1.

 

Das Gedächtnis des Lesers, sonst eher regelscheu, besitzt eine Vorliebe für bestimmte, meist als unscheinbar geltende Erzähldetails: in ihnen kondensiert sich die Kraft der Vergegenwärtigung, ohne die eine gehabte Lektüre nichts weiter meint als eine verflossene. In Raabes Odfeld ist es der zeichenhafte Naturlaut: jenes erste, »rauh, heiser und klagend« vorgetragene »Krah!«, mit dem sich der schwarze Invalide der Rabenschlacht in der Studierstube seines Retters bemerkbar macht. Ein erstes, wohlgemerkt, dem ein zweites, drittes und viertes auf dem Fuß folgt – jedesmal dann, wenn in dieser unruhigen Nacht vom vierten auf den fünften November 1761 ein Rat oder Unterschlupf Suchender die Zelle des »letzte[n] wirkliche[n] Kollaborator[s] der wirklichen Großen Schule von Amelungsborn«, des emeritierten Magisters Noah Buchius, betritt. Es sind ihrer drei: Wieschen, die Magd, ihr Verlobter Schelze, schließlich der spät erkannte Lieblingsschüler Thedel, ein Münchhausen und so mit einem anderen Erzähler verwandt, dessen sprichwörtlicher Wahrheitssinn im Fortgang der Erzählung vom braunschweigischen Herzog kennerhaft hervorgehoben werden wird. Mit Ausnahme also der Herzensdame des jungen Adligen, die in dieser Nacht noch von ihrem französischen Offizier träumt und in mehrfacher Hinsicht nicht mit von der Partie sein wird, die membra disiecta des Kleeblatts, das am folgenden Tag auf dem Schlachtfeld zusammenfindet und den neuen Noah seinen Namen ein zweites Mal und diesmal zu Recht erwerben lässt.

Der wiederkehrende, klare und distinkte Naturlaut sortiert den Lauf oder den Sturz der – hier durch die Zellentür – eintretenden Geschehnisse dank der eigentümlichen Fähigkeit des Raben, die der Erzähler gleich beim ersten Aufblitzen dem »Witz seines Geschlechts« zuschreibt, der Fähigkeit, eine »offene Tür von einer geschlossenen« unterscheiden zu können (und zwar »sofort«, was nach Lage der Dinge nur heißen kann: ohne nachzugrübeln). Es lässt daran denken, dass der Magister sich in der umgekehrten Lage befindet, als er vor dem Einschlafen daran geht, die – wie es heißt – »Gespenster und Gedankengespinste dieses Tages zu ›einfachen und ordentlichen‹ Schlüssen zusammenzuziehen und festzubannen«. Dass er über dieser Tätigkeit rasch entschlummert, gehört zum Thema. Die Lösung des Problems der entgleitenden Schlüsse erwartet ihn im Traum, in dem er, mit dem Schnabel nach rechts und links hackend, rabenartig auch er, die Schlacht über dem Odfeld mitschlägt und so die Schlacht auf dem Odfeld, das historisch verbürgte Gefecht des folgenden Tages zwischen den Truppen des Herzogs von Braunschweig und denen des Marschalls von Broglio, sich selbst zum wiederholten Mal prophezeit: Teilnehmer des »Prodigiums« oder »Portentums« – merkwürdig bereits dies –, und Ausleger des »gespensterhaften« Vorgangs dazu. Denn er schlägt sich, daran kann kein Zweifel bestehen, in einer Schlacht der Geister und deshalb, genau besehen, mit den Waffen des Geistes, sprich: unter Zugrundelegung der Logik oder Vernunftlehre, in diesem Fall repräsentiert durch die »›Deutliche und praktische Vernunftlehre für Schulen insgemein‹ und also auch für die weiland hohe Kloster-, Wald- und Wildnis-Schule zu Amelungsborn«.

Die Erfüllung der Aufgabe, Ordnung in die Folge der Gespenster und Gespinste zu bringen, liegt mithin dort, wo Buchius als »eingefleischter, geborener Ireniker« sie wachend niemals vermutete, im Kampf der Geister. Daher weiß der Rabe, der Kämpfer und Unheilsbote, so gut Bescheid: er erkennt den Augenblick. Andererseits wird der Magister in diesem Kampf durch die im Traum zur »Walkyria« denaturierte Mademoiselle Fegebanck (Thedels Herzensdame) unverhofft zur Aufgabe gezwungen. Es ist ein Hinweis, demütigend gewiss, auf die Örtlichkeit (nomen est omen: »Fegebanck«), an der er sein Altersbrot verzehrt. Doch dass hinter dem Abgang, rein physisch, der am Nachthemd des Schläfers zupfende Rabe steckt, macht die Sache vertrackter: Deuter und Bedeuter, Zeichen und Bezeichnetes geraten in einen Ringtausch, der den Leser schwindeln macht und schwindeln machen soll. Schließlich deutet der Schnabel des zupfenden Raben nicht minder auf die Brust des schlafenden Magisters als der im Traum auf sie einhackende der Mamsell. Das Motiv verdient es, genauer betrachtet zu werden: Der Deuter Buchius ficht mit in der Schlacht, aus der ihm der Rabe zufiel, im Raum des Vorbedeutens oder der Zeichenhaftigkeit, und zwar nachdem das Subjekt, der Mensch Buchius, im Gespräch mit dem ängstlich ratsuchenden Wieschen »zum allererstenmal«, wie es heißt, »in seinem Leben ... gewahr wird, dass auch er auf der Waagschale mitwiege, dass auch er von wirklicher, angsthaft gefühlter Bedeutung für ein anderes Menschenkind ... sein könne«.

»Auch er«: aber warum er? Warum gerade er? Und schließlich: in welchem Bedeutungsgefüge – er?

 

2.

Ironischerweise ist es die mangelnde Geistesgegenwart des Magisters, die ihn sich am folgenden Tag aufs Schlachtfeld verirren lässt, die Abwesenheit also der Gabe, durch die sein gefiederter Zellengenosse sich so unüberhörbar hervortut. Ironischerweise, denn an diesem Morgen hat der Bote verschlafen, bevor er mit seinem »Krieg, Krieg, Krieg!« das von den Anwesenden längst Begriffene hinauskräht, und Buchius zeigt sich im Plünderungsgetümmel völlig auf der Höhe der Situation, bis ihn der Klosteramtmann ins Unrecht und stehenden Fußes vor die Tür setzt. »Von irgendwelchem Unrecht« aber, »so ihm im Leben geschah, kam ihm die genauere Empfindung erst nach genauerer Überlegung«.

Was sucht ein Gelehrter des achtzehnten Jahrhunderts, ein Stubengelehrter wie der emeritierte Magister Buchius, im dichten Nebel auf einem Schlachtfeld? Er sucht einen festen Punkt, einen Anhalts- oder Sehepunkt, mit seinem Kollegen, dem Wolffianer Chladenius, zu reden, von dem aus sich das Schlachtgeschehen vor seinem inneren Auge organisiert. Und er findet ihn: in Gestalt eines toten Raben, eines Gefallenen der Rabenschlacht, auf dem er unversehens ausgleitet.

Portentum! Portentum! So dicht der Nebel sein mochte, der an diesem fünften November siebenzehnhunderteinundsechzig die Berge und Täler an der Weser erfüllte – der Magister Buchius wußte jetzt wieder ganz genau, wo er stand – zerzaust, zerschlagen, atemlos, ein heimatloser, freundloser alter Schulmeister. Auf seinem Campus Odini, seinem Wodansfelde – auf dem Odfelde stand er, während über den Quadhagen, das böse Gehege her das Kleinfeuergewehr und der Kanonendonner von Frankreich, Großbritannien und der zu König Fritzen haltenden deutschen Völkerschaften in die graue Finsternis hinein knatterte und krachte...

›Portentum! Prodigium! Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringet; ihren Rachen sperren sie auf wider mich wie ein brüllender und reißender Löwe‹ sagte der Magister. ›Ich will’s abwarten, wie alle rundum es abwarten müssen, was kommen soll‹, sagte er. ›Wir können nur erleben, was Du willst, Herr Zebaoth, Herr der Heerscharen!‹

Dem aufmerksamen Leser kann die Buchstabenvertauschung nicht entgehen, die das gestammelte »Por-, Por-, Prodigium« des Amtmanns am Vorabend dem Wechsel vom »Portentum« zum »Prodigium« unterlegt: das Portentum, das Vorauszeigende, enthält in sich das Protentum, das Sich-Zeigende: die Ideenverbindung allein genügt, um die eingeschränkte Wahrnehmung des Magisters auf eine andere Ebene zu heben, auf die taktisch-strategische Ebene des Kriegstheaters, auf der sich nicht nur die Position der Gefechtsparteien, sondern der Zusammenhang des großen Kriegsgeschehens lichtet: die Eroberung Kanadas auf deutschem Boden.

Das ist in der Tat, mit dem Ausdruck des Chladenius, der »Sehepunckt des academischen Lehrers«, der, durch den Wegfall von Sonder- oder Partikularinteressen (wenn man von dem Bedürfnis, mit heiler Haut davonzukommen, einmal absieht) sowie aufgrund einer durch stete Übung erreichte Beweglichkeit des Geistes dazu prädestiniert erscheint, das Geschehen oder die Geschichte, das, was vor seinen Augen geschieht und was die Zeugnisse ihm zutragen, in ein »historisches Systema« zu fassen, soll heißen, more geometrico allseits zu verknüpfen. More geometrico: also nach der Methode logischer Ableitung, in der Form einfacher und ordentlicher Schlüsse, wie sie auf der Schule zu Amelungsborn einst gelehrt wurden. Die Skrupulosität des Magisters, die sich in entscheidenden Augenblicken als mangelnde geistige Präsenz bekundet, ist identisch mit seiner Befähigung zum Geschichtsdeuter ex instituto. Der akademische Lehrer zieht Vorteil daraus, dass er zu spät kommt, nicht für sich, wohl aber für die Geschichte, die es zu erzählen gilt. Dass allerdings sein habituelles Zu-spät-Kommen ihn in persona in das Geschehen hineinführt, ist eine Tücke des Erzählers, eine Komplikation, die nur durch den Nebel wieder wettgemacht wird, der dafür sorgt, dass die Protagonisten der Schlacht und ihr Chronist in spe, oder besser: der Gesinnung nach, sich wechselweise nicht zu Gesicht bekommen.

Der abgehalfterte Schulmeister Noah Buchius ist ein homme de lettres, ein Mann der Aufklärung: und das heißt, bei seinem Stand und seinen Interessen, des Wolffianismus. Daran ändert nichts, dass seine notgedrungen schmale Bibliothek zeitgenössischer Werke neben Gottscheds Critischer Dichtkunst im wesentlichen mit dem Robinson Crusoe auskommen muss – den Cato des erstgenannten Autors nicht zu vergessen. Als der zum Ausrücken entschlossene Schelze ihn bittet, die »Welthistorie ... auf den Tisch« zu malen, damit er wisse, wo er zu den Truppen des Herzogs Ferdinand stoßen könne, da bedarf es zwischen beiden keiner Erörterung, wie sich wohl die Welthistorie ins Weserbergland verirren möchte. Das »Systema«, will sagen: der mos geometricus, sorgt dafür, wie der Historiker Gatterer aus dem nahen Göttingen in einer 1767, vier Jahre nach Kriegsende, erscheinenden Schrift erläutern wird:

Der höchste Grad des Pragmatischen in der Geschichte wäre die Vorstellung des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge in der Welt (Nexus rerum universalis). Denn keine Begebenheit in der Welt ist, so zu sagen, insularisch. Alles hängt an einander, veranlaßt einander, wird veranlaßt, wird gezeugt, und veranlaßt und zeugt wieder.1

In diesem Fall, der Eroberung Kanadas auf deutschem Boden, weist eine Sentenz des Nicolaus Hieronymus Gundling aus dem Jahre 1737 die Richtung, eines Autors also, dessen Name – immerhin – sich auf dem Bücherbord des Magisters findet: »Auf dem Commercien-Wesen mit den beyden Indien roulliret die gantze Welt.« Die ›gantze Welt‹ ist Mitakteurin: darunter tut es die Erzählung nicht. Selbst der Hunger des jungen Münchhausen taxiert die Nahrungsmittelvorräte des Weltalls, als seien es die seinen, und mancher Zug der Erzählung liest sich anders, wenn man die geistige Herkunft des Magisters in Rechnung stellt. Etwa gleich zu Anfang, als der Erzähler den einen oder anderen Leser imaginiert – »mehr als einer und eine« schreibt er –, »denen es jetzt schon scheint, als ob der Historiograph wieder einmal imstande sei, ihnen die gewohnte Unlust zuzubereiten...« Hier ist ohne Zweifel das Gefühl der Lust oder Unlust in aestheticis angesprochen, doch der Historiograph weiß, dass just jene Begebenheiten, welche »das Glück oder Unglück der Völker verändern«, das »Eigenthum der Geschichte« sind, – der Geschichte, die Gatterer und seine Göttinger Mitstreiter zu dem Zeitpunkt, zu dem die Erzählung spielt, als die eine Weltgeschichte herzuleiten am Werke sind. Sie sind beileibe nicht allein: »Käme der Durchlauchtigste Herr und Herzog Ferdinand diesen Morgen auf meine Stube zu Amelungsborn, so fände er dorten seinen ganzen Feldzugsplan sauber auf den Tisch gemalet...«, dort nämlich, wo Knecht Schelze am Vorabend die Welthistorie aufgezeichnet sehen wollte. So redet Buchius, während er seinen vier Schützlingen voraus über das Schlachtfeld tappt. In diesem Zusammenhang versteht sich »die gewohnte Unlust« als der gemeine Bezug auf das empirische Substrat der Geschichte, in der es mehr aufs Unglück als aufs Glück der Individuen hinausläuft, gleichgültig, wie das Glück oder Unglück der Völker sich gestaltet.

Was also sucht ein Polyhistor und Weltweiser des achtzehnten Jahrhunderts (wenn wir die Sammler- und Winkelexistenz des Magisters versuchsweise dafür nehmen) auf einem Schlachtfeld? Die Frage verdient eine zweite Antwort: sehen wir zu.

 

3.

Die Fähigkeit, in einem geschlossenen Universum »eine offene Tür von einer geschlossenen« unterscheiden zu können – ein schlagenderes Bild für das, worauf es Raabes Erzähler ankommt, ist schwer vorstellbar. Das macht die Frage dringlich, um welche Art von geschlossenem Universum es sich dabei handelt. Hier muss einmal mehr der alt-neue Interpreten-Topos bedacht werden, es handle sich um ein mythisches Universum der Wiederkehr des Gleichen, in dem an gleicher Stelle das alte Unheil stets das neue Unheil gebiert. Das Universum, in dem sich der Magister Buchius mitsamt seinen Schützlingen fortbewegt, ist identisch mit der zwischen ererbter Heils- und aufgeklärter Profangeschichte oszillierenden einen Weltgeschichte. Wenn es in ihr, wie der Erzähler an einer Stelle anzumerken scheint, bloß auf den »Unterschied in der Zeitenfolge und im Kostüm« hinausläuft, der die erzählten Geschichten unterscheidbar macht, so ist diese Differenz nicht zu unterschlagen: an ihr expliziert das Erzählen, was es an sich hat.

Das Buch mit dem kuriosen Titel Der wunderbare Todesbote oder Schrift- und Vernunfftmäßige Untersuchung Was von den Leichen-Erscheinungen, Sarg-Zuklopfen, Hunde-Heulen, Eulen- und Leichhüner-Schreyen, Lichter-Sehen und andern Anzeigungen des Todes zu halten, das der Magister nach dem sichtbaren Zeichen der Rabenschlacht, dem Prodigium und Portentum, zu Rate zieht, gehört ersichtlich einem älteren, keineswegs aber aus dem Geist des Jahrhunderts fallenden Genre der Geschichtsschreibung an, der »Historie der Prophezeyungen«, über die Francis Bacon in seiner Untersuchung Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften ausführt, ihr Ziel sei die »Aufstellung einer gewißen Lehrart und Erfahrung in Erklärung der Prophezeyungen, die noch erfüllet werden sollen«. Diderot, im Prospekt der Enzyklopädie, fasst sich da kürzer: in der »Geschichte der Prophezeiungen«, so heißt es bei ihm, gehe »die Erzählung dem Ereignis voraus«. Das dürfte ganz die Art von Ironie sein, die das Buch einst dem Magister vindiziert hatte. Doch einmal angenommen, ein Erzähler erhebt den Anspruch, seinen Gegenstand – das Ereignis – ab ovo zu entwickeln und kein Glied der Kausalkette auszulassen, angenommen also, er verhält sich zu ihm wie der Historiker vom Schlag der Schlözer und Gatterer zur Weltgeschichte, so trifft der Scherz Diderots verblüffend genau die Relation eines solchen Erzählens zu dem Ereignis – jedem Ereignis –, das es sich erwählt. Mit dem ersten Wort der Erzählung steht die zu erzählende Geschichte im Raum – noch unenthüllt, doch das ist kein Mangel, eher ein Überfluss, da sie bereits begonnen hat und durch nichts mehr daran gehindert werden kann, vor dem inneren Auge des Lesers abzurollen, es sei denn, er klappt das Buch vor- und also unzeitig zu. Die Geschichte, heißt das, recht erzählt, folgt aus ihren Prämissen: nicht mehr und nicht weniger behaupten die Göttinger Historiker, die dieses Thema ihren Nachfolgern im 19. Jahrhundert, den Zeitgenossen Raabes, vermachen. Doch was folgt daraus für die Prämissen oder, mit dem Ausdruck des Chladenius, der in diesem Punkt vorsichtiger optiert als die Göttinger, ohne sich dem Sog der rationalistischen Systematik entziehen zu können, für die »Gelegenheit, daraus ein Anschlag, oder That erfolgt, die denn viele Folgen nach sich ziehet«, anderes, als dass sie das Kommende in sich enthält, um es aus sich zu entlassen?

In seiner ersten Phase also ist alles Erzählte Zeichen, Vorzeichen, Fingerzeig: vorausgesetzt, es steht unter dem Diktat einer durch das logische Grund-Folge-Verhältnis hinreichend strukturierten Kausalität. Die Entkräftung des Wunderbaren durch die aufgeklärte Erzählung rückt das Mirakel an den Beginn der Erzählung – als Zeichen des Kommenden, ohne das von einem Kommenden, das es zu erzählen gilt, nicht die Rede wäre. Das Prodigium der Rabenschlacht, heißt das, bedeutet nichts – außer dem immer anstehenden Unheil, es sei, welches es wolle, und der Möglichkeit, von ihm zu erzählen: mit dieser Auffassung hält es der Magister, den der Amtmann, befangen im Volksglauben, ein Zeichen wie dieses am Himmel müsse etwas Bestimmtes und also Vorausbestimmtes bedeuten, um nähere Auskunft angeht. Es ist der vom Himmel gestürzte Rabe, der, als Teil der Erscheinung, den Magister zeichnet, weil diesem das kreatürliches Mitgefühl verbietet, ihn seinem Schicksal zu überlassen (»daß auch er auf der Waagschale mitwiege...«). Es zeichnet ihn: mythologisch gesprochen als den Erwählten eines Schicksals, das nun seinen Lauf nimmt, erzähltechnisch als den, von dem zu erzählen sein wird, inmitten eines Geschehens, das als Geschichte im Sinne jener großen Zusammenstöße gedacht werden muss, in denen sich die Völker über ihr Glück und Unglück verständigen.

Für die Depotenzierung des Wunderbaren durch die Erzählung hält Raabes Parabel vom Erzählen das Motiv der Zähmung bereit: plausibel, weil das befremdliche Angerührtsein der Protagonisten durch etwas, das noch nicht ist, obwohl es bevorsteht (ein Angerührtsein, das die Spannung erzeugt, in der die Erzählung den Leser hält), sich im Gang der Handlung auflöst in das Bewusstsein der eigenen, sich schrittweise gestaltenden Welt. Wie sich am Ende erweist, ist die Verwandlung des Boten in den hüpfenden und krächzenden, zutraulich gewordenen Zellengenossen nur eine Domestikation auf Zeit. Die Zeit, die sich das Erzählen nimmt, ist die Zeit der Vertrautheit mit dem Unglück – und dem in ihm sich realisierenden Glück –, von dem das Zeichen kündet. Nichts macht dies deutlicher als die schleichende Übertragung der Attribute des Raben auf den Magister bis hin zu jener angst- und wutschnaubenden Rede, in welcher der Amtmann ihn als den wahren Unglücksraben des Hauses verweist. Dem Leser wird der Gezeichnete dadurch nicht fremder. Im Gegenteil: er ist es, der für eine Weile die Fremdheit der Welt als Inbegriff dessen, was geschieht, hinwegnimmt. Als eine innerlich unbeteiligte Mademoiselle Fegebanck, eingepfercht in die bergende Höhle unter dem Odfeld und den sexuellen Belästigungen ihres Ritters ausgesetzt, den Bann bricht, unter dem der Magister über seine Schulmeisterexistenz hinausgeschritten ist, da gelingt ihr das mit der ebenso unzarten wie sinnigen Bemerkung: »Ach, was habe ich von Seinem ewigen Sumsumkrahkrah und anderm Rabengekrächze?« Das allerdings ist die Frage. Die Antwort darauf kann nur lauten: nichts, außer dem, was ihr an diesem Ort und zu dieser Zeit so und nicht anders zustößt. Das Portentum ist das Protentum, das Hervorgehende, das in Zeit und Raum Ausgreifende, und die Differenz zwischen dem einen und dem anderen nichts anderes als ein verstellter Buchstabe.

Der Magister Noah Buchius geht aus seiner Geschichte keineswegs bedeutender oder auch nur bedeutend hervor, sondern im Wortsinn unbedeutend. Als der Ausgezeichnete des Beginns tritt er am Ende zurück in die unübersehbare Folge all derer, die ihre Geschichte gehabt haben, weil sie sich ihr nicht entziehen konnten. Dieses Ende will herbeigeführt sein. Das rückt den Erzähler ins Blickfeld: es fragt sich, was er, der den Ausfall der Mamsell kommentarlos passieren lässt, über den Horizont seines Protagonisten hinaus weiß. Fürs erste so manches: die behutsame Parallelführung der Buchius-Handlung mit den Vorgängen auf dem Feldherrnhügel des Herzogs Ferdinand zeigt ihn als den rückblickenden Historiker des Geschehens, den der Schulmeister allenfalls imaginiert. Doch dies alles wird hinreichend durch den Umstand erklärt, dass er später kommt. Sein Wissen entspricht dem des Magisters. Es ist von der gleichen Art, modifiziert allein durch die zeitliche Distanz. Sie beschert dem Nachgeborenen nicht nur ein Mehr an Wissen, sondern auch jenes Weniger, das er durch Recherche und Einbildungskraft ausgleichen muss – er ist nicht dabei gewesen. Die durch das Minderwissen des Erzählers erzeugte Aura umgibt auch die Kunstfigur des Magisters. Ohne sie käme die Erzählung überhaupt nicht in Gang, da erst durch sie die Neugier des Leser ihr Objekt erhält. Die Bemerkung der Mamsell Fegebanck bezeichnet die Erzählpassage, in der dieses auratische Mehr aufgebraucht ist und der Magister sich »plötzlich«, soll heißen: zum ersten Mal an diesem Tag, wieder »ganz als Schulmeister« seinen Schützlingen präsentiert. Der Erzähler, unbeschadet der Tatsache, dass er noch die eine oder andere Episode in petto hat – und mit ihm der Leser – weiß, was fortan von seinem Helden noch zu erwarten ist. Es geht darum, die Geschichte zu einem passenden Abschluss zu bringen.

Auch darin ist die Höhlenepisode bemerkenswert, dass durch sie die Zeitdifferenz, die den Erzähler vom Erzählten trennt, auf höchst verschlungene Weise in das Erzählte eintritt. Während sich über den Köpfen der fürs erste Geborgenen die Weltgeschichte im Schlachtgetümmel fortwälzt, besteht ihre Aufgabe darin, sich die Zeit zu vertreiben. Das Überleben, so scheint es, hängt davon ab, ob es – partiell – gelingt, am mörderischen Geschehen nicht teilzunehmen. Der Überlebende – oder zum Überleben, wie der Magister, Entschlossene – und der Nachgeborene sitzen in ihrer Kenntnis des Geschehens im selben Boot: ihre nur bedingte, im entscheidenden Augenblick dezidierte Nicht-Teilnahme, Voraussetzung jeder historischen Erzählung, setzt ins Herz der Geschichte, gleichsam als das Höhlen-Geheimnis ihrer Kausalität, das Vergehen der Zeit – für die Protagonisten Zeit, sich Geschichten zu erzählen, nicht irgendwelche, sondern solche, in denen das Wunderbare und Merkwürdige seine natürliche Auflösung findet, Geschichten also, wie die Geschichte sie fordert.

Das Ende: wieder daheim in der Zelle, einer wie die anderen auch, nachdem er eine Weile ein anderer hat sein dürfen, jetzt – endlich – graut auch dem Magister vor dem Raben, der ihn zutraulich am Rock zupft, so dass er ihn, halb wider Willen, durchs offene Fenster entfliegen lässt. Das Mitgefühl mit dem Nebenwesen, Triebfeder eines großen Tages, ist für diesmal erschöpft, aufgebraucht durch den Einbruch des monströsen Kriegsgeschehens in die eigene Studierstube. Die Kreatur aber hat Hunger – noch immer oder schon wieder, wer wagt das zu entscheiden.

 

 

Notizen für den schweigenden Leser

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