Aesthetica

1

Die gute alte Aufklärung hat ein Loch. Meinethalben auch zwei, ich möchte darüber mit Ihnen nicht rechten. Wer suchet, der findet. Wer aber nicht suchet … der findet auch nichts, wollte ich gerade schreiben, da fällt mir ein, dass das so nicht richtig ist, denn manchmal findet auch eine blinde Henne… Eine blinde Henne wie, sagen wir, du und ich, findet nichts dabei, wenn am Ärmel der großen Aufklärung ein Loch klafft. Sie gackert nicht und sie registriert es doch. Schließlich geht es nicht um sexuelle Aufklärung, es geht nicht um Erregung, schon gar nicht um abgestandene. Es geht auch nicht um die ganz große Aufklärung, die wir unseren Vordenkern verdanken, vor allem, seit sie so schweigsam geworden sind, dass jede fallende Nadel ein Getöse verursacht, hinter das niemand mehr zurückkann, wie das seltsame Unwort lautet. Nein, es geht um die Aufklärung von Tag zu Tag, der wir unsere zivilgesellschaftlichen Räusche verdanken, zum Beispiel darüber, dass ein über Mund und Nase gelegtes Tüchlein – … ich hör ja schon auf, ich will sie in dieser Sache nicht weiter nerven, nein wirklich, das ist mir die Sache nicht wert.

Da haben Sie aber ein hübsches Tüchlein. Darf man fragen, wo Sie es erstanden haben? Ausverkauft, sagen Sie? Das ist schade, sehr schade. Na vielleicht gibt’s noch ein paar davon im Internet. Wie ich höre, werden jetzt ganze Fleischfarmen auf Maskengewinnung umgestellt, da legt einer schon Wert auf ein mageres Schmuckstück. Und schön abgehangen, wenn ich bitten darf.

Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, das Loch. Wenn Aufklärung Löcher bekommt, dann ist das kein gutes Zeichen. Sehen Sie, wir verdanken ihr so viel, da können wir nicht einfach zulassen, dass sie mit einem Mal nicht ganz dicht ist. Europa, diese Idee Europa… Andere stellen sich immer Landschaften vor, wenn sie daran denken, wieder andere grunzen das Wort ›Brüssel‹ hervor, als handle es sich um einen Auswurf. Ich hingegen hisse die Flagge der Aufklärung und bestelle mir in ihrem Schatten … ein Steak. Fahren Sie nicht auf, ich erklär’s Ihnen. Aufklärung hat viel mit toten Tieren zu tun, viel mehr, als sich die gebildete Durchschnittseuropäerin träumen lässt. Wenn ich überzeugt davon bin, dass ein Tier eine Seele besitzt, weil ich mir’s nicht anders erklären kann, dass es herumrennt, grunzt, quiekt und sich vermehrt, dann kann ich es nicht schlachten, um es zu verzehren, ohne mir eine Antwort auf die Frage zu überlegen, wohin diese Seele geht, wenn man sie aus dem Körper vertreibt. Zumindest kann es nicht schaden, wenn ich versuche, sie zu besänftigen, damit sie mir nicht aus begreiflichen Gründen Schaden zufügt.

Wenn mich aber jemand auslacht und mir erzählt, dass dieses Tier in Wahrheit nichts weiter als eine Maschine ist und seine Seele weniger als ein Gespenst, nämlich bloße Einbildung meinerseits, dann bin ich eine Sorge los und kann mit dem Kadaver schalten und walten, wie es mir gerade behagt. Nicht nur das: In gewisser Weise habe ich mich gerade selbst in einen Kadaver verwandelt und kann mit mir schalten und walten, dass es eine Lust ist. Aufklärung ist Kadavergehorsam gegen sich selbst. Da ich nicht allein auf der Welt bin, kann ich meine Aufklärung mühelos ausdehnen, bis ich jedem zu Willen bin, nach dessen Herrschaft es mich gelüstet. Das verstehen Sie doch, oder nicht? Sie sind ein lüsterner Vogel, ich sehe es Ihren Augen an, woran Sie denken. Schwamm drüber! Aufgeklärt, wie wir sind, sind wir Sklaven aller Ideen, die, jetzt komme ich auf einen wichtigen Punkt, in unsere Körper einzudringen verstehen. In unsere Körper, ganz recht. Wir nehmen sie also auf, am besten über Augen und Ohren, die Nase lassen wir einmal außen vor, obwohl auch sie…

Die Korpuskulartheorie der Ideen – Sie merken, ich versuche mich kurz zu fassen – kommt ohne den Feind nicht aus. Wie das? Lassen Sie mich’s erklären. Angenommen, ich habe da eine Idee … dann ist sie entweder meine, von mir gefunden oder erzeugt, oder sie ist nicht meine, ein Eindringling, eine fremde Gewalt. Unaufgeklärt, wie ich nun einmal im Kern meines Wesens bin, halte ich mich für den Meister meiner Ideen, ich bin sogar stolz auf sie und fühle mich frei in ihrem Gebrauch. Was macht der Aufklärer? Er klärt mich auf, er zeigt mir im Handumdrehen, dass nichts an diesen Ideen von mir stammt, dass sie nichts weiter sind als materielle Informationen, die ich mir geholt habe wie tags davor einen Schnupfen, und dass sie mich auf ähnliche Weise wieder verlassen werden. Ich stehe also unter dem Diktat der gerade frisch eingeschleppten Idee, während mein Körper – achten Sie bitte auf diese Unterscheidung! – sie bereits erbittert bekämpft, um sie wieder loszuwerden. Die Idee gibt meinem Kadaver das Eigenleben zurück, das die Aufklärung ihm genommen hat! Darauf muss ein Mensch, der seine Sinne beisammen hat, erst einmal kommen.

Aber natürlich … natürlich folgt daraus, dass die Idee mich zwingt, den Feind in mir zu bekämpfen. Die Sprache wirkt an dieser Stelle ein wenig unordentlich, weil sie offen lässt, was in diesem Fall Innen und Außen ist, aber das mögen Philosophen entscheiden. Tatsache ist, die Idee verlangt mir eine Anstrengung ab, und diese Anstrengung richtet sich gegen mich. Ich muss mich – ganz recht! – überzeugen, manche sagen, durch Augenschein, aber das ist, unter uns, in den meisten Fällen ein Märchen. Die wahre Überzeugungsarbeit geschieht innen. Und da mein Körper in seinem Verlangen, den Eindringling wieder loszuwerden, sich nicht abschütteln lässt, entdecke ich in dem verbleibenden Zeitfenster den wahren Feind: den resistenten Anderen. Nichts überzeugt mich mehr als der Kampf, den ich gegen ihn führe.

2

Wo waren wir stehengeblieben? Ganz recht, beim Loch. Wenn die Aufklärung Löcher bekommt, sehe ich in mir den Anderen. Schauen Sie mich nicht an, als sähen Sie mich heute zum ersten Mal. Diese Löcher, sie kommen ganz von allein, sie kommen, wenn Sie so wollen, mit der Zeit. Was hat die Zeit damit zu tun? Ganz einfach: Die Zeit ist die Wirklichkeit der Ideen. Denken Sie darüber nach, dann merken Sie, wie einfach das alles ist. Ihr hübsches Tüchlein zum Beispiel – Sie gestatten doch, dass ich es befühle – soll dieses Virus abhalten, von dem jetzt viel die Rede ist. Haben Sie es oder haben Sie es nicht? Oder Ihr Gegenüber, also ich zum Beispiel: Hat er es oder nicht? Wir wissen es nicht. Es ist so eine Idee, und sub specie dieser Idee ist so ein Tuch mit Sicherheit nützlich.

Dieses mit Sicherheit nützliche Tüchlein hat einen klitzekleinen Nachteil: Es beraubt Sie Ihres Urteilsvermögens. Brausen Sie nicht auf, Sie wissen, ich habe recht. Denn auch Ihr Tüchlein hat Löcher, viele kleine, winzige Löcher, deren Größe nach Webart und Material variiert – darin werden Sie mir doch folgen. Soviel Aufklärung muss einfach sein. Schließlich müssen Sie atmen und dafür brauchen Sie Sauerstoff. Auch das Virus, um das es hier geht, wird schließlich aus- und eingeatmet. Sie kämpfen also, während Sie ein- und ausatmen, mit der Idee des Virus. Der Staat hat es so gewollt und Sie sind sein gehorsamer … siehe oben. Sollte der Staat morgen den Kampf gegen das Neutrino aufnehmen, weil er seine Schädlichkeit für den menschlichen Organismus als erwiesen ansieht und ein neu entwickeltes Antineutrino auf den Markt drängt, dann wird Ihr Körper das Schlachtfeld sein.

Um im Heute zu bleiben: Sie wissen – geben Sie’s zu, Sie wissen es einfach, es wäre eine Beleidigung anzunehmen, Sie wüssten es nicht –, dieses Virus ist ein würdiger Gegner, weil es dem heutigen Stand der Diagnose-Technik entspricht, überzeugend in seiner Winzigkeit, die es dem menschlichen Auge auf ewig entrückt, während die Poren eines vergleichsweise archaischen Tüchleins … man muss nur schärfer hinsehen, um ihrer gewahr zu werden. Natürlich lässt sich so ein Durchmesser messen und Sie wissen auch das Ergebnis. Es besagt, dass ca. zwanzig bis fünfzig Viren mühelos neben- und übereinander durch ein einziges Loch fliegen können, dass also dieses Tüchlein nicht das geringste Hindernis darstellt. Sie wissen das – und schwups ziehen Sie Ihr Tüchlein wieder übers Gesicht, als hätte Ihnen jemand gerade einen unzüchtigen Antrag gestellt.

Sehen Sie: so sieht es aus, das Loch in der Aufklärung. Sie wissen alles und alles hält Sie zum Narren. Ich kann es auch anders ausdrücken: Im Angesicht des Virus quittiert Aufklärung ihren Dienst. Die Theorie schlägt die Praxis. Sie wollen sich schützen und wissen genau, dass sie nur vorschützen. Die Idee des Virus schlägt die Idee des Feindes. »Aber die Aerosole«, werden Sie sagen. »So einfach liegen die Dinge nicht.« Es sind die Aerosole, wollen Sie damit, schon unsicher, einwerfen, die das Virus verteilen – und die, welch Zufall, erreichen nun einmal die Größenordnung der Poren dieser kunstvoll geschneiderten Maske, so dass sie, wenigstens der Theorie nach, dann und wann ein paar davon auffängt. Auffängt? Auffängt, sagten Sie? Sagten Sie wirklich auffängt? Dieses Tüchlein saugt also die Aerosole – und damit die möglicherweise vorhandenen Viren – auf und Sie … saugen sie mit jedem Atemzug zurück? Und das soll gesund sein?

Nein, es soll nicht gesund sein. Es soll die Anderen schützen. Das sagen Sie und lächeln tapfer dabei. Jedenfalls deute ich Ihre angespannte Muskulatur in dieser Richtung. Aber wenn das Aerosol-Tröpfchen weg ist, aufgesogen von Ihrem feuchten Tüchlein, ist das Virus dann nicht frei, zu fliegen, wohin es ihm beliebt?

Jetzt haben Sie aber Oberwasser. »Es wird nicht weit kommen«, rufen Sie im Brustton der Überzeugung. »Seine Flug­eigen­schaften sind beschränkt.« Begreifen Sie, was hier gespielt wird? Spielen wir beide nicht längst Hase und Igel? Sie wollen gehorchen, das ist das ganze Spiel. Sie wollen das Virus loswerden und sind besessen von seiner Idee. Sie haben den Feind intus und Ihr Körper wehrt sich gegen das Tüchlein, mit dem Sie wider das Vergessen angehen, weil Sie aufgeklärt wurden und wissen, was zu tun ist. Nein, Ihnen braucht man nicht mit Bußgeldern drohen. Sie wissen, die Gefahr ist abstrakt und deshalb unbesiegbar, es sei denn durch Gehorsam gegen die Vernunft. Noch finden Sie diese Idee vernünftig, aber Sie wissen genug, um morgen ihr Gegenteil vernünftig zu finden. Es ist alles eine Frage der Zeit.

 

erschienen als:

Maske und Virus (Acta litterarum)