Aesthetica

1

Winzig die Häuser mit spitzen Giebeln,
Dörfer, endlos, soweit das Auge reicht:
so sieht es der Dichter,
aus Westen kommend,
im Anflug auf Frankfurt.
Während die Maschine sacht ausrollt,
bemerkt er, zufrieden lächelnd, das trabende Gelb,
Braun, Rot – diese beiden vor allem – der Bäume,
den deutschen Herbst.

Messezeit, Dichterzeit,
Zeit der Zugvögel, Zeit,
bedeutend zu sein
in Blicken und Gesten.

2

Was geschieht, geschieht. Aber
es rächt sich auch. Dieser da,
er begegnet sich selbst. Wirklich
überrollt von der kalten Sonne,
trifft er den Grund seines Hierseins
auf einer Plakatwand.

Ein Pissoir. Voilà.
Der Mann tritt
in den Raum seiner Wünsche, zum Abschied
zieht er ein Päckchen Kondome. Bewegt
liest er die Marke. Im Fach
liegen die Präservative
Seite an Seite, passend für jeden Verkehr.
Heimlich über dem Becken wächst
das Göttliche auch.

3

Frankfurt am Main empfängt seine Gäste
zweimal: erst offiziell, unter dem weltoffenen Himmel,
darm, einzeln, unter vier Augen.
Mit hochgezogener Braue raunt es,
die braune Pest, sie steige im Lande.

Aber wohin ist der blonde Jüngling
aus Wuppertal? Revier-Engel, sanft befeuert
vom Kampf der Völker. Vereinzelt
in Seminaren sieht man
noch seinesgleichen: ein Bart
kräuselt die Backen, malmend
schiebt er sein Tütchen vorbei.

4

Plötzlich hat das Wort »Ausländer«
einen seltsamen Klang: ein doppeltes Rascheln, das knapp
dem Diener entgeht oder dem Fußtritt, wem eins
auf den Busch klopft. In diesem Herbst
tragen es alle
gleich einer Fackel.

Vertraute Bräuche
gelten nicht mehr. Das Lächeln des Ostreisenden,
kundig der Sehnsüchte drüben, wohin?
Neue Gesichter geben sich wissend, ihr Lächeln
wirkt gequält. Noch immer gilt es den Opfern,
die andere bringen, Opfern,
die keinem leid tun. Daran wenigstens
ändert sich nichts.

Und es geschieht,
dass ihn Verzückung ergreift in diesen Tagen
beim Klang einer Hellebarde
oder im Blick auf ein Mädchenknie,
angewinkelt zwischen Türen aus Leichtmetall
oder Knobelbechern.

5

Leipzig ist eine Stadt,
die sich gern schminkt. Heldenstadt
nennt sie sich jetzt. Man geht dort viel
auf die Straße. Das Schuhgeschäft blüht.
Die Straßenbahn ist zu laut, und die
Nachbarin sächselt. Doch hört man
auch andere Stimmen.

Der Fahrstuhl der Universität,
die früher »Karl Marx«, jetzt gar nicht mehr heißt,
hält nur in ausgesuchten Stockwerken. Man fährt
hoch hinauf, aber immer
zu weit oder, aus Vorsicht, nicht weit genug.

Ein alter Mann im Pausencafé
spricht heut, wie er denkt: »Wir müssen
nicht mehr in den Westen fahren. Der Westen
ist jetzt hier. Der Kaffee schmeckt, und die Mädchen
sehen hübsch aus.« Hoffentlich
nimmt sein Infarkt ihn reinlich hinweg
mit einer Spur dieses Lächelns
noch im Gesicht.

6

Auch Halle ist eine liebliche Stadt. »Auschwitz
auf Raten«? Wer hat das gesagt? Nirgends
las man dergleichen. Ich hörte es leise
gesprochen zu einer Zeit, als die Menschen
manches zu sagen gedachten,
was sie dann ließen. Doch das beiseite.

Heute besteht die Aufgabe darin
– sagen die klugen Leute –,
die Arbeitslosigkeit nicht
als solche, sondern als Chance
zu ergreifen. Eigentlich müssten sich alle
doit tummeln, wo man sie preisgünstig ausgibt,
statt abzuwarten, ob sie ins Haus kommt.
Doch wer im Warten erprobt ist,
läßt sich nicht täuschen.

Es sind nicht die großen Vorträge,
zu denen der Dichter geht,
in denen man gedrängt sitzt
und der Applaus ermüdet. Er geht
zu den Rednern vor leerem Haus,
den Akrobaten im Abseits. Still sieht er zu,
dass ein Blick ihn trifft, dann
schlendert er weiter.

7

Sein Rückflug
ist schon gebucht. Soviel
scheint ihm sicher. Wenn nicht, wäre es Zeit,
sich darum zu kümmem. Dies hier
kümmert ihn nicht. Wo käme er hin? Wohl nicht
ins Land seiner Träume, die fliegen
auf und davon. Und das ist gut so. Er hätte
gewiss das Nachsehen, wäre es anders. Denn bleiben
dürfen die Götter. Und die
wollen noch nicht.


Erstdruck in: O.R

Notizen für den schweigenden Leser

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