1.

Was heißt europäische Literaturgeschichte? So gewiss es eine Sache der Literaturgeschichtsschreibung ist, angemessene Antworten auf diese Frage zu finden, so gewiss ist es nicht allein ihre Sache, das aktuelle Interesse zu bestimmen, von dem sie, im besten Fall, ihren Ausgang nimmt. Dies schon deshalb nicht, weil ohne die Mitsprache – vorsichtig gesprochen – der Schriftsteller, von einigen mehr oder minder unnützen Klassifikationen abgesehen, wenig zu erwarten steht, was den Gestus des Bedenkens ernsthaft rechtfertigen könnte. Entweder die europäische Literatur existiert in den Köpfen ihrer heutigen Vertreter – dann schafft sie sich die Geschichte, über die zu reden ist –, oder sie existiert nur noch in den Bibliotheken und den Lesegewohnheiten eines bestimmten Publikums, in die der historische Abstand als ästhetische Valenz eingegangen ist: dann steht die Rede von ihr stets im Begriff, von etwas Abgeschlossenem zu handeln, das des archäologisch-ethnographischen Zugriffs harrt wie die Literaturen des alten Ägypten oder des Inka-Reiches.

Ich nenne das die amerikanische Sicht. Bei Bildungsautoren der Nachkriegsjahrzehnte wie John Updike oder Octavio Paz erkennt man darin die Strategie, die eigene literarische Herkunft ins Halblicht einer großen, aber verlorenen Tradition zu stellen. In ihrer Essayistik mischt sich der Klang der europäischen Namen mit nostalgischen Erinnerungen an die untergegangenen Metropolen der Zwischenkriegszeit. Europa, der versunkene Kontinent: dieses mit Inbrunst gepflegte Bild findet seine Legitimation einmal in der Okkupation der politischen und kulturellen Gegenwart durch die rasch alternde Zukunftsgesellschaft der Vereinigten Staaten, zum anderen Mal durch einen Gründungsmythos, der mit der zweiten, durch die Conquista überwältigten Vergangenheit des Subkontinents kokettiert und ihr Motive einer Identitätssuche entlockt, die der deutschen Literatur nicht unvertraut sind.

In beiden Fällen ist Europa – das untergegangene Europa der eigenen literarischen Herkunft – eine Sage, ein Mythos, in dem die Taten und Leiden der namhaften Protagonisten – von Don Quijote bis Josef K., von Góngora bis T. S. Eliot – einen Motivkreis ausschreiben, der dann zwanghaft in den eigenen Produktionen wiederkehrt, und den man, das alte, aber darum nicht unwirksame Klischee aufwärmend, die Bürde des Intellekts nennen könnte – einmal seitenverkehrt als Bürde des Nichteuropäers, der einerseits die Barbarei und andererseits die Sterilität der Alten Welt zu monieren sich angewöhnt hat. Eine andere, vielleicht differenziertere Aussicht eröffnet die von ost- und mitteleuropäischen Autoren seit dem Ende des alten Systems proklamierte ›Rückkehr‹ ihrer Literaturen ›nach Europa‹ – ein Vorgang, der nicht deshalb weniger ernst genommen zu werden verdient, weil er sich fürs erste wohl hauptsächlich in den Spalten der Feuilletons abspielt. Es fragt sich, welches Europa – die politische Dimension bleibe vorerst ausgeblendet – in diesen (von Land zu Land, von Autor zu Autor divergierenden) Überlegungen kursiert. Die Figur der ›Rückkehr‹ ist dabei hilfreich. Sie suggeriert einen zerrissenen und wiederherzustellenden Zusammenhang: der individuellen Arbeit sichert sie gleichsam die Schürfrechte auf dem verschütteten Terrain der eigenen kulturellen Vergangenheit und zugleich den Kommerz mit den Westeuropäern, in deren Händen Europa – das jedenfalls wird unterstellt – nach wie vor als gängige Währung fungiert.

Wofür steht dieses Europa? Folgt man den Einlassungen des polnischen Romanciers Andrzej Szczypiorski, so liegt der Gedanke an Ernst Robert Curtius ungewöhnlich nahe: hier stellt die Latinität des Westens die Kontinuität in der Diskontinuität, das Ferment des Wandels inmitten der Szenerie des Wandels bereit, die sich vom späten Mittelalter bis in die Moderne erstreckt. Ein Schuss polnischen Katholizismus und neugewonnener Selbstabgrenzung nach Osten mag diese Sicht der Dinge mit der Aura des Erlebten oder Erlebbaren umgeben, die unabdingbar zum Bewusstsein kultureller Identität gehört. Dabei scheint ›Latinität‹ nicht so sehr bestimmte Inhalte als vielmehr den Aufriss des kulturellen Gedächtnisses und einen damit verbundenen kulturellen Habitus zu bedeuten. Es versteht sich von selbst, dass dieses Bild unterbestimmt bleibt, unterbestimmt schon im Hinblick auf die Vergangenheit des eigenen Landes, geradezu rührend aber auch im Hinblick auf die gegenwärtige Literatur des Westens, für die dieses Europa erkennbar keinen Orientierungswert besitzt.

Dieses Europa, denn es scheint – bei aller gebotenen Vorsicht des Urteils –, dass die westeuropäische Literaturszene dem Stichwort nach wie vor allenfalls den Hautgoût einer sachte verrottenden transatlantisch-globalen Westlichkeit abgewinnt, unter deren Oberfläche dem einen oder anderen geschichtsbeflissenen Autor Muster einer präkolonialen Geistesverfassung aufscheinen mögen, entfernt vergleichbar den autochthonen Traditionen Afrikas oder Amerikas, nur dass in diesem Fall die Kolonisation der Geister, ihre Unterwerfung unter das unerbittliche und zerstörerische Gesetz der Moderne, den durch die eigene Herkunft gesetzten Zwängen unterliegt und mithin das leidende Subjekt dem Projekt der Dekolonisation nachhaltig und ohne Hoffnung auf ein entferntes Gelingen entfremdet.

Ganz von selbst stellt sich also dort, wo von einer europäischen Literatur die Rede ist, die Frage nach ihrer Geschichte ein, genauer, nach den zwei Geschichten, deren eine an den Leiden und den Verstrickungen einer dem imperialen Erbe des 19. Jahrhunderts entsprungenen jüngeren und jüngsten Vergangenheit – oder, je nach Standort des Interpreten, an der Vorgeschichte des von diesem Kontinent ausgegangenen und ausgehenden globalen Missgeschicks –, deren andere an der Geschichte der Hoffnungen und Versprechungen partizipiert, die, allgemein gesprochen, mit jener ebenso glanzvollen wie gegenwartsfernen Epoche der Aufklärung zusammenfällt, in der der Prozess der Moderne noch greifbar in der Unschuld des Werdens steht oder zu stehen scheint. ›Oder‹ deshalb, weil in beiden Auslegungen die historische Imagination ihr Recht über die Indifferenz der Fakten behauptet. Beide – der Nachweis der historischen Unschuld wie ihres falschen Scheins – sind in Wahrheit Deutungstypen, die der Eindeutigkeit der Gegenstände wie der Stereotypen der Ideologiekritik vergangener Tage keineswegs bedürfen, die sich vielmehr weitgehend selbst genügen, weil sich in ihnen das Prinzip einer kritischen Geschichtsschreibung in seine elementaren Durchführungsmodi auseinanderlegt. Das einzige, dessen sie bedürfen, ist die Deutbarkeit ihrer Gegenstände, die Offenheit der Werke gegenüber jeweils neuen und differenten Deutungskategorien, die ihrerseits neue und differente Textbefunde nach sich ziehen. Der Rest ist Arbeit, Interpreten-Alltag also; ein wenig zynisch ließe sich sagen, dass die prästabilierte Leidensbereitschaft einer repräsentativen Literatenkaste auf der einen und der akademische Gleichmut einer esoterischen Kritik der historischen Zeugnisse auf der anderen Seite einander wechselseitig attestieren, worum es hier und heute in literarischen Dingen geht.

 

2.

Es gibt die einfache Auskunft auf die eingangs gestellte Frage. Sie heißt: Europäische Literaturgeschichte ist die Geschichte der europäischen Literaturen. Die darin mitschwingende Prämisse lautet ausgesprochen, dass es sich um Nationalliteraturen handelt, die durch das Adjektiv ›europäisch‹ gebündelt werden. ›Europa‹, das meint – neben der schwankenden geographischen Größe – das Geflecht von Beziehungen zwischen diesen Literaturen, die Familienbande, die es erlauben, sie nach Gemeinsamkeiten (und innerhalb dieser nach Differenzen) der Herkunft und der Entwicklung – ein Terminus, der nicht fehlen darf, wann immer der projektive Begriff ›Europa‹ fällt – zu sortieren. Das hat, denkt man an den ausufernden Gebrauch des einschlägigen Vokabulars in der Nachkriegszeit, eine gewissermaßen Schumansche Komponente, die aus dem Gedanken der vergleichenden Literaturwissenschaft gar nicht wegzudenken ist und oft genug programmatisch hervorgekehrt wurde. Bedenkt man die formierende Kraft der Querelle des Anciens et des Modernes für die westeuropäischen Literaturen des 17. und, teilweise, des 18. Jahrhunderts, so ist man geneigt, die Leistung der Komparatistik darin zu finden, dass sie die seit den Zeiten des italienischen Humanismus in den europäischen Literaturen angelegte ›Querelle‹ des Singularismus und des Universalismus, sprich: der nationalen resp. transnationalen Auslegung dieser Literaturen ans Licht gehoben und, getragen vom Präjudiz für Europa – einer politischen Wertentscheidung –, in den Sieg letzterer hat münden lassen. Das ist – oder war – gedacht als Aufklärung im besten Sinn (das Moment von Propaganda eingeschlossen), – mit der zunächst unbedachten Konsequenz, dass auf diese Weise der Universalismus zur Quintessenz der ›guten‹ europäischen, also der mit gutem Grund ›europäisch‹ zu nennenden Literatur gemacht wurde, zur Lektion, die, sobald sie das Pathos der Nachkriegszeit abstreift, die Geschichte der europäischen Literatur umstandslos aufgehen lässt in Beiträge zur Genese der modernen Welt, sie mithin wesentlich als Vorgeschichte einer – in den westlichen Zentren – endlich erwachsen gewordenen Menschheit rekapituliert. Nichts charakterisiert das sozial- und mediengeschichtlich angereicherte hermeneutische Geschäft der heutigen Literaturwissenschaften mehr als seine weitgehende Indifferenz gegen die Ideen- und Formpotentiale der von ihnen sezierten Literaturen, die, wie man stillschweigend voraussetzt, sich im Prozess der Herausbildung unserer intellektuellen, im Ernstfall nichtliterarischen Verkehrsformen aufgebraucht haben. Das ist kein Vorwurf – wohl aber eine Feststellung, die ein Problem enthält.

Es ist ein bedenkenswertes Zusammentreffen, dass zu einer Zeit, zu der – um den deutschen Aspekt des Themas ein wenig in den Vordergrund zu rücken –, zwar nicht die deutsche oder deutschsprachige Literatur den definitiven Gleichklang mit den Literaturen Westeuropas (hier gab und gibt es merkwürdige Sonderwege), wohl aber die deutsche Literaturwissenschaft den Anschluss an die gängigen Nomenklaturen des Westens gefunden hat, – dass zur gleichen Zeit der osteuropäische Aufbruch die nationale Differenz erneut in die literarischen Debatten und damit nolens volens in die literarhistorische Begriffswelt hineinträgt. Zwar scheinen gerade die klügeren dieser Autoren die ›Normalität‹ des Westens für die eigene Befindlichkeit einzufordern, also den Eintritt in seine – das Wort sei wiederholt – gegen die Influenza der Vergangenheit immun gewordene Erwachsenenwelt. Das ist der eine Aspekt des Aufbruchs, der andere kommt in dem spöttischen Bonmot eines tschechoslowakischen Schriftstellers zu Wort, selbstverständlich seien Paris und London europäische Metropolen, Prag jedoch sei und bleibe auch in Zukunft ganz und gar tschechisch. ›Prag‹ bezeichnet in solchenVorstellungen eine Option gegenüber dem Europa, auf dessen Verkehrsformen man sich einzulassen gedenkt und auf die man – im Fall der tschechoslowakischen Intelligenz spätestens seit 1968 – fast blind vertraut. Es ist der aus der deutschen Literatur vor 1933 hinreichend bekannte Anspruch auf kulturelle Andersheit, ein Anspruch, der, um es bildlich zu sagen, in den Bombennächten des Serenus Zeitblom aus Thomas Manns Doktor Faustus pulverisiert wird, der jedoch wie selbstverständlich den Gedanken der Zugehörigkeit zu Europa einschließt – ein etwas aufdringliches Europäertum, das in krassem Kontrast zu der souveränen Gebärde steht, mit der ein – der Geographie nach – osteuropäischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wie Dostojewski das Ansinnen einer russischen Zugehörigkeit zur europäischen Kultur in toto zurückweisen konnte.

Damit ist das Stichwort für die europäische Option der deutschen Literatur gefallen. Die Geschichte der sich (und zwar nicht erst seit dem l8. Jahrhundert) als Nationalliteratur in Szene setzenden deutschen Literatur ist eine aus Motiven mangelnder Souveränität gespeiste Geschichte, einer als kränkend empfundenen, weithin imaginierten Zurücksetzung, die von politischen Motiven ebenso durchtränkt ist wie vom neidvollen Blick auf die ruhig-unangestrengte Aneignung der antik-mediterranen Überlieferung durch die romanischen Literaturen und die elisabethanisch geprägte angelsächsische Dichtung. Ihnen gegenüber verrät die gräzisierende deutsche Klassik eine archäologische Anstrengung, der der rechthaberische Anspruch auf die richtige Antike gegenüber der kurrenten zugrundeliegt – eine im Grunde ebenso folgenreiche und erfolglose Tour de force wie die Politik des späteren Kaiserreichs im Spiel der europäischen Mächte.

Der Vergleich mag angestrengt wirken, doch er gehört zur Sache. Auch im gegenwärtigen Fall der mittel- oder osteuropäischen Identitätssuche liegt das politische Motiv obenauf. Der Begriff der Nation ist ein politischer Begriff. Das heißt, er ist ohne den Bezug auf eine Politik nicht denkbar, deren Begriff durch ihn entscheidend modifiziert wird. Zum kurrenten Begriff der Nation gehört eine Politik, deren Ziele wesentlich auf die Konstituierung, Erhaltung und Förderung von Nationen und ihren wechselseitigen Verkehr bezogen sind. Wenn es legitim ist, die Geschichte der neueren europäischen Literaturen als eine Geschichte von Nationalliteraturen zu lesen und darin bereits ihre spezifisch europäische Komponente benannt zu finden, dann folgt daraus auch, dass diese Geschichte durch die bestimmte Relation zur Herausbildung der europäischen Nationen als politisch handelnder Entitäten (nicht unbedingt Nationalstaaten nach französischem Muster) und ihrer politischen Schicksale definiert ist: eine nicht unwesentliche Präzisierung, die geeignet ist, den Begriff der politisch gereinigten ›Kulturnation‹ à la Grass als das erscheinen zu lassen, was er ist – eine Fata Morgana des guten Willens. Um auf der literarische Weimar zurückzukommen: der Satz Goethes, er wolle die Umwälzungen nicht wünschen, die nötig wären, um in Deutschland einen klassischen Autor hervorzubringen, blickt nicht nur auf das literarische Frankreich Voltaires, sondern auch auf das politische, und es sind keineswegs nur soziale Umwälzungen gemäß dem Büchner-Motto »Friede den Hütten! Krieg den Palästenl«, die er im Blick hat. Die Geschichte gibt ihm übrigens recht. Zum Klassiker avancierte Goethe erst im Zuge der politischen Umwälzungen, die noch zu erleben ihm so unbequem schien, und deren vorläufige Erfüllung nicht die bürgerliche Republik, sondern der Bismarcksche Nationalstaat bringen sollte.

Wer oder was – den Gedanken weitergesponnen – ist ein ›Nationalschriftsteller‹? Der Lieblingsausdruck des 19. Jahrhunderts bezeichnet einen Autor, der die ›Gegenstände‹ der Nation zu Gegenständen seiner Schriftstellerei macht – in diesem Sinn ist Grass ohne Zweifel ein Nationalautor – und damit die Nation selbst fortbestimmt. Das aber ist nur dann möglich, wenn die Voraussetzungen dazu wirklich gegeben sind. Dies ist nicht allein die Frage einer realistischen Politik, sondern ebensosehr eine Frage der Erwartungen diverser Öffentlichkeiten, die mit dem Gedanken der eigenen Kultur die am Ende erfolgreiche Abwehr universalistisch legitimierter Repression verbinden. Solange der Druck derartiger Erwartungen auf den Autoren der östlichen ›Rückkehr nach Europa‹ lastet, verspricht ihr Dialog mit den westlichen Kollegen zu einem Dialog unter Schwerhörigen zu werden. Das ist die eine Seite des Problems. Es bedarf wenig Phantasie, sich vorzustellen, dass – gewisse Erfolge der West-Integration dieser Staaten vorausgesetzt – es sich (auf der Ebene internationaler Autorentreffen) im Zuge der Verwestlichung der Lebensstile über kurz oder lang von selbst erledigen wird. Doch es wird – das Wort Adornos gegen Lukács einmal anders gewendet – eine erpresste Versöhnung sein, die da vor sich geht, das Ergebnis einer westlichen Harthörigkeit, die, konfrontiert mit Namen wie Prag oder Krakau, allenfalls Fragen der Altstadtsanierung zu diskutieren bereit ist. Eine Literaturgeschichtsschreibung – damit wird die andere Seite des Problems berührt –, die sich als Wissenschaft, sprich: als eine eher auf Differenzierung und nicht auf Entdifferenzierung ihrer Gegenstände bedachte Tätigkeit begreift, sollte hingegen einsehen, dass es nicht ihre Aufgabe sein kann, sich, und sei es ungewollt, ohne Not in die Rolle einer Entwicklungshelferin zu begeben, deren karges Verständnis ihrer Mission darin besteht, differente Kulturen als ungleichzeitige und interkulturelle Konflikte umstandslos als Umwege oder Abkürzungen auf dem Weg in die globale Moderne zu interpretieren. Das ist keineswegs nur im Hinblick auf eine künftige Literaturgeschichte der Gegenwart gesagt. Es schließt vielmehr die europäische Vergangenheit ein, die sich in diesen Gedankenspielen ohnehin als allgegenwärtig erweist. Die Literaturwissenschaft – vergleichend oder nicht – ist aufgefordert, einen ihr liebgewordenen Begriff von Europa zu überdenken, der ein ostensives Nichtbegreifen enthält.

Mein bescheidener Vorschlag lautet, in künftigen Darstellungen auf den projektiven, ohnehin weitgehend entleerten Begriff von Europa zu verzichten und an seine Stelle einen strikt historischen zu setzen, der die ›Querelle‹ der Nationalliteraturen als Ort – als einen Ort – der Differenzierung und Komplexierung der kollektiven Imagination begreift. Es ist eines, den Prozess der Zivilisation als anonymes, durch die politischen Antagonismen des Erdteils hindurchlaufendes Geschehen zu thematisieren. Ein anderes ist es, die sich an ihren Antagonismen abarbeitenden kollektiven Imaginationen als – ein heikles Wort – Subjekte dieses Prozesses in Betracht zu ziehen. In einer 1925 in Paris gehaltenen Rede vor dem Pen-Club hat Paul Valéry die Frage gestellt, welches wohldefinierte Interesse Schriftsteller wie Fabrikanten oder Wissenschaftler einheitlicher Fachrichtungen auf internationalen Tagungen zusammenführe, da doch »l’art consiste par conséquent à développer ce qui sépare le plus nettement, – le plus cruellement peut-être, – un peuple d’un autre peuple!...«, nämlich die Sprache ihrer Geburt, und sie »travaillent necessairement à maintenir, à fortifier, à perfectionner les obstacles les plus sensibles, les différences les plus remarquables et les plus nettes qui isolent cette nation de toutes les autres.«

Ohne Zweifel hätte der Autor nach 1945 seine Worte anders – und nach heutiger Auffassung ›bedachter‹ – gewählt. Dennoch scheint es ein sehr europäischer Gedanke zu sein, dem er Ausdruck verleiht, einer, der in nuce die Idee einer ungeschriebenen Literaturgeschichte Europas enthält, vorausgesetzt, man versteht, dass die von ihm betonten, durch den Schriftsteller herauszuarbeitenden Differenzen nicht-exklusiv und vor allem transitiv sind, Differenzierungen also, anhand derer sich – jedenfalls über einen bestimmten Zeitraum gesehen – das Spektrum der literarischen Imagination in Europa entfaltet. Die bekannte Rilke-Sentenz »Er war ein Dichter und hasste das Ungefähre« wie noch die Rezensentenfloskel von der ›Genauigkeit‹ poetischer Rede bezeichnen ja keine unerreichbare Korrektheit der literarischen Sprache, sondern die von Valéry benannte Arbeit des Schriftstellers an der sprachlichen Differenz. Differenzierung aber, das gilt für den Bereich sprachlicher Imagination ebenso wie für den wissenschaftlicher Erkenntnis, setzt Kristallisationskerne voraus, an denen die Einbildungskraft ebenso wie das Denken ansetzen müssen, wenn sie nicht gegenstandslos bleiben sollen.

Ein solcher Kristallisationskern – und gewiss nicht der unwichtigste – ist für den Schriftsteller die Sprache, und zwar die jeweils eigene, deren Artikulationsmöglichkeiten von ihm spielerisch aktiviert werden. Europäisch ist die spielbestimmende Konkurrenz der nationalen Hochsprachen vor dem Hintergrund einer kollektiv angeeigneten Tradition, eine Konkurrenz, die davon lebt, das jeweils erreichte Differenzierungsniveau im anderen Medium nachzubilden und zu übertreffen. Die Übertragung eines sprachlichen Sachverhalts in eine andere Sprache schafft zwangsläufig neue Sprachverhalte, – Strukturpotentiale, die danach verlangen, ebenfalls in ihrem ganzen Umfang realisiert zu werden. Dieser sprachimmanente Aspekt der literarischen Produktion mag einem flüchtigen Betrachter gering erscheinen angesichts der Fülle sprachüberschreitender Themen, Motive und Formen, die den notfalls auf Übersetzungen zurückgreifenden Leser oder Theatergänger von der realen Einheit einer literarischen Welt überzeugen, in der Hamlet und Sokrates sich mühelos zum small-talk über die Deutsche Bundesakte von 1815 zusammenzufinden vermögen. Doch es ist jener anonyme Innenaspekt, der die Gestaltungsvielfalt erzeugt und ihre Einheit verbürgt, der, um ein Bild Jean Pauls zu gebrauchen, verborgene Mechanismus, der die Fontänen der literarischen Imagination aufsperrt. Mit Valéry zu reden: »Les diverses littératures sont tombées amoureuses les unes des autres. Et ce miracle n’est pas d’aujourd’hui. Virgile se tendait vers Homère. Et nous, Français, que n’avons-nous aimé? L’Italie sous Ronsard, l’Espagne sous Corneille, l’Angleterre sous Voltaire, l’Allemagne et le Proche-Orient par les Romantiques, l’Amerique par Baudelaire..., et, de siècle en siècle, commes des maitresses plus constamment goûtées, la Grèce et Rome.«

Es ließe sich fragen, warum die bisherige Literaturgeschichtsschreibung keinen Versuch vorgelegt hat, der es auch nur entfernt mit Rankes Studie über die großen Mächte aufnehmen könnte, einem Stück Geschichtsschreibung also, dem es gelingt, das System der europäischen Mächte als System zu entwickeln und die Bedingungen zu beschreiben, unter denen die einzelnen Mächte in dieses System eintreten und in ihm agieren. Es fehlt nicht viel, demgegenüber die vergleichende Literaturgeschichte methodisch auf dem Stand der synchronistischen Universalhistorie der alten Göttinger Historikerschule verharren zu sehen. Der Grund könnte darin zu finden sein, dass sie es bisher verfehlt hat, dem Gedanken historischer Objektivität angemessen nahezutreten, dass sie sich vielmehr noch immer als Partei in jener historischen ›Querelle‹ des Singularismus und des Universalismus zu profilieren versucht, die sie als rituellen Totentanz von Exempel zu Exempel neu inszeniert. Nicht ohne Grund: der fortdauernde Antagonismus einer nach Fächern aufgeschlüsselten nationalen Literaturgeschichtsschreibung und einer in einem unbestimmten Dazwischen angesiedelten Disziplin verstetigt die Agonie des Gegensatzes, in dem sich der Intellekt seit langem auf dem Rückzug befindet.

 

3.

Man sage nicht, dass Machtphantasien im Austausch der Kulturen keine bedenkenswerte Rolle zufalle. Vielleicht muss man der schlichten Diktion des Musikers Arnold Schönberg für die Sentenz dankbar sein, durch die Entdeckung der Zwölftonmusik werde »die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert.« Gewiss gehört der antiquierte Satz, dass, wer die Spielpläne der Theater füllt, die politische Phantasie des Publikums beherrscht, in den Bereich solcher Phantasien. Doch nicht der phantasmagorische Machtaspekt der Literaturen lässt es reizvoll erscheinen, auf das Ranke-Modell der europäischen Staatengeschichte zurückzugreifen, sondern der ihm implizite Systemgedanke. Literaturen bestimmen sich nicht in bezug auf sich selbst, sondern in bezug auf andere. Diese anderen aber sind nicht beliebig wählbar, wie das Bild der Mätresse fälschlich suggeriert. Sie sind – und hier scheint der Seitenblick auf die politische Landkarte Europas hilfreich – vorgegeben, und ihre Vertrautheit oder Fremdheit in einer gegebenen Situation entscheidet darüber, welche Anstöße von ihnen ausgehen können. Immer aber bestimmt die Gesamtkonstellation, in der sie sich bewegen, die Möglichkeiten der einzelnen Literaturen, sich aneinander zu profilieren. Dabei erscheint es wenig sinnvoll, innerhalb des Systems eine Stelle zu besetzen, die bereits von einer anderen Literatur eingenommen wird, und es erweist sich in der Praxis als ausgeschlossen. Wohl aber wäre es – im gedachten Extrem – als Resultat einer Folge von Umbesetzungen denkbar, in deren Verlauf auch die übrigen Literaturen ihre Positionen verändern. Solche Umbesetzungen sind jedoch nichts weiter als Wegmarken im Prozess stetiger Differenzierung, in dem sich Literatur fortschreibt. Jeder Positionswechsel zeugt daher von einem neuen, bislang unerreichten Stand der literarischen Artikulation. Salopp gesprochen: keine Literatur kommt jemals dort an, wo eine andere sich bereits vor ihr befunden hat. Dennoch bleibt das System intakt kraft der Regel, dass zwar die einzelnen Differenzierungsschritte nicht antizipierbar sind, mögliche Positionswechsel hingegen begrenzt kalkulierbar erscheinen, da die Identität der konkurrierenden Literaturen nicht beliebig zur Disposition steht.

 

4.

Bekanntlich tauschen Literaturen keine diplomatischen Noten aus und führen keine Kriege gegeneinander. Das hindert sie nicht daran, sich eines Arsenals technischer Verfahren zu versichern, mit denen sie sich gegeneinander in Szene setzen. Einige solcher Verfahren seien im folgenden skizziert.

1 . Verschiebung. Wer das Buch der Madame de Staël De l’Allemagne aufmerksam liest, wird, vielleicht verwundert, zur Kenntnis nehmen, dass das nachmals selten ausgelassene intellektuelle ›Klischee‹ von französischer ›clarté‹ und deutschem ›Irrationalismus‹ in ihm keine Rolle spielt. Dennoch trägt der dort gezeichnete Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland Züge, die es im nachhinein erlauben, beide mühelos aufeinander zu beziehen. Es sind – auf der einen Seite – die des ›old-fashioned Germany of culture and learning‹, dessen Identifikationswert noch Thomas Mann im kalifornischen Exil beschäftigen wird, der auf sittlichem Ernst fußenden, in provinzieller Abgeschiedenheit reifenden deutschen Geistigkeit also, der die des rasch auffassenden, sich gesellig verströmenden französischen ›Esprit‹ auf der anderen Seite gegenübertreten, – Züge, deren stereotype Fernwirkungen Gerard Raulet gerade ein weiteres Mal analysiert hat. Man kennt die Rolle, die Tacitus’ Germania – und damit indirekt das Motiv des Sittenspiegels – bei der Abfassung des Buches der Madame de Staël gespielt hat. Andererseits war es erst einige Jahrzehnte her, dass in europäischen Preisschriften der Frage nachgegangen werden durfte, ob nicht die Deutschen prinzipiell zum Esprit unfähig seien – Zweifel schienen angebracht. Diese Zweifel richteten sich gegen nichts weniger als gegen die Tauglichkeit der Deutschen zur Teilnahme am allgemeinen Fortschritt der Künste und Wissenschaften: ein 1814 ganz gewiss obsoletes Thema, das nur insofern nachwirkt, als die de Staëlsche Dichotomie ohne das durch Rousseau zwischenzeitlich aktualisierte, ursprünglich stoische Bild des Philosophen, der hinreichend Gründe hat, den geselligen Tugenden zu misstrauen, und der sich genötigt sieht, dieses Misstrauen gegen besagten Fortschritt der Künste und Wissenschaften zu richten, ein Gutteil ihres frankreichkritischen Impulses einbüßte. Die Verschiebung besteht darin, dass ein bisher universell verwandter Gegensatz, der in der Aufklärungsliteratur längst vor Rousseau seinen festen Platz besitzt, der des Salonschriftstellers mit den entsprechenden Konnotationen des ›Weltmanns‹ auf der einen, des sich isolierenden Moralisten auf der anderen Seite, herangezogen wird, um den Gegensatz zweier Nationen zu bezeichnen – nach entsprechenden Modifikationen, versteht sich, denen weitere folgen werden, bis das Motiv in beiden Literaturen hinreichend durchgearbeitet ist, um in der Kulisse zu verschwinden. Übrigens – und dies dürfte ein wesentlicher Aspekt sein – nicht zum ersten Mal: ein Jahrhundert früher diente der Gegensatz zur Abgrenzung der höfischen Literatur des absolutistischen Frankreichs von der durch den Unabhängigkeitssinn seiner gentry getragenen Englands: aus englischer Sicht, versteht sich.

2. Umbesetzung. Heine, der 1833 den ersten Teil der Romantischen Schule herausbringt, weiß, was er dem Buch der Madame de Staël verdankt. Was er für sich reklamiert, ist die größere Distanz zu und zugleich größere Intimität mit den Gegenständen, von denen sie spricht. Heine ist es, der den von ihr angedeuteten Gegensatz ausschreibt und ineins damit umbesetzt: die (polemisch gemeinte) Entgegensetzung von französischem Rationalismus und deutschem Irrationalismus ist das Ergebnis einer Reihe von Bedeutungsverschiebungen und ‑anreicherungen, die, jede für sich genommen, spielerisch, situativ und punktuell wirken, zusammen jedoch ein stabiles Geflecht von Bedeutungen erzeugen, in das die hergebrachten Bestimmungen gleichsam eingewoben sind, so dass der Übergang von ihnen zu den neu hinzugekommenen durch einfache Ideenassoziation gesichert erscheint.

»Indem ich diese Blätter gleichsam als eine Fortsetzung des Frau v. Staëlschen ›De l’Allemagne‹ ankündige«, schreibt Heine, »muß ich, die Belehrung rühmend, die man aus diesem Werke schöpfen kann, dennoch eine gewisse Vorsicht beim Gebrauche desselben anempfehlen und es durchaus als Koteriebuch bezeichnen. Frau v. Staël, glorreichen Angedenkens, hat hier, in der Form eines Buches, gleichsam einen Salon eröffnet, worin sie deutsche Schriftsteller empfing, und ihnen Gelegenheit gab, sich der französischen zivilisierten Welt bekannt zu machen; aber in dem Getöse der verschiedensten Stimmen, die aus diesem Buche hervorschreien, hört man doch immer am vernehmlichsten den feinen Diskant des Herrn A. W. Schlegel.«

Der erste Akt der Zurichtung, der Leser ahnt es bereits, liegt in der Konzentration auf einen Fall, den des Jenaer Literaturpapstes August Wilhelm Schlegel, der, selbst nur das Mundstück seines Bruders Friedrich, durch seine Einflüsterungen in jenem Buch etwas zu Wort kommen lässt, dessen »Wesen ihr« – der Französin – »ganz fremd und unbegreifbar ist«, etwas Deutsches eben. Das Trennende, wie Valery es nennt, ist damit, gegen den alten Klärungsversuch, neu postuliert, die Herausarbeitung darf beginnen. Wie sie beginnt, dies wird bestimmt durch ein argumentatives Repertoire, dessen Elemente zur Genüge bekannt sind: erstens, das Unbegreifliche hat eine Genese, die es begreiflich macht, und die man kennen muss; zweitens, die Genese vollzieht sich nach dem Muster einer Verirrung – was verständlich ist, da man ja dem geraden Verstand des französischen Publikums (den nicht zu unterstellen eine Unschicklichkeit begehen hieße) dieses ihm Unbegreifliche als Unbegreifliches begreiflich zu machen gedenkt. Die Schlegel-Brüder also sind drittens Zwerge auf den Schultern von Riesen. Das heißt, das, was sie als Kritiker können, haben sie – etwas schematisiert – entweder bei Lessing gelernt und handhaben es ihrer Statur entsprechend schwächer, oder sie können es, weil es die bei Lessing getane Denkarbeit voraussetzt. Eine Schwäche des seinerzeit keineswegs unbegreiflichen Lessing, ein historischer Zufall oder ein persönlicher Tick (um das Verfahren auf die Spitze zu treiben) erweist sich als der wahre Grund einer bedrohlichen Schieflage: »... so stark er (gemeint ist Lessing) im Verneinen ist, so schwach ist er im Bejahen, selten kann er ein Grundprinzip aufstellen, noch seltener ein richtiges. Es fehlt ihm der feste Boden einer Philosophie, eines philosophischen Systems. Dieses ist nun bei den Herren Schlegel in noch viel trostloserem Grade der Fall.«

Die zunächst nur witzig wirkende Vokabel der Trostlosigkeit entpuppt sich im folgenden Schritt als außerordentlich fruchtbar. Schließlich veranlasst das diagnostizierte Übel die Schlegel, den ihnen abgehenden Trost bei den Segnungen der katholischen Kirche und der ihr entsprossenen Poesie zu suchen und zu finden, die sich in den Werken Calderóns manifestiert: »... bei jenem fand man die Poesie des Mittelalters am reinsten ausgeprägt... Die frommen Komödien des kastilianischen Priesterdichters, dessen poetischen Blumen mit Weihwasser besprengt und kirchlich geräuchert sind, wurden jetzt nachgebildet, mit all ihrer heiligen Grandezza, mit all ihrem sazerdotalen Luxus, mit all ihrer gebenedeiten Tollheit; und in Deutschland erblühten nun jene buntgläubigen, närrisch tiefsinnigen Dichtungen, in welchen man sich mystisch verliebte, wie in der ›Andacht zum Kreuz‹, oder zur Ehre der Muttergottes schlug, wie im ›Standhaften Prinzen‹; und Zacharias Werner trieb das Ding so weit wie man es nur treiben konnte, ohne von Obrigkeits wegen in ein Narrenhaus eingesperrt zu werden.«

Die Genese hat ihr Ziel erreicht vermöge einer Abbreviatur, die mit dem Stichwort ›Mittelalter‹ den Abwehrreflex des zivilisierten Westeuropäers und mit dem verdeckten Hinweis auf den politischen Katholizismus den Abscheu des republikanisch gesonnenen Lesers hervorruft. Die Nennung des spanischen Barockautors Calderón zeigt, keineswegs nebensächlich, wie die Karten im Spiel der europäischen Literaturen gemischt sind. Sie gilt, neben der nationalen Differenz, der Erinnerung an die höfische Dichtung des Ancien régime und verbindet so das vorgeblich unbegreifliche Neue mit einem – wie es scheint – zur Genüge vertrauten Alten.

Die zentrale Metapher aber ist die vom »Tollhaus«, die Heine – es ist nur noch ein kleiner Schritt – kurzerhand dem »deutschen Parnaß jener Zeit« aufdrückt, um sie sofort zu verschärfen: »Ich glaube aber auch hier habe ich viel zu wenig gesagt. Ein französischer Wahnsinn ist noch lange nicht so wahnsinnig wie ein deutscher...« In letzterem verbindet sich – wie Heine zu zeigen bereit ist – das Charakteristikum der deutschen Pedanterie mit dem des furor teutonicus, der so in eine zweideutige Nähe zum furor poeticus gerät, — also das einer (vor dem Hintergrund der französischen Salons) altdeutsch-schulmeisterlichen Kultur mit dem Humanistenetikett fremdartiger – und darum befremdender – teutonischer Barbarei. Damit ist der eigentliche Grund für das Nichtverstehen der Madame de Staël genannt: die ethnische Differenz, die zu erkennen dem gebildeten Franzosen nicht mehr abverlangt als einen Akt kultureller Erinnerung, sprich: ein Zurückgehen auf ein Urteil, das durch die in jenem Buch enthaltenen Wertschätzungen eine so tiefgreifende Revision erfahren hatte. Die Verbindung zwischen beiden stellt – und dies dürfte die Pointe des Heine-Textes sein – das Bild vom Tollhaus her. Jene Abgesondertheit der Zustände, von de Staël für die besondere Form der deutschen Geistigkeit verantwortlich gemacht, korrespondiert nicht zufällig dem Motiv der Absonderung, das in der Metapher liegt. Die Deutschen leben – und schreiben –, so die Botschaft, wie es ihrem Zustand geistiger Verirrung entspricht.

Das Beispiel wurde ausgewählt, um an ihm sinnfällig vorzuführen, was man die Arbeit an der Differenz der Literaturen nennen könnte. Weit gefehlt wäre es, diese Arbeit auf das Ausfeilen von Schlagworten beschränkt zu sehen. Eher trifft das Gegenteil zu: die Arbeit an der Differenz ist geeignet, die Literatur hervorzutreiben, die im Schlagwort als differente erscheint.

3. Marginalisierung. Es ist nicht unbekannt, dass jene cartesianische ›clarté‹, das angebliche Signum des französischen Geistes, in der deutschen Schulphilosphie des 18. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle spielt. Es ist die Klarheit und Distinktheit der Begriffe, die in den Demonstrationen der more geometrico operierenden Wissenschaften vorausgesetzt werden muss. Der folgenreiche Einfall des Wolff-Schülers Baumgarten bestand darin, der Theorie der klaren und distinkten Begriffe und damit der rationalen Wissenschaft eine Theorie der ›verworrenen‹ Begriffe und damit eines Bereichs zur Seite zu stellen, der – im Verständnis des ›cartesianischen‹ Rationalismus – als nicht theoriefähig galt. Dem Ästhetiker Baumgarten – das verdient festgehalten zu werden – geht es nicht um die Verdrängung eines Theorietypus durch einen anderen, es geht ihm darum, ein – im Sinne derWolffianer – unerschlossenes Feld der Erkenntnis neben dem bisher erschlossenen zu arrondieren. Wohl aber gibt die Erfindung der Ästhetik, begünstigt durch eine Reihe glänzender Funde, der literarischen Kultur in Deutschland Gelegenheit, sich als ästhetische gegenüber den etablierteren Literaturen Europas, vornehmlich denen Frankreichs und Englands, neu zu entwerfen. Die Marginalisierung der französischen Literatur, ›der Franzosen‹, wie man sich ausdrückt (eine Formel, die, anders als im Fall der ›Schweizer‹, sehr rasch keine einzelne, namhaft zu machende Autorengruppe mehr bezeichnet), besteht darin, dass ihre unbestreitbaren Vorgaben mit dem stereotypen Etikett einer ›einseitigen‹ Verstandeskultur versehen und damit als prinzipiell überwunden angesehen werden, nachdem man selbst die andere Seite der Sache zu seiner eigenen gemacht und so die erste gleichsam zugeschlagen hat. Doch dies allein wäre polemisch gesprochen, wollte man den Formzwang übersehen, der von dieser Technik der Ausgrenzung auf die eigene literarische Produktion ausgeht, ein Zwang, der noch in den so westlich nüchtern wirkenden Romanen eines Fontane zu spüren ist. Marginalisierung – im hier vorgeschlagenen Sinn – wäre also das Herstellen eines Formzwangs in den verschiedensten Bereichen der Literatur durch Ausgrenzung, zu der, bei Gelegenheit, sich die Expatriierung gesellt, falls der Zwang oder das selbst auferlegte Tabu einmal versagen sollte. So entstehen Bücher zwischen den Literaturen. Ein eigenes Kapitel wäre es, zu zeigen, wie die Geschichte mit ihnen umgeht.

4. Amplifikation. Darunter sei der Vorgang der Übertragung physiognomisch gedeuteter Einzelzüge eines Werks oder eines Schriftstellers auf die Literatur verstanden, die es oder ihn hervorgebracht hat oder die – wirklich oder vorgeblich – von ihnen ausgeht. Es ist das Feld der Unterstellungen, Übertreibungen, vagen Behauptungen und handfesten Täuschungen, ohne die Literatur nicht existierte, weil sich in ihnen die ›Intuition‹ der Literaten und ihrer Kritiker sowie, nicht zu übersehen, einer Vielzahl von Interpreten kundgibt. Es gibt Hochzeiten der amplifizirenden literarischen Gebärde – ich erinnere an die deutsche Literatur und Literaturgeschichtsschreibung zwischen Nietzsche und Dilthey, zwischen Benn und Kassner – und es gibt Phasen ausgesprochener Kritik an ihr – man mag die gegenwärtige zu ihnen zählen –, aber es scheint keine des wirklichen Verzichts zu geben; vermutlich deshalb, weil es sich bei diesem Verfahren um die ›objektive‹ Stilisierung einer im Grunde vorliterarischen Technik handelt, die aus der Lob- und Schmährede bestens bekannt ist. Wenigstens letztere muss, um zu treffen, die Wahrheit des bösen Blicks oder, wenn man es auf die Literatur zurückbiegt, der Satire für sich haben. Vielleicht hat im Umgang der Literaturen untereinander die Satire das letzte Wort; es würde manches verständlicher machen.

 

5.

Die Liste der einschlägigen Verfahren ließe sich mühelos fortsetzen. Dennoch lässt es sich nicht verhehlen, daß die genannten nicht zufällig die ersten Plätze einnehmen. Es handelt sich um literarische Gegenstücke zu weithin bekannten Techniken der Identitätsfindung und ‑wahrung sozialer Entitäten. Sie formen gleichsam die aggressive Außenansicht von Literaturen, die sich im Stimmengewirr der von ihnen in Konkurrenz wahr- und ernstgenommenen Literaturen zu ›behaupten‹ gedenken. Die europäischen Literaturen nehmen seit den Zeiten des Humanismus aneinander Maß. Dass und wie sie es tun, hat mit dem Prozess der Moderne mehr zu schaffen, als es den Verfechtem seiner prinzipiellen Gleichförmigkeit recht sein kann. Diese Dynamik ist nicht erloschen, wie sich darin zeigt, dass nach wie vor ›nationale‹ literarische Öffentlichkeiten das Bild der europäischen Literatur prägen: vom ersten Auftreten eines Autors über die Selektions-und Urteilsmechanismen der ihn etablierenden Kritik bis hin zu seiner Präsentation gegenüber einem ›ausländischen‹ Publikum als Autor seines Landes. Eine europäische Öffentlichkeit als der eine, sich in idealer Gleichzeitigkeit öffnende Raum für den Auftritt des europäischen Schriftstellers existiert nicht. Die kritische Vokabel vom ›europäischen Rang‹ eines Autors ist insofern bemerkenswert, als sie die besondere Ebene zu Bewusstsein bringt, auf der die Literaturen Europas miteinander kommunizieren oder zu kommunizieren vorgeben, eine Ebene, auf der die individuelle Ambition des Schriftstellers und das Bedürfnis der ihn umschließenden literarischen Kultur seines Landes, den Prozess der wechselweisen Durchdringung und Neufindung der Literaturen in Gang zu halten, eine ebenso flüchtige wie eindrucksvolle Liaison eingehen.

Was also heißt ›europäische Literaturgeschichte‹? In seiner nachdenklichen – und gewiss auch parodistischen – Parabel über das Abenteuer der literarischen Hermeneutik, Das Foucauldsche Pendel, lässt Umberto Eco drei Lektoren eines Verlags für okkulte Literatur den Roman einer gemeineuropäischen Verschwörung erfinden, die, ausgehend von der Zerschlagung des Templerordens zu Beginn des 14. Jahrhunderts, sich wie ein roter Faden durch die frühen Nationalgeschichten Europas zieht und deren durch die Gregorianische Kalenderreform von 1582 versprengte Glieder sich in den Schriften der englischen und deutschen Rosenkreuzer verschlüsselte Botschaften zukommen lassen. Zweierlei ist daran bedenkenswert. Erstens die – selbstverständlich fiktive – Entstehung der modernen europäischen Literaturen (wenn man die mystisch dekorierten Schriften der geheimbündlerischen Frühaufklärer als einen Beginn akzeptiert) aus dem Scheitern des »Großen Plans« der Wiedergeburt des »alten Europa«, des Europa vor dem umfassenden Experiment der Entzweiung, und die ironische Auslegung ihrer Entfaltung als Austausch ins Ungewisse zwischen den gegeneinander isolierten »Rittern« des entschwundenen Ordens. Zweitens das Scheitern der Interpreten, deren methodisches Wissen darum, dass im Gang der einmal begonnene Aufklärung jede gefasste Idee wieder zerrieben wird (sie also nur als Erfinder eines »Romans« vor sich selbst das Gesicht wahren können), sie nicht daran hindert, am Ende in die lebensgefährliche Nähe von Glücksrittem und Scharlatanen zu geraten, einem Personenkreis, der das Ziel, an dessen Bestimmung die Interpretation sich abarbeitet, immer schon kennt und pünktlich zur Stelle ist, als der allgemeine Konvent, die Erfüllung des »Großen Plans«, sich abzeichnet. Damit ist manches über den Stand und die Motive des hermeneutischen Geschäfts gesagt, das sich direkter Kritik gewiss vehement entzöge.

»›Wenn es den Großen Plan gibt, muss er alles mit einbeziehen. Entweder er ist global, oder er erklärt gar nichts‹«, sagt an einer Stelle der Linksintellektuelle Belbo mit jenem offenbar unaufbrauchbaren Eurozentrismus, ohne den, wie es scheint, das ›Geschäft‹ nicht zu betreiben ist. Und Diotallevi, der Kabbalist, antwortet: »›Wir sind dabei, schrittweise die Geschichte der Welt zu rekonstruieren... Wir sind dabei, das Buch neu zu schreiben. Das gefällt mir, das gefällt mir!‹«

Der Hermeneut, zwischen beiden vermittelnd, schweigt. Aber er macht mit.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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