1.
Wie man weiß, ist der Weg ins Nichts mit Hindernissen gepflastert. Kein Schriftsteller, der sich ihrer liebevoller und inständiger angenommen hätte als E.M. Cioran: fluchend, nörgelnd, ätzend und vergrätzt, immer aber mit dem Sinn für die großen und kleinen Pointen dieses Hindernislaufes, nach dem man bei der Konkurrenz von der Esoterikerfront vergeblich Ausschau hält. Zu fürchten ist allerdings, dass nur wenige Leser das komische Œuvre begreifen, das er einer eher desinteressierten Nachwelt hinterlassen hat. Auch wäre ich meiner eigenen Einschätzung keineswegs sicher, wäre ich nicht in meiner Studentenzeit eines schönen Tages die Stufen zur Wohnung des Verfassers hinaufgestiegen, um seine Bekanntschaft zu machen. Aus dem Besuch ging eine etwas schmalbrüstige Freundschaft hervor, deren Reiz für den alten Herrn wohl auch in der Neugier gründete, die er für alles Deutsche an den Tag zu legen pflegte.
Hier und da begegnet man dem Niederschlag dieser Neugier in seinen Schriften. Er bezeugt jene Mischung aus Respekt und Geringschätzung, die schon Dostojewski gegenüber den Deutschen bekundete und die das Neben- und Ineinander von Tüchtigkeit und Pedanterie, von gedanklicher Präzision und mentaler Enge verrechnet, durch das dieses Volk seinen östlichen Nachbarn auffällig ist. Originell sind solche Fremdbilder selten; man könnte also über sie zur Tagesordnung übergehen. Cioran allerdings knüpft daran den Vorwurf an die Adresse der Deutschen, anders als die Franzosen oder Engländer keine Staatsidee verwirklicht zu haben, die ihren theoretischen Leistungen angemessen gewesen wäre. Den nationalsozialistischen Irrlauf deutet er als Ergebnis dieses Versäumnisses oder Unvermögens:
Nachdem sie die Leitmotive der modernen Welt ausgedacht und entwickelt, Hegel und Marx hervorgebracht hatten, wäre es ihre Pflicht gewesen, sich in den Dienst einer universellen Idee zu stellen, anstatt einem Stammeswahn zu huldigen.
Wer aus solchen Gedankenspielen auf marxistische Sympathien schließt, geht in die Irre. Der bloße Gedanke, eine Idee sei etwas, was man durchführen müsse, reibt sich heftig am Skeptizismus des aus der Rolle gefallenen Mystikers. Auch das ambivalente Urteil über Nietzsche hat hier seinen Ursprung. Nietzsche ist der Prediger, der zum Propheten wird. Das ruft nach Häme. Cioran-Leser kennen das Scherbengericht über den heiligen Paulus. Die wundersame Wandlung des Saulus gilt Cioran als die Renegaten-Nummer schlechthin, mit allen unappetitlichen Begleiterscheinungen. Dem Urteil über Nietzsche fehlt diese Schärfe – wohl deshalb, weil Nietzsche die Wendung gegen das Christentum und seine metaphysischen Anhängsel vollzieht. Aber es gibt Berührungen. In Ciorans Augen erscheint Nietzsche als ein Renegat des deutschen Idealismus, als Täuscher. Wie Paulus ist er ein Irrläufer, der in entscheidenden Punkten seine Herkunft nicht ablegen kann und deshalb zwanghaft verleugnet. Aus der Art geschlagen und ihr dennoch oder gerade darin bis zum Ende verhaftet: so lautet das Verdikt. Witzigerweise entfernt sich dieses Urteil nicht so weit von den Grundlagen des Tribalismus, den Cioran den zeitgenössischen Deutschen vorwirft.
Denkt man an den Nietzsche-bewegten Vortrag Volk und Geschichte im Denken Herders, den Hans-Georg Gadamer 1940 im besetzten Paris hielt, so ergeben sich bedenkenswerte Bezüge. Dem deutschen Denken und damit der deutschen Nation, so Gadamer damals, falle die Sendung zu, die abstrakten Antagonismen der Moderne zu heilen, die durch die Französische Revolution und ihre Folgen in die Welt gekommen seien. Die Deutschen, heißt das, haben die Moderne zwar nicht hervorgebracht, aber sie haben sie zu Ende gedacht und stehen bereit, sie zu überwinden. Dass sich Ciorans (Alb-)Traum von kommenden Barbarenreichen nach 1945 an andere Namen heftet, verdankt sich dem Umstand, dass die Nazi-Barbarei die historische Sendung der Deutschen in doppelter Weise abbricht: durch die Preisgabe des Idealismus ebenso wie durch die vernichtende moralische und physische Niederlage, in die sie die Nation führte. Wie immer man – mit Gadamer oder Cioran – die zur Realisierung drängenden ›Nationalideen‹ verstanden wissen möchte, fest steht, dass sie kaum dem entsprechen, was wir heute als ›westliche Werte‹ bezeichnen, dass sie vielmehr in Konkurrenz mit ihnen gedacht werden sollten oder müssten. Die neue Barbarei entspringt im Osten, wenn nicht in Deutschland, dann in Russland, wenn nicht in Russland, dann auf dem Balkan. Mit Nietzsche zu sprechen: in den Gedankenspielen Ciorans ist viel Balkan-Luft, auch heiße Luft, wie der hier und da unwillig werdende Leser zu konstatieren nicht umhinkommt.
Und doch findet man man gerade in ihnen die Emigranten-Lektion durchgeführt: Während unser Autor den kommenden Barbareien das Wort redet, die den realisierten Nationen einen mehr oder weniger schönen Untergang bereiten werden, erklärt er sich in deren Dekadenz heimisch und macht sie zu seiner ureigensten Sache. Inmitten unaufhaltsamer Umwälzungen steht der Denker auf der anderen, der sicheren Seite der Geschichte:
Wir sind [zu] reif für neue Morgenröte, wir haben zuviel Jahrhunderte erfaßt, als daß wir neue begehrten, und so bleibt uns nichts übrig, als uns in der Schlacke der Kulturen zu wälzen. Nur für Milchgesichter und Fanatiker hat der Gang der Zeit noch etwas Verlockendes.
2.
Damals verblüffte mich, wie wenig der Gesprächspartner Cioran von jener mönchischen Energie ausstrahlte, die ich in seinen Schriften erkennen zu können glaubte. Cioran politisierte gern und ausgiebig. Die Art, in der er es tat, verstärkte den bereits bestehenden Leser-Eindruck, dass hinter seinen Denkfiguren Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre standen, der Zeit also, in der er Europa kennengelernt und sich im Exil eingerichtet hatte.
Es ist eine Zeit der Entscheidungen. Als der Humboldt-Stipendiat 1937 in Paris eintrifft, der Endstation einer Reise, welche die klassischen Züge einer intellektuellen Suche trägt, bringt er eine Karte der europäischen Angelegenheiten mit, in die er in den kommenden Jahren zwar noch den einen oder anderen Zug einzeichnen wird, die aber im wesentlichen keine Änderungen mehr zulässt. Die Option für Paris ist auch eine gegen Berlin. Was immer sich an persönlichen Aspekten mit ihr verbindet, es bleibt eine Option für den Intellektualismus, der im Deutschland jener Jahre verpönt ist. Nach dem Krieg dienen ihm seine deutschen Gesprächspartner zur Belustigung im weitesten Sinn: ihre rituelle Distanzierung vom nationalen Kollektiv muss ihn wie eine unverhoffte Karikatur seines eigenen Denkwegs erheitert und erschreckt haben.
Dieser ›Denkweg‹ – das Wort sei gebraucht, weil es nicht zum Repertoire des Autors gehört und das Dilemma des statischen Denkers so prachtvoll illustriert –, dieser Denkweg ist gezeichnet durch Verwerfungen, durch Druck- und Sogverhältnisse, die sich der Iteration verdanken. Das kann kaum überraschen: Wer sich der ewigen Wiederkehr ein und desselben Gedankens verschreibt, liefert sein Denken unweigerlich an Kontingenzen aus, die er weniger überblickt als durchlebt. Wer das Denken zum Assistenten der Weltflucht und der Ekstase macht, nötigt es zu den immergleichen Klimmzügen. Die Frage ist also, wie ernst er das Denken nimmt und wie lang die Reise wird, auf die er es schickt. Der Mystiker Cioran endet als Rabulist, nicht, weil ein Verhängnis ihn dazu trieb, sondern weil er alt genug wurde, um sich zu überleben.
Über kurz oder lang macht das bloße Weiterleben jedem fixen Gedanken den Prozess. So jedenfalls will es die Erfahrung eines Denkens, dem nur das erfahrene, sprich: das erlittene Denken etwas gilt. Im Falle Ciorans ist es eher ein Ungedanke, der sich in ein Gehäuse einkerbt, das ihm nach und nach zum Gefängnis wird. »Ich erinnere mich«, schreibt er im Buch der Täuschungen,
mit unbändiger Rührung an die außerordentliche Wirkung, die Georg Simmels Worte auf mich ausübten: ›Es ist erstaunlich, wie wenig von den Schmerzen der Menschheit in ihre Philosophie übergegangen ist.‹
Das Denker-Idol ist identisch mit dem Philosophen, der die Philosophie ad acta legt – weniger aus Müdigkeit als aus der Überzeugung, dass dies ihr angemessener Ort ist, da sie ›den Menschen nichts zu sagen hat‹.
Wissen und dich Trösten begegnen einander nirgends. Die Philosophen kennen nichts, was ihnen not tut... Jede Philosophie ist enttäuschte Erwartung.
Stimmt das? Vielleicht. Aber auch wenn es so wäre, ließe sich fragen, was damit entschieden wäre. Ist eine absolute Erwartung nicht von vornherein enttäuschte Erwartung? Wäre es nicht legitim und sogar zwingend, sie zu enttäuschen, soll heißen, die Täuschungen namentlich zu benennen, die sich hinter dem Ideal der auf eine trügerische Dauer gestellten Ekstase verbergen, bevor die schlaflosen Nächte vorsätzlich induzierter Qual sie abzunutzen beginnen? Was hat die Zermürbungsschlacht, die das Individuum gegen sich selbst führt, sobald es eigenes und fremdes Leiden als Mittel einer Gottwerdung im Gemüt zu plündern beginnt, der ihre Abstürze von vornherein eingeschrieben sind, dem Denken voraus, das seine Mittel wägt, bevor es die nächstbeste Behauptung über den Zweck des Daseins ›in den Raum‹ oder vielmehr ins Schaufenster stellt? Was könnte sie bewirken, das den Tonfall der Überlegenheit in Sätzen wie »Ideen, die nicht ein Schicksal widerspiegeln, sondern andere Ideen, haben überhaupt keinen Wert« rechtfertigen würde? Was könnte diesen einen gegen die einfache Umkehrung immunisieren, die lauten könnte: ›Schicksale, die nicht eine Idee widerspiegeln, sondern andere Schicksale, haben überhaupt keinen Wert‹? Was außer der Einsicht, dass es sich beide Male um gehobenen Humbug handelt, den gegeneinander abzuwägen den Aufwand nicht lohnt, weil man sich erst darüber unterhalten müsste, was eigentlich Ideen sind und wie sie fungieren? Das wiederum hieße zu philosophieren, und wie sagt der Autor?
Schmerzlich, aber wahr: ihr könnt so viele Philosophen lesen, wie ihr wollt, aber ihr werdet nie fühlen, daß ihr andere Menschen werdet.
Fühlen also müsst ihr, es sei denn... es sei denn... Aber warum stocke ich? Worin liegt die Nötigung seitens eines Gefühls, das sich nicht von selbst einstellen will? Wieviel ist eine erzwungene Unmittelbarkeit wert, wenn der Wert gerade in der Unmittelbarkeit liegen soll, die dem Gefühl im Gegensatz zum Gedanken eignet? Und wer sagt mir eigentlich, Gedanken seien dem Denkenden weniger unmittelbar als Gefühle? Wer schließlich sagt mir, Unmittelbarkeit sei ein Wert und sogar der Wert, ohne den alles nichts wert sei? Solche Fragen drängen sich auf, manche davon sind unabweisbar, unabweisbarer jedenfalls als ein durch mancherlei Seelengymnastik ›errungenes‹ Gefühl. Wer sie aussperrt, den suchen sie durch die Hintertür heim. Dort aber lauert die Angst.
Das Buch der Täuschungen ist 1936 in Bukarest erschienen, liegt also vor der Erfahrung, deren lapidarste Fassung lautet: »In Gott bist du einsamer als in einer Pariser Mansarde.« Was zu beweisen wäre, wenn irgendeine Art von Beweis denkbar erschiene. Fest steht, dass der Hunger nach Gott, eingesperrt in die Pariser Mansarde, einen anderen Geschmack und eine andere Prägung gewinnt, so dass selbst einem, der sich zu rühmen untersteht, »[e]s würde mich stören, als Anhänger Schopenhauers oder Nietzsches bezeichnet zu werden; doch würde ich meiner Freude Herr werden können, wenn man mich der Heiligen Jünger hieße?« irgendwann zwangsläufig der Gedanke kommen musste, nicht mehr ganz der alte zu sein, so wie dieser Gott, der jetzt wechselweise das Nichts und die Leere heißt, je nachdem, ob sich der Autor mehr westlichen oder östlichen Meditationsformen anzunähern beliebt. Ausgesperrt bleibt bei alledem die Philosophie: dem Denker, der sich usque ad infinitum in den Paradoxien der Existenz herumwirft, scheint die eine unbekannt geblieben zu sein, die da lautet: Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Nicht von ungefähr wurde sie von Heraklit an den Anfang der Philosophie gestellt. Dort steht sie gut.
Es gibt Schriftsteller, die in einer Situation wie der Ciorans widerrufen oder verstummen. Und wirklich hat ihn die Figur des Renegaten zu verschiedenen Zeiten beschäftigt. Als Mittel der Selbstauslegung scheint er sie schließlich verworfen zu haben. Stattdessen erobert sich er sich ein neues Feld, bevor er im Alter tatsächlich verstummt: die Kehrseite der Ekstase, die Höllenstürze, die sie unweigerlich im Gefolge hat, die abgewunkenen Aufbrüche, die Leerzeiten des Süchtigen, die Qualen des Entzugs. Man darf bezweifeln, dass die Fülle seiner Beobachtungen, Notate, Zynismen einen wirklich neuen Gedanken enthält. Doch das hat, in der Weise der Groß- wie der Kleinschreibung, nichts zu bedeuten. Ein jedes Nichts kommt gerade recht, wenn der Denker die Qual der Erkenntnis beschreibt, nachdem er die Qual als Mittel der Erkenntnis in Anschlag gebracht hat. In den Jahren, in denen die Vordenker des kommenden Existentialismus sich für die vor ihnen liegenden Aufgaben präparieren, macht Cioran die erschütternde Erfahrung, dass, wie die Qual, sich auch das Nichts abnützt – abnützt durch den Gebrauch, den der Einzelne von ihm macht, abnützt durch eine Wiederholung, die erst das Denken als Wiederholung kenntlich macht, die also in der Erfahrung des Sich-Wiederholens sich als Denkakt und ihren Inhalt als einen Gedanken just der Sorte offenbart, deren Nutzlosigkeit er den Philosophen vorwirft. Die tragische Episode im Leben des E.M. Cioran besteht in der Entdeckung zu philosophieren. Von diesem Augenblick an – immer existiert ein solcher Augenblick, auch wenn keine Erinnerung ihn herbeizuzitieren vermag – ist seine Niederlage besiegelt. Die wohlerwogene Entscheidung, von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr zu schreiben, verdankt sich dem im Laufe der Jahre immer schwerer zu überwindenden Ekel vor der Wiederholung, der zum Selbstekel wird und die Einsicht in die Bedingtheit der eigenen Schreib- und Denkart forciert.
3.
In welchem Sinn, so lässt sich fragen, ist ein solcher Mensch Nietzscheaner? Wie die Stelle über Nietzsche und die Heiligen beiläufig verrät, gehört er zur Klasse der süchtigen Leser. Davon gab es im Europa seiner Zeit mehr als genug. Selbstverständlich ist der Schriftsteller Nietzsche auch als Projektionsfläche nützlich, wenn es darum geht, die eigene Denk- und Schreibweise zu stilisieren. »Nietzsche bietet eine Summe vielfältiger Haltungen«, heißt es in einem Aufsatz über den Umgang mit den Mystikern,
und es hieße ihn erniedrigen, wollte man ihm einen Willen zur Ordnung unterstellen, ein Streben nach Einheit. In seinen Launen befangen, hat er deren Wandlungen registriert. Seine Philosophie ist Meditation über seine sprunghaften Einfälle, und die Gelehrten haben unrecht, wenn sie Konstanten herausklären wollen, die sie verweigert.
Leider, muss man ergänzen, wissen ›die Gelehrten‹ nur zu gut, dass es unmöglich ist, Konstanten zu vermeiden. In einem ganz anderen Sinn verschwindet das Problem, wenn man sich klarmacht, dass eine literarische Existenz wie diejenige Ciorans während der vierziger und fünfziger Jahre in Deutschland nicht vorstellbar wäre. Eine solche Aussage bleibt, wie immer, unverbindlich: alles ist denkbar. Aber es gehört zu den objektiven Bedingungen dieses Schreibens, dass Nietzsche in seiner Sprache nicht existiert. Die Ausrichtung, zu der die Pariser Mansarde sein Denken nötigt, hätte es im deutschen Sprachbereich unweigerlich schal werden lassen. Ciorans Hinwendung zur französischen Sprache koinzidiert, bei aller Triftigkeit der geschichtlichen und lebensgeschichtlichen Gründe, auch mit der mehr oder weniger zwingenden Einsicht, dass die Position, die er als Schriftsteller einzunehmen sich anschickte, in ihr noch frei war, während er im Medium der deutschen Sprache, bei aller individuellen Differenz, über einen zweitklassigen Nietzsche-Aufguss nicht hinausgelangt wäre.
Der Wechsel ins Pariser Milieu ermöglicht das ungehemmte Einfließen von Nietzscheanismen in seine Schriften nicht nur, sondern macht es beinahe zwingend. Erst dem skeptisch geimpften, psychologisch versierten und gegen die Zumutungen einer mit dem Materialismus verbündeten Gesinnungsethik ideenkritisch immunisierten Mystizismus konnte es gelingen, den Anmutungen der Ideologismen der dreißiger Jahre auch außerhalb bestimmter osteuropäischer Emigrantenkreise standzuhalten. Hier von Einfluss zu reden, erscheint müßig: eher bestand die Aufgabe darin, sich ein Waffenarsenal zuzulegen und den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Im Grunde genügt Nietzsches Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, um ein Brevier für Überlebenskünstler seines Typus zusammenzustellen. Der Rest sind Lektüren. Man fühlt sich ebenso gerührt wie erheitert, wenn man in der deutschen Übersetzung der noch auf rumänisch geschriebenen Gedankendämmerung die folgende Formulierung liest:
Ich will in die Geschichte des menschlichen Geistes mit der Brutalität eines mit dem raffiniertesten Diogenismus geschmückten Metzgers eingreifen.
Nur zu! möchte man ermuntern; erwägt man die Attitüde, die durch die holprige Übersetzung hindurchscheint, so versteht man, dass hier einer seine eigene Götzen-Dämmerung vorbereitet und wild entschlossen ist, zu diesem Zweck mit dem Tranchiermesser zwar vielleicht nicht zu philosophieren, aber jedenfalls herumzufuchteln. Es verschlägt wenig, dass man nicht recht erfährt, ob in diesem Fall der Hammer des Wertezertrümmerers oder das Auskultationshämmerchen des Moralisten zur Sammlung gehört. Früher oder später entdeckt der Selbstdenker die fatale Sogkraft der Mimesis. Der alsbald sich einstellende Ekel vor der Wiederholung ist also doppelt motiviert, und es gereicht Cioran zur Ehre, das Problem erkannt und auf eine nicht unplausible Weise gelöst zu haben.
Das Problem der Wiederholung ist ja selbst ein Nietzsche-Problem, und da letzterer als klassischer Philologe seinen Heraklit respektiert, ist er geneigt, es im Goetheschen Sinn anzugehen, also als Steigerung: in diesem Milieu ist ›Dekadenz‹ kein Schimpfwort, sondern eine Vokabel, die Ambivalenzen verbürgt. Selbst der Gedanke der ewigen Wiederkehr verschränkt sich auf eine logisch etwas undurchsichtige Weise mit dem Gedanken der Steigerung; ohne den einen bliebe vom anderen nicht viel zu berichten. Hier also ließe sich eine absichtsvolle Differenz zwischen Cioran und Nietzsche konstatieren, ein willkürliches Ausbrechen des Adepten aus eingefahrenen Gleisen der Auslegung kultureller Prozesse, die den Prozess der Selbstwerdung einschließen. Streng genommen gibt es diese Selbstwerdung für Cioran nicht. Wenn das Selbst eine biologisch vorgegebene Illusion ist, die es in Richtung auf das Nichts zu überschreiten gilt, dann gibt es auch nichts, was sich steigern ließe. Im Gegenteil, jeder Versuch, das individuelle Dasein zu steigern, ist nur geeignet, jene ›Fresse‹ im Antlitz des Arrivierten hervortreten zu lassen, die mehr als alles andere den Unwert des Erreichten – und Erreichbaren – unterstreicht.
4.
Den Gedanken der Abnutzung formuliert Cioran am Beispiel der Todesangst. Er schreibt:
Um dich von dem Erbteil des Menschlichen zu läutern, lerne den Tod in dir, den Tod an deinen Kreuzwegen zu ermüden, aufzulösen, zu korrumpieren.
Was als probates Rezept erscheint, um die Angst zu bekämpfen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als der Versuch, einen fatalen Mechanismus für einen begrenzten Zweck arbeiten zu lassen, der über alle Zwecke hinaus das Leben des Geistes bestimmt:
Der Sterbensdrang muß dich lange ergriffen haben, damit du den Todesüberdruß kennenlernst. Angeödet von der Untergangssucht schlägst du ins Gegenteil der Angst vor Selbstverlöschung um.
Damit nicht genug:
Obgleich der Tod genauso wie Gott das Ansehen des Unendlichen genießt, gelingt es ihm – wie diesem – auch nicht, die Qual der Übersättigung zu verhindern oder die Bürde des Exzesses und die Gereiztheit langwährender Intimität zu lindern. Wenn uns das Unendliche nicht langweilte, gäbe es denn noch Leben?
Wenn uns der bestimmte Gedanke nicht langweilte, so ließe sich fortfahren, gäbe es dann noch Denken? Denn auch ein mit Inbrunst gedachter Gedanke bleibt Gedanke. Allerdings teilt jene mit der Gedankenlosigkeit die fatale Eigenschaft, von einem Extrem ins andere zu fallen und den sinnlosen Wechsel für einen Fortschritt ins Ungewisse zu halten. Im Unendlichen, wie Cioran es versteht, herrscht Kreisverkehr. Dessen endliche Komponente findet er in der Dekadenz; die Angst vor dem Verlust der Vitalität beherrscht das brünstige Denken und nährt sein Grauen vor sich selbst.
Cioran, das ist der eingebildete Kranke: mit einem Tritt aus dem Bett zu befördern, wie es bei Kafka heißt. Sein Leiden heißt Dekadenz; nachdem er alle Welt damit infiziert sieht, fällt es ihm leichter, das Übel am eigenen Leib zu diagnostizieren und zu relativieren. Am eigenen Leib: also an demjenigen Teil der Person, der uns zwingt, jeden Morgen und jeden Abend die Komödie der Auferstehung und der Grablegung aufzuführen, wie die Lehre vom Zerfall das nennt, und dabei der allmählichen Abnahme seiner Kräfte und Fertigkeiten zuzusehen. Vom Geist ist dabei nicht die Rede: weder kompensiert er den Zerfall noch beschleunigt er ihn. Der Geist – oder das, was dieser Expropriateur nächtlicher Bitternisse dafür hält – ist sein Begleiter, allenfalls sein Agent. Was wäre der schönste Abbau von Kräften, wenn ihm der Geist nicht zuspräche? Darin besteht eines der nicht quantifizierbaren Gesetze der Ökonomie, die stets eine Ökonomie des Leidens ist; ohne Dekadenz gäbe es nur Verschwendung. Das Erste aber bleibt das Blut. »Alle Luzidität ist Ruhepause des Blutes.« Eine Überzeugung, der man erst dann richtig auf die Schliche gekommen ist, wenn man entdeckt, dass er Gott einen Bluterguss nennt.
Skeptische Hoffnungslosigkeit und dogmatischer Trotz, so heißt es in Kants Kritik der reinen Vernunft, sind der »Tod einer gesunden Philosophie, wiewohl jener allenfalls noch die Euthanasie der reinen Vernunft genannt werden könnte.« Dem würde Cioran zustimmen, er würde es allenfalls um die Bemerkung ergänzen, ein solcher Satz bringe seine Einwände gegen die Philosophie wie gegen die Gesundheit auf den Punkt. Dekadenz, darauf beharrt er mit einem Eigensinn, der den Liebhaber fixer Ideen anzeigt, ist die praktizierte Unfähigkeit, ohne Gewissensbisse zu morden. Dass die Henker dieser Welt Gründe benötigen, um ihr Handwerk zu verrichten, zeigt das volle Ausmaß der Katastrophe. Das ist zynisch – oder ›diogenetisch‹ – gedacht, aber in Maßen: Gründe hemmen den Lauf des Geschehens, sie strecken das Leben, das gelebt, nicht bedacht sein will. Und was heißt schon ›bedacht‹? Äußerste Verbrauchtheit zeigt sich bereits im Wort – nicht in diesem, nicht in jenem, sondern im Wort schlechthin: »Es gibt etwas«, schreibt er,
das an Schmutzigkeit, Abgenütztheit und Zerrüttung selbst der gesunkensten aller Dirnen nicht nachsteht – ein den Zorn Reizendes und zugleich Irremachendes, einen allaugenblicklichen Gipfelpunkt unserer Wut: das Wort, jedes Wort, oder, genauer gesagt, das Wort, dessen man sich gerade bedient. Ich sage Baum, Haus, ich herrlich, dumm; was ich auch sagen mag, jedesmal träume ich dabei von einem Mörder, der endlich mit diesen Haupt- und Beiwörtern, mit all diesem ehrwürdigen Gerülpse aufräumte.
Aber dazu, jedermann weiß es, bedarf es keines Täters: der Tod, der unweigerlich mit den Wörtern ›aufräumt‹, ist der Mörder des Geistes, der Körper erschlägt den Geist, der schon lange von diesem Augenblick träumte.
Wer ›Leben‹ sagt, der vergeht sich an ihm. Leben lebt. Genuiner Ausdruck dieses Sachverhalts ist der Totschlag am Anderen. Jeder Mord, den sich einer versagt, ist ein Stück Zerrüttung, er vergiftet den Körper, er bezeugt jenen Abfall vom Absoluten, den Cioran – nicht sehr originell – ›Zersetzung‹ nennt. Mit diesem Bekenntnis allein reiht er sich in die intellektuelle Narrenzunft jener Jahrzehnte ein: der Liberalismus, das Geltenlassen ist für ihn das Stadium der Agonie im Leben des Einzelnen wie der Kulturen. Nur die Weise, auf die er es tut, macht ihn verdächtig: der Mord als schöne, als politische, als kranke Tat, sie alle haben ihre Rechtfertigung erhalten und wieder entzogen bekommen, je nachdem, wie sich das allgemeine ›Klima‹ gestaltete, in dem ›Denken denkt‹, falls dies kein Euphemismus sein sollte. Der Nachdruck, mit dem Cioran bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf die Mordlust als das primum mobile der Gattung zurückkommt, besitzt einen Beigeschmack von Hohn, wenn nicht von Satire.
Hohn worüber? Die Frage lässt an einen Ausspruch denken, der sich auch in den Erinnerungen weiterer Gesprächspartner finden dürfte. Jean-Paul Sartre, so Cioran, musste erst gestorben sein, damit er – Cioran – da sein konnte. Sartre, das war für ihn – bei aller denkerischen Eleganz – unter den Zeitgenossen der Moraltrompeter von Säckingen, den er noch aus den skeptischen Tiraden des bewunderten mittleren Nietzsche herauszuhören gelernt hatte und dessen Fanfaren ihn den »Zarathustra« für ein törichtes Buch halten ließen. Damit aber war jener, wenn schon nicht der Feind, so doch das ideale Objekt jenes Hasses, den er so oft beschreibt und den er im Selbsthass zu erlösen gedachte – auf Kosten eines Selbst, an dem ihm – wiederum idealiter oder eher virtualiter – nichts lag.
Nicht selten hat es den Anschein, als gebe er Nietzsche in seinen Büchern noch einmal, mit allen Peinlichkeiten, die ein solches Unterfangen bereithält. Der Eindruck beschränkt sich nicht auf die aphoristische Form und den persönlichen Schreibduktus – hier bleibt er seltsam oberflächlich. Weder Ciorans Stil noch seine Denkweise sind ›nietzscheanisch‹, jedenfalls wenn man vertretbare philologische Maßstäbe anlegt. Dennoch wimmelt es von Nietzscheanismen selbst dort, wo er ihm explizit widerspricht. Die Diffusion dessen, was man seinerzeit nietzscheanisches ›Gedankengut‹ nannte, unter den Schriftstellern seiner wie bereits der vorangegangenen Generation lässt seine Reflexionen als eine Art Fokus erscheinen, der das Zerstreute bündelt und bei dieser Gelegenheit die Spuren fremder Behandlungen, nicht selten Misshandlungen an den Tag bringt. Cioran, der Lumpensammler des reaktionären Nietzscheanismus – man könnte an diesem Bild Gefallen finden, wenn es nicht, wie gesagt, den Satiriker unterschlüge, der Meinungen absondert, um sie abzusondern und ihrer Absonderlichkeit preiszugeben. Eine Atmosphäre des Ausverkaufs herrscht spürbar in den späteren Schriften. Was immer sie berühren, sie verramschen es zu Preisen, die deutlich unter den Herstellungskosten liegen. Die Leidenschaft des Aphoristikers passt sich der Leidenschaft des Verkäufers an. Logik, Psychologie, Sprache – die Herkunft eines Gedankens wiegt gleich viel, gleich wenig: es läuft stets auf dasselbe hinaus; das Eingeständnis des Besitzers, ihn sich nicht mehr leisten zu können, also fort!
Man denke sich Cioran als einen entfernten Nachfahren Nietzsches: Le petit N. Das war nicht immer so. Der Balkan – am Ende beinahe ebensosehr ein Produkt der Einbildungskraft wie Nietzsches Florenz – bleibt als Quellgebiet jener traurigen Mordlust, die Leben heißt, allgegenwärtig. Dazu zählt das vergangene eigene wie das künftige Leben des Erdteils, das er nicht mehr kennen wird, weil er sich früh entschieden hat: für das Exil, für die Dekadenz, für den Teil Europas, der etwas pauschalisierend der Westen genannt wurde und die amerikanische Option noch ausschloss. In gewisser Weise beendet das heutige amerikanische ›Eingreifen‹ auf dem Balkan die Geistesepoche, in der ein Cioran seinen Platz fand; ich versuche mir vorzustellen, was er dazu gesagt hätte, und verzichte. Man darf davon ausgehen, dass einer wie er kaum mehr als die Funktion des Pausenclowns erfüllt. Da erscheint es nur gerecht, dass jede Art neuer Ordnung seinesgleichen automatisch ausschließt. Der Lektüre tut es ohnehin keinen Abbruch.
Zu den Sätzen, an denen man einen Schriftsteller unweigerlich auch dann erkennt, wenn die Indizien gegen ihn sprechen, dürfte der folgende gehören:
Alle Menschen müssen ihr Leben vernichten. Und entsprechend der Art und Weise, wie sie es zerstören, heißen sie Sieger oder Versager.
Das schreibt nur einer, dem es nichts ausmacht, als Sieger und Versager dazustehen. Sagen wir, eine glückliche Mischung.