachdem es dem kulturmorphologischen Interesse einmal gelungen ist, ihn als ›Mythologie‹ – als ›natürliche‹ Poesie – aus den Dichtungen der ›Alten‹ herauszufiltern und an den Anfang der Kulturentwicklung, der ›Bildung des Menschengeschlechts‹, zu stellen.

Betrachtet man die Quasigattung der Paramythien unter diesem Gesichtspunkt, bekommen bestimmte Züge ein etwas anderes Aussehen. Etwa die allegorische Lehrhaftigkeit, mit der sie an der Tradition der ›kleinen‹ Gattungen wie Fabel, Parabel, etc. partizipiert. In ihr haben sich, so muss man Herder wohl lesen, die von ihm unterstellten allegorischen Züge der alten Mythologie exemplarisch erhalten. Die Ununterschiedenheit von Dichtung und Weisheit in der mythischen Poesie gastiert in der reflexionstreibenden Einheit von pseudomythischer Einkleidung und moralischem Satz, solange allseits verstanden wird, dass es sich dabei um ein Spiel handelt und dass die Einkleidung in dem Augenblick entbehrlich wird, in dem aus dem Spiel mit der Moral Ernst wird. Daher die Vorliebe für den galanten Schluss, in dem die Sentenz sich in eine Frage – »Ist’s Neid oder Güte..?« – oder einen Wunsch verwandelt:

Auch auf euren Wangen, o Mädchen, blühn Lilien und Rosen; mögen auch ihre Huldinnen, die Unschuld, Freude und Liebe, vereint und unzertrennlich auf ihnen wohnen.

Soll heißen: der Reiz der paramythischen Dichtungen – das Angenehme – liegt in der Einkleidung: in der Mitteilung neuer, noch nicht bekannter Mythen. Nicht die mit einem Lächeln quittierte ›Anwendung‹, sondern die Neuheit der Erzählung – genauer: des Erzählten – entschädigt den Leser für sein schwer zu unterdrückendes Wissen, es mit unechten Mythen und also mit Erfindungen zu tun zu haben, deren Verhältnis oder Unverhältnis zur moralischen Welt sich dem Witz und der Laune des Schriftstellers verdankt, ohne zu ihrem Reichtum im mindesten beizutragen.

Allerdings erinnert sie daran, dass auch die alten Mythen einmal hergestellt wurden. Der Kinderglaube der Menschheit ist selbst nichts Entsprungenes, sondern ein Produkt der Tätigkeit, in der sich der moderne Dichter nach wie vor übt, auch wenn die Resultate differieren. Hier liegt das Grundthema Herders. In den paramythischen Erzählungen prätendiert der Dichter, nichts anderes zu machen als die anonymen Urheber des Mythos. Doch in diesem ›nichts anderes als‹ liegt das Problem. Die Demonstration, wie etwas gemacht wurde, ist von vornherein Interpretation – die Auslegung der mythischen Erzählform im Rahmen zeitgenössischer Lehrdichtung. Das Ausgelegte aber, die Machart des Mythos, wird durch die Auslegung tatsächlich ausgespart, weil ihr selbst das Wesentliche entgeht. Das, was sich nicht herstellt, ist der Kinderglaube, auf den alles ankäme. Die mythische Erzählform, als eine zur Unwirksamkeit verurteilte Form der Beglaubigung, wird zum Rätsel.

Folgt man den Winken des Verfassers, so korrespondiert die moralisierende Lehrhaftigkeit der neuen Mythen unmittelbar der ursprünglichen Weisheit des Mythos. Ihre Aufgabe besteht darin, diese Weisheit spielerisch zu aktualisieren. Doch in dem Spiel wird die zeitgenössische Lehrdichtung – Idylle, Parabel, Naturdichtung – zum Analogon oder zum Zitat. Der moralische Sinn ist am Ende der, auf den es am wenigsten ankommt. Worauf es ankommt, ist die Auslegung des Mythos als Mythos, als erzählte Weisheit und als anfängliches Sprechen. Die Dichtung wandelt sich zu einem Instrument der Erkundung ihrer Anfänge, die sie durch ihr notwendiges Dazwischentreten ebenso notwendig verstellt. Der Mythos hingegen bleibt stumm: jeder Versuch, ihn in der Dichtung zum Sprechen zu bringen, ist in Wahrheit ein Weitersprechen, ein Erfinden in einem Genre, dessen Besonderheit die stoffliche Novität ist, die sich mit der Vertrautheit der antiken Mythologie verschwistert, also die Art von Grenzverwischung oder ›Verwirrung‹, die Herder in der »Einleitung« von sich weist.

 

4.

Man mag es drehen und wenden: das Problem der Dichtung, wie es die paramythischen Versuche exponieren, besteht in der Freiheit des Geglaubten, die, Herder zufolge, in der mythenproduzierenden natürlichen Poesie anzutreffen ist, für die stellvertretend in den früheren Schriften der Name Homer steht. Das Gedichtete ist das Geglaubte, dem gegenüber sich der Dichtende die Freiheit zu weiterer – und weitergehender – Produktion nimmt. Anders ausgedrückt: die mythische Denkweise erlaubt keinen Standpunkt außerhalb ihrer selbst, von dem her sich Ernst und Spiel säuberlich trennen ließen. Die Trennung von Ernst und Spiel – von ›Religion‹ und ›poetische[m] Gerüste‹ setzt ein Drittes voraus: die Dazwischenkunft der Theologie. Die Schriftgläubigkeit des Christentums verurteilt die dichterische Fortschreibung des Mythos zu der Wirkungslosigkeit, von der Herder in »Auch eine Philosophie« spricht. ›Es hat nichts zu bedeuten‹, ›Spiel‹, ›Gerüste‹ lautet die beschreibende Rechtfertigung der mythologisierenden Dichtung gegenüber der theologischen Weltsicht, während sie doch jedem, der zu lesen versteht, hinreichend Zeichen gibt, dass dem allen eine nicht wegzuschaffende konkurrierende Bedeutung innewohne. Die allegorische Auslegung des Mythos im moralischen Zeitalter der Vernunft schließlich vollendet das durch die Theologie begonnene Werk. Sie gehört zur Strategie der Besetzung religiöser Topoi durch die geschäftige Vernunftmotivik, in der ein Märchen soviel wie ein anderes gilt. Nicht von ungefähr plaziert Herder die Bildsäule Christi zwischen die des Apollo und der Leda. Das einmal entfesselte Spiel bemächtigt sich unterschiedslos der mythologischen Sujets.

Die Probe aufs Exempel liefern jene »Dichtungen aus der morgenländischen Sage«, die als Blätter der Vorzeit die Folge der Paramythien sinnreich ergänzen. in ihnen erfasst das paramythische Spiel den jüdisch‑nahöstlichen Überlieferungskomplex, dem gegenüber der protestantische Theologe Herder sich keineswegs auf das freie Spiel der Einbildungskraft als hinreichenden Rechts‑ und Publikationsgrund verlassen kann. Ihm gegenüber versteht sich der Autor eher als Übersetzer, Redaktor und Ausgestalter denn als frei erfindender Dichter:

Ich bin zu ihnen gekommen, auf Wegen, wo ich so etwas nicht suchte; meistenteils nämlich im Studium morgenländischer Sprachen, Sagen und Kommentare. Hier war mir oft ein Bild, ein Gleichnis, eine Dichtung, das was jenem müden Propheten der Wachholderbaum in der Wüste war; an sich eine arme Geniste, die ihm indes Schatten gab und ihn stärkte. Oder ohne Bild zu reden, ich traf in den Sagen des Morgenlandes, so ungereimt sie manchmal schienen, oft so dichterische Ideen an, die um eine bessere Ausbildung gleichsam fleheten, daß es mir schwer ward, sie nicht auszuzeichnen und in müßigen Minuten nach meiner Weise zu gestalten. Niemand also vermische diese Dichtungen mit den Erzählungen der Bibel; sie sind völlige Apokryphen, entweder alte Sagen mehrerer morgenländischen Völker, oder wenigstens aus Samenkörnern dieser Art entsprossene Gewächse. In ihrer Ausbildung gehören die meisten mir völlig zu; wenige nur sind, wie sie dastehen, ganz in der Tradition gegeben.

Unüberhörbar ist auch diesmal der Tonfall der Distanzierung. Waren die klassischen Paramythien Ausflüsse eines geselligen Spiels, so fällt die Ausbildung der ›morgenländischen‹ Sagen in die Mußestunden des Sprachforschers, der, im Bewusstsein getaner Arbeit, der von den Bruchstücken der Überlieferung ausgehenden Verlockung nicht widerstehen kann. Auch hier steht also die Mythenerforschung am Anfang der Mythenerzählung. Doch die Bedenken sind spürbar verschärft. Sie richten sich nicht gegen die dichterische Hinzuerfindung (also den eigentlichen paramythischen Charakter), sondern gegen die überlieferten Texte selbst, die sich verwirrend mit der kanonischen Überlieferung mischen, weil sie für den Ethnographen demselben Überlieferungsgeflecht angehören wie die biblischen Texte, für den Theologen jedoch einem illegitimen Überlieferungsstrang angehören. ›Sie sind völlige Apokryphen‹ könnte von den Paramythien genauso gesagt werden, wenn es im Bereich der klassischen Mythologie ein kanonisches Textcorpus gäbe, das dem jüdisch‑christlichen vergleichbar wäre.

Das aber heißt: an den morgenländischen Sagen, die ihre Ausbildung dem modernen Redaktor verdanken, gewinnt der müßiggehende Forschergeist die Freiheit, sprich Beweglichkeit zurück, die ihm im Umgang mit den in ihrer Wörtlichkeit ein für allemal fixierten Erzählungen der Bibel verlorenzugehen droht. Die apokryphen Sagen gestatten den Einblick in die produktive Tätigkeit des frühen Volksgeistes, der sich die mythischen Erzählungen der Bibel verdanken und die sie durch ihren kanonischen Charakter verdunkeln. Sie gestatten ihn deshalb, weil sie es nicht bis zur Wörtlichkeit gebracht haben, sondern vom Redaktor gewissermaßen auf halbem Wege abgeholt werden müssen. Darin, dass sie ›um eine bessere Ausbildung gleichsam fleheten‹, liegt das auslösende Moment, das es dem modernen Autor ermöglicht, den mythenbildenden Geist spontan zu reproduzieren, über den zu verfügen er in den Paramythien beansprucht. Die Frage ›Wie könnte sie auch sonst der Dichtkunst brauchbar werden?‹ lässt sich also unschwer auf die Bibel zurückwenden und mit der Gegenfrage beantworten: Wie anders könnte sie es als vermöge der paramythischen ›Durchbildung‹ der durch die Theologie systematisch entwerteten ›Apokryphen‹?

 

5.

Unter den Entscheidungen, mit denen Herder auf den Gang der europäischen Aufklärung Einfluss nimmt, steht diejenige gegen die frühe emanzipatorische Lesart des Sündenfall-Mythos während der Arbeit an der Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts an zwar versteckter, gleichwohl bedeutsamer Stelle. Der Gedanke der Selbstwerdung der Menschheit durch einen Akt freier Entscheidung wäre nur schwer mit einer Deszendenztheorie zu verbinden gewesen, die zusammen mit dem vormosaischen und vorägyptischen Alter des biblischen Schöpfungsberichts seinen ursprünglichen Offenbarungscharakter behauptet. Wohl aber wäre er zu verbinden gewesen mit der historisch-philologischen Lesart der mythologischen Überlieferung, wie Herder sie ausarbeitet, die durch ihre Hinweise auf lokale Ursprünge einerseits, die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes andererseits die Frage nach dem Ursprung bereits in die Richtung eines sich ins zeugnislose Davor verlierenden Prozesses verschiebt oder zu verschieben beginnt. Es ist schwer vorstellbar, dass Herders Verhaftetsein in der antiken Lebensalter-Metaphorik allein es vermocht hätte, die supponierte göttliche Führung im Blick auf die ersten kindlichen Schritte der Menschheit als wörtliche Unterweisung zu deuten. Anders steht es um das zwischen Hamann und ihm getauschte Argument, man könne vom Ursprung der Welt anders als auf Grund göttlicher Verlautbarung gar nichts wissen, da er der Menschheit vorausliege. Dieses Argument ist einerseits selbst noch dem mythischen Denken verpflichtet, da es die Erzählung dessen, der dabei gewesen ist, als die einzig zuverlässige Form der Wissensvermittlung und damit des Wissens selbst – gegen das hypothetische Wissen der Naturwissenschaften – auszeichnet. Andererseits setzt es ganz selbstverständlich die Struktur theologisch-systematischen Argumentierens voraus. Der Mythos fragt nicht, wer dabeigewesen sei, um zu berichten. Die Frage nach dem Urheber des Berichtes, dem ποιητής, gilt zweierlei: dem Wissenkönnen und dem Herstellenkönnen. In beidem geht sie über den mythischen Kinderglauben hinaus, der das Erzählte für wahr nimmt, weil er kein Mittel hat, nach seinen Konstituentien zu fragen. Herders These einer ursprünglichen Offenbarung greift diese Indifferenz des mythischen Denkens auf. Aber sie verbindet sie, keineswegs bruchlos, mit dem theologischen Dogma: anders wäre der Kanon der Heiligen Schriften nicht zu retten gewesen.

Der Schwächeanfall, den die Neueren Zeiten auf dem Gebiet der Dichtung bewirken, erhält so (rückblickend in der Chronologie der Herderschen Schriften) eine doppelte Begründung. Die erste steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem philologisch-theologischen Unterfangen, die mythische Überlieferung zu datieren und in eine Geschichte der allmählichen Verdunkelung der ursprünglichen Offenbarung einzugliedern, die zweite macht den Systemzwang der Vernunft, die sich nicht länger auf den Offenbarungscharakter der Schriften verlässt, mit denen sie umgeht, sondern nach Kriterien fragt, mit deren Hilfe sie letztere zu sondern lernt und so zu einer neuen Form der ›Lektüre‹ kommt, für die Mechanisierung des Lebens und die Abtötung der mythenbildenden Einbildungskraft verantwortlich. Beide gehen vom poietischen Aspekt des Sprachgebrauchs aus, dem von Anfang an ein Willkürmoment beigemischt ist. Ursprüngliche ›Besonnenheit‹ – wie Herders Bestimmung der Vernunft lautet – und willkürliche Überschreitung der durch sie gesetzten Grenzen spontaner Einbildung in der Ausprägung differenzierter Exempel des Vernunftgebrauchs mit Hilfe der Sprache liegen miteinander in einem Widerstreit, den der Kulturkritiker für seine Zwecke ausbeutet. Das Verfahren, das im Weitererzählen der Mythen Platz greift und für die sukzessive Verwirrung der Mythologie durch die Dichtung verantwortlich ist, findet seine Entsprechung im methodischen Geist zunächst der Theologie, dann der aus den Künsten erwachsenden Wissenschaften. In ihnen schafft sich die menschliche Freiheit von Willkür gezeichnete Instrumente, mit deren Hilfe sie sich über die vorgefundenen Weltverhältnisse verbreitet. Das unterstellt die Behauptung, eine Hypothese sei kein Wissen, sondern ein Nichtwissen. Dass Herder bei dieser Auffassung nicht stehenbleibt, dass sie, wie so manches bei ihm, nicht mehr als eine Tendenz bezeichnet, die Dinge zu sehen, ändert nichts an der Exposition des Problems. In den »Ideen«, in zeitlicher Nachbarschaft der paramythischen Versuche, wird die Differenzierung der Vernunft im Kulturprozess endgültig für legitim erklärt, mit der Folge, dass von der Kritik des gegenwärtigen Zeitalters wenig übrigbleibt. Das »Wunder einer göttlichen Einsetzung« der Sprache und ihr uneingeschränkter Gebrauch harmonieren mit dem Bild des Menschen als des ›erste[n] Freigelassene[n] der Schöpfung‹, der souverän über seine Mittel der Welterkundung verfügt.

Für die Dichtung heißt das: sie hat in Fühlung zu bleiben mit den Leistungen der Vernunft, die den Geist des eigenen Zeitalters prägen, und sie hat das Gefühl anzuleiten, das sich auf die älteren und ältesten Denkmäler der Menschheit zurückbezieht. Das paramythische Spiel mit den selbstgewirkten oder der Tradition entnommenen Apokryphen zeichnet sich – bei aller Bestimmtheit von Zeit, Ort und Anlass – durch seine relative innere Ortlosigkeit aus. Während die Theologie, nicht anders als die Wissenschaften, sich entweder auf der Höhe des zeitgenössischen Wissens und Argumentierens befindet oder intellektuell nicht in Betracht kommt, bewegt sich eine Dichtung, die nicht zwangsläufig die Stärken der Kultur, der sie entstammt, als Schwächen reproduziert, sofern sie sich vorbehaltlos als zeitgenössisch geriert, zwischen den Kulturen resp. Stadien der Kulturentwicklung. Der Dichter lebt von der Ausbeutung jener ›entfernte[n] Anlage und Möglichkeit‹ zu allem Menschlichen, die, wie es 1774 höhnisch hieß, den ›feigsten Bösewicht‹ mit dem ›großmütigsten Helden‹ verbindet. Das Problem der Geistesgeschichte, das der Historiker zu lösen sich außerstande sieht – »Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist« –, löst der Dichter mit einem Schlag, nicht ohne es – für den Kritiker – zu restituieren: schließlich ist es die Physiognomie seines Geistes, deren prägnante Selbstdarbietung über Wert oder Unwert des literarischen Werkes entscheidet.

Der Grund des Ungenügens an theologischer Rede – soweit ihn Herders Reflexion auf den mythischen Anteil der Poesie zum Tragen bringt – liegt letztlich darin, dass die Theologie, als eine systematische Disziplin, Geschichte allenfalls als Heilsgeschichte in den Blick nimmt und darum Offenbarung nur als ein System unbezweifelbarer Sätze, als Dogmatik denkt. Herder, der auf der Fähigkeit des menschlichen Geistes zur Hervorbringung aller seiner Formen und Inhalte und damit indirekt auf der Differenz als dem Merkmal geistiger Produktion beharrt, weist der zeitgenössischen Dichtung den Spielraum zu, den unter den religiösen Schriften die apokryphe Überlieferung gegenüber der kanonischen besetzt hält. Naiv wäre es, diesen Spielraum ausschließlich antitheologisch zu definieren. Zwar erzählt ein beträchtlicher Teil der Paramythien Ursprungsgeschichten, doch diese Geschichten sind meistenteils physikalisch‑moralische Märchen. Der Verdacht des offenen oder verborgenen Dogmatismus unausgegorener Systeme in den verschiedenen Wissenssparten lässt es ratsam erscheinen, ihnen allen gegenüber die Versatilität des auf sich gestellten produktiven Gemütes herauszukehren. Die Dichtung weiß zwar nichts besser, aber sie hat Grund, immer wieder in jene Zone der Indifferenz zurückzukehren, die der Mythos im Leben des Geistes darstellt, auch wenn sie ihr nicht mehr zu entwenden versteht als die eine oder andere Draperie.

 

6.

Der begrenzte Fall der Herderschen Paramythien lässt deutlich werden, dass in der Tat von einer prinzipiell zu nennenden ›Lücke‹ in den Diskursen des Wissens gesprochen werden kann, die zu schließen die Literatur im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts ansetzt. Er demonstriert überdies, dass diese Lücke spätestens seit Herder zwei Auslegungen erfährt: eine – wie uns heute scheint – überschießende, die durch das Schillerwort von der dem Menschen seitens der Kultur geschlagenen Wunde, die nur durch die Kultur geheilt werden könne, aufs entschiedenste bezeichnet wird, und eine zweite, nüchterne, die anerkennt, dass die Literatur als Erbin der Poesie prinzipiell nicht mehr und nichts anderes weiß als die Wissenschaften. Worauf sie beharrt – und zwar unabhängig von metaphysischen Implikationen – , ist die Idee des Ursprungs. Was Herder dabei vor Augen steht, ist die Ungebundenheit der Kräfte, die sich noch nicht einer bestimmten Aufgabe verschrieben haben. Der Mythos als die anfängliche Form der Poesie konserviert das Bild der Welt, das dem – wie Herder ihn nennt – ›freistehenden‹ Menschen vor jedem bestimmten und damit weiterer Auslegung zugänglichen Weltverhältnis entgegentritt:

– der weiteste, blaue Horizont des Menschen, wenn er keine Metaphysische, oder Astronomische Welten kennet.

In ihm bespiegelt er in Wirklichkeit sich selbst, weil es jeder objektivierenden Anteilnahme vorausliegt. Die ihr poetisches Erbe reflektierende Literatur stößt mit einer gewissen inneren Zwangsläufigkeit auf dieses intentionslose primäre Reflexionsverhältnis und reproduziert es im Akt des Schreibens. Die Reproduktion ist allerdings keine Reduplikation, kann es nicht sein, da der scheinbar intentions‑ oder tendenzlos auf das Humanum gerichtete Schreibakt jener Spezialisierung entstammt, von der er ferngehalten werden soll. Der Schreibende nimmt, willentlich oder nicht, teil an der zivilisatorischen Tendenz seines Zeitalters. Die Distanz, die er zu ihr hält, wird vollständig durch das Selbstverhältnis umschrieben, in das er sich als Literat setzt, wenn er an die älteste Poesie anknüpft – nicht ohne Not, weil er in eigener Sache schreibend sonst an gar nichts anknüpfen könnte, sobald das Räderwerk der alten Regelpoetik einmal zum Stillstand gekommen ist.

Die Lücke in den spezialisierten Wissensdiskursen, auf die sich die Literatur fortan kapriziert, ist der nicht mehr lokalisierbare Ort der Poesie im zeitgenössischen Universum des Wissens. Die Vorstellung eines solchen Universums ist selbst eine literarische Idee. Die humane Mitte als Bezugs‑ oder Projektionsfläche allen Wissens kann ihre Verwandtschaft mit dem ›freistehenden‹ Menschen der Herderschen Mythologie nicht verbergen. Die wirklichen oder vermeintlichen Korrekturen, welche die Literatur gelegentlich an Gemeinplätzen oder Tendenzen einzelner Wissenschaftssparten anbringt, sind immer auch Korrekturen des wissenschaftlichen Weltbildes. Darin liegt ihre Berechtigung und die von ihnen ausgehende Gefahr. Die Einmischung des Literaten, welche Resultate sie auch zeitigen mag, verändert die Koordinaten der Welt, in der er sich bewegt. Vorausgesetzt, er findet jene ›unoccupierte Gesellschaft‹, die nach wie vor nichts weniger schätzt als Langeweile: sein Publikum.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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