1.

 

Goethe, auf dem Totenbett sein »von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus« murmelnd, wäre keine komische, sondern eine melancholische Figur. Nebenbei hätte er damit eine Bemerkung kommentiert, die in den Archivtexten der Wanderjahre zu lesen steht: »Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankrott.« Der Bankrott einer Epoche ist bekanntlich die Geburtsstunde einer neuen.

Nein, er war kein moderner Autor, dieser alte, beinahe zu alte Mann, dessen bis zum Abwinken spannungslose Bücher jeden Ramschtisch geziert hätten, wenn es dergleichen für Bücher damals gegeben hätte. Der Scherz, den er sich in den Wanderjahren erlaubte, an die Stelle des ruhigen, ›behutsamen‹, dabei zügig voranschreitenden und seinen Gegenstand ›entwickelnden‹ Erzählens, das er in den Roman eingeführt hatte, das »Geschlinge« zu setzen, die scheherazadehafte Reihung, das ostentative Desinteresse am linearen Erzählen, konnte und sollte nicht gut bei Zeitgenossen ankommen, deren Ideen ihm zuwider waren und die sie prompt bei ihm vermissten. Diese Ideen wären vielleicht vergessen worden, hätten sie nicht ›Geschichte gemacht‹ und sich so den Anspruch erworben, in ihrer Epoche studiert zu werden. Der Romancier hingegen macht keine Geschichte, er macht Geschichten, wie die des alten Mannes beweist, der, ohne einen Fuß außer Landes zu setzen, zum Emigranten wird und damit die nachmals berühmte Figur des inneren Exils in die Luft zeichnet – wo sie noch heute steht, allem Hohn zum Trotz, als Merkzeichen der ›Persönlichkeit‹, die gewiss bessere Tage gesehen hat, aber vielleicht keine aufgeklärteren.

Die Aufklärung kommt, wie man weiß, immer von außen, selten in Form von Lektüre, jedenfalls nicht allein, gleichwohl: kundig machen muss man sich schon. Das wird sich Scheherazades nicht gut beleumundeter Ehemann auch gedacht haben, der sich in den Konsequenzen der Einsicht so furchtbar verirrte, dass Morgen- wie Abendland ihm die mächtigste Sammlung von Geschichten verdankt, die je der sogenannten Phantasie der Romanschreiber aufgeholfen hat und die vielleicht noch immer eine verschwiegene Grundlage ihres Berufsmenschentums darstellt. (War es wirklich die Treulosigkeit der Frauen, die ihn bewegte?)

Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.

Ob Zöllner oder König, das tut nichts zur Sache, es handelt sich um den Zeitgenossen, und so wie beide die Weltordnung repräsentieren, indem sie sie zerreißen gleich einem Wisch, der nicht mehr gilt, tritt der Zeitgenosse, der sich in den Wanderjahren partout nicht erkennen konnte, in diesem Spiegel als eine stumme Gestalt zutage, die das Erzählen in Gang hält, weil sonst ohnehin nur geköpft würde oder die Bestialität ihren Fortgang nähme, in welcher Form und mit welchen Mitteln auch immer. Scheherazades Gatte ist der Mensch in der Revolte, darin vergleichbar irgendeinem Manager oder Bildungspolitiker, der bei Erwähnung des Wortes scheu hinter sich blickt oder lachend von Weltverbesserern faselt. Die ›moralische Weltordnung‹, diese in der Frühaufklärung beliebte und vom Weimaraner zum ganz privaten Gebrauch gegen das revolutionäre Köpfeabschneiden reaktivierte Denkfigur, gegen den Geist der Revolte gesetzt, soll nicht negiert werden können, es sei denn in Form eines Widerspruchs in sich: als (irgendeine?) Ordnung zwischen den Menschen, ohne weitere Zusätze als die der Stabilität in den Köpfen und der Tendenz, sich in und gegebenenfalls gegen die Individuen selbst herzustellen. Die gedachte Art, der waltenden Gerechtigkeit zuzuarbeiten, mag Goethe in Scheharazedes Vorgehen am Werk gesehen haben. Eine partikulare Erfahrung – sei sie auch maximal verbreitet wie Untreue oder Gewalt – erlaubt nicht den Blick auf das Ganze der menschlichen Angelegenheiten und bietet keine (oder nur eine verdrehte) Handhabe, sie zu verändern: ein Satz, so banal wie umkämpft, jedenfalls irgendwie zukunftsweisend, ein leerer Zeiger, der gleichermaßen auf die Karlsbader Beschlüsse wie die postrevolutionären Erfahrungen der Menschewiki zielen kann – auf das nicht aufhörende, Leben rettende Erzählen der orientalischen Märchenerzählerin ohnehin.

Das wäre, ohne dass das Wort fallen müsste, Kultur: die starke Überzeugung, dass nur das volle Beziehungsgeflecht zwischen den Gliedern der Gesellschaft (und der Menschheit) hinreichend über die menschlichen Motive und die Weisen, sie zu verwirklichen, Auskunft zu geben vermag. Man kennt die Welt erst, wenn man die Geschichten kennt, die, wie jedermann weiß, zahllos sind oder scheinen, solange man nicht auf die Familienähnlichkeiten zwischen ihnen aufmerksam wird, welche es nicht nur erlauben, sie zu sortieren – eine alles in allem eher barbarische Weise, sich anzunähern –, sondern auch, ihnen auf den Geschmack zu kommen. Goethe, an dergleichen Forschungen höchst interessiert, bedient sich dieser Form des Erzählens erstmals in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Die Plaudereien unter Revolutionsflüchtlingen liefern auch gleich politische Hintergründe. Man kommt der Lektion Scheherazades näher, wenn man die zweite Hälfte des Romantitels in Augenschein nimmt: Wilhelm Meisters Wanderjahre, oder die Entsagenden. Das Konzept der moralischen Weltordung spielt in Goethes Schriften vor 1789 keine besondere Rolle, es wird getragen vom Einspruch gegen die Große Revolution. Die religiöse Haltung, die es vorschlägt, verbindet es eng mit seinen orientalischen Studien und der Deutung des Islam. Mag sein, dass die Eingangserzählung von Tausendundeine Nacht in dieser Perspektive ein vorzügliches Beispiel für das liefert, was hier ›Entsagung‹ bedeutet: die Geschichte einer Person, die ein Leben in Sicherheit darangibt, um zu tun, was getan werden muss, damit die Weltordnung keinen Schaden nimmt.

Natürlich unterliegt das Geschichtenerzählen, als eine Weise, einem chaotischen und nichtlinearen historischen Raum so etwas wie eine stabile Wirklichkeit abzugewinnen, gewissen Bedingungen. Eine davon erfahren wir aus dem Mund einer Figur aus den Unterhaltungen, der Baronesse, wenn sie auf einer »vernünftigen« Erzählfolge besteht, wie sie sich für eine gebildete Gesellschaft zieme: »Die Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frei, aber lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, dass wir in guter Gesellschaft sind.« Eine seelenstarke Bemerkung angesichts des Umstands, dass zur gleichen Zeit draußen, jenseits der Grenze, die Güter der benachbarten Adelsfamilien vernünftiger- oder unvernünftigerweise in Flammen aufgehen. Gefahr für Leib und Gut hebt die Regeln der guten Gesellschaft nicht auf. Das sollte einen zweiten Aspekt nicht verdecken: das »nach Weise der Tausendundeinen Nacht« über Gebühr gespannte Erzählen wird selbst virtualiter zu einer feindlichen Macht; es spiegelt die reale Situation. Andererseits kann man es nicht einfach lassen, ohne die Situation, wie sie ist, ausdrücklich zu reflektieren: ein logisch-pragmatischer Zirkel, den nur das Erzählen selbst, solange es die Widerstrebenden in seinen Bann zieht, aufheben kann. Scheherazade wahrt das Geheimnis ihres Erzählens ebenso wie das Geheimnis, das außerhalb liegt und nicht benannt werden darf. Das erinnert an Wilhelm Raabes furiose Erzählung Das Odfeld, wo die Protagonisten sich in einem Erdloch Geschichten erzählen, während über ihren Köpfen die Schlacht tobt – eine gegen die akademische Geschichtsschreibung gerichtete Parabel, die mit dem sicheren Stand zwischen oder über den Parteien oder, noch komfortabler, auf der Seite der Sieger hadert. Es gibt nur eine legitime Weise, zu erzählen, was ist (oder war). Jene minimale und vielleicht illusionäre Sicherheit, die die Zeit des Erzählens denen gewährt, die in Gefahr sind, erlaubt weder eine vernünftige Abfolge noch die ordentliche Trennung der erzählten Geschichten. Die Geschichten gehen, als differente, ineinander über, weil das Erzählen sonst ins Stocken geriete.

An dieser Stelle kommt dann auch die Moderne ins Spiel – man kann die Vorstellung von Kultur als ›verwobene Geschichten‹, wie sie in den ersten Dekaden des neunzehnten Jahrhunderts gegen den allgemeinen Trend entsteht, als korrespondierende Antwort an die Moderne auffassen. Sie impliziert eine Kritik an der modernen Welt, kennt aber keine Strategie, die dazu taugen könnte, über sie hinaus zu gelangen oder sie zu ›überwinden‹, wie es in einem anderen Denkmilieu bald heißen wird. Ein eigensinniger Weggenosse der Moderne, handelt sie von und mit dem Riss in der Welt, der moderne und vormoderne Gesellschaften voneinander trennt und, je nach Blickwinkel, unter die realen Produkte wie unter die mentalen Voraussetzungen des Kolonialismus gezählt werden darf: es sind die Kolonisierten, einschließlich der aus vormodernen Quellen wie Status, Religion, Kunst, regionalen oder Stammestraditionen sich verständigenden Angehörigen der als modern begriffenen Nationen, die in den Geschichten vorkommen, die aus ihnen hervorkommen und sichtbar werden, vorausgesetzt, man verwechselt sie nicht mit den monumentalen und ›realistischen‹ Erzählungen, in denen die Funktionalität des modernen Lebens beschrieben wird und in denen man die Vorgänger der akademischen Soziologie ahnt. Noch im späten zwanzigsten Jahrhundert glaubte Henry Kissinger die Differenz zwischen dem Westen und der übrigen Welt – also der modernen und der nicht-modernen Welt – durch die Formel charakterisieren zu können, im Westen sei die reale Welt mit der äußeren Welt identisch, während die anderen sie fast ausschließlich mit der inneren Welt identifizierten. Das mag als pure Arroganz durchgehen oder als Ausdruck eines Späthegelianismus, dem seine begrifflichen Grundlagen abhanden gekommen sind, aber es belegt drastisch die Einklammerung dessen, wovon die ›verwobenen Geschichten‹ handeln, durch das, was man den herrschenden Diskurs genannt hat und was man genauer als die Gedankenlosigkeit des kurrenten Denkens bezeichnen könnte. Um aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zu zitieren: »Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe.«

Die Rede von der Moderne handelt von der Differenz zwischen modernen und nicht-modernen Gesellschaften. Unter Auguren gilt diese Differenz gleichermaßen als relativ und absolut, was die sogenannten ›Schwellenländer‹ beweisen sollen; sie erlaubt jede Art von Annäherungen und Überschreitungen, ohne zu verschwinden, es sei denn durch förmliche Aufnahme in den Club der Modernen – eine seltene, im übrigen zweifelhafte Auszeichnung, die unter den nicht-westlichen Ländern bislang nur Japan erfahren hat, während unter den westlichen die Türkei bislang vergebens darum ringt. Die Differenz ist der Riss, der durch die Wahrnehmung derer geht, die auf dieser Seite der Menschheit stehen oder zu stehen meinen, und es gibt nicht wenige, die bestreiten, dass es die Spaltung und so etwas wie eine moderne Menschheit überhaupt gibt. Daran bleibt mancherlei zu klären, aber es wirkt plausibler als die üblichen Versuche, den Funktionalismus oder eine irreduzible Pluralität von Modernen oder eine ›klassische Moderne‹, die irgendwann zwischen 1700 und 1850 beginnt und wahlweise 1917, 1940 oder 1962 endet, zum Kern der Sache zu machen. Die bloße Idee eines Sprungs, eines absoluten Übergangs, der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften teilt, scheint dagegen gleichermaßen verbreitet, allgemein, abstrakt und funktional, so dass es keine Schwierigkeit bereitet, sie zu bemühen, gleich ob man die Industrielle Revolution, die Gedichte Mallarmés, den Holocaust, die Anfänge der Raumfahrt oder den menschlichen Beitrag zur globalen Erwärmung bespricht. Diese beliebig verschiebbare Teilung ist zu einer zentralen Figur der Sozial- und Kulturwissenschaften geworden – um von der Philosophie, den Umweltwissenschaften und dem Journalismus zu schweigen.

Man könnte natürlich... Nein, man könnte nicht. Dennoch ließe sich die etwas naive, aber beliebte Frage nach den Tätern stellen. Wer mag wohl den Zusammenhang der vormodernen Welt zerstört haben? Einer, der so fragt, macht sich selbstredend des Rückfalls in eine vormoderne, geradezu archaische Weise des Denkens verdächtig – der Suche nach Schuldigen oder Sündenböcken, wo es doch, wie alle Welt weiß, nur um Gründe, um causae gehen kann. Wer, um ein unverdächtiges Beispiel zu nennen, entwarf die protestantische Ethik, nach Weber die Grundlage kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung? Auch Diskurse werden entworfen – was denn sonst? Manch einer mag sich, wie Nietzsche, als Anstifter selbst zur Verfügung stellen – »Es ist möglich, dass ich für alle kommenden Geschlechter ein Verhängnis, das Verhängnis bin« –, doch Opfer aus pathologischer Eigenliebe werden gemeinhin nicht angenommen. Ein Märchenkönig hingegen, der entschlossen die Grenzen der moralischen Weltordnung überschreitet, um maximalen Schutz zu gewinnen, erscheint als der ideale Sündenbock, als Symbol einer aus den Fugen geratenen Welt. Aber was genau ist eine aus den Fugen geratene Welt? Es ist, wie wir aus den Gründungstexten erfahren, der Mensch. Den Handelnden mag das bewusst sein oder auch nicht – dies wäre also eine erste ›Differenz‹. Die zweite findet sich bei Scheherazade: sofern das Wissen nicht in sich different wird, erzeugt es Ungeheuer, denen vergleichbar, die dem Betrachter aus Goyas Capricho 43 entgegenblicken, wo sich Eule und Luchs, klassische Repräsentanten der wachen Vernunft, mit den Figuren des Albtraums verbinden (und verbünden). El sueño de la razón verweist, wie Philosophen gern versichern, auf grundlegende Ambivalenzen der Vernunft – genauer gesagt, ihres Mythos. Die erwachende Vernunft muss – und wird – den Mythos des Erwachens selbst zerstreuen, der die Menschheit in zwei Hälften teilt: eine, die Bescheid weiß und sich gegenüber dem Rest wie Sharyar jedes Recht auf Selbst- und Weltbehauptung herausnimmt, und eine, deren klügere Repräsentanten den Riss weder wahrhaben noch hinnehmen wollen und stattdessen auf der anderen Seite eine moralische Krankheit am Werk sehen, die geheilt werden muss. Sub specie des Gedankens der Moderne könnte man also Tausendundeine Nacht als Plädoyer für das Konzept der einen Menschheit lesen.

Um von der Moderne zu erzählen, ist es nicht nötig, ihre Geschichte zu erzählen. Vielleicht wäre es gar nicht möglich angesichts der Pluralität der ›Konzepte‹, die anders in ihre Darstellung eingreifen als in die der Epoche der Religionskriege oder des Alexanderzugs. Die Figur des Seiltänzers in Nietzsches Zarathustra lässt sich als Zeichen der ausbleibenden Erzählung lesen. Seine Manöver, die täglich erneuerte Herausforderung, das stets und jeweils anders aufs Ganze geschärfte Bewusstsein der Gefahr, die überwunden werden muss, um ein weiteres Mal angegangen zu werden – all das ist ebenso modern wie fern allem Erzähltwerden. Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, das freihändig zwischen Nietzsche und Tausendundeine Nacht balanciert, gehört bereits zur Literatur der ›Bewusstmachung‹, die solchen unerhörten, nicht enden könnenden und auf keine Weise begrenzbaren Gefahren ›Ausdruck verleiht‹. Sein Erzählen ist ein Geschehenlassen, das Erregenwollen einer Bewegung im Leser, der sich unvermittelt auf dem schmalen Steg zwischen Vergangenheit und Zukunft weiß und die Qual des Abgrunds und der gefühlten Unmöglichkeit, die rettende, immer jenseitige Pforte zu erreichen, so gründlich in sich produziert, dass das plötzliche Hinübersein des Helden einen schalen Geschmack hervorruft. Der Leser mag in diesen Lektüre-Momenten empfinden, was Nietzsche-Zarathustra gepriesen hatte: »Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.« Auch das ›Hinübersein‹ des Helden ändert daran nichts. Zwar erreicht er die andere Seite, doch nur, um dort – den Tod zu finden. Mit Nietzsche: »Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.«

Aber Hofmannsthal erfindet Komplikationen. Auf dem Sterbelager wird dem jungen Mann der Erzählung bewusst, dass er nie gelebt hat. Wie das? Verführt hat ihn die Idee der Reinheit – die Reduktion des Lebens auf das Notwendige und Schöne. Manche, die hier das Lebensproblem des frühen Hofmannsthal fanden, haben sich in der Erzählung getäuscht. Wenn einer unter die Hufe fällt und sterben muss, dann ist das gerade so, als werde an ihm ein Sprichwort exekutiert – Grund genug, darüber in Zorn zu geraten. Der verfrühte Tod, die Wallung ergeben eine Weise, die zwei Glieder der Lektion Zarathustras zu erfüllen: den Willen zum Leben und die Bereitschaft zum Untergang. Eigen bleibt die Einsicht des Sterbenden, dass jeder der Impulse, die ihn in den Untergang führten, in sein kleines und feines Leben zurückweist, dass also die vier Personen, die er an sich herangelassen hat und die zusammen mit ihm das Pentagramm der Lebensbeziehungen bilden, vollständig ausreichten, um ihn in die Falle zu locken. In die Falle.

Das erinnert an andere Geschichten der Moderne, etwa Borges’ Der Tod und der Kompass. Der Reinigungsprozess lässt sich unschwer als maßloser Versuch begreifen, sich zu schützen und in diesem geschützten Raum einer Folge von Maßnahmen zu unterwerfen, die man vielleicht in loser Anlehnung an Poppers Terminus des social engineering als self engineering bezeichnen könnte, als experimentelle Einstellung gegenüber dem Leben: Was für mich nützlich oder befriedigend ist, wird von mir mittels Versuch und Irrtum bestimmt und nicht im Vertrauen auf eine in Traditionen und Ritualen versammelte und gestaltete Menschheitserfahrung. ›Den Abgrund überqueren‹ bedeutet hier das Vermeiden aller persönlichen – auch intellektuellen – Risiken durch Berechnung. Offenkundig gibt es dabei einen point of no return.

 

2.

Maximalismus, besagt eine der Paradoxien sozialen Handelns, ist der sicherste Weg, das angestrebte Ziel zu verfehlen, der zweitsicherste hingegen blindes Vertrauen in die verbalen Versicherungen der Mitakteure. Wer die Gefahren verringern will, die im gesellschaftlichen Leben lauern, tut gut daran, die Interessen der Umgebung in seine Planungen einzubeziehen. Das ist leichter gesagt als getan. Wenn es erst gute Gründe gibt, den Maximalismus der Gegenseite zu fürchten – Leistungsträger in Doping-Sportarten kennen das gut –, wird die Versuchung des eigenen Maximalismus übermächtig. Manchmal gelingt es, dem sogenannten Gefangenendilemma durch ›konkrete Abmachungen‹, Solidarisierungen etc. zu entkommen, wobei die Frage bleibt, ob man Abmachungen vertrauen kann, wenn es keine Sanktionen für den Fall gibt, dass sich eine Seite nicht an sie hält. Sharyar, der betrogene und gegen die Frauen wütende König aus Tausendundeine Nacht, repräsentiert dieses Dilemma. Kein Eid kann denjenigen beschwichtigen, der einen Eidbruch zu verarbeiten hat. Im entgegengesetzten Fall befindet sich der junge Kaufmannssohn aus Hofmannsthals Märchen. Die vier Personen, von denen er abhängig bleibt, betrügen ihn nicht, sie sind so loyal, dass sie zwischen ihm und dem Leben einen cordon sanitaire bilden: sie leben ihr Leben, indem sie seines verhindern. Das Dilemma entsteht, wenn man das so sagen kann, aus der vollständigen sozialen Bettung einer Person. Ihr eigensüchtiges Empfinden und Handeln hält die Gruppe zusammen, in der alle anderen im Verzicht auf eigene Ziele ihr Auskommen finden. Georges Algabal wäre eine ähnlich konstruierte Figur.

Unschwer lassen sich diese und ähnliche Varianten des Dilemmas unter dem Begriff des ›Beziehungsdilemmas‹ zusammenfassen. Reduziert man alle menschlichen Bindungen auf den Formalismus der ›Beziehung‹, die rituellen Lebensbezüge entschlossen beiseitesetzt oder durchgehend funktionalistisch deutet, dann ›geschieht‹ ohne Zweifel etwas, man erreicht vielleicht ein wenig mehr ›Beherrschbarkeit‹ in seinen Angelegenheiten, aber man erzeugt fundamentale Unsicherheiten im eigenen Weltverhältnis, die auf keine Weise mehr ›in den Griff‹ zu bekommen sind. Mit einem Wort, man gerät in eine Verfassung, die sich von der König Sharyars nicht sonderlich unterscheidet. Seine Heiraten sind ein Formalismus, in Wahrheit ist er mit der Sache durch, wie man sagt. Entsprechend bedarf es der Anstrengungen vieler Nächte, ihn wieder zum Menschen zu machen. Die Ähnlichkeit mit der Attitüde Nietzsches, der die künftigen Täuschungen der Menschheit zu denen der Gegenwart addiert und ihre permanente Überschreitung verlangt, ist nicht zu übersehen. Aber Nietzsche nimmt auch die Überschreitung dieser Art von Überschreitung in den Blick, wenn er die Welt als nur ästhetisch gerechtfertigt bezeichnet – was Nietzscheaner wie Hofmannsthal früh bewogen hat, den ästhetischen Blick auf nichtmoderne Gesellschaften zu lenken.

Mit dem Beziehungsdilemma im Kopf liest sich die Eingangsgeschichte von Tausendundeine Nacht wie eine Parabel über die Vergeblichkeit der Moderne. Hofmannsthal hat diesen ›Stoff‹ mehrfach gestaltet, am nachdrücklichsten vielleicht in der Frau ohne Schatten. Man kann die Erzählung – die hier der Oper gegenüber den Vorteil größerer Klarheit besitzt – als eine Studie über die Fähigkeit moderner Gesellschaften verstehen, den selbstischen Horizont zu überschreiten, innerhalb dessen der ›Rest‹ in eine immerfort gleichermaßen verwirklichte und aufgeschobene Zukunft entgleitet. Die Ehe zwischen Kaiser und Fee ist offensichtlich in eine Wiederholungsschleife geraten, mit einem unbedarften Kaiser, der ahnungslos Gefahr läuft zu versteinern, und einer zunächst unwissenden, dann ›informierten‹, aber deshalb nicht weniger in der Ich-Täuschung befangenen Kaiserin, die, um ihre Beziehung zu retten, sich aufmacht, um einer Menschen-, einer Färbersfrau den lebenspendenden ›Schatten‹ abzuhandeln, den ihr die Ehe bisher verweigert hat. Währenddessen jagt der Kaiser zwanghaft den Falken, der ihm das wundersame Wild – die künftige Gattin – vormals erbeuten half und dann verschwand: glorreiche Zeiten! Und eine leicht zu enträtselnde Ich-Symbolik. Schwieriger wird es, wenn der Kaiser im unterirdischen Palast die ungeborenen Kinder findet, die ihn gastfrei bewirten und den Wunsch aufkommen lassen, sie zu besitzen, und er dann erfährt, dass seine Art der Besitzergreifung vielleicht nicht der richtige Weg ist, an Kinder zu kommen. Er versteht nicht, was ihm die Ungeborenen sagen, er kann es nicht und er versteht auch nicht die Symbolik ihres Tuns. Nicht anders ergeht es dem Leser, der in ähnlichen Täuschungen wie der Kaiser verfangen ist. Die Existenz der Ungeborenen bleibt ein Geheimnis und manche ihrer Sprüche erinnern entfernt an das Rätsel der Sphinx.

Kaiser und Leser befinden sich innerhalb der Zelle, die das Gefangenendilemma beschreibt. Anders die ungeborenen Kinder, die gleichsam als Spiegelungen eines Außen an der Zellenwand erscheinen. In ihnen ›zeigt sich‹, vorsichtig gesprochen, so etwas wie die Kontinuität menschlichen Lebens jenseits der Grenzen der eigenen Generation wie im ›verlangenden‹ Individuum selbst. Darin liegt eine unkonventionelle Deutung des Dilemmas: nicht alle Aspekte menschlichen Lebens, die gemeinhin durch Rituale repräsentiert und geformt werden – darunter das Heiraten und Kinderkriegen – lassen sich erfolgreich im Medium eines Denkens rekonstruieren, in dem der Akteur dauerhaft damit befasst ist, Chancen und Risiken zu kalkulieren und zu optimieren. Das Gefangenendilemma ist ein Dilemma von und für Gefangene – was diejenigen immer wussten, die sich auf die Seite des riskanten, gefährlichen Lebens schlagen und sich dort sicherer fühlen. Zum Beispiel Scheherazade: das Mittel, das sie wählt, um den Gatten auf den rituellen Lebenspfad zurückzubringen, ist kein bloßer Trick, sondern – im Sinn von Nietzsche-Hofmannsthals Brückenmetapher – die Re-Implementierung des persönlichen Risikos. In Wahrheit hat auch der König die Welt der Rituale nicht dadurch verlassen, dass er der Welt ein neues, blutiges Ritual schenkte. Was er allerdings erreicht hat, ist die ungleiche – und ungute – Verteilung des Risikos, wie sie den Beginn von Scheherazades Mission charakterisiert: allein sie begibt sich in Gefahr, als sie sich auf ihre Aufgabe, das heißt ihn, ›einlässt‹. Am Ende der Geschichte sind beide im geteilten Risiko des Ehe-Alltags vereint – so jedenfalls sieht es die Anlage ihrer Geschichte vor und der Leser darf es sich denken. Niemand weiß – oder sieht –, wann und wie sich die Risikoverteilung ändert, was einleuchtet, da es, nach Goethes Ausdruck, das Inkalkulable ist. Am entgegengesetzten Ende der Skala beginnt die Lektion für Hofmannsthals Kaiserin: ›wie in einem Spiegel‹ sieht sie ihr Dilemma in dem der Färbersfrau, die bereit wäre, ihren Schatten zu verkaufen. Den Kommentar dazu liefern Hofmannsthals Anmerkungen: »Sie will schön bleiben.«

 

3.

Die offene Gesellschaft, dieses welthistorische Gebilde von großer Anziehungskraft, ist, wenn wir Popper glauben sollen, nur eine – im Gegensatz zu den vielen geschlossenen oder ›im Übergang‹ befindlichen Gesellschaften, die von ihr herausgefordert werden. Geschrieben wurde The Open Society and Its Enemies im Zweiten Weltkrieg, die These schmeckt kriegerisch und das späte Vorwort an die osteuropäischen Leser nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems lässt keinen Zweifel daran, wann dieser Krieg nicht zu Ende gegangen ist, falls von einem Ende überhaupt die Rede sein darf. Im Grunde also eine one-nation-These – die Nation der Zukunft ist offen für neue Mitglieder und Ideen, immer vorausgesetzt, sie stellen nicht den kritischen Rationalismus selbst in Frage. Umberto Eco, von dem hier ebenfalls die Rede sein muss, hatte in den Sechzigern die grandiose Idee, die Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften, zwischen offenen und geschlossenen Systemen (die den Horizont des social engineering in Richtung auf alle möglichen philosophisch-wissenschaftlichen Anwendungen überschreitet), auf die Kunst zu übertragen und zwischen offenen und geschlossenen Kunstwerken eine Wahrnehmungsdifferenz zu setzen, die buchstäblich unhintergehbar genannt werden muss, vielleicht vor allem deshalb, weil der Kunst das heuchlerische Element fehlt, das alle Politik hintergehbar macht. Vielleicht liegt da bereits einer der Gründe, aus denen beide Offenheiten in aller Offenheit auseinander driften. Während die eine im internationalen Raum zu copy-and-paste-Konzeptionen führt, zu nation building und der versuchten en-bloc-Übertragung von Rechtssystemen, kommentiert die andere Erzählungen wie Jorge Luis Borges’ Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ein subtiles Spiel mit der Zeit, die alle Zeiten, die historische wie die imaginäre, in sich begreift und mit der metaphysischen Annahme Ernst macht, dass alles, was möglich ist, auch wirklich ist. Selbstverständlich zählt Borges zu den Bewunderern von Tausendundeine Nacht und er belässt es nicht beim Bewundern. Die Erzählfigur, der über der Lektüre eines chinesischen Romans aufgeht, dass die sogenannte Geschichte mitsamt ihren gemeinhin als ›Realität‹ bezeichneten Resultaten um die Folgen aller möglich gewesenen, das heißt denkbaren Entscheidungen aller jemals Handelnden ergänzt werden muss, postuliert eine nichtlineare Geschichtswelt und gibt damit auch eine Antwort auf das Gefangenendilemma: Entscheide dich, wie du willst, aber bedenke, dass du dich auch immer anders entscheidest und dir in einem anderen Strang der Geschichte das widerfährt, was du durch deine Entscheidung zu verhindern gedenkst und in diesem Strang vielleicht wirklich verhinderst. Die Lösung des Problems, dass einer nie genug Informationen besitzt, um rational handeln zu können, läge somit in der Entdeckung seiner Irrelevanz. Triumph des Konjunktivs: Was wäre das Denken einer fiktiven Figur, die von der Erzählung hervorgebracht und verschlungen wird, welche ihrerseits eine Deutung eines fiktiven Romans darstellt, der nur im Raum der Erzählung existiert und vom Leser gedacht werden muss, um zu begreifen, wovon in der Erzählung die Rede ist? Ein Denken, kein Zweifel. Es genügt, die Parallelwelten des Wirklichen und des Möglichen, statt sie berührungsfrei nebeneinander zu stellen, einander durchdringen zu lassen, um das Gefangenendilemma zu enttarnen: als Ausdruck einer bornierten Person – und Gesellschaft –, die ohne einen angemessenen Weltbegriff vor sich hinstrebt. Der reine Akteur, so ein denkbarer Sinn des Erzählexperiments, ist ein bloßes Konstrukt, das die Sphäre der Entscheidungen mit Gestalten des Irrsinns bevölkert.

Zurück zu Hofmannsthal und der Frau ohne Schatten: keine Aufführung der Oper kann ganz verhindern, dass der Zuschauer und -hörer Blicke in solche einander durchdringenden Parallelwelten wirft. In der Feenwelt ist die Kaiserin, komme, was wolle, ihres Vaters Kind; die menschliche Kleinigkeit, dass ein Kaiser – was ist das? – sie liebt, reicht keineswegs hin, um diese Autorität zu brechen. Die Folge lässt sich besichtigen. Die Kaiserin bleibt Frau und Kind in einer Person – keine Lolita, eher eine Frau, die unentwegt mit sich selbst schwanger geht. Sie liebt das Kind, das sie künftig sein wird und nach dem es sie ebenso vage wie unwiderstehlich verlangt. Als getreuer Ausdruck dieser räuberischen Selbstliebe figuriert ihre Liebe zum Kaiser, die sie bewegt, die Idee des Schattenkaufs gutzuheißen – ein Einfall, nicht weniger absurd als der des Kaisers, die ungeborenen Kinder, denen er im Gebirge begegnet, kurzerhand ordern zu wollen. Zurechtgerückt wird sie durch die Parallelgeschichte der Färbersfrau, die in einem anderen sozialen und intellektuellen Milieu ihre eigene spiegelt. Mit Borges gesprochen: sie selbst ist die Frau des Färbers und alle Täuschung, die das eigene Glück befördern soll, bloß Selbsttäuschung.

Das Mittel in Tausendundeine Nacht, einem schweigsamen König den verlorenen Horizont menschlichen Handelns zurückzubringen, ist die sprichwörtlich gewordene Erzählweise, die immer neue Geschichten in der Geschichte öffnet – ad usque infinitum. Anders der Garten der Pfade, die sich verzweigen, in dem diese – mancher würde sagen schlechte – Unendlichkeit explizit zurückgewiesen wird. Die Figur, aus deren Mund der Leser von Borges’ Zeitspekulation erfährt, behauptet, in einem Anfall von Zerstreutheit beginne der Erzähler von Tausendundeine Nacht ungefähr in der Mitte die Erzählung der ersten Nacht ein zweites Mal – mit fatalen Folgen für die Erzählung, wie sich leicht vorstellen lässt, und offenbar ein vernichtender Hinweis auf Nietzsches These von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, jedenfalls dann, wenn man weiß, wer da spekuliert. Denn Borges erzählt eine haarsträubende Geschichte, deren Nacherzählung unweigerlich eines seiner obligaten Labyrinthe herbeizaubert. In ihr begegnen sich, man schreibt das Jahr 1916, ein deutscher Spion chinesischer Herkunft und ein britischer Gentleman, der Spion weiß sich enttarnt und sinnt auf ein unkonventionelles Mittel, eine letzte Botschaft nach Berlin abzusetzen, der Engländer glaubt, das Geheimnis eines chinesischen Romans entdeckt zu haben, er weiß vielleicht, dass der andere ihn töten wird, vielleicht auch nicht. Jedenfalls besteht er darauf, seinem Mörder die Entdeckung mitzuteilen, der gleichzeitig Erzähler ist und sie, in Erwartung der eigenen Hinrichtung, an den Leser weiterreicht. Das alles sind natürlich Hinweise auf die Erzählsituation und das Thema der Erzählung: sie handelt, alles in allem, von der Zeit, die einer hat (man möchte versucht sein zu sagen: ob er will oder nicht) und dem Nichtgebrauch im Gebrauch, den er von ihr macht. Offenbar hat der Gentleman recht in mehr als einem Sinne: die Spekulation über die Zeit, die er einem Besucher vorträgt, der sie ihm, so oder so, verkürzt, erlaubt keinerlei amor fati, weil ihr zufolge niemand eine Entscheidung fällen kann, ohne alle anderen zu fällen und ihre Konsequenzen in einer wirklichen Welt zu leben, die durch all diese Folgen und deren Afterfolgen geformt wird. In einer solchen Welt ergibt die Idee der Ewigen Wiederkehr keinen Sinn. Leider erweist sich der Nachkömmling des Romanschreibers, wenn er den Gentleman tötet, um seine Botschaft loszuwerden, mit dieser Wendung der Geschichte als Parteigänger Nietzsches – in aller Unschuld, denn die Lehre vom amor fati ist für ihn weder nietzscheanisch noch europäisch: er hat sie ›im Blut‹.

Borges’ Gentleman führt zurück auf Goethes Baronesse: beide denken nicht daran, eine Erzählung à la Tausendundeine Nacht zu akzeptieren. Beider Einspruch wird von der Erzählung, deren Teil sie sind, hinweggenommen. Unwiderstehlich ist nur die Erzählung, die den guten Geschmack ebenso hinter sich lässt wie das gute Denken. Das gute Denken... es lässt daran denken, wie Kulturen miteinander verfahren, interpretierend, rekonstruierend, auf einen Sinn aus, auf Identifikation, auf Gedanken-Allegorese, so wie der Rätsellöser im Garten der Pfade, die sich verzweigen, sich in China vom Missionar zu Sinologen mauserte und nun völlig davon überzeugt ist, das ›Werk‹ eines Chinesen besser zu verstehen als der ›indigene‹ Erbe, der ihm mit schussbereiter Waffe gegenübersitzt und ihn reden lässt, weil er noch Zeit hat. Wem gehören die Traditionen? Ersichtlich niemandem. Wer sich in sie stellt, tut dies auf eigene Gefahr, wer glaubt, ihnen entlaufen zu sein, sollte sich warm anziehen, denn dieser Irrtum ist die Mutter aller Gefahr. Es ist ein putziger Gedanke, dass Nietzsches Ewige Wiederkehr im europäischen Kontext keinen Sinn ergibt, sofern als ›europäisch‹ die Produktion von Identität gilt, die Verwandlung von Zeit in Geschichte. Hier hilft vielleicht der Spion aus Borges’ Geschichte: seine Zeitvorstellung scheint weder zyklisch noch labyrinthisch zu sein, vielmehr eine Art Offenheit gegenüber jeglicher Zukunft zu enthalten, wie man sie in Tausendundeine Nacht findet, aber eben auch in Nietzsches ›schöpferischem Gedanken‹. Rekonstruktion, von dieser Seite her betrachtet, produziert Blindheit – die sehende Blindheit eines alten Mannes, der seinen Tod erwartet, und stolz darauf ist, den falschen Gedanken förmlicher Wiederholung aus seiner Deutung der Geschichte verbannt zu haben und dabei übersieht, dass die Ewige Wiederkehr gerade das Gegenteil meint. Weil das so ist, weil ihre Art Offenheit näher an den Dingen liegt als die Herstellung gleichartiger Konstellationen (die, nicht wirklich gewonnen, unter der Hand zerrinnen, wie jeder Nachkömmling sieht), kann kein noch so zerstreuter Erzähler die Vielfalt der Geschichten ›beschädigen‹, die jede konzipierte Geschichte hinter sich lassen – vor allem diejenigen, die sich noch ›im Aufbau‹ befinden.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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